IX. Schluß.

Cosette bewahrte auch im Kloster ihr Schweigen.

Sie hielt sich natürlich für die Tochter Johann Valjeans. Uebrigens da sie nichts wußte, konnte sie nichts sagen; in jedem Fall würde sie auch nichts gesagt haben. Cosette hatte so viel gelitten, daß sie Alles, selbst das Reden, fürchtete. Wie oft hatte ein Wort ihr einen wahren Hagel von Schlägen zugezogen. An das Kloster gewöhnte sie sich schnell. Sie bedauerte nur, daß sie ihre Puppe nicht haben konnte, aber sie wagte es nicht zu sagen. Einmal nur sagte sie zu Johann Valjean: »Vater, hätte ich es gewußt, so würde ich sie mitgenommen haben.«

Als Pensionärin des Klosters mußte Cosette die Kleidung der Schülerinnen des Hauses anlegen. Johann Valjean erlangte die Erlaubniß, daß man ihm das Kleid überließe, das sie ablegte. Es war dasselbe Trauerkleid, mit dem er sie bekleidet, als sie das Haus Thenardiers verließen. Johann Valjean schloß alle die kleinen Gegenstände Cosettens, auch die Strümpfe und Schuhe nebst vielem Kampher und Wohlgerüchen, die in den Klöstern in Masse zu haben sind, in einen kleinen Koffer ein, welcher auf einem Stuhl neben seinem Bett stand. Den Schlüssel dazu trug er stets bei sich. »Vater,« fragte ihn eines Tages Cosette, »Was ist denn das für eine Schachtel, die so gut riecht?«

Wenn die Nonnen etwas von dem Blicke Javerts gehabt hätten, würden sie endlich haben bemerken können, daß wenn etwas Geschäftliches außerhalb des Klosters zu besorgen war, immer der ältere Fauchelevent ging, der alte, gebrechliche, lahme, nie der andere; aber sei es weil die immer auf Gott gerichteten Augen nicht spioniren können, sei es, weil sie lieber unter einander Beobachtungen anstellen, kurz sie achteten nicht darauf.

Uebrigens that Johann Valjean wohl daran, sich ruhig zu verhalten und sich nicht zu rühren, denn Javert ließ die Gegend noch über einen ganzen Monat bewachen.

Das Kloster war für Johann Valjean gleichsam eine rings von Abgründen und Schlünden umgebene Insel. Die vier Mauern waren von nun an für ihn die Welt. Er sah darin von dem Himmel genug, um heiter, und Cosetten so oft, um glücklich zu sein.

Es begann für ihn ein stilles, angenehmes Leben.

Er arbeitete alle Tage im Garten und machte sich sehr nützlich. Da er früher Baumschäler gewesen, so fand er sich auch bald als Gärtner zurecht. Man erinnert sich, daß er allerlei Recepte und geheime Mittel für den Ackerbau kannte. Daraus zog er Nutzen. Beinahe alle Bäume im Garten waren Wildlinge. Er pfropfte viele Bäume und zog vortreffliches Obst.

Cosette hatte die Erlaubniß alle Tage eine Stunde bei ihm zu sein.

Da die Schwestern traurig waren, er aber freundlich, so verglich ihn das Kind mit den Nonnen und vergötterte ihn. Zur bestimmten Stunde flog sie nach der Gärtnerhütte. Wenn sie in das Hüttchen kam, erfüllte sie es mit dem Paradiese. Johann Valjean fühlte sein Glück wachsen mit dem Glücke, das er dem Kinde bereitete. Die Freude, die wir bereiten, hat den Reiz, daß sie, weit entfernt sich zu schwächen wie jeder Widerschein, mit stärkerem Strahle auf uns zurückfallt. In den Erholungsstunden sah ihr Johann Valjean von Weitem zu, wie sie spielte und lief, und ihr Lachen kannte er; denn jetzt »lachte« Cosette.

Sogar das Gesicht Cosetten’s hatte sich in einem gewissen Grade verändert. Das Düstere war daraus verschwunden. Das Lachen ist die Sonne; es vertreibt den Winter aus dem menschlichen Gesichte.

Wenn Cosette nach der Spielstunde in das Kloster zurückging, sah Johann Valjean nach den Fenstern ihrer Klasse; des Nachts stand er auf um nach den Fenstern ihres Schlafsaales zu sehen.

Gott hat seine Wege. Das Kloster trug, wie Cosette, dazu bei, in Johann Valjean das Werk des Bischofs aufrecht zu erhalten und zu vervollständigen. Eine Seite der Tugend grenzt sicherlich an den Stolz. Dieser ist eine vom Teufel gebaute Brücke. Johann Valjean war vielleicht, ohne daß er es wußte, dieser Seite und dieser Brücke nahe, als die Vorsehung ihn in das Kloster von Klein-Picpus warf. So lange er sich nur mit dem Bischofe verglichen, hatte er sich unwürdig gefunden und war demüthig gewesen; seit einiger Zeit aber fing er an sich mit den Menschen zu vergleichen und der Stolz regte sich in ihm. Wer weiß? Vielleicht wäre er dadurch ganz allmälig wieder dem Princip des Hasses verfallen.

Das Kloster hielt ihn auf diesem abschüssigen Wege auf.

Es war der zweite Gefängnißort, den er sah. In seiner Jugend, in dem Beginne seines Lebens und später, ganz neuerlich noch, hatte er einen anderen gesehen, einen furchtbaren, schrecklichen Ort, dessen Strenge ihm immer als das Unrecht der Justiz und das Verbrechen des Gesetzes erschienen war. Jetzt sah er nach dem Bagno das Kloster, und wenn er bedachte, daß er Mitglied des Bagno gewesen und jetzt Zuschauer im Kloster sei, verglich er diese beiden Gefängnißorte im Geiste mit einander.

Bisweilen stützte er sich auf den Spaten und versenkte sich langsam in die grundlosen Schlangenwindungen seiner träumerischen Gedanken.

Er erinnerte sich seiner ehemaligen Gefährten und der strengen Zucht ihrer Lebensweise.

Dann wieder betrachtete er die Wesen, welche er jetzt vor Augen hatte und welche einem nicht minder strengen, vielleicht einem noch härteren Leben unterworfen waren.

Die einen waren Männer, diese waren Frauen.

Was hatten die Männer gethan? Sie hatten gestohlen, geraubt, gemordet. Was hatten diese Frauen gethan? Sie hatten nichts verbrochen.

Auf der einen Seite alle Arten Verbrechen und Verletzungen der öffentlichen Moral, auf der anderen nur Eins: Unschuld, vollkommene Unschuld, die mit der Erde durch die Tugend, mit dem Himmel durch ihre Heiligkeit in Verbindung stand.

Auf der einen Seite Verbrechen, die Einer dem Andern leise anvertraut; auf der anderen laute Beichte geringer Uebertretungen. Und welche Verbrechen! Und was für Uebertretungen!

Zwei Orte der Sclaverei, aber in dem ersten eine mögliche Befreiung, eine gesetzliche Grenze und die Flucht. In dem zweiten die Ewigkeit der Sclaverei, und als Hoffnung, am fernsten Ende der Zukunft, jener Schein der Freiheit, welchen die Menschen Tod nennen.

Im ersten war man nur durch Ketten gefesselt, im zweiten durch seinen Glauben.

Was entstand aus dem ersten? Ein unermeßlicher Fluch, Zähneknirschen, Haß, verzweiflungsvolle Bosheit, ein Wuthschrei gegen die menschliche Gesellschaft, eine Verhöhnung der Gottheit.

