VI. Anfang eines Räthsels.

Johann Valjean befand sich in einem sehr großen Garten von eigentümlichem Aussehen, in einem jener traurigen Gärten, die dazu gemacht zu sein scheinen, um im Winter und in der Nacht gesehen zu werden.

Dieser Garten war von länglich-viereckiger Form mit einer Allee hoher Pappeln und einem schattenlosen Raum in der Mitte, wo man einen sehr großen einzelnen Baum, einige verkrüppelte, gebüschwerkartige Obstbäume, Gemüsebeete und ein Melonenbeet bemerkte, dessen Glocken im Mondschein glänzten, sowie einen alten Schöpfbrunnen. Hier und da standen Steinbänke, die von Moos schwarz zu sein schienen. Die Alleen waren mit kleinen, dunkeln, graden Sträuchern eingefaßt. Bis über die Hälfte der Alleen wuchs Gras, die andere Hälfte bedeckte eine grünliche Feuchtigkeit.

Neben sich hatte Johann Valjean das Gebäude, dessen Dach ihm beim Heruntersteigen dienlich gewesen, einen Haufen Reisigbündel und hinter diesem, ganz an der Wand, eine steinerne Statue, deren verstümmeltes Gesicht nur noch eine unförmliche Maske war, die man undeutlich in der Dunkelheit wahrnahm.

Das Gebäude war eine Art Ruine, wo man von außen hie und da zerstörte Zimmerwände wahrnahm. Ein Zimmer war ganz verfallen und schien als Schuppen zu dienen.

Das große Gebäude an der Rechts-Mauer-Straße entwickelte zwei Façaden, welche sich in den Garten hinein erstreckten. Diese sahen von innen noch schauerlicher als von außen aus. Alle Fenster waren vergittert. Nirgends sah man ein Licht. In den oberen Etagen waren Verschlage, wie an einem Gefängnisse. Eine der Façaden warf auf die andere ihren Schatten, der wie ein großes schwarzes Tuch auf den Garten fiel.

Ein anderes Haus nahm man nicht wahr. Der Hintergrund des Gartens verlor sich im Dunkel und in der Nacht. Man erkannte indeß undeutlich Mauern, welche sich kreuzten, als wenn jenseits derselben noch andere Culturanlagen wären, sowie die niedrigen Dächer einer Straße.

Man konnte sich nichts Wilderes und Einsameres vorstellen, als diesen Garten. Niemand war darin, was allerdings in Rücksicht der Tageszeit ganz einfach war. Der Ort sah aber nicht aus, als wäre er dazu da, daß Jemand darin gehen solle, selbst nicht einmal am hellen Mittage.

Die erste Sorge Johann Valjeans war, daß er seine Schuhe wieder suchte, welche er vorher über die Mauer geworfen hatte, und sich diese wie die Strümpfe wieder anzog. Darauf ging er mit Cosetten in den Schuppen. Der Fliehende hält sich niemals für sicher genug versteckt. Das Kind, welches immer an die Thenardier dachte, theilte seinen Trieb sich möglichst zu verkriechen.

Cosette zitterte und schmiegte sich an ihn. Man hörte den stürmischen Lärm der Patrouille, welche die Sackgasse durchstöberte, das Aufstoßen der Gewehrkolben auf die Steine, die Rufe Javerts an seine Leute und seine mit unverständlichen Worten vermischten Flüche.

Nach Verlauf einer Viertelstunde schien der Lärm sich zu verziehen. Johann Valjean athmete kaum.

Leicht hatte er seine Hand auf den Mund Cosettens gelegt.

Uebrigens war die Stille, in welcher er sich befand, eine so seltsame Ruhe, daß selbst nicht einmal jener schreckliche Lärm in dieselbe den Schatten einer Störung warf. Die Mauern schienen aus jenen tauben Steinen gebaut zu sein, von denen die Schrift spricht.

Plötzlich erhob sich mitten in dieser tiefen Ruhe ein neues Geräusch, himmlisch, göttlich, unbeschreiblich, eben so entzückend, wie das andere gräßlich gewesen. Es war ein Gesang, der aus der Finsterniß kam, eine Blendung des Gebets und der Harmonie in dem Dunkel und der schauerlichen Stille der Nacht; Frauenstimmen, zugleich aus dem reinen Klang der Jungfrauen und dem naiven der Kinder zusammengesetzt, Stimmen, die nicht der Erde angehören und denen gleichen, welche die Neugebornen noch hören und den Sterbenden entgegenklingen. Der Gesang kam aus dem dunkeln Gebäude, welches den Garten beherrschte. In dem Augenblicke, als der Lärm der Dämonen sich entfernte, näherte sich, so hätte man glauben können, im Dunkel ein Chor von Engeln.

Cosette und Johann Valjean sanken auf die Kniee.

Sie wußten nicht, was es war, sie wußten nicht, wo sie waren, aber sie fühlten alle beide, der Mann wie das Kind, der Büßende wie die Unschuldige, daß sie niederknieen müßten.

Diese Stimmen hatten das Eigentümliche, daß sie das Gebäude nicht belebten, das eben so öde zu bleiben schien wie vorher. Es war wie ein übernatürlicher Gesang in einem unbewohnten Hause.

Während die Stimmen sangen, dachte Johann Valjean an nichts mehr. Er sah die Nacht nicht mehr, er sah nur einen blauen Himmel. Es kam ihm vor, als entfalteten sich jene Flügel in ihm, welche wir alle in uns haben.

Der Gesang erlosch. Er hatte vielleicht lange gedauert. Johann Valjean hätte es nicht sagen können. Die Stunden der Verzückung sind immer nur eine Minute.

Alles war wieder in Stillschweigen versunken. Man hörte nichts mehr in dem Garten, nichts mehr in der Straße. Alles war vorüber: das, was ihn bedroht, wie das, was ihn beruhigt hatte. Der Wind zerknitterte einige dürre Gräser aus dem Kamm der Mauer, wodurch ein leises, trauriges Geräusch entstand.

VII. Fortsetzung des Räthsels.

Der Nachtwind hatte sich erhoben. Es mußte also zwischen ein und zwei Uhr früh sein. Die arme Cosette sagte nichts. Da sie an seiner Seite saß und den Kopf an ihn lehnte, dachte Johann Valjean sie sei eingeschlafen. Er bückte sich und sah ihr in das Gesicht. Sie hatte die Augen weit offen und eine nachdenkliche Miene. Das ging ihm nahe. Sie zitterte noch immer.

»Willst Du nicht schlafen?« fragte Johann Valjean.

»Ich friere sehr,« antwortete sie. Nach einiger Zeit setzte sie hinzu: »Ist sie noch da?«

»Wer?« fragte Johann Valjean.

»Madame Thenardier.«

Er hatte bereits vergessen, durch welches Mittel er Cosetten dazu gebracht, still zu sein.

»Ach,« antwortete er. »Die ist fort. Fürchte Dich nicht mehr.«

Das Kind seufzte, als ob ihm eine schwere Last von der Brust genommen werde.

Der Boden war feucht, der Schuppen nach allen Seiten offen, der Wind wurde mit jedem Augenblick kälter. Der brave Mann zog seinen Rock aus und hüllte Cosetten in denselben.

»Frierst Du so weniger?« fragte er.

»Ach ja, Vater!«

»Warte einen Augenblick; ich komme bald wieder.«

Er ging aus der Ruine hinaus und längs des großen Gebäudes hin, um irgend einen besseren Schutz zu finden. Er traf auf Thüren, sie waren aber geschlossen. An allen Fenstern des Erdgeschosses befanden sich Gitter.

Als er bei der inneren Ecke des Gebäudes herumgekommen war, bemerkte er Bogenfenster und in denselben einen Lichtschein. Er hob sich auf die Fußspitzen, und sah durch eines der Fenster hinein. Sie gingen alle in einen ziemlich großen Saal, der mit großen Steinplatten gepflastert und mit Bogen und Säulen versehen war, wo man aber nichts weiter als einen schwachen Schein und große Schatten erkannte. Der Schein kam von einem in einer Ecke brennenden Lämpchen. Der Saal war öde und nichts rührte sich in demselben. Indessen glaubte er, nachdem er seinen Blick angestrengt, am Boden, auf dem Steinpflaster, etwas zu sehen, das mit einem Leichentuche bedeckt zu sein schien und einer menschlichen Gestalt ähnlich war. Es lag platt auf dem Leibe, mit dem Gesicht auf den Steinen, die Arme kreuzförmig gelegt, in der Unbeweglichkeit des Todes ausgestreckt.

Der ganze Saal schwamm in jenem Dunkel kaum beleuchteter Orte, welches stets Schrecken einstößt.

Johann Valjean hat später oft gesagt, wie viel Gräßliches er auch im Leben gesehen, niemals habe er etwas Schrecklicheres gesehen, als im Halbdunkel diese räthselhafte, geheimnißvolle Gestalt an diesem schauerlichen Orte. Sie konnte todt sein – entsetzlich; noch entsetzlicher, wenn das noch lebte.

Er hatte den Muth, seine Stirn an die Fensterscheibe zu drücken und zu lauschen, ob das Ding sich bewege. Er mochte, wenigstens seiner Meinung nach, lange so dagestanden haben, die Gestalt machte aber durchaus keine Bewegung. Plötzlich fühlte er sich von einer unbeschreiblichen Furcht ergriffen und lief von dannen. Er lief wieder nach dem Schuppen zurück, ohne zu wagen, sich umzusehen. Es kam ihm vor, daß, wenn er sich umwende, er die Gestalt langsamen Schritts ihm folgen sehen würde.

Athemlos kam er in der Ruine wieder an. Seine Kniee zitterten; der Schweiß drang ihm durch alle Poren.

Wo war er? Was war dieses seltsame Haus? Und es war wirklich ein Haus. Denn es hatte ja eine Straßennummer. Es war kein Traum. Er mußte die Steine mit den Händen berühren, um daran zu glauben.