Was entsteht aus dem zweiten? Segen und Liebe.

Johann Valjean begriff sehr wohl die eine Buße, die persönliche, die für sich selbst. Aber er begriff nicht die andere, die jener Geschöpfe ohne Vorwurf und Flecken, und mit Zittern fragte er sich: Weshalb büßen sie?

Eine Stimme antwortete in seinem Gewissen: die göttlichste Art des menschlichen Edelmuthes ist die Buße für Andere.

Er hatte den höchsten Gipfel der Selbstverläugnung und die höchste Höhe der möglichen Tugend vor Augen: die Unschuld, welche den Menschen ihre Vergehen verzeiht und dieselben für sie büßt; sanfte, schwache Wesen mit dem Elende derer, welche bestraft, und mit dem Lächeln jener, die belohnt werden.

Und er erinnerte sich daran, daß er zu klagen gewagt habe!

Oftmals stand er mitten in der Nacht auf, um den Dankgesang jener Schuldlosen, von Strenge niedergedrückten Geschöpfe anzuhören und fühlte es eiskalt in seinen Gliedern, wenn er daran dachte, daß diejenigen, welche mit Recht ihre Züchtigung erhalten, ihre Stimme zum Himmel nur erheben, um zu lästern und daß auch er, der Elende, Gott mit der Faust gedroht habe.

Leise flüsterte es in ihm: Mauern hast du überstiegen, Schlösser erbrochen, todesgefährliche Abenteuer gewagt, um aus dem ersten Orte der Buße zu entkommen, jetzt hast du dasselbe gethan, um in diesen Ort der Buße herein zu kommen.

Gitter, Riegel, Eisenstangen sah er wieder und zwar, um wen zu hüten? Engel.

Diese hohen Mauern, welche zur Bewachung von Tigern geeignet gewesen wären, sah er hier rings um eine Heerde unschuldiger Lämmer gezogen.

Es war ein Ort der Buße, nicht der Strafe, und dennoch war er viel düsterer, strenger, unbarmherziger als der andere. Ein kalter, rauher Wind, jener Wind, welcher seine Jugend erkältet hatte, stürmte durch das vergitterte Grab der Geier im Bagno, ein noch schärferer und schmerzlicherer Wind wehte in dem Käfig der Tauben im Kloster.

Warum?

Wenn er daran dachte, so verlor sich Alles, was in ihm war, in diesem Mysterium der Erhabenheit.

Bei solchen Betrachtungen schwand sein Stolz; er ging häufig in sich, fühlte sich gering und unbedeutend und weinte oft. Alles was seit sechs Monaten in sein Leben getreten war, führte ihn zu den heiligen Ermahnungen des Bischofs zurück; Cosette durch Liebe, das Kloster durch Demuth.

Bisweilen, Abends in der Dämmerung, in der Zeit wenn der Garten vereinsamt war, sah man ihn mitten in der Allee, welche an der Kapelle hinführte, vor dem Fenster, durch das er in der Nacht seiner Ankunft hineingesehen hatte, in knieender Stellung nach der Stelle zu, wo er wußte, daß die die reparatio verrichtende Schwester ausgestreckt dalag. So betete er knieend vor dieser Schwester. Vor Gott direct zu knieen, schien er nicht zu wagen.

Alles was ihn umgab, der friedliche Garten, die fröhlichen spielenden Kinder, die ernsten und einfachen Frauengestalten, das stille Kloster, alles dieses durchdrang ihn langsam, und allmälig erfüllte sich seine Seele mit Stille wie dieses Kloster, mit Frieden wie der Garten, mit Einfachheit wie die Nonnen, mit Freude wie die Kinder. Er dachte daran, wie ihn zwei Gotteshäuser nacheinander, in den gefährlichsten Augenblicken seines Lebens, aufgenommen hatten: das erste als alle Thüren sich vor ihm verschlossen und die menschliche Gesellschaft ihn zurückstieß, das zweite als die menschliche Gesellschaft sich wieder aufmachte ihn zu verfolgen und der Bagno sich von neuem hinter ihm öffnete. Er bedachte, wie er ohne das erste wieder in das Verbrechen, ohne das zweite in die Strafe zurückgefallen wäre.

Sein ganzes Herz zerfloß in Dankbarkeit. –

So vergingen mehrere Jahre.

Mittlerweile wuchs Cosette heran.

 

Ende des vierten Bandes.

IV. Das Hin- und Hertappen der Flucht.

Um das Nachfolgende zu verstehen, muß man sich die Oertlichkeit deutlich machen, in welcher sich die erzählten Begebenheiten zutrugen: rechts fast überall ärmliche Häuser, links dagegen ein einziges großes Haus mit verschiedenen Nebengebäuden, welche so gebaut waren, daß sie sich allmälig um eine oder zwei Etagen erhöhten, je mehr sie sich dem Picpus-Gäßchen näherten, so daß nach der Ecke zu, von welcher wir gesprochen haben, diese Gebäude so niedrig waren, daß sie nur eine Mauer waren, welche überdem von der Straße zurückstand. Neben derselben befand sich eine Einfahrt von gewöhnlicher Größe.

Eine Linde streckte ihre Aeste über die Wand. Auf der anderen Seite war die Mauer mit Epheu bekleidet.

In der drohenden Gefahr, in welcher sich Johann Valjean befand, sah dieses düstere Gebäude einsam und unbewohnt aus. Das zog ihn an. Er musterte es rasch mit den Augen und sagte sich, daß, wenn er hineingelangen könnte, er sich vielleicht retten könne. Er schöpfte Hoffnung.

In dem mittleren Theile der Vorderseite des Gebäudes nach der Straße Rechts-Mauer zu befanden sich in allen Fenstern sämmtlicher Etagen alte trichterförmige, bleierne Becken. Die verschiedenen Verzweigungen der Röhren, die von einer Hauptröhre zu allen Becken gingen, bildeten an der Façade eine Art Baum.

Dieses seltsame Spalier mit seinen bleiernen Zweigen war der erste Gegenstand, welcher Johann Valjean auffiel. Er setzte Cosetten mit dem Rücken an einen Stein, empfahl ihr still zu sein und lief an die Stelle, wo das Rohr das Straßenpflaster berührte. Vielleicht war es möglich von hier hinaufzusteigen und in das Haus zu gelangen. Aber das Rohr war entzwei. Uebrigens waren alle Fenster dieses stillen Hauses, selbst die Dachfenster, mit dicken Eisenstäben vergittert. Auch erhellte der Mond mit vollem Licht diese Façade und der Mann, welcher am Ausgange der Straße auf Beobachtung stand, hätte ihn beim Hinaufsteigen gesehen. Und was mit Cosetten machen? Wie sie auf ein drei Stock hohes Haus hinauf bringen?

Er gab es auf, an dem Rohre hinaufzusteigen und schlich längs der Mauer hin. Als er an die einspringende Mauer gelangt, da wo er Cosetten gelassen hatte, bemerkte er, daß ihn hier Niemand sehen könne. Auch waren zwei Thüren hier und vielleicht konnte man sie öffnen. Die Mauer, über welcher er die Linde sah, und der Epheu gehörten offenbar zu einem Garten, wo er sich wenigstens verbergen konnte, obgleich noch keine Blätter an den Bäumen waren. Vielleicht konnte er auch in diesem Garten übernachten.

Die Zeit verging. Er mußte sich beeilen.

Er tastete an dem Einfahrtsthore und erkannte sofort, daß es von innen und außen zugenagelt war. Mit mehr Hoffnung näherte er sich dem anderen Thore. Dieses war scheußlich morsch und selbst seine ungeheure Größe machte es minder fest. Die Bretter waren verfault und die drei eisernen Bänder verrostet. Es schien möglich zu sein dieses wurmstichige Thor aufzubrechen. Er untersuchte es und sah, daß das Thor kein Thor war. Es hatte weder Angeln, noch Schloß, noch Flügel. Die eisernen Bänder liefen ohne Unterbrechung von einem Ende bis zum andern. Zwischen den Bretterritzen hindurch konnte man dick mit Mörtel versehene Steine sehen. Niedergeschlagen gestand er sich, daß diese scheinbare Thür einfach der Verschlag irgend eines Gebäudes sei. Er hätte wohl leicht ein Brett abreißen können, würde dann aber vor einer Mauer gestanden haben.

V. Das wäre bei Gasbeleuchtung unmöglich.

In diesem Augenblicke ließ sich ein dumpfes tactmäßiges Geräusch in einiger Entfernung hören. Johann Valjean wagte seinen Blick ein Wenig um die Ecke. Sieben oder acht Soldaten marschirten in die Gasse hinein. Er sah die Bajonette blinken. Sie kamen auf ihn zu.

Die Soldaten, an deren Spitze er die hohe Gestalt Javerts erkannte, schritten langsam und mit Vorsicht vor. Oft blieben sie stehen. Sie durchsuchten offenbar alle Mauerwinkel und alle Thürvertiefungen.

Es war, und diese Vermuthung konnte keine irrige sein, es war eine Patrouille, welche Javert getroffen und welche er requirirt hatte.

Die beiden Helfershelfer Javerts waren unter den Soldaten.

Nach dem Schritte, mit dem sie gingen, und dem öfteren Stehenbleiben brauchten sie etwa eine Viertelstunde, um an die Stelle zu gelangen, wo sich Johann Valjean befand. Es war ein schrecklicher Augenblick. Einige Minuten trennten Johann Valjean von diesem entsetzlichen Abgrunde, der sich zum dritten Male vor ihm öffnete. Und jetzt war der Bagno nicht blos mehr Bagno, er bedeutete auch den Verlust Cosettens, d. h. ihn bedrohte ein Leben ähnlich dem im Grabe.

Nur Eins war noch möglich. Johann Valjean hatte das Eigenthümliche, daß man sagen konnte, er trug zwei Säcke: in dem einen hatte er die Gedanken eines Heiligen, in dem anderen die entsetzlichen Talente eines Sträflings. Je nach den Umständen und Gelegenheit griff er in den einen oder in den andern.

Dank seinen zahlreichen Fluchtversuchen aus dem Bagno in Toulon war er, unter Anderem, wie man sich erinnert, vollendeter Meister in der unglaublichen Kunst, ohne Leiter, ohne Klammern, allein durch die Kraft seiner Muskeln, durch Anstemmen und Anklammern in einer Mauerecke im Nothfalle sich bis zum sechsten Stockwerke emporzuarbeiten: eine Kunst, welche die Ecke des Hofes der Conciergerie in Paris so erschrecklich und berühmt gemacht hat, in welcher vor etwa zwanzig Jahren der Verurtheilte Battemolle entwischte.

Johann Valjean maß mit den Augen die Mauer, über welcher er die Linde sah. Sie hatte etwa achtzehn Fuß Höhe. Die Ecke, welche sie mit dem Giebel des großen Gebäudes bildete, war in ihrem inneren Theile mit Mauerwerk in dreieckiger Gestalt ausgefüllt, was ungefähr fünf Fuß hoch war. Von der Höhe desselben bis zur Spitze der Mauer waren nicht leicht mehr oder weniger als vierzehn Fuß.

Oben auf der Mauer lag ein glatter Stein ohne Sparren.

Die Schwierigkeit war Cosette. Sie verstand es nicht an einer Mauer emporzuklettern. Sie verlassen? Daran dachte Johann Valjean nicht. Sie mitnehmen war unmöglich, da sein Plan alle seine Kräfte für seine eigene Person beanspruchte. Die geringste Last würde seinen Schwerpunkt verrücken und ihn hinabstürzen.

Einen Strick hätte er brauchen können. Johann Valjean hatte keinen. Wo um Mitternacht einen finden? Gewiß, wenn Johann Valjean in diesem Augenblicke ein Königreich gehabt hatte, er würde es für einen Strick hingegeben haben.

Jedes extreme Verhältniß, jede extreme Lage hat ihre Blitze, welche bald blenden, bald uns erleuchten.

Der verzweiflungsvolle Blick Johann Valjeans begegnete dem Laternenträger in der Sackgasse.

In jener Zeit gab es in den Straßen von Paris keine Gasbrenner. Mit beginnender Dunkelheit zündete man Laternen an, welche in gewissen Entfernungen von einander mittels eines Stricks, welcher über die Straße und in einem Falz eines Pfahls herabhing, empor und herniedergelassen wurden. Die Rolle, auf welcher der Strick lief, befand sich in einem eisernen Schränkchen über dem Pfahl, zu dem der Laternenanzünder den Schlüssel hatte. Der Strick selbst steckte in einem Etui von Metall.

Mit der Energie eines Kampfes auf Tod und Leben sprang Johann Valjean mit einem Satze über die Straße, lief in die Sackgasse, sprengte das Schloß des Laternenpfahlschränkchens mit der Spitze seines Messers auf und einen Augenblick nachher war er wieder bei Cosetten. Er hatte einen Strick. Grade wenn es dringend darauf ankommt, wenn ein schweres Verhängniß droht, da geht es schnell mit dem Auffinden eines Rettungsmittels.

Daß die Laternen an diesem Abende nicht angezündet worden waren, haben wir schon gesagt. Die in der Sackgasse war also natürlich wie alle übrigen nicht angezündet und man konnte bei ihr vorbeigehen, ohne zu bemerken, daß sie nicht mehr auf ihrem Platze war.

Indeß fing die Zeit, der Ort, die Dunkelheit, die Unruhe Johann Valjeans, seine seltsamen Geberden, sein Kommen und Gehen, alles dies fing an Cosetten zu beunruhigen. Jedes andere Kind würde längst schon laut geschrieen haben. Sie beschränkte sich darauf Johann Valjean am Rockschooße zu ziehen. Man hörte immer deutlicher das Geräusch der sich nähernden Patrouille.

»Vater,« sagte sie ganz leise, »ich fürchte mich. Was kommt denn da?«

»Still!« antwortete der unglückliche Mann. »Es ist die Thenardier.«

Die Kleine zitterte. Er setzte hinzu:

»Sprich kein Wort, laß mich nur machen. Wenn Du schreiest, wenn Du weinst, so hört Dich die Thenardier. Sie will Dich wiederholen.«

Darauf, ohne sich zu übereilen, aber doch mit Eile und mit fester und entschlossener Sicherheit, die um so bemerkenswerther in solchem Augenblick war, als die Patrouille und Javert jeden Augenblick ankommen konnten, machte er sein Halstuch ab, band dasselbe Cosetten unter den Achseln um den Leib, wobei er darauf sah, daß er dem Kinde nicht weh thun konnte, befestigte mit einem sogenannten Schwabenknoten das Halstuch an das eine Ende des Strickes, nahm das andere Ende des Strickes zwischen die Zähne, zog seine Schuhe und Strümpfe aus, warf sie über die Mauer, stieg auf das Mauerwerk, welches wir oben erwähnt haben, und begann sich dann in dem Mauerwerke mit solcher Sicherheit empor zu heben, als habe er Stufen unter den Füßen und den Ellenbogen. Noch war eine halbe Minute nicht vorüber und schon kniete er oben auf der Mauer.