Die Kälte, die Angst, die Unruhe, die Aufregungen dieser Nacht hatten ihn in ein wahres Fieber versetzt. Alle seine Gedanken gingen ihm im Kopfe wirr durcheinander.

Er trat zu Cosetten. Sie schlief.

VIII. Das Räthsel verdoppelt sich.

Das Kind hatte den Kopf auf einen Stein gelegt und war eingeschlafen.

Er setzte sich neben sie und begann sie zu betrachten. Allmälig, je länger er sie betrachtete, beruhigte er sich und erhielt die Freiheit seines Geistes wieder.

Deutlich erkannte er diese Wahrheit, die Grundlage seines künftigen Lebens, daß, so lange sie da sei und er sie bei sich habe, er nur für sie etwas brauchen, nur um ihretwillen etwas fürchten werde. Er fühlte nicht, daß er sehr kalt war, da er den Rock ausgezogen, um sie einzuhüllen.

Mitten in seiner Träumerei, in welche er versunken war, hörte er indeß seit einiger Zeit ein wunderliches Geräusch. Es war als wenn eine Schelle bewegt würde. Es war im Garten. Man hörte sie, wenn auch schwach, so doch deutlich.

Es glich dem fernen, undeutlichen Klange, welchen die Glöckchen der Kühe des Nachts auf der Weide machen.

Johann Valjean drehte sich in Folge dessen um. Er sah hin und bemerkte, daß Jemand im Garten war. Ein Wesen, das einem Manne ähnlich war, ging zwischen den Glocken des Melonenbeetes umher, bückte sich, richtete sich wieder auf, blieb stehen, alles mit regelmäßigen Bewegungen, als wenn er etwas am Boden hinziehe oder ausbreite. Dieses Wesen schien zu hinken.

Johann Valjean zitterte wie Unglückliche zu zittern pflegen. Alles ist ihnen feindselig und verdächtig. Sie mißtrauen dem Tage, weil er bewirkt, daß man sie sieht; der Nacht, weil man sie in ihrem Dunkel überraschen kann. Kurz vorher schauerte ihn, weil der Garten öde, jetzt schauerte ihn, weil Jemand darin war.

Aus eingebildetem Schrecken verfiel er in wirklichen. Er meinte, Javert und seine Schaar seien vielleicht noch gar nicht fortgegangen; er habe ohne Zweifel Leute als Wache in der Straße zurückgelassen; wenn der Mann ihn im Garten bemerkte, würde er wahrscheinlich: Diebe! rufen und ihn ausliefern. Er nahm die schlafende Cosette sanft in seine Arme und trug sie hinter einen Haufen alter, außer Gebrauch gesetzter Geräthe, in den verstecktesten Winkel des Schuppens. Cosette rührte sich nicht.

Von da aus beobachtete er die Umrisse des Wesens in dem Melonenbeete. Sonderbar war, daß der Schellenklang allen Bewegungen des Mannes folgte. Näherte er sich, so kam das Klingen näher; entfernte er sich, so entfernte sich auch dieses; machte er eine rasche Bewegung, so begleitete sie ein Tremolo; blieb er stehen, so schwieg das Klingen. Offenbar waren die Schellen an dem Manne befestigt, was konnte das nur bedeuten? Wer war der Mann, dem man ein Glöckchen angehangen hatte wie einem Schaf oder einer Kuh?

Während er sich diese Fragen vorlegte, berührte er die Hände Cosettens. Sie waren eiskalt.

»Mein Gott!« dachte er und rief leise: »Cosette!«

Sie schlug die Augen nicht auf.

Er schüttelte sie lebhaft.

Sie erwachte nicht.

»Sollte sie todt sein!« dachte er und, vom Kopf bis zu den Füßen zitternd, richtete er sich auf.

Die entsetzlichsten Gedanken durchkreuzten wirr seinen Geist. Es giebt Augenblicke, in denen die widerwärtigsten Vermuthungen uns wie eine Cohorte Furien umlagern und gewaltsam die Scheidewände in unserem Geist verschließen. Wenn es sich um diejenigen handelt, welche wir lieben, erfindet unsere Klugheit alle Thorheiten. Er erinnerte sich daran, daß der Schlaf in freier Luft und in einer kalten Nacht tödtlich sein kann.

Cosette war bleich zu seinen Füßen ausgestreckt an den Boden gesunken, ohne sich zu bewegen. Regungslos lag sie da.

Er hörte ihren Athem, denn sie athmete. Der Athem aber war so schwach, daß er jeden Augenblick zu verlöschen schien.

Wie sie erwärmen, wie sie erwecken? Alles Andere verwischte sich vor dem einen Gedanken und außer sich stürzte er aus der Ruine hinaus.

Ehe eine Viertelstunde verging, mußte Cosette durchaus entweder vor einem Feuer oder in einem Bett sein.

IX. Der Mann mit der Schelle.

Er ging grade auf den Mann zu, welchen er in dem Garten bemerkte, nachdem er eine Rolle mit Geld, welche er in der Westentasche getragen, in die Hand genommen.

Da der Mann gebückt dastand, so sah er ihn nicht kommen. Mit einigen Schritten war Johann Valjean bei ihm.

»Hundert Francs!« war sein erstes Wort, als er bei ihm war.

Der Mann fuhr empor und blickte auf.

»Hundert Francs sind zu verdienen,« fuhr Johann Valjean fort, »wenn Sie mir für diese Nacht ein Obdach geben!«

Der Mond schien auf das zerstörte Gesicht Johann Valjeans.

»Sie sind’s ja, Vater Madeleine!« sagte der Mann.

Bei diesem Namen, der in solcher Weise in dieser mitternächtlichen Stunde, an diesem unbekannten Orte, von diesem unbekannten Manne ausgesprochen wurde, fuhr Johann Valjean zurück.

Auf Alles, nur auf das nicht, war er gefaßt gewesen. Der, welcher ihn so angeredet hatte, war ein hinkender, gebeugter alter Mann, beinahe wie ein Bauer gekleidet. Am linken Knie hatte er ein Band von Leder, an welchem ein ziemlich großes Glöckchen hing. Sein Gesicht konnte man nicht erkennen, da der Schatten darauf fiel.

Mittlerweile hatte der alte Mann seine Mütze abgenommen und rief in zitterndem Tone:

»Ach, mein Gott, Vater Madeleine, wie kommen Sie denn hier her? Wie sind Sie denn hier hinein gekommen? Sie müssen vom Himmel gefallen sein. Nun ja, freilich, wenn Sie einmal fallen, müssen Sie von da fallen. Und wie Sie aussehen! Sie haben kein Halstuch, keinen Hut, keinen Rock! Wissen Sie auch, daß Sie Einen erschrecken konnten, der Sie nicht kennt! Keinen Rock! Herr, mein Gott, sind denn die Heiligen närrisch geworden? Wie sind Sie denn hierhergekommen?«

Ein Wort erwartete nicht das andere. Der alte Mann sprach mit einer unbeschreiblichen Zungenfertigkeit, welche jedoch nichts Beunruhigendes hatte. Er sagte alles das mit einer Mischung von naiver Gutmüthigkeit und Verwunderung.

»Wer sind Sie? Was ist dieses Haus?« fragte Johann Valjean.

»Zum Teufel, das ist stark!« rief der Alte. »Ich bin ja der, den Sie hier untergebracht haben; das ist ja das Haus, in das Sie mich gebracht. Wie! Kennen Sie mich denn nicht?«

»Nein,« antwortete Johann Valjean. »Woher kennen Sie mich?«

»Sie haben mir ja das Leben gerettet,« sagte der Mann.

Er drehte sich um, ein Mondstrahl ließ sein Gesicht erkennen und Johann Valjean erkannte den alten Fauchelevent.

»Ah!« sagte er, »Sie sind es? Ja, ich erkenne Sie.«

»Das ist Ihr Glück,« antwortete der Alte in vorwurfsvollem Tone.

»Was machen Sie hier?« fragte Johann Valjean weiter.

»Hm! Ich decke meine Melonen zu.«

Der alte Fauchelevent hatte in der That, als Johann Valjean an ihn herangetreten, das Ende einer Strohkappe in der Hand, die er über eine Melone auszubreiten eben beschäftigt war. Er hatte bereits eine gewisse Anzahl davon aufgestellt, seit einer Stunde ungefähr, so lange er in dem Garten gewesen war. Von dieser Beschäftigung schrieben sich die eigenthümlichen Bewegungen her, welche Johann Valjean von dem Schuppen aus bemerkt hatte. Er fuhr dann fort:

»Ich dachte mir: der Mond scheint; es wird frieren. Wie wär’s, wenn ich meinen Melonen die Rocke anzöge. Und« – setzte er mit einem Blicke und hellem Lachen gegen Johann Valjean hinzu: – »das hätten Sie, weiß Gott, auch thun sollen. Aber, wie sind Sie denn eigentlich hier hineingekommen?«

Da Johann Valjean sich von diesem Manne erkannt sah, wenigstens unter den Namen Madeleine, so glaubte er desto mehr Vorsicht anwenden zu müssen. Er verdoppelte also seine Fragen, so daß sonderbarerweise die Rollen umgekehrt zu sein schienen: er der Eingedrungene fragte.

»Was bedeutet die Schelle, die Sie da am Knie haben?«

»Die da?« fragte Fauchelevent. »Die ist dazu da, daß man mir aus dem Wege gehe.«

»Wie, daß man Ihnen aus dem Wege gehe?«

Der alte Fauchelevent blinzelte in ganz unbeschreiblicher Weise und sagte dann:

»Sehen Sie, es sind nur Frauenzimmer in diesem Hause, viel junge Mädchen. Es scheint, daß es gefährlich für sie ist, wenn sie mir begegnen. Die Schelle setzt sie von meiner Nähe in Kenntniß. Wenn ich komme, machen sie, daß sie fort kommen.«

»Was ist das für ein Haus?«

»Das wissen Sie ja selbst recht gut.«

»Nein, ich weiß es nicht.«

»Sie haben mich ja als Gärtner hierher gebracht.«

»Antworten Sie mir, als ob ich nichts wüßte.«

»Gut, es ist das Kloster von Klein-Picpus.«

Johann Valjean erinnerte sich. Der Zufall, d. h. die Vorsehung, hatte ihn gerade in das Kloster des Viertels St. Antoine geführt, in das vor zwei Jahren auf seine Empfehlung der alte Fauchelevent aufgenommen worden war, den der Fall unter den Wagen zum Krüppel gemacht hatte. Wie mit sich selbst sprechend, wiederholte er:

»Das Kloster von Klein-Picpus.«

»Freilich!« sagte Fauchelevent. »Wie zum Teufel sind Sie denn hier hineingekommen, Vater Madeleine? Wenn Sie auch ein Heiliger sind, ein Mann sind sie doch und Männer dürfen nicht herein.«

»Sie sind ja da.«

»Außer mir aber Keiner.«

»Ich muß aber auch hier bleiben.«

»Ach, du mein Gott!« rief Fauchelevent aus.

Johann Valjean trat näher zu ihm heran und sprach mit ernstem Tone:

»Vater Fauchelevent, ich habe Ihnen das Leben gerettet.«

»Ich habe mich zuerst daran erinnert,« entgegnete der Alte.

»Gut, heute können Sie für mich thun, was ich einst für Sie gethan habe.«

Fauchelevent ergriff mit seinen alten runzeligen, zitternden Händen, die beiden starken Hände Johann Valjeans. So vergingen einige Sekunden, ehe er sprechen konnte; endlich rief er:

»Das wäre eine Gnade vom lieben Gott, wenn ich Ihnen das ein wenig vergelten könnte! Ich Ihnen das Leben retten! Herr Maire! Verfügen Sie über mich alten Mann, wie Sie wollen!«

Eine bewundernswürdige Freude hatte den alten Mann gleichsam wie umgestaltet. Von seinem Gesicht schien ein Licht auszugehen.

»Was soll ich thun?« fragte er weiter.

»Ich werde Ihnen das erklären. Haben Sie eine Stube?«

»Ich habe eine einzeln stehende Baracke, dort hinter der Ruine des alten Klosters, in einem Winkel, den Niemand sieht. Drei Stuben sind darin.«

Die Hütte war in der That so hinter der Ruine versteckt und so gut gelegen, daß sie Niemand sah und auch Johann Valjean sie nicht gesehen hatte.

»Gut!« antwortete Johann Valjean. – »Jetzt bitte ich um Zweierlei.«

»Um was, Herr Maire?«

»Erstens sagen Sie Niemandem was Sie von mir wissen, und zweitens suchen Sie nicht mehr zu erfahren.«

»Wie Sie wollen. Ich weiß, daß Sie nur Ehrenhaftes thun können und daß Sie stets ein Mann Gottes gewesen sind. Und dann haben Sie mich ja auch hierher gebracht. Es ist Ihre Sache. Ich stehe Ihnen zu Diensten.«

»Abgemacht! Jetzt kommen Sie mit mir. Wir wollen das Kind holen gehen.«

»Ach!« entgegnete Fauchelevent, »auch ein Kind ist noch da!«

Weiter sagte er nichts und folgte Johann Valjean wie ein Hund seinem Herrn folgt.

In nicht ganz einer halben Stunde schlief Cosette, die in der Wärme eines tüchtigen Feuers ihre rosige Farbe wieder erlangt hatte, in dem Bett des alten Gärtners. Johann Valjean hatte sein Halstuch wieder umgebunden und seinen Rock wieder angezogen; auch der über die Mauer geworfene Hut war wieder gefunden und aufgehoben worden. Während Johann Valjean seinen Rock anzog, nahm Fauchelevent das Knieband mit dem Glöckchen ab, das jetzt, an einem Nagel an der Wand aufgehängt, das Zimmer schmückte. Die beiden Männer wärmten sich und nahmen an dem Tische Platz, auf den Fauchelevent ein Stück Käse und schwarzes Brod gelegt und eine Flasche Wein mit zwei Gläsern gestellt hatte. Darauf legte der Alte seine Hand auf das Knie Johann Valjeans und sagte zu ihm:

»Vater Madeleine, daß Sie mich nicht sogleich wieder erkannten! Sie retten den Leuten das Leben und hinterdrein denken Sie nicht mehr an sie! Das ist gar nicht hübsch! Sie erinnern sich Ihrer. Sie sind recht undankbar!

VII. Nur die Karte nicht verlieren.

Als der Leichenwagen sich entfernt hatte, als der Geistliche und der Chorknabe wieder eingestiegen und fortgefahren waren, sah Fauchelevent, der seine Augen von dem Todtengräber nicht abwendete, daß derselbe sich bückte und die Schaufel ergriff, die rechts in einem Erdhaufen stak.

Da faßte Fauchelevent einen letzten Entschluß. Er stellte sich zwischen das Grab und den Todtengräber, kreuzte die Arme und sagte:

»Ich bezahle.«

Der Todtengräber sah ihn erstaunt an und fragte:

»Was, Bauer?«

»Ich bezahle,« wiederholte Fauchelevent.

»Was denn?«

»Den Wein.«

»Welchen Wein?«

»Den Argenteuil.«

»Wo?«

»In der Guten Quitte.«

»Geh zum Teufel!« antwortete der Todtengräber, und warf wieder eine Schaufel voll Erde auf den Sarg. Das gab einen dumpfen Klang. Fauchelevent fühlte sich wanken und wäre beinahe selbst in das Grab gefallen. Er rief mit röchelnder Stimme des Todeskampfes:

»Kamerad, ehe die »Gute Quitte« zugemacht wird!«

Der Todtengräber nahm wieder Erde mit der Schaufel und Fauchelevent fuhr fort:

»Ich bezahle.«

Er ergriff den Arm des Todtengräbers und sagte:

»Hören Sie, Kamerad. Ich bin der Todtengräber des Klosters und hergekommen, um Ihnen zu helfen. Die Arbeit kann auch in der Nacht gemacht werden. Zuerst wollen wir aber Eins trinken.«

Während er so sprach und sich hartnäckig an dieses Rettungsmittel anklammerte, legte er sich die traurige Frage vor: »Und wenn er trinkt, wird er sich betrinken?«

»Mensch aus der Provinz,« sagte der Todtengräber, »wenn Sie durchaus daraus bestehen, so willige ich ein. Wir wollen trinken, aber erst nach der Arbeit, vorher nie.«

Und er warf eine Schaufel voll Erde in das Grab.

Fauchelevent hatte den Augenblick erreicht, in dem man nicht mehr weiß, was man sagt.

»So kommen Sie doch und trinken Sie mit mir!« rief er. »Ich bezahle ja.«

»Wenn wir das Kind zu Bett gebracht haben,« antwortete der Todtengräber.

Und er warf wieder eine Schaufel voll in das Grab. Darauf stach er von Neuem in die Erde und setzte hinzu:

»Sehen Sie, es wird kalt werden die Nacht und die Todte könnte hinter uns herschreiten, wenn wir sie nicht zudeckten.«

In diesem Augenblicke bückte sich der Todtengräber, um seine volle Schaufel in die Höhe zu nehmen, wobei sich die Tasche seiner Weste gähnend aufsperrte.

Der wilde Blick Fauchelevents fiel mechanisch auf diese Tasche und blieb fest an derselben hängen.

Die Sonne war noch nicht hinter dem Horizonte verschwunden, es war noch hell genug etwas Weißes in dieser Tasche wahrnehmen zu können.

Ohne daß der Todtengräber es bemerkte, griff ihm Fauchelevent von hinten in die Tasche und zog das weiße Ding darin heraus.

Der Todtengräber warf wieder eine Schaufel Erde in das Grab.

Als er sich umdrehte, um eine neue Schaufel voll zu nehmen, sah ihn Fauchelevent mit der größten Ruhe an und sagte:

»Sie sind neu hier, haben Sie denn auch Ihre Karte mitgebracht?«

»Welche Karte?«

»Die Sonne wird gleich untergegangen sein.«

»Meinetwegen. Mag sie sich ihre Nachtmütze aufsetzen.«

»Die Kirchhofthür wird zugemacht werden.«

»Nun und dann?«

»Haben Sie ihre Karte bei sich?«

»Ach so, meine Karte!« wiederholte der Todtengräber und suchte in der Tasche. Nachdem er die eine durchsucht, gings zur andern, zuletzt zu den Westentaschen. »Nein!« sagte er. »Ich habe meine Karte nicht. Ich werde sie vergessen haben.«

»Fünfzehn Francs Strafe,« sagte Fauchelevent.

Der Todtengräber wurde grün.

»Herr Jesus, mein Gott!« rief er. »Fünfzehn Francs Strafe!«

»Drei Hundertsousstücke,« sagte Fauchelevent.

Der Todtengräber ließ seine Schaufel fallen.

Nun war die Reihe an Fauchelevent.

»Na, na, Recrut,« sagte er, »nur nicht verzweifelt! Fünfzehn Francs sind Fünfzehn Francs und übrigens können Sie sie nicht bezahlen. Ich bin alt und Sie sind neu. Ich will Ihnen einen guten Rath geben. Eins ist klar: die Sonne geht unter, sie berührt schon den Invalidendom, in fünf Minuten wird der Kirchhof geschlossen werden.«

»Es ist wahr,« antwortete der Todtengräber.

»In fünf Minuten können Sie das Grab nicht zu machen, es ist tief wie der Teufel, und dann können Sie nicht mehr hinauskommen, ehe das Thor geschlossen wird.«

»Das ist richtig.«

»Da müssen Sie fünfzehn Francs Strafe zahlen.«

»Fünfzehn Francs.«

»Aber Sie haben Zeit … Wo wohnen Sie?«

»Zwei Schritte von der Barriere. Eine Viertelstunde von hier, Vaugirardstraße Nr. 87.