Cosette sah ihm staunend zu, ohne ein Wort zu sagen. Die Ermahnung Johann Valjeans und der Name der Thenardier hatten sie starr vor Entsetzen gemacht.

Mit einem Male hört sie die Stimme Johann Valjeans, welcher ihr möglichst leise zurief:

»Lehne Dich an die Mauer.«

Sie gehorchte.

»Sprich kein Wort und fürchte Dich nicht,« fuhr Johann Valjean fort.

Und sie fühlte, wie sie von der Erde empor gezogen wurde.

Ehe sie Zeit hatte daran zu denken, war sie oben auf der Mauer.

Johann Valjean erfaßte sie, nahm sie auf seinen Rücken und ihre beiden kleinen Hände in seine linke Hand, legte sich platt auf den Bauch und kroch auf der Höhe der Mauer hin bis an das Thor, was wenigstens so aussah. Wie er errathen hatte, stand da ein Gebäude, dessen Dach oben an dem Holzverschlage anfing und sanft abfallend bis fast an den Boden hinunter reichte, wobei es die Linde berührte. Das war ein glücklicher Umstand, denn die Mauer war auf dieser Seite viel höher als auf der Straßenseite.

Er war eben an den beschriebenen Ort gelangt und hatte die Mauer noch nicht losgelassen, als heftiger Lärm die Ankunft der Patrouille anzeigte. Man hörte die donnernde Stimme Javerts:

»Durchsucht die Sackgasse! Die beiden anderen Gassen sind bewacht. Ich stehe dafür, daß er in der Sackgasse ist.«

Die Soldaten stürzten sich in die Sackgasse.

Johann Valjean ließ sich, während er Cosette festhielt, längs des Daches hingleiten, erreichte die Linde und sprang hinunter auf den Boden. Sei es Angst oder Muth, Cosette hatte nicht gemuckst. Ihre Hände waren ein wenig geschunden.

I. Abhandlung über die Art, wie man in ein Kloster hineinkommen kann.

In dieses Haus war Johann Valjean »vom Himmel gefallen,« wie Fauchelevent gesagt hatte. Der Engelsgesang, den er mitten in der Nacht gehört hatte, war die Mette gewesen, welche die Nonnen gesungen, der Saal, welchen er im Halbdunkel gesehen, die Kapelle, die Gestalt, welche er ausgestreckt am Boden bemerkt hatte, die Schwester, welche die reparatio verrichtete, das Glöckchen, dessen Klang ihn so seltsam überrascht hatte, jenes am Knie des Gärtners, des Vaters Fauchelevent.

Nachdem Cosette eingeschlafen war, hatten Johann Valjean und Fauchelevent, wie wir mitgetheilt, vor einem lustigen Feuer ein Stück Käse gegessen und ein Glas Wein getrunken. Da Cosette das einzige Bett erhalten, so hatten sie sich nach dem Abendbrodt jeder auf ein Strohlager hingestreckt. Ehe er die Augen schloß, sagte Johann Valjean zu sich selbst: »Hier muß ich von nun an bleiben.«

Keiner von den beiden Männern hatte geschlafen, wenn wir wahr sein wollen.

Johann Valjean, der sich auf seiner Flucht entdeckt und Javert auf seiner Spur glaubt, sah ein, daß er nebst Cosetten verloren sei, wenn sie nach Paris zurückkehrten. Da der neue Windstoß, welcher ihn getroffen, ihn in diesem Kloster hatte stranden lassen, so hatte Johann Valjean nur den einen Gedanken hier zu bleiben. Für einen Unglücklichen in seiner Lage war dieses Kloster gleichzeitig der gefährlichste und sicherste Ort; der gefährlichste deshalb, weil wenn man Johann Valjean entdeckte, da kein Mann hereingelassen wurde, er auf einem Verbrechen ergriffen war, und er nur Einen Schritt aus dem Kloster in das Gefängniß gethan hatte; der sicherste deshalb, weil wenn er dableiben durfte, ihn Niemand hier suchen würde. An einem unmöglichen Orte zu wohnen war Rettung.

Seinerseits zerbrach sich Fauchelevent den Kopf. Er sagte sich sehr bald, daß er nichts von allem begreife. Wie kam Herr Madeleine hierher? Ueber Klostermauern kann man doch nicht springen. Und noch dazu mit einem Kinde im Arm? Wer war das Kind? Woher kamen sie beide? Seit Fauchelevent in dem Kloster war, hatte er von M. an M. nichts mehr sprechen hören und er wußte nicht von dem, was sich dort ereignet hatte. Vater Madeleine hatte das Gesicht, das von Fragen abschreckt, und endlich sagte sich Fauchelevent: einen Heiligen frägt man nicht aus. Für ihn hatte Madeleine noch den alten Zauber. Aus einigen Worten nur, die Johann Valjean entschlüpft waren, glaubte der Gärtner schließen zu können, daß Madeleine wahrscheinlich in Folge der schlechten Zeiten Bankerott gemacht habe und daß er von seinen Gläubigern verfolgt werde, oder daß er sich wegen einer politischen Sache verstecken müsse. Das mißfiel Fauchelevent keineswegs. Wie viele Bauern im nördlichen Frankreich trug er noch einen guten alten bonapartistischen Vorrath in seinem Herzen. Das Unerklärliche für Fauchelevent, auf das er immer wieder zurückkam und worüber er sich den Kopf zerbrach, war nur, daß Madeleine da war und gar mit einem Kinde. Fauchelevent sah beide, berührte sie, sprach mit ihnen und konnte es nicht glauben. Das Unbegreifliche hatte seinen Einzug gehalten in die Hütte Fauchelevents. Er tappte in Vermutungen herum und sah nichts klar als: Madeleine hat mir das Leben gerettet. Diese einzige Gewißheit war für ihn genügend und bestimmend. Er sagte sich, nun kommt an mich die Reihe. In seinem Gewissen fügte er hinzu: Madeleine hat sich nicht so lange besonnen, als es sich darum handelte, unter den Wagen zu kriechen, um mich hervor zu ziehen. Er beschloß Madeleine zu retten.

Er stellte sich indeß verschiedene Fragen und gab sich verschiedene Antworten: nach dem, was er für mich gethan, würde ich ihn retten selbst wenn er ein Dieb wäre? Gewiß. Und wenn er ein Mörder wäre? Gewiß. Rette ich ihn, da er ein Heiliger ist? Gewiß.

Aber welche Aufgabe, ihn im Kloster zu behalten! Fauchelevent wich vor diesem fast fabelhaften Versuche nicht zurück. Ohne andere Hilfsmittel als seine Hingebung, seinen guten Willen und etwas von der alten Bauernschlauheit, die diesesmal im Dienste einer edlen Absicht stand, unternahm er es die Unmöglichkeiten des Klosters und die Steilheiten der Regel des heiligen Benedikt zu übersteigen. Vater Fauchelevent war sein ganzes Leben lang ein Egoist gewesen. Am Ende seiner Tage, da er lahm und gebrechlich war und kein Interesse mehr an der Welt hatte, fand er es aber angenehm dankbar zu sein und fiel über die tugendhafte Handlung, die sich ihm darbot, wie ein Mann her, der im Moment des Sterbens plötzlich in seiner Hand ein Glas guten Weines fühlt, gekostet und nun begierig austrinkt. Man kann auch hinzufügen, daß die Luft, die er seit mehreren Jahren in dem Kloster geathmet, das Persönliche in ihm vernichtet und endlich irgend eine gute That nothwendig für ihn gemacht hatte.