»Wenn Sie die Beine in die Hand nehmen und. gleich fortmachen, haben Sie noch Zeit.«

»Das ist richtig.«

»Sind Sie einmal außerhalb des Gitters, so laufen Sie was Sie können und holen Ihre Karte, Sie kommen wieder zurück und der Thorwärter macht Ihnen auf. Wenn Sie Ihre Karte haben, so brauchen Sie nichts zu bezahlen. Dann begraben Sie Ihre Todte in aller Ruhe. Ich gebe mittlerweile Achtung, damit sie nicht fortläuft.«

»Sie retten mir das Leben, Bauer.«

»Räumen Sie nur das Feld,« sagte Fauchelevent.

Der Todtengräber schüttelte ihm, außer sich vor Dankbarkeit, die Hand und lief eiligst davon.

Sobald er im Dickicht verschwunden war und Fauchelevent nicht mehr seine Tritte hörte, bückte er sich über das Grab und rief halblaut:

»Vater Madeleine!«

Keine Antwort.

Fauchelevent überlief es kalt. Er fiel mehr in das Grab als er hineinstieg, warf sich auf den Kopftheil des Sarges und rief:

»Sind Sie da?«

Alles still in dem Sarge.

Fauchelevent konnte vor Zittern kaum athmen, nahm seinen Meißel und seinen Hammer und sprengte den Deckel des Sarges auf. Er sah das Gesicht Johann Valjeans, bleich und mit geschlossenen Augen in der Abenddämmerung daliegen.

Fauchelevent standen die Haare zu Berge; er richtete sich auf, sank dann rücklings an die Wand des Grabes und war nahe daran, auf den Sarg in Ohnmacht zu fallen. Er sah Johann Valjean an.

Johann Valjean lag da, bleich und unbeweglich. Wie der Hauch eines Windes, so leise murmelte Fauchelevent mit halber Stimme vor sich hin:

»Er ist todt.«

Dann richtete er sich wieder auf, schlug die Arme so heftig zusammen, daß die beiden geballten Fäuste seine Achseln berührten und rief:

»So habe ich ihn gerettet!«

Und der arme Mann fing an zu schluchzen und mit sich selbst zu sprechen: denn es ist ein Irrthum, wenn man glaubt, daß das Selbstgespräch nicht in der menschlichen Natur begründet sei.

»Daran ist der Vater Mestienne schuld. Warum ist er gestorben, der Dummkopf! Mußte er denn da grade abfahren, wo man es am allerwenigsten erwartete? Alles ist vorbei! Ach, mein Gott, er ist todt! Und seine Kleine, was fange ich mit der an? Was wird die Obstfrau sagen? Daß ein solcher Mann sterben kann! Das ist ja ganz unmöglich! Wenn ich daran denke, wie er unter meinen Wagen kroch! Vater Madeleine! Er ist, weiß es Gott, erstickt! Er hat es mir ja nicht glauben wollen. Todt ist er, der brave Mann, der beste Mann unter allen guten Leuten! Und seine Kleine! Ich gehe gar nicht fort. Ich bleibe hier. Wie mag er nur in das Kloster gekommen sein? Das war schon der Anfang. Man soll solche Dinge nicht thun. Vater Madeleine! Vater Madeleine! Madeleine! Herr Madeleine! Herr Maire! Er hört mich nicht!«

Er riß sich vor Verzweiflung die Haare aus.

In der Ferne hörte man ein scharfes Knirrschen in den Bäumen: das Gitterthor des Kirchhofes wurde geschlossen.

Fauchelevent bog sich über Johann Valjean. Als er hinsah, empfand er einen Schreck, wie man ihn nur im Grabe empfinden kann. Johann Valjean hatte die Augen offen und sah ihn an.

Einen im Tode sehen ist grauenhaft, Jemand aus dem Tode wieder erwachen zu sehen, ist beinah ebenso. Fauchelevent wurde wie ein Stein bleich, bestürzt, überwältigt von allen diesen Gefühlserschütterungen; er wußte nicht, ob er es mit einem Todten oder einem Lebenden zu thun habe. Er sah Johann Valjean an und dieser ihn.

»Ich war eingeschlafen,« sagte dieser und setzte sich auf.

Fauchelevent fiel auf die Knie.

»Gerechte, heilige Jungfrau, wie haben Sie mich erschreckt!«

Darauf erhob er die Stimme und rief:

»Ich danke, Vater Madeleine.«

Johann Valjean war nur ohnmächtig geworden, die frische Luft hatte ihn wieder erweckt.

Die Freude ist die Fluth nach dem Schrecken. Fauchelevent hatte beinah ebenso viel Mühe wie Johann Valjean, um wieder zu sich zu kommen.

»Sie sind also nicht todt! Wie gescheidt Sie sind! Ich rief Sie so lange, bis Sie zu sich kamen. Als ich Ihre geschlossenen Augen sah, dachte ich: gut! Er ist erstickt. Ich wäre verrückt geworden, so verrückt, daß man mir hätte die Zwangsjacke anlegen müssen. Man hatte mich nach Bicètre bringen müssen. Was sollte ich denn anfangen, wenn Sie gestorben gewesen wären? Und Ihre Kleine? Die Obstfrau würde ja gar Nichts begriffen haben! Ihr ein Kind bringen und dann sagen, der Großvater ist gestorben! Eine schöne Geschichte! Alle Heiligen im Paradiese, was für eine Geschichte! Aber Sie leben, das ist das Beste.«

»Mich friert,« sagte Johann Valjean.

Dieses Wort brachte Fauchelevent vollständig in die Wirklichkeit zurück, die in der That dringend war.

»Schnell von hier hinaus,« rief Fauchelevent.

Er suchte in seiner Tasche und holte eine Korbflasche heraus, mit der er sich versehen hatte.

»Erst einen Tropfen!« sagte er.

Die Korbflasche vollendete, was die frische Luft begonnen hatte. Johann Valjean trank einen Schluck Branntwein und kam wieder vollständig zu sich.

Er stieg aus dem Sarge und half Fauchelevent den Deckel wieder draufnageln.

Drei Minuten später waren sie außerhalb des Grabes.

Fauchelevent war ruhig und nahm sich Zeit. Der Kirchhof war geschlossen, die Rückkunft des Todtengräbers war nicht zu fürchten. Dieser »Rekrut« suchte bei sich zu Hause seine Karte und konnte sie freilich nicht finden, da sie sich in der Tasche Fauchelevents befand. Ohne Karte konnte er auf den Kirchhof nicht zurück.

Fauchelevent nahm die Schaufel und Johann Valjean den Spaten. So begruben beide den leeren Sarg.

Als das Grab ausgefüllt war, sagte Fauchelevent zu Johann Valjean:

»Gehen wir jetzt. Ich behalte die Schaufel, tragen Sie den Spaten.«

Es wurde Nacht.

Johann Valjean hatte Mühe zu gehen, so erstarrt war er in dem Sarge geworden. Die Lähmung des Todes hatte ihn zwischen den vier Brettern überfallen. Er mußte gewissermaßen erst vom Grabe aufthauen.

Vermittelst der Karte des Todtengräbers kamen sie leicht und ohne Aufenthalt durch das Thor des Kirchhofes. Als sie in der Vaugirardstraße waren, sagte Fauchelevent zu Johann Valjean:

»Vater Madeleine, Sie haben bessere Augen als ich, sagen Sie mir doch, wo Nummer 87 ist.«

»Da ist sie grade,« antwortete Johann Valjean.

»Es ist Niemand in der Straße!« fuhr Fauchelevent fort. »Geben Sie mir den Spaten und warten Sie ein paar Minuten.«

Fauchelevent trat in das Haus Nummer 87, ging die Treppen bis ganz hoch hinauf, seinem Instinkte nach, welches den Armen immer bis unter das Dach führt und klopfte im Dunkel an eine Kammerthür. Eine Stimme rief:

»Herein!«

Es war die Stimme Gribiers.

Fauchelevent machte die Thür auf. Die Wohnung des Todtengräbers war, wie alle diese unglückseligen Wohnungen, ohne Möbel und doch vollgepfropft. Eine Packkiste – vielleicht ein Sarg – vertrat die Stelle der Komode, ein Buttertopf den des Wasserhälters, ein Strohsack das Bett, der Fußboden Stühle und Tisch. In einer Ecke, auf einem Lumpen, einem alten Teppichfetzen, kauerte eine hagere Frau und ein Haufen Kinder.

Fauchelevent trat ein und sagte:

»Ich bringe Ihnen Ihren Spaten und Ihre Schaufel.«

Gribier sah ihn verwundert an.

»Sind Sie es, Bauer?«

»Und morgen früh können Sie auch bei dem Thorwärter Ihre Karte finden.«

Dabei legte er Schaufel und Spaten an den Boden.

»Was soll das bedeuten?« fragte Gribier.

»Das bedeutet, daß Sie Ihre Karte aus der Tasche haben fallen lassen, daß ich sie gefunden, sie aufgehoben, den Todten begraben, das Grab fertig gemacht habe. Der Thorwärter wird Ihnen Ihre Karte geben und Sie brauchen nicht fünfzehn Francs zu bezahlen. So ist’s, Recrut!«

»Ich danke, Bauer,« antwortete Gribier erfreut. »Das nächste Mal bezahle ich die Zeche.«

VIII. Das Verhör.

Eine Stunde später, in ganz finsterer Nacht, erschienen zwei Männer und ein Kind vor Nr. 62 der kleinen Picpusstraße. Der ältere der Männer hob den Klopfer und pochte.

Es waren Fauchelevent, Johann Valjean und Cosette.

Die beiden Männer hatten Cosette bei der Obstfrau abgeholt, zu der sie Fauchelevent am vorigen Tage gebracht. Cosette hatte diese vierundzwanzig Stunden verbracht, ohne Etwas zu begreifen, im Stillen aber hatte sie gezittert, so sehr gezittert, daß sie nicht weinte. Sie hatte weder gegessen noch geschlafen. Die würdige Obstfrau hatte hundert Fragen an sie gerichtet, ohne eine andere Antwort zu bekommen als einen traurigen und immer denselben Blick. Von Allem, was Cosette in den letzten beiden Tagen gehört und gesehen hatte, ließ sie durchaus nichts durchblicken. Sie errieth, daß sie eine Krisis durchmache und fühlte, daß sie vernünftig sein müsse. Uebrigens bewahrt Niemand ein Geheimniß besser als ein Kind.

Als sie aber nach diesen traurigen vierundzwanzig Stunden Johann Valjean wiedergesehn, hatte sie ein solches Freudengeschrei ausgestoßen, daß jeder Mensch mit Verstand, der es gehört, errathen hätte, daß sie mit diesem Schrei einen Kerker verlasse.

Fauchelevent war aus dem Kloster und wußte die Passirworte. Alle Thore öffneten sich ihm.

So war die doppelte und schreckliche Aufgabe gelöset: hinaus und herein zu kommen.

Sie begaben sich sofort in das Sprechzimmer, wo Fauchelevent am vorigen Tage den Befehl der Priorin empfangen hatte.

Die Priorin erwartete sie mit dem Rosenkranz in der Hand. Eine Stimmmutter stand mit herabgelassenen Schleier neben ihr. Eine bescheidene Kerze erhellte oder that so als erhellte sie das Sprechzimmer.

Die Priorin ließ Johann Valjean die Revue passiren. Nichts mustert so gut, wie ein niedergeschlagenes Auge.

Dann fragte sie ihn:

»Sie sind der Bruder?«

»Ja, hochwürdige Mutter,« antwortete Fauchelevent.

»Wie heißen Sie?«

Fauchelevent antwortete:

»Ultime Fauchelevent.«

Er hatte in der That einen Bruder Namens Ultime gehabt, der gestorben war.

»Woher sind Sie?«

Fauchelevent antwortete:

»Aus Picquigny bei Amiens.«

»Wie alt sind Sie?«

»Funfzig Jahre.«

»Was sind Sie?«

»Gärtner.«

»Sind Sie ein guter Christ?«

»Jedermann in meiner Familie ist ein guter Christ.«

»Die Kleine gehört Ihnen?«

»Ja, hochwürdige Mutter.«

»Sie sind Ihr Vater?«

»Ihr Großvater.«

Die Stimmmutter sagte leise zur Priorin:

»Er antwortet gut.«

Johann Valjean hatte nicht ein Wort gesprochen.

Die Priorin sah Cosetten mit Aufmerksamkeit an und sagte leise zur Stimmmutter:

»Sie wird häßlich werden.«

Die beiden Mütter sprachen einige Minuten sehr leise in der Ecke des Sprechzimmers, darauf drehte sich die Priorin um und sagte:

»Vater Fauvent, Sie werden noch ein Knieband mit einem Glöckchen bekommen. Wir brauchen jetzt zwei.«

Am andern Tage hörte man in der That zwei Glöckchen im Garten und die Nonnen konnten nicht umhin, die eine Ecke ihres Schleiers ein klein Wenig in die Höhe zu heben.

»Das ist der Gärtnergehilfe,« sagten sie. Die Stimmmütter setzten hinzu: »der Bruder des Vater Fauvent.«

Am meisten hatte die von der Priorin gemachte Bemerkung »Sie wird nicht hübsch werden« bewirkt, daß »Ultime Fauchelevent« und sein Kind in das Kloster aufgenommen worden waren.

Die Priorin hatte sofort Cosette lieb gewonnen und ihr unentgeltlich ein Pensionat eingeräumt.

Das ist alles sehr logisch.

Wenn man auch keinen Spiegel im Kloster hat, die Frauen haben ein besonderes Gewissen, das ihnen sagt, wie sie aussehen. Die Mädchen, welche wissen, daß sie hübsch sind, lassen sich nicht leicht zu Nonnen machen; denn der Klosterberuf steht, wenn er freiwillig gewählt wird, im umgekehrten Verhältniß zur Schönheit. Man hofft mehr auf Häßliche als auf Schöne. Daher die Vorliebe für die kleinen häßlichen Mädchen.

IX. Schluß.

Cosette bewahrte auch im Kloster ihr Schweigen.

Sie hielt sich natürlich für die Tochter Johann Valjeans. Uebrigens da sie nichts wußte, konnte sie nichts sagen; in jedem Fall würde sie auch nichts gesagt haben. Cosette hatte so viel gelitten, daß sie Alles, selbst das Reden, fürchtete. Wie oft hatte ein Wort ihr einen wahren Hagel von Schlägen zugezogen. An das Kloster gewöhnte sie sich schnell. Sie bedauerte nur, daß sie ihre Puppe nicht haben konnte, aber sie wagte es nicht zu sagen. Einmal nur sagte sie zu Johann Valjean: »Vater, hätte ich es gewußt, so würde ich sie mitgenommen haben.«

Als Pensionärin des Klosters mußte Cosette die Kleidung der Schülerinnen des Hauses anlegen. Johann Valjean erlangte die Erlaubniß, daß man ihm das Kleid überließe, das sie ablegte. Es war dasselbe Trauerkleid, mit dem er sie bekleidet, als sie das Haus Thenardiers verließen. Johann Valjean schloß alle die kleinen Gegenstände Cosettens, auch die Strümpfe und Schuhe nebst vielem Kampher und Wohlgerüchen, die in den Klöstern in Masse zu haben sind, in einen kleinen Koffer ein, welcher auf einem Stuhl neben seinem Bett stand. Den Schlüssel dazu trug er stets bei sich. »Vater,« fragte ihn eines Tages Cosette, »Was ist denn das für eine Schachtel, die so gut riecht?«

Wenn die Nonnen etwas von dem Blicke Javerts gehabt hätten, würden sie endlich haben bemerken können, daß wenn etwas Geschäftliches außerhalb des Klosters zu besorgen war, immer der ältere Fauchelevent ging, der alte, gebrechliche, lahme, nie der andere; aber sei es weil die immer auf Gott gerichteten Augen nicht spioniren können, sei es, weil sie lieber unter einander Beobachtungen anstellen, kurz sie achteten nicht darauf.

Uebrigens that Johann Valjean wohl daran, sich ruhig zu verhalten und sich nicht zu rühren, denn Javert ließ die Gegend noch über einen ganzen Monat bewachen.

Das Kloster war für Johann Valjean gleichsam eine rings von Abgründen und Schlünden umgebene Insel. Die vier Mauern waren von nun an für ihn die Welt. Er sah darin von dem Himmel genug, um heiter, und Cosetten so oft, um glücklich zu sein.

Es begann für ihn ein stilles, angenehmes Leben.

Er arbeitete alle Tage im Garten und machte sich sehr nützlich. Da er früher Baumschäler gewesen, so fand er sich auch bald als Gärtner zurecht. Man erinnert sich, daß er allerlei Recepte und geheime Mittel für den Ackerbau kannte. Daraus zog er Nutzen. Beinahe alle Bäume im Garten waren Wildlinge. Er pfropfte viele Bäume und zog vortreffliches Obst.

Cosette hatte die Erlaubniß alle Tage eine Stunde bei ihm zu sein.

Da die Schwestern traurig waren, er aber freundlich, so verglich ihn das Kind mit den Nonnen und vergötterte ihn. Zur bestimmten Stunde flog sie nach der Gärtnerhütte. Wenn sie in das Hüttchen kam, erfüllte sie es mit dem Paradiese. Johann Valjean fühlte sein Glück wachsen mit dem Glücke, das er dem Kinde bereitete. Die Freude, die wir bereiten, hat den Reiz, daß sie, weit entfernt sich zu schwächen wie jeder Widerschein, mit stärkerem Strahle auf uns zurückfallt. In den Erholungsstunden sah ihr Johann Valjean von Weitem zu, wie sie spielte und lief, und ihr Lachen kannte er; denn jetzt »lachte« Cosette.

Sogar das Gesicht Cosetten’s hatte sich in einem gewissen Grade verändert. Das Düstere war daraus verschwunden. Das Lachen ist die Sonne; es vertreibt den Winter aus dem menschlichen Gesichte.

Wenn Cosette nach der Spielstunde in das Kloster zurückging, sah Johann Valjean nach den Fenstern ihrer Klasse; des Nachts stand er auf um nach den Fenstern ihres Schlafsaales zu sehen.

Gott hat seine Wege. Das Kloster trug, wie Cosette, dazu bei, in Johann Valjean das Werk des Bischofs aufrecht zu erhalten und zu vervollständigen. Eine Seite der Tugend grenzt sicherlich an den Stolz. Dieser ist eine vom Teufel gebaute Brücke. Johann Valjean war vielleicht, ohne daß er es wußte, dieser Seite und dieser Brücke nahe, als die Vorsehung ihn in das Kloster von Klein-Picpus warf. So lange er sich nur mit dem Bischofe verglichen, hatte er sich unwürdig gefunden und war demüthig gewesen; seit einiger Zeit aber fing er an sich mit den Menschen zu vergleichen und der Stolz regte sich in ihm. Wer weiß? Vielleicht wäre er dadurch ganz allmälig wieder dem Princip des Hasses verfallen.

Das Kloster hielt ihn auf diesem abschüssigen Wege auf.

Es war der zweite Gefängnißort, den er sah. In seiner Jugend, in dem Beginne seines Lebens und später, ganz neuerlich noch, hatte er einen anderen gesehen, einen furchtbaren, schrecklichen Ort, dessen Strenge ihm immer als das Unrecht der Justiz und das Verbrechen des Gesetzes erschienen war. Jetzt sah er nach dem Bagno das Kloster, und wenn er bedachte, daß er Mitglied des Bagno gewesen und jetzt Zuschauer im Kloster sei, verglich er diese beiden Gefängnißorte im Geiste mit einander.