Er faßte also den Entschluß sich für Madeleine aufzuopfern.

Bei Tagesanbruch, nachdem er ungeheuer nachgedacht, öffnete er die Augen und sah wie Madeleine auf seinem Strohlager sitzend in den Anblick der schlafenden Cosette versunken war. Er richtete sich in die Höhe und sagte:

»Da Sie nun da sind, wie werden Sie es machen um herein zu kommen?«

Diese paar Worte drückten die ganze Schwierigkeit der Lage aus und weckten Johann Valjean aus seinen träumerischen Sinnen.

Sie hielten Rath.

»Vor Allem,« sagte Fauchelevent, »dürfen Sie keinen Schritt vor die Thür setzen, weder Sie noch die Kleine. Ein Schritt in den Garten und es brennt.«

»Das ist richtig.«

»Herr Madeleine,« fuhr Fauchelevent fort, »Sie sind zu sehr guter Zeit, ich wollte sagen zu sehr schlechter Zeit hierher gekommen; eine der Damen ist sehr krank. Deshalb wird man sich nicht viel um uns hier kümmern. Wahrscheinlich wird sie sterben. Man hält das vierstündige Gebet. Die ganze Nonnengemeinde ist dabei. Die, welche sterben will, ist eine Heilige. Freilich hier sind wir alle Heilige; der ganze Unterschied zwischen ihnen und mir besteht nur darin, daß sie sagen: » unsere Zelle« und ich sage: » mein Nest.« Es wird ein Gebet für Sterbende geben und dann ein Gebet für Gestorbene. Heute bleiben wir ungestört hier; für morgen kann ich aber nicht stehen.«

»Indessen,« bemerkte Johann Valjean, »das Häuschen hier steht so versteckt, man kann es vom Kloster aus nicht sehen.«

»Und die Nonnen kommen diesem Orte auch niemals zu nahe.«

»Nun?« fragte Johann Valjean.

»Ja aber die Kleinen!« antwortete Fauchelevent.

»Welche Kleinen?« fragte Johann Valjean.

Als Fauchelevent den Mund aufthat, um das Wort, das er gesprochen hatte, zu erklären, hörte man einen Glockenschlag.

»Die Nonne ist todt,« sagte er. »Das ist das Todtenglöckchen.«

Er winkte Johann Valjean zu horchen.

Die Glocke ertönte ein zweites Mal.

»Es ist die Todtenglocke, Herr Madeleine. So wird die Glocke von Minute zu Minute, vier und zwanzig Stunden lang, bis die Leiche die Kirche verlassen hat, tönen. Sehen Sie, das spielt hier im Garten. Wenn sie in der Erholungsstunde im Garten sind, braucht nur ein Ball hierher zu rollen, so kommen sie, wenn’s auch verboten ist, suchen und durchstöbern alles. Es sind wahre Teufel die Engel!«

»Wer?« fragte Johann Valjean.

»Die Kleinen. Sie würden sehr bald entdeckt werden. Sie schrieen gleich: »ein Mann!« Heute aber ist keine Gefahr. Heute ist keine Erholungsstunde. Den ganzen Tag wird gebetet. Hören Sie die Glocke? Wie ich Ihnen sagte, jede Minute ein Schlag. Das ist die Todtenglocke.«

»Ich verstehe, Vater Fauchelevent. Es giebt Pensionärinnen hier.« Und bei sich dachte er: »Da wäre ja die Erziehung Cosette’s gleich gefunden.«

Fauchelevent rief aus:

»Freilich! Die kleinen Mädchen würden schön schreien und wie sie dann davon laufen würden! Hier ein Mann sein heißt grade so viel wie die Pest. Sie sehen ja, daß man mir ein Glöckchen an das Bein gebunden hat, wie einem wilden Thiere.«

Johann Valjean dachte mehr und mehr nach. »Das Kloster könnte uns retten,« murmelte er, dann sagte er laut:

»Ja das Schwierige ist, hier zu bleiben.«

»Nein,« sagte Fauchelevent, »hinaus zu kommen.«

Johann Valjean fühlte, daß ihm das Blut nach dem Herzen steige.

»Hinaus zu kommen!«

»Ja, Herr Madeleine, um herein zu kommen, müssen Sie erst hinaus gehen.«

Nachdem er eine Pause gemacht, um die Glocke wieder einen Schlag thun zu lassen, fuhr er fort:

»Man darf Sie hier nicht so finden. Woher kommen Sie? Für mich sind Sie vom Himmel gefallen, weil ich sie kenne. Aber für die Nonnen muß man durch die Thüre kommen.

Plötzlich hörte man außer dem Todtenglöckchen eine zweite Glocke.

»Ha!« sagte Fauchelevent, »man läutet den Stimmmüttern. Sie gehen in’s Kapitel. Kapitel hält man, immer, wenn Jemand stirbt. Sie starb mit Tagesanbruch. Man stirbt gewöhnlich mit Tagesanbruch. Könnten Sie denn nicht auf dem Wege hinausgehen, auf dem Sie hereingekommen sind? Ich will Sie nicht fragen, aber wo sind Sie denn eigentlich hereingekommen?«

Johann Valjean erbleichte. Der Gedanke schon, in jene schreckliche Straße wieder hinüber zu steigen, machte ihn zittern. Man denke sich, man entfliehe aus einem Walde voll Tieger und, wenn man glücklich demselben entronnen, räth Einem ein Freund, dahin zurück zu kehren. Johann Valjean stellte sich vor, die ganze Polizei lauere noch in dem Stadtviertel, Wachen seien aufgestellt, überall Posten, schreckliche Fäuste streckten sich aus, ihn am Kragen zu fassen und Javert wartete vielleicht an der Ecke.

»Unmöglich!« sagte er, »Vater Fauchelevent nehmen Sie an, ich sei von oben herunter gefallen.«

»Ich glaube es, ich glaube es,« antwortete Fauchelevent. »Mir brauchen Sie es nicht zu sagen. Der liebe Gott wird Sie in die Hand genommen haben, um Sie in der Nähe zu besehen und dann wird er Sie wieder losgelassen haben. Er wollte Sie freilich gewiß in ein Mönchkloster fallen lassen und hat sich hierbei geirrt. Da läutet’s wieder. Der Portier soll der Behörde melden, daß eine Leiche da ist, damit sie der Arzt besehe. Das gehört alles zur Ceremonie des Sterbens. Die guten Damen haben diesen Besuch nicht sehr gern. Ein Arzt, der glaubt an nichts. Er hebt den Schleier auf, manchmal auch noch was anderes. Wie schnell sie diesmal den Arzt rufen lassen! Was giebt’s nur? Ihre Kleine schläft immer noch. Wie heißt sie denn?«

»Cosette.«

»Ist’s Ihre Tochter? Oder sind Sie ihr Großvater?