Bisweilen stützte er sich auf den Spaten und versenkte sich langsam in die grundlosen Schlangenwindungen seiner träumerischen Gedanken.

Er erinnerte sich seiner ehemaligen Gefährten und der strengen Zucht ihrer Lebensweise.

Dann wieder betrachtete er die Wesen, welche er jetzt vor Augen hatte und welche einem nicht minder strengen, vielleicht einem noch härteren Leben unterworfen waren.

Die einen waren Männer, diese waren Frauen.

Was hatten die Männer gethan? Sie hatten gestohlen, geraubt, gemordet. Was hatten diese Frauen gethan? Sie hatten nichts verbrochen.

Auf der einen Seite alle Arten Verbrechen und Verletzungen der öffentlichen Moral, auf der anderen nur Eins: Unschuld, vollkommene Unschuld, die mit der Erde durch die Tugend, mit dem Himmel durch ihre Heiligkeit in Verbindung stand.

Auf der einen Seite Verbrechen, die Einer dem Andern leise anvertraut; auf der anderen laute Beichte geringer Uebertretungen. Und welche Verbrechen! Und was für Uebertretungen!

Zwei Orte der Sclaverei, aber in dem ersten eine mögliche Befreiung, eine gesetzliche Grenze und die Flucht. In dem zweiten die Ewigkeit der Sclaverei, und als Hoffnung, am fernsten Ende der Zukunft, jener Schein der Freiheit, welchen die Menschen Tod nennen.

Im ersten war man nur durch Ketten gefesselt, im zweiten durch seinen Glauben.

Was entstand aus dem ersten? Ein unermeßlicher Fluch, Zähneknirschen, Haß, verzweiflungsvolle Bosheit, ein Wuthschrei gegen die menschliche Gesellschaft, eine Verhöhnung der Gottheit.

Was entsteht aus dem zweiten? Segen und Liebe.

Johann Valjean begriff sehr wohl die eine Buße, die persönliche, die für sich selbst. Aber er begriff nicht die andere, die jener Geschöpfe ohne Vorwurf und Flecken, und mit Zittern fragte er sich: Weshalb büßen sie?

Eine Stimme antwortete in seinem Gewissen: die göttlichste Art des menschlichen Edelmuthes ist die Buße für Andere.

Er hatte den höchsten Gipfel der Selbstverläugnung und die höchste Höhe der möglichen Tugend vor Augen: die Unschuld, welche den Menschen ihre Vergehen verzeiht und dieselben für sie büßt; sanfte, schwache Wesen mit dem Elende derer, welche bestraft, und mit dem Lächeln jener, die belohnt werden.

Und er erinnerte sich daran, daß er zu klagen gewagt habe!

Oftmals stand er mitten in der Nacht auf, um den Dankgesang jener Schuldlosen, von Strenge niedergedrückten Geschöpfe anzuhören und fühlte es eiskalt in seinen Gliedern, wenn er daran dachte, daß diejenigen, welche mit Recht ihre Züchtigung erhalten, ihre Stimme zum Himmel nur erheben, um zu lästern und daß auch er, der Elende, Gott mit der Faust gedroht habe.

Leise flüsterte es in ihm: Mauern hast du überstiegen, Schlösser erbrochen, todesgefährliche Abenteuer gewagt, um aus dem ersten Orte der Buße zu entkommen, jetzt hast du dasselbe gethan, um in diesen Ort der Buße herein zu kommen.

Gitter, Riegel, Eisenstangen sah er wieder und zwar, um wen zu hüten? Engel.

Diese hohen Mauern, welche zur Bewachung von Tigern geeignet gewesen wären, sah er hier rings um eine Heerde unschuldiger Lämmer gezogen.

Es war ein Ort der Buße, nicht der Strafe, und dennoch war er viel düsterer, strenger, unbarmherziger als der andere. Ein kalter, rauher Wind, jener Wind, welcher seine Jugend erkältet hatte, stürmte durch das vergitterte Grab der Geier im Bagno, ein noch schärferer und schmerzlicherer Wind wehte in dem Käfig der Tauben im Kloster.

Warum?

Wenn er daran dachte, so verlor sich Alles, was in ihm war, in diesem Mysterium der Erhabenheit.

Bei solchen Betrachtungen schwand sein Stolz; er ging häufig in sich, fühlte sich gering und unbedeutend und weinte oft. Alles was seit sechs Monaten in sein Leben getreten war, führte ihn zu den heiligen Ermahnungen des Bischofs zurück; Cosette durch Liebe, das Kloster durch Demuth.

Bisweilen, Abends in der Dämmerung, in der Zeit wenn der Garten vereinsamt war, sah man ihn mitten in der Allee, welche an der Kapelle hinführte, vor dem Fenster, durch das er in der Nacht seiner Ankunft hineingesehen hatte, in knieender Stellung nach der Stelle zu, wo er wußte, daß die die reparatio verrichtende Schwester ausgestreckt dalag. So betete er knieend vor dieser Schwester. Vor Gott direct zu knieen, schien er nicht zu wagen.

Alles was ihn umgab, der friedliche Garten, die fröhlichen spielenden Kinder, die ernsten und einfachen Frauengestalten, das stille Kloster, alles dieses durchdrang ihn langsam, und allmälig erfüllte sich seine Seele mit Stille wie dieses Kloster, mit Frieden wie der Garten, mit Einfachheit wie die Nonnen, mit Freude wie die Kinder. Er dachte daran, wie ihn zwei Gotteshäuser nacheinander, in den gefährlichsten Augenblicken seines Lebens, aufgenommen hatten: das erste als alle Thüren sich vor ihm verschlossen und die menschliche Gesellschaft ihn zurückstieß, das zweite als die menschliche Gesellschaft sich wieder aufmachte ihn zu verfolgen und der Bagno sich von neuem hinter ihm öffnete. Er bedachte, wie er ohne das erste wieder in das Verbrechen, ohne das zweite in die Strafe zurückgefallen wäre.

Sein ganzes Herz zerfloß in Dankbarkeit. –

So vergingen mehrere Jahre.

Mittlerweile wuchs Cosette heran.

 

Ende des vierten Bandes.

IV. Das Hin- und Hertappen der Flucht.

Um das Nachfolgende zu verstehen, muß man sich die Oertlichkeit deutlich machen, in welcher sich die erzählten Begebenheiten zutrugen: rechts fast überall ärmliche Häuser, links dagegen ein einziges großes Haus mit verschiedenen Nebengebäuden, welche so gebaut waren, daß sie sich allmälig um eine oder zwei Etagen erhöhten, je mehr sie sich dem Picpus-Gäßchen näherten, so daß nach der Ecke zu, von welcher wir gesprochen haben, diese Gebäude so niedrig waren, daß sie nur eine Mauer waren, welche überdem von der Straße zurückstand. Neben derselben befand sich eine Einfahrt von gewöhnlicher Größe.

Eine Linde streckte ihre Aeste über die Wand. Auf der anderen Seite war die Mauer mit Epheu bekleidet.

In der drohenden Gefahr, in welcher sich Johann Valjean befand, sah dieses düstere Gebäude einsam und unbewohnt aus. Das zog ihn an. Er musterte es rasch mit den Augen und sagte sich, daß, wenn er hineingelangen könnte, er sich vielleicht retten könne. Er schöpfte Hoffnung.

In dem mittleren Theile der Vorderseite des Gebäudes nach der Straße Rechts-Mauer zu befanden sich in allen Fenstern sämmtlicher Etagen alte trichterförmige, bleierne Becken. Die verschiedenen Verzweigungen der Röhren, die von einer Hauptröhre zu allen Becken gingen, bildeten an der Façade eine Art Baum.

Dieses seltsame Spalier mit seinen bleiernen Zweigen war der erste Gegenstand, welcher Johann Valjean auffiel. Er setzte Cosetten mit dem Rücken an einen Stein, empfahl ihr still zu sein und lief an die Stelle, wo das Rohr das Straßenpflaster berührte. Vielleicht war es möglich von hier hinaufzusteigen und in das Haus zu gelangen. Aber das Rohr war entzwei. Uebrigens waren alle Fenster dieses stillen Hauses, selbst die Dachfenster, mit dicken Eisenstäben vergittert. Auch erhellte der Mond mit vollem Licht diese Façade und der Mann, welcher am Ausgange der Straße auf Beobachtung stand, hätte ihn beim Hinaufsteigen gesehen. Und was mit Cosetten machen? Wie sie auf ein drei Stock hohes Haus hinauf bringen?

Er gab es auf, an dem Rohre hinaufzusteigen und schlich längs der Mauer hin. Als er an die einspringende Mauer gelangt, da wo er Cosetten gelassen hatte, bemerkte er, daß ihn hier Niemand sehen könne. Auch waren zwei Thüren hier und vielleicht konnte man sie öffnen. Die Mauer, über welcher er die Linde sah, und der Epheu gehörten offenbar zu einem Garten, wo er sich wenigstens verbergen konnte, obgleich noch keine Blätter an den Bäumen waren. Vielleicht konnte er auch in diesem Garten übernachten.

Die Zeit verging. Er mußte sich beeilen.

Er tastete an dem Einfahrtsthore und erkannte sofort, daß es von innen und außen zugenagelt war. Mit mehr Hoffnung näherte er sich dem anderen Thore. Dieses war scheußlich morsch und selbst seine ungeheure Größe machte es minder fest. Die Bretter waren verfault und die drei eisernen Bänder verrostet. Es schien möglich zu sein dieses wurmstichige Thor aufzubrechen. Er untersuchte es und sah, daß das Thor kein Thor war. Es hatte weder Angeln, noch Schloß, noch Flügel. Die eisernen Bänder liefen ohne Unterbrechung von einem Ende bis zum andern. Zwischen den Bretterritzen hindurch konnte man dick mit Mörtel versehene Steine sehen. Niedergeschlagen gestand er sich, daß diese scheinbare Thür einfach der Verschlag irgend eines Gebäudes sei. Er hätte wohl leicht ein Brett abreißen können, würde dann aber vor einer Mauer gestanden haben.

V. Das wäre bei Gasbeleuchtung unmöglich.

In diesem Augenblicke ließ sich ein dumpfes tactmäßiges Geräusch in einiger Entfernung hören. Johann Valjean wagte seinen Blick ein Wenig um die Ecke. Sieben oder acht Soldaten marschirten in die Gasse hinein. Er sah die Bajonette blinken. Sie kamen auf ihn zu.

Die Soldaten, an deren Spitze er die hohe Gestalt Javerts erkannte, schritten langsam und mit Vorsicht vor. Oft blieben sie stehen. Sie durchsuchten offenbar alle Mauerwinkel und alle Thürvertiefungen.

Es war, und diese Vermuthung konnte keine irrige sein, es war eine Patrouille, welche Javert getroffen und welche er requirirt hatte.

Die beiden Helfershelfer Javerts waren unter den Soldaten.

Nach dem Schritte, mit dem sie gingen, und dem öfteren Stehenbleiben brauchten sie etwa eine Viertelstunde, um an die Stelle zu gelangen, wo sich Johann Valjean befand. Es war ein schrecklicher Augenblick. Einige Minuten trennten Johann Valjean von diesem entsetzlichen Abgrunde, der sich zum dritten Male vor ihm öffnete. Und jetzt war der Bagno nicht blos mehr Bagno, er bedeutete auch den Verlust Cosettens, d. h. ihn bedrohte ein Leben ähnlich dem im Grabe.

Nur Eins war noch möglich. Johann Valjean hatte das Eigenthümliche, daß man sagen konnte, er trug zwei Säcke: in dem einen hatte er die Gedanken eines Heiligen, in dem anderen die entsetzlichen Talente eines Sträflings. Je nach den Umständen und Gelegenheit griff er in den einen oder in den andern.

Dank seinen zahlreichen Fluchtversuchen aus dem Bagno in Toulon war er, unter Anderem, wie man sich erinnert, vollendeter Meister in der unglaublichen Kunst, ohne Leiter, ohne Klammern, allein durch die Kraft seiner Muskeln, durch Anstemmen und Anklammern in einer Mauerecke im Nothfalle sich bis zum sechsten Stockwerke emporzuarbeiten: eine Kunst, welche die Ecke des Hofes der Conciergerie in Paris so erschrecklich und berühmt gemacht hat, in welcher vor etwa zwanzig Jahren der Verurtheilte Battemolle entwischte.

Johann Valjean maß mit den Augen die Mauer, über welcher er die Linde sah. Sie hatte etwa achtzehn Fuß Höhe. Die Ecke, welche sie mit dem Giebel des großen Gebäudes bildete, war in ihrem inneren Theile mit Mauerwerk in dreieckiger Gestalt ausgefüllt, was ungefähr fünf Fuß hoch war. Von der Höhe desselben bis zur Spitze der Mauer waren nicht leicht mehr oder weniger als vierzehn Fuß.

Oben auf der Mauer lag ein glatter Stein ohne Sparren.

Die Schwierigkeit war Cosette. Sie verstand es nicht an einer Mauer emporzuklettern. Sie verlassen? Daran dachte Johann Valjean nicht. Sie mitnehmen war unmöglich, da sein Plan alle seine Kräfte für seine eigene Person beanspruchte. Die geringste Last würde seinen Schwerpunkt verrücken und ihn hinabstürzen.

Einen Strick hätte er brauchen können. Johann Valjean hatte keinen. Wo um Mitternacht einen finden? Gewiß, wenn Johann Valjean in diesem Augenblicke ein Königreich gehabt hatte, er würde es für einen Strick hingegeben haben.

Jedes extreme Verhältniß, jede extreme Lage hat ihre Blitze, welche bald blenden, bald uns erleuchten.

Der verzweiflungsvolle Blick Johann Valjeans begegnete dem Laternenträger in der Sackgasse.

In jener Zeit gab es in den Straßen von Paris keine Gasbrenner. Mit beginnender Dunkelheit zündete man Laternen an, welche in gewissen Entfernungen von einander mittels eines Stricks, welcher über die Straße und in einem Falz eines Pfahls herabhing, empor und herniedergelassen wurden. Die Rolle, auf welcher der Strick lief, befand sich in einem eisernen Schränkchen über dem Pfahl, zu dem der Laternenanzünder den Schlüssel hatte. Der Strick selbst steckte in einem Etui von Metall.

Mit der Energie eines Kampfes auf Tod und Leben sprang Johann Valjean mit einem Satze über die Straße, lief in die Sackgasse, sprengte das Schloß des Laternenpfahlschränkchens mit der Spitze seines Messers auf und einen Augenblick nachher war er wieder bei Cosetten. Er hatte einen Strick. Grade wenn es dringend darauf ankommt, wenn ein schweres Verhängniß droht, da geht es schnell mit dem Auffinden eines Rettungsmittels.

Daß die Laternen an diesem Abende nicht angezündet worden waren, haben wir schon gesagt. Die in der Sackgasse war also natürlich wie alle übrigen nicht angezündet und man konnte bei ihr vorbeigehen, ohne zu bemerken, daß sie nicht mehr auf ihrem Platze war.

Indeß fing die Zeit, der Ort, die Dunkelheit, die Unruhe Johann Valjeans, seine seltsamen Geberden, sein Kommen und Gehen, alles dies fing an Cosetten zu beunruhigen. Jedes andere Kind würde längst schon laut geschrieen haben. Sie beschränkte sich darauf Johann Valjean am Rockschooße zu ziehen. Man hörte immer deutlicher das Geräusch der sich nähernden Patrouille.

»Vater,« sagte sie ganz leise, »ich fürchte mich. Was kommt denn da?«

»Still!« antwortete der unglückliche Mann. »Es ist die Thenardier.«

Die Kleine zitterte. Er setzte hinzu:

»Sprich kein Wort, laß mich nur machen. Wenn Du schreiest, wenn Du weinst, so hört Dich die Thenardier. Sie will Dich wiederholen.«

Darauf, ohne sich zu übereilen, aber doch mit Eile und mit fester und entschlossener Sicherheit, die um so bemerkenswerther in solchem Augenblick war, als die Patrouille und Javert jeden Augenblick ankommen konnten, machte er sein Halstuch ab, band dasselbe Cosetten unter den Achseln um den Leib, wobei er darauf sah, daß er dem Kinde nicht weh thun konnte, befestigte mit einem sogenannten Schwabenknoten das Halstuch an das eine Ende des Strickes, nahm das andere Ende des Strickes zwischen die Zähne, zog seine Schuhe und Strümpfe aus, warf sie über die Mauer, stieg auf das Mauerwerk, welches wir oben erwähnt haben, und begann sich dann in dem Mauerwerke mit solcher Sicherheit empor zu heben, als habe er Stufen unter den Füßen und den Ellenbogen. Noch war eine halbe Minute nicht vorüber und schon kniete er oben auf der Mauer.

Cosette sah ihm staunend zu, ohne ein Wort zu sagen. Die Ermahnung Johann Valjeans und der Name der Thenardier hatten sie starr vor Entsetzen gemacht.

Mit einem Male hört sie die Stimme Johann Valjeans, welcher ihr möglichst leise zurief:

»Lehne Dich an die Mauer.«

Sie gehorchte.

»Sprich kein Wort und fürchte Dich nicht,« fuhr Johann Valjean fort.

Und sie fühlte, wie sie von der Erde empor gezogen wurde.

Ehe sie Zeit hatte daran zu denken, war sie oben auf der Mauer.

Johann Valjean erfaßte sie, nahm sie auf seinen Rücken und ihre beiden kleinen Hände in seine linke Hand, legte sich platt auf den Bauch und kroch auf der Höhe der Mauer hin bis an das Thor, was wenigstens so aussah. Wie er errathen hatte, stand da ein Gebäude, dessen Dach oben an dem Holzverschlage anfing und sanft abfallend bis fast an den Boden hinunter reichte, wobei es die Linde berührte. Das war ein glücklicher Umstand, denn die Mauer war auf dieser Seite viel höher als auf der Straßenseite.

Er war eben an den beschriebenen Ort gelangt und hatte die Mauer noch nicht losgelassen, als heftiger Lärm die Ankunft der Patrouille anzeigte. Man hörte die donnernde Stimme Javerts:

»Durchsucht die Sackgasse! Die beiden anderen Gassen sind bewacht. Ich stehe dafür, daß er in der Sackgasse ist.«

Die Soldaten stürzten sich in die Sackgasse.

Johann Valjean ließ sich, während er Cosette festhielt, längs des Daches hingleiten, erreichte die Linde und sprang hinunter auf den Boden. Sei es Angst oder Muth, Cosette hatte nicht gemuckst. Ihre Hände waren ein wenig geschunden.

V. Betrunkensein reicht nicht aus zur Unsterblichkeit.

Am anderen Tage, als die Sonne unterging, nahmen die wenigen Vorübergehenden auf dem Boulevard du Maine den Hut vor einem Leichenwagen, einem alten Modell, ab, der mit Todtenköpfen, Todtengebeinen und Todtenlarven verziert war. In dem Leichenwagen befand sich ein mit einem weißen Tuche bedeckter Sarg, auf welchem ein großes schwarzes Kreuz stand, das wie eine todte Frau mit herabhängenden Armen aussah. Ein schwarz behangener Wagen, in dem man einen Geistlichen und einen Chorknaben bemerkte, folgte. Zwei Todtengräber in grauem Anzuge mit schwarzen Aufschlagen gingen zur Rechten und Linken des Leichenwagens. Hinter demselben kam ein alter Mann in Arbeiterkleidung zu Fuß. Dieser hinkte.