»Ja.«

»Für sie wäre es nicht schwer, hinaus zu kommen. Ich habe meine Dienst-Thüre, die in den Hof geht. Ich gehe, der Portier macht auf, ich trage meinen Korb auf dem Rücken, die Kleine ist darin, ich gehe hinaus. Der Vater Fauchelevent geht mit seinem Korbe hinaus; das ist ganz einfach. Sie müssen nur der Kleinen sagen, daß sie sich ganz ruhig verhalte. Ich gebe sie dann, so lange wie es nöthig ist, zu einer alten, guten Freundin, einer Obstfrau hier in der Straße, die taub ist und ein kleines Bett übrig hat. Ich schreie ihr in’s Ohr, daß es eine Nichte von mir sei, die sie mir bis Morgen aufheben soll. Dann kömmt die Kleine mit Ihnen wieder herein; denn herein bringe ich sie wieder. Das muß sein. Wie kommen Sie aber heraus?

Johann Valjean schüttelte den Kopf.

»Es kommt alles darauf an, Vater Fauchelevent, daß mich Niemand sieht. Denken Sie sich ein Mittel heraus, daß auch ich, wie Cosette hinausgebracht werden kann.«

Fauchelevent kratzte sich mit dem Mittelfinger der linken Hand hinter dem Ohre, ein Zeichen ernstlicher Verlegenheit.

Da unterbrach ein drittes Läuten der Glocke die Unterhaltung.

»Das ist der Leichenschauarzt, der geht schon wieder,« sagte Fauchelevent. »Er hat hingesehen und gesagt: sie ist todt, es ist gut. Wenn der Arzt den Paß für’s Paradies visirt hat, da wird ein Begräbniß gemacht. Ist’s eine Mutter, so begraben sie die Mütter; ist’s eine Schwester, so begraben sie die Schwestern. Und ich nagle den Sarg zu. Das gehört zu meiner Gärtnerei. Ein Gärtner ist auch ein wenig Todtengräber. Man stellt die Todte in einen niedrigen Saal der Kirche, aus dem es auf die Straße geht. In den darf kein Mann hinein, nur der Leichenarzt, die Leichenträger und ich. Die Leichenträger rechne ich nicht zu den Männern. In diesem Saale nagle ich den Sarg zu. Die Leichenträger nehmen ihn hier in Empfang und fort geht’s in den Himmel. Einen leeren Kasten bringt man herein, wenn man ihn hinausträgt, ist was drin. Das ist ein Begräbniß.«

Ein Strahl der horizontal stehenden Sonne beschien das Gesicht Cosetten’s, welche noch schlief und den Mund halb offen hatte. Sie sah aus, wie ein Engel, der Luft trinkt. Johann Valjean betrachtete sie wieder und hörte nicht auf Fauchelevent.

Nicht gehört zu werden ist kein Grund zu schweigen. Der brave, alte Gärtner fuhr ganz ruhig in seinem Geplauder fort:

»Auf dem Kirchhofe Vaugirard macht man das Grab. Man will ihn aufheben. Es ist ein alter Gottesacker, der pensionirt werden soll. Es ist schade, denn er liegt bequem. Ich habe da einen alten Freund, den Todtengräber. Die Nonnen hier haben das Privilegium, mit sinkender Nacht auf diesen Kirchhof getragen zu werden. Die hohe Polizei hat’s ausdrücklich für sie befohlen. Was doch Alles seit gestern hier passirt ist! Die Mutter Crucifixion ist gestorben und der Vater Madeleine …«

»Wurde begraben,« sagte Johann Valjean mit traurigem Lächeln.

»Freilich! Wenn Sie ganz hier wären, dann wären Sie auch wahrhaft begraben.«

Man hörte einen vierten Glockenschlag. Fauchelevent nahm schnell das Glöckchen vom Nagel und band es an sein Knie.

»Dieses Mal gilt’s mir. Die Mutter Priorin verlangt mich. Herr Madeleine, rühren Sie sich nicht und warten Sie auf mich. Es giebt was Neues. Wenn Sie Hunger haben, da ist Wein, Brod und Käse.«

Und mit den Worten: »man kommt, man kommt!« verließ er die Hütte.

Johann Valjean sah ihn eiligst durch den Garten gehen, so schnell, als es ihm sein lahmes Bein gestattete.

Nach weniger als zehn Minuten klopfte Vater Fauchelevent, dessen Glöckchen die Nonnen auf seinem Wege in die Flucht trieb, leise an eine Thür. Eine sanfte Stimme antwortete: »In Ewigkeit!«

In Ewigkeit heißt: »Herein.«

Es war die Thür des für den Gärtner in Dienstsachen bestimmten Sprechzimmers. Es gränzte an den Kapitelsaal. Die Priorin saß auf dem einzigen Stuhle, der sich in dem Sprechzimmer befand und erwartete bereits Fauchelevent.

II. Fauchelevent vor einer Schwierigkeit.

Ein unruhiges und ernstes Aussehen zu haben, ist bei kritischen Gelegenheiten gewissen Charakteren und gewissen Ständen eigen, besonders Geistlichen und Klosterleuten. In dem Augenblicke, als Fauchelevent eintrat, lag dieser Ausdruck auf dem Gesicht der Priorin.

Der Gärtner grüßte furchtsam und blieb auf der Schwelle der Zelle stehen. Die Priorin, welche ihren Rosenkranz durch die Finger laufen ließ, schlug die Augen auf und sagte:

»Ha, Sie sind es, Vater Fauvent!«

»In dieser Weise war im Kloster sein Name abgekürzt worden.

Fauchelevent wiederholte seinen Gruß.

»Vater Fauvent, ich habe Sie rufen lassen …«

»Hier bin ich, hochwürdige Mutter.«

»Ich habe mit Ihnen zu sprechen.«

»Und ich meinerseits,« entgegnete Fauchelevent mit einer Kühnheit, vor der er sich innerlich fürchtete, »ich habe der sehr hochwürdigen Mutter etwas zu sagen.«

Die Priorin sah ihn an.

»Sie haben mir eine Mittheilung zu machen?«

»Eine Bitte.«

»Sprechen Sie.«

Der gute Fauchelevent, der ehemalige Dorfgerichtsschreiber, gehörte zu derjenigen Klasse Bauern, die in ihrem Auftreten eine gewisse Sicherheit haben. Eine gewisse, geschickte Unwissenheit ist eine Kraft; man ist vor ihr nicht auf der Hut und wird überlistet. In dem Zeitraum von etwas über zwei Jahren, seit er in dem Kloster wohnte, hatte er bei der Klostergemeinde Glück gemacht. In seiner Einsamkeit und allein mit seiner Gärtnerei beschäftigt, hatte er nicht leicht etwas anderes zu thun, als neugierig zu sein. In der Entfernung, in der er sich von allen den hin- und hergehenden verschleierten Frauen halten mußte, kamen ihm diese wie Schatten vor, welche sich hin- und herbewegen. Vermöge seiner Aufmerksamkeit und seines Scharfsinnes gelang es ihm aber, alle diese Schatten mit Fleisch zu bekleiden, so daß diese Todten für ihn lebten. Durch seine Achtsamkeit hatte er den Sinn des verschiedenen Läutens entziffert. Er hatte es so weit gebracht, daß das räthselhafte und schweigsame Kloster für ihn nichts Verborgenes hatte. Fauchelevent, der Alles wußte, ließ sich jedoch nichts merken. Darin bestand seine Kunst. Das ganze Kloster hielt ihn für dumm. Die Stimmütter hielten was auf ihn. Er flößte Vertrauen ein. Uebrigens lebte er sehr regelmäßig und ging nur wegen der nöthigsten Besorgungen aus. Das wurde ihm hoch angerechnet. Nichts destoweniger hatte er zwei Männer zum Ausplaudern gebracht, im Kloster den Portier, so daß er alle Sprechzimmer-Angelegenheiten erfuhr, und auf dem Kirchhofe den Todtengräber, der das Interessanteste von den Begräbnissen wußte. Auf diese Weise hatte er über die Nonnen eine doppelte Aufklärung, über ihr Leben und ihren Tod. Er mißbrauchte aber nichts. Er war alt, lahm, beinahe blind, wahrscheinlich auch etwas taub – was für Eigenschaften! Man hätte schwer einen Ersatzmann für ihn finden können.