Der Gottesacker Vaugirard, wohin sich der Zug bewegte, hatte früher den Bernhardinern und Benediktinerinnen von Klein-Picpus gehört, deshalb hatten sie es erlangt, dort in einem besonderen Winkel und des Abends begraben zu werden. Die Todtengräber, welche aus diesem Grunde auf dem Kirchhofe im Sommer des Abends und im Winter des Nachts Dienst hatten, waren einer besonderen Aufsicht unterworfen. Die Thore der Kirchhöfe zu Paris wurden damals mit Sonnenuntergang geschlossen. Die beiden Thore des Kirchhofes von Vaugirard waren zwei anstoßende Gitter neben einem kleinen Häuschen, wo der Kirchhofs-Portier wohnte. Diese Gitter schlossen sich unerbittlich, sobald die Sonne hinter dem Invalidendome verschwand. Wenn irgend ein Todtengräber sich auf dem Kirchhofe verspätet hatte, so konnte er nur heraus, wenn er seine Karte vorzeigte, welche ihm von der allgemeinen Begräbnißverwaltung ausgestellt worden war. In dem Fensterladen des Portier war eine Art Briefkasten angebracht. In diesen Kasten warf der Todtengräber seine Karte, der Portier zog die Schnur und das Thor ging auf. Hatte der Todtengräber seine Karte nicht bei sich, so nannte er sich, der bereits eingeschlafen gewesene Portier stand auf, erkannte den Todtengräber, schloß auf und ließ ihn heraus. Dafür mußte der Todtengräber aber fünfzehn Francs Strafe bezahlen.

Die Sonne war noch nicht untergegangen, als der Leichenwagen mit dem weißen Tuche und dem schwarzen Kreuze in die Allée des Kirchhofs einfuhr.

Das Begräbniß der Mutter Crucifixion in dem Gewölbe unter dem Altare, das Hinaustragen Cosettes, das Hineinführen Johann Valjeans in den Todtensaal, alles dies war ohne Hinderniß ausgeführt worden.

Die Bestattung der Mutter Crucifixion unter dem Altare macht uns übrigens auf jene Gattung von Vergehen aufmerksam, welche einer Pflicht gleichen. Die Nonnen hatten es begangen nicht nur ohne Unruhe, sondern mit innerer Befriedigung. Dasjenige, was man im Kloster »die Regierung« nennt, ist nur eine immer streitige Einmischung in die kirchliche Autorität. Erst kommt die Ordensregel. Macht Gesetze, ihr Menschen da draußen, so viel Ihr wollt, behaltet sie aber für Euch! Was ist ein Fürst neben einem Princip?

Fauchelevent hinkte ganz zufrieden hinter dem Leichenwagen her. Bisher war ihm Alles geglückt. Er zweifelte auch an dem weiteren Erfolge nicht, denn das was noch zu thun übrig, war so gut wie nichts. Seit zwei Jahren hatte er den Todtengräber zehnmal betrunken gemacht. Er spielte mit ihm und machte mit ihm, was er wollte. Er fühlte sich vollkommen sicher. Als der Zug in den Kirchhof hineinfuhr, war Fauchelevent glücklich und rieb sich vergnügt die Hände.

Plötzlich hielt der Leichenwagen; man war vor dem Gitter und der Begräbnißschein mußte vorgezeigt werden. Man sprach mit dem Portier und während dieses Gespräches, das immer einen Aufenthalt von Ein oder Zwei Minuten verschaffte, stellte sich Jemand hinter den Wagen neben Fauchelevent, eine Art Arbeitsmann in einer Jacke mit großen Taschen und einer Hacke unter dem Arme.

Fauchelevent sah den Unbekannten an und fragte:

»Wer sind Sie?«

Der Mann antwortete:

»Der Todtengräber.«

Wenn man noch lebte, nachdem man eine Kanonenkugel in die volle Brust erhalten, so würde man ein Gesicht machen, wie Fauchelevent es jetzt machte.

»Der Todtengräber?«

»Ja.«

»Sie?«

»Ich.«

»Der Todtengräber ist der Vater Mestienne.«

»Er war es.«

»Wie so war es?«

»Er ist gestorben.«

Fauchelevent hatte es alles erwartet, nur das nicht, daß ein Todtengräber sterben könnte.

Fauchelevent war ganz bestürzt.

»Das ist ja aber nicht möglich.«

»Es ist so.«

»Der Todtengräber ist ja aber der alte Mestienne,« erwiederte er mit schwacher Stimme.

»Nach Napoleon Ludwig der XVIII. Nach Mestienne Gribier. Ich heiße Gribier.«

Fauchelevent war ganz blaß und besah sich diesen Gribier. Es war ein langer, hagerer, bleicher Mann, ein wahrer Leichenmensch. Er sah aus wie Einer der während er Arzt werden wollte, Todtengräber geworden ist.

Fauchelevent brach in lautes Lachen aus.

»Was doch für komische Sachen passiren! Der Vater Mestienne ist todt! Der kleine Vater Mestienne ist todt! Es thut mir leid; er war ein guter Kerl, als er noch lebte. Sie sind aber auch ein guter Kerl. Nicht wahr, Camerad, wir trinken Eins mit einander auf der Stelle?«

Der Mann antwortete:

»Ich habe studirt. Ich trinke nie.«

Der Leichenwagen hatte sich wieder in Bewegung gesetzt.

Fauchelevent fing an langsamer zu gehen. Er hinkte noch mehr aus Angst als aus Gebrechlichkeit.

Der Todtengräber ging vor ihm.

»Camerad!« rief Fauchelevent.

Der Mann drehte sich um.

»Ich bin der Todtengräber des Klosters.«

»Mein College also,« antwortete der Mann.

Fauchelevent war nicht gelehrt, aber sehr pfiffig und begriff, daß er mit einer fürchterlichen Gattung Menschen, mit einem Schönredner zu thun habe.

Er murmelte:

»Hm! hm! Ist der alte Mestienne gestorben!«

Der Mann antwortete:

»Vollständig. Der liebe Gott sah in seinem Wechselportefeuille nach. Es war die Reihe an den alten Mestienne und der alte Mestienne starb.«

Fauchelevent wiederholte mechanisch:

»Der liebe Gott …«

»Der liebe Gott,« fiel der Andere mit einer gewissen Autorität ein. »Für die Philosophen ist es der ewige Vater, für die Jacobiner das höchste Wesen.«

»Wollen wir nicht Bekanntschaft mit einander machen?« stotterte Fauchelevent.

»Ist schon gemacht. Sie sind Bauer, ich bin Pariser.«

»So lange man nicht mit einander getrunken hat, kennt man einander nicht. Wer sein Glas leert, leert auch sein Herz aus. Wir trinken Eins mit einander. Das schlägt man einander nicht aus.«

»Erst die Arbeit.«

Fauchelevent dachte: »ich bin verloren.«

Man war nur noch einige Schritte von dem Wege entfernt, welcher zu dem Winkel führte, wo die Nonne begraben wurde. Da sagte der Todtengräber:

»Bauer, ich habe sieben Mäuler zu füttern. Da sie essen wollen, darf ich nicht trinken. Ihr Hunger ist der Feind meines Durstes.«

Der Leichenwagen fuhr um einen Cypressenbaum herum, verließ die große Haupt-Allee, bog in eine schmale hinein, verließ dann auch diese und fuhr auf ungebahntem Erdreich hin, ein Zeichen, daß er nicht mehr weit vom Grabe war.

Fauchelevent ging langsamer, aber den Wagen konnte er nicht aufhalten. Zum Glück war der Boden vom Winterregen weich und feucht, so daß die Räder tief einschnitten und er nicht schnell gehen konnte.

Er trat wieder zu dem Todtengräber und sprach verlockend:

»Es giebt einen so vortrefflichen Wein von Argenteuil.«

»Bauer,« antwortete der Andere, »eigentlich sollte ich nicht Todtengräber sein. Mein Vater war Portier im Prytanäum. Er bestimmte mich für die Literatur. Er hatte aber Unglück. Er hatte Verluste an der Börse. Ich mußte auf den Schriftstellerstand verzichten, bin aber noch öffentlicher Schreiber.«

»So sind Sie also nicht Todtengräber?« fragte Fauchelevent, indem er sich an diesem so schwachen Aste anzuklammern suchte.

»Eins schließt das Andere nicht aus.«

»Trinken wir doch Eins,« sagte Fauchelevent.

Hier ist die Bemerkung nöthig, daß so groß auch die Angst Fauchelevents war, er sich bei seiner Aufforderung zum Trinken über den Punkt des Bezahlens nicht ausließ. Er war so aufgeregt, daß er gar nicht ans Bezahlen dachte.

Mit einem überlegenen Lächeln fuhr der Todtengräber fort:

»Man muß essen. Ich habe die Erbschaft des Vaters Mestienne angetreten. Wenn man die Schule fast durchgemacht hat, ist man Philosoph. Ich arbeite nicht nur mit dem Arme, auch mit der Hand. Meine Schreiberstube steht in der Sevresstraße, wissen Sie, am Paraplui-Markte. Alle Köchinnen des Viertels wenden sich an mich. Ich schreibe die Briefe an ihre Täuber. Früh schreibe ich Liebesbriefe, Abends mache ich Gräber. So ist das Leben, Landmann.«

Der Leichenwagen fuhr immer weiter. Fauchelevent, der sich in der größten Unruhe befand, sah sich nach allen Seiten um. Große Schweißtropfen fielen von seiner Stirn.

»Indessen,« fuhr der Todtengräber fort, »zweien Herren kann man nicht dienen. Ich werde wählen müssen, entweder die Feder oder das Grabscheit. Das Grabscheit verdirbt mir die Hand.«

Der Leichenwagen hielt.

Der Chorknabe stieg aus dem schwarz behangenen Begleitwagen, dann der Geistliche.