Mit der Sicherheit dessen, der weiß, daß man viel auf ihn hält, begann der gute Mann eine ziemlich weitläuftige Bauern-Anrede an die hochwürdige Priorin. Er sprach lange von seinem Alter, von seiner Gebrechlichkeit, von der Last der Jahre, von den zunehmenden Anforderungen der Arbeit, von der Größe des Gartens, von den Nächten, in denen er, wie z. B. in den vergangenen, arbeiten müsse. Zum Schluß sagte er endlich: er habe einen Bruder – (die Priorin machte eine Bewegung) – jung sei er nicht (die Priorin machte eine zweite Bewegung, aber eine beruhigtere); wenn man wollte, so könnte der Bruder bei ihm wohnen und ihm helfen, er sei ein ausgezeichneter Gärtner; die Klostergemeinde würde die besten Vortheile von ihm ziehen; wenn man seinen Bruder nicht annehme, werde er, der ältere, da er sich schwach und der Arbeit nicht mehr gewachsen fühle, freilich zu seinem großen Bedauern, genöthigt sein, zu gehen; sein Bruder habe ein kleines Mädchen, das er mit sich bringen würde und das groß werden könnte in Gott. Vielleicht, wer könnte das wissen, könnte sie eines Tages eine Klosterschwester werden.

Als er mit seiner Rede zu Ende gekommen war, unterbrach die Priorin das Spiel mit dem Rosenkranze zwischen ihren Fingern und sagte zu ihm:

»Könnten Sie sich bis Abend eine starte Eisenstange verschaffen? «

»Wozu?«

»Um als Hebel zu dienen.«

»Ja, hochwürdige Mutter,« antwortete Fauchelevent.

Ohne ein Wort weiter hinzuzusetzen, erhob sich die Priorin von ihrem Sitze und trat in das Nebenzimmer, den Kapitelsaal, in welchem wahrscheinlich die Stimmütter versammelt waren. Fauchelevent blieb allein.

III. Mutter Innocentia.

Nach Verlauf von etwa einer Viertelstunde kam die Priorin zurück und setzte sich wieder auf den Stuhl.

»Vater Fauvent …«

»Hochwürdige Mutter?«

»Sie kennen die Kapelle?«

»Ich höre da hinter einem kleinen Gitter die Messe.«

»Sind Sie Ihrer Arbeit wegen schon ein Mal im Chor gewesen?«

»Zwei oder drei Mal.«

»Es handelt sich darum, einen Stein aufzuheben.«

»Ist er schwer?«

»Die Steinplatte neben dem Altar.«

»Den Stein, der das Gewölbe schließt?«

»Ja.«

»Das ist so ein Fall, wo zwei Männer gut wären.«

»Mutter Ascension, die so stark ist wie ein Mann, wird Ihnen helfen.«

»Eine Frau ist nie ein Mann.«

»Wir können Ihnen aber nur eine Frau als Hülfe geben. Jeder thut was er kann. Das Verdienst liegt darin, nach seinen Kräften zu arbeiten. Ein Kloster ist kein Zimmerplatz.«

»Und eine Frau ist kein Mann. Mein Bruder, der ist sehr stark.«

»Und dann haben Sie ja auch einen Hebel.«

»Er ist ja der einzige Schlüssel, der solche Thüren aufschließt.«

»Am Steine ist ein Ring.«

»In den stecke ich den Hebel.«

»Der Stein ist so eingerichtet, daß er sich dreht.«

»Gut, hochwürdige Mutter. Ich werde das Gewölbe öffnen.«

Und die vier Singmütter werden Ihnen dabei helfen.«

»Und wenn das Gewölbe offen sein wird …?«

»Muß es wieder geschlossen werden.«

»Das ist Alles?«

»Nein.«

»Befehlen Sie, hochwürdige Mutter.«

»Fauvent, wir haben Vertrauen zu Ihnen.«

»Ich bin hier um Alles zu thun.«

»Und um zu schweigen.«

»Ja, hochwürdige Mutter.«

»Wenn das Gewölbe offen ist …«

»Werde ich es wieder schließen.«

»Vorher aber …«

»Was, hochwürdige Mutter?«

»Muß etwas hinunter gebracht werden.«

Es trat eine Pause ein. Die Priorin machte zum Zeichen ihres Zauderns eine Bewegung mit der Unterlippe und fuhr dann fort:

»Vater Fauvent …«

»Hochwürdige Mutter?«

»Sie wissen, daß diesen Morgen eine Mutter gestorben ist?«

»Nein.«

»Haben Sie denn nicht die Glocke gehört.?

»Hinten im Garten hört man nichts.«

»Wirklich?«

»Ich höre kaum mein Glöckchen.«

»Mit Tagesanbruch ist sie gestorben.«

»Heute früh kam der Wind nicht von da her.«

»Es ist die Mutter Crucifixion. Sie ist glücklich.«

Die Priorin schwieg und bewegte einen Augenblick die Lippen, als bete sie still für sich.

»Ach ja, hochwürdige Mutter, jetzt höre ich die Sterbeglocke.«

»Die Mütter haben sie in die Todtenkammer neben der Kirche getragen.«

»Ich weiß es.«

»Kein anderer Mann als Sie kann und darf in diese Kammer hinein. Sorgen Sie dafür. Das wäre schön, wenn ein Mann in die Todtenkammer käme.«

»Oefter!«

»Wie?«

»Oefter!«

»Was sagen Sie?«

»Ich sage öfter.«

»Oefter als was?«

»Hochwürdige Mutter, ich sage nicht öfter als was, ich sage öfter.«

»Ich verstehe Sie nicht. Warum sagen Sie öfter?«

»Um das zu sagen, was Sie sagten, hochwürdige Mutter.«

»Ich habe ja nicht öfter gesagt.«

»Sie haben es nicht gesagt, ich sagte es nur, um zu sagen wie Sie.«

In diesem Augenblick schlug es neun Uhr.

»Um neun Uhr früh und zu jeder Stunde sei gelobt und angebetet das allerheiligste Sacrament des Altars« sagte die Priorin.

»Amen!« sagte Fauchelevent.

Es hatte grade zur rechten Zeit geschlagen, denn es machte dem »öfter« ein Ende. Ohne die Glocke würden die Priorin und Fauchelevent sich wohl niemals aus diesem Wirrwarr des »öfter« befreit haben.

Fauchelevent wischte sich die Stirn.

»Bei ihren Lebzeiten bewirkte Mutter Crucifixion Bekehrungen; nach ihrem Tode wird sie Wunder verrichten.«

»Sie wird sie verrichten,« stimmte Fauchelevent ein.

»Vater Fauvent, die Gemeinschaft ist in der Mutter Crucifixion gesegnet gewesen. Die Mutter Crucifixion hat einen kostbaren Tod gehabt. Sie hat bis zum letzten Augenblicke ihr Bewußtsein behalten. Sie sprach mit uns, dann sprach sie mit den Engeln, Sie hat uns ihre letzten Wünsche mitgetheilt. Wenn Sie etwas mehr Glauben hätten und wenn Sie in ihrer Zelle hätten sein können, so würde sie durch Auflegen der Hand Ihr Bein geheilt haben. Sie lächelte. Man fühlte, daß sie in Gott auferstand. In diesem Sterben lag ein Stück des Paradieses.«

Fauchelevent glaubte, sie beende ein Gebet und sagte:

»Amen.«

»Vater Fauvent, man muß das thun, was die Todten wollen.«

Die Priorin ließ einige Körner ihres Rosenkranzes durch die Finger gleiten. Fauchelevent schwieg. Sie fuhr fort.

»Ich habe über diese Frage mehrere berühmte Geistliche befragt …«

»Hochwürdige Mutter, hier hört man das Sterbeglöckchen viel deutlicher als im Garten.«

»Uebrigens ist sie ja auch mehr als eine Todte, sie ist eine Heilige.«

»Wie Sie, hochwürdige Mutter.«

»Seit zwanzig Jahren schlief sie mit ausdrücklicher Erlaubniß unseres heiligen Vaters Pius VII. in ihrem Sarge.«

»Das ist der, welcher den Kai… Bonaparte krönte.«

Für einen gewandten Mann wie Fauchelevent war diese Erwähnung ungeschickt. Glücklicherweise hörte sie die Priorin nicht, welche ganz in ihre Gedanken versunken war. Sie fuhr fort:

»Vater Fauvent!«

»Hochwürdige Mutter?«

»Der heilige Diodorus, Erzbischof von Capadocien, wünschte, daß man auf sein Grab nur das eine Wort schriebe: Acarus d. h. Wurm. Es geschah. Ist’s wahr?«

»Ja, hochwürdige Mutter.«

»Der heilige Mezzocane, Abt von Aquila, wollte unter dem Galgen begraben sein; es geschah.«

»Es ist wahr.«

»Vater Fauvent, die Mutter Crucifixion wird in dem Sarge begraben werden, in welchem sie seit zwanzig Jahren geschlafen hat.«

»Das ist recht.«

»Es ist eine Fortsetzung des Schlafes.«

»Ich werde also diesen Sarg zuzunageln haben.«

»Ja.«

»Und wir lassen den andern Leichenträger bei Seite?«

»So ist es.«

»Ich stehe der hochwürdigen Gemeinschaft zu Diensten.«

»Die vier Singemütter werden Ihnen helfen.«

»Den Sarg zuzunageln? Dazu brauche ich sie nicht.«

»Nein, um ihn hinunter zu lassen.«

»Wohin?«

»In das Gewölbe.«

»Welches Gewölbe?«

»Unter dem Altare.«

Die Seele Fauchelevents machte einen Seitensatz wie ein scheues Pferd.

»In das Gewölbe unter dem Altare?« wiederholte er.

»Unter dem Altare.«

»Aber …«

»Sie haben eine eiserne Stange.«

»Ja, aber …«

»Sie werden die Stange in den Ring des Steines stecken und dadurch den Stein in die Höhe heben.«

»Aber …«

»Den Todten muß man gehorchen. In dem Gewölbe unter dem Altare der Kapelle beerdigt und nicht in profane Erde gebracht zu werden, im Tode da zu bleiben, wo sie im Leben gebetet, das war der letzte Wunsch der Mutter Crucifixon. Sie hat es von uns gewünscht, das heißt so viel, als sie hat es uns befohlen.«

»Es ist ja aber verboten.«

»Verboten von den Menschen, geboten von Gott.«

»Wenn es herauskäme?«

»Wir haben Vertrauen zu Ihnen.«

»Das können Sie auch, denn ich bin ein Stein von Ihrer Mauer.«

»Das Kapitel ist versammelt. Die Stimmmütter welche ich noch einmal befragt habe und welche sich darüber noch in Berathung befinden, haben beschlossen, daß die Mutter Crucifixion ihrem Wunsche gemäß in ihrem Sarge unter unserm Altare begraben werde. Denken Sie, Vater Fauvent, wenn sich hier Wunder ereigneten! Welcher Ruhm in Gott für unsere Gemeinschaft! Die Wunder kommen aus den Gräbern.«

»Aber hochwürdige Mutter, wenn der Beamte der Gesundheitskommission …«

»Der heilige Benedictus II. hat in Begräbnißangelegenheiten dem Constantin Pogonat widerstanden …«

»Indeß der Polizeikommissar …«

»Chonodemarius, einer der sieben deutschen Könige, welche unter der Regierung des Constanz nach Gallien kamen, hat ausdrücklich das Recht der Mönche und der Nonnen, in ihrer Kirche unter dem Altar begraben zu werden, anerkannt.«

»Aber der Präfecturinspector …«

»Die Welt ist nichts vor dem Kreuze. Stat crux dum volvitur orbis6

»Amen,« sagte Fauchelevent, unveränderlich in dieser Art sich alle Mal aus der Sache zu ziehen, wenn er Lateinisch hörte.

»Es ist abgemacht, Vater Fauvent?«

»Abgemacht, hochwürdige Mutter.«

»Kann man auf Sie rechnen?«

»Ich werde gehorchen.«

»Es ist gut.«

»Ich bin dem Kloster ganz ergeben.«

»Man weiß es. Sie werden den Sarg zumachen, die Schwestern werden ihn in die Kapelle tragen. Nachdem das Todtenamt abgehalten worden, kehrt man in das Kloster zurück. Zwischen elf Uhr und Mitternacht kommen sie mit Ihrer Eisenstange. Es muß Alles ganz im Geheimen geschehen. Niemand wird in der Kapelle sein als die vier Singmütter, die Mutter Ascension und Sie.«

»Und die Schwester vor dem Pfahle.«

»Diese wird sich nicht umsehen.«

»Aber hören.«

»Sie wird nicht hören. Uebrigens, die Welt weiß nicht, was das Kloster weiß.«

Es trat wiederum eine Pause ein. Die Priorin fuhr fort:

»Sie werden Ihr Glöckchen abnehmen. Es ist nicht nöthig, daß die Schwester vor dem Pfahle erfahre, daß Sie da sind.«

»Hochwürdige Mutter.«

»Was, Vater Fauvent?«

Hat der Leichenarzt schon seinen Besuch abgestattet?«

»Er wird um vier Uhr Nachmittags kommen.«

»Hochwürdige Mutter, wir werden einen Hebel von wenigstens sechs Fuß haben müssen.«

»Woher werden Sie ihn besorgen?«

»Wo es nicht an Gittern fehlt, fehlt es auch nicht an Eisenstäben. Ich habe hinten im Garten einen ganzen Haufen altes Eisen.«

»Etwa dreiviertel Stunden vor Mitternacht, vergessen Sie es nicht!«

Hochwürdige Mutter!«

»Was?«

»Wenn Sie noch andere solche Arbeit hätten, mein Bruder ist sehr kräftig. Ein wahrer Türke.«

»Beeilen Sie sich so sehr als möglich.«

»Geschwind geht es bei mir nicht mehr. Ich bin schwach; darum brauche ich einen Gehülfen. Ich hinke.«

»Hinken ist kein Nachtheil, vielleicht ein Segen. Der Kaiser Heinrich II., welcher mit dem Gegenpabst Gregor im Streit lag und Benedikt VIII. wieder einsetzte, hatte zwei Namen: der Heilige und der Lahme.«

»Zwei Röcke sind freilich besser,« murmelte Fauchelevent, der wirklich ein wenig schwer hörte.

»Vater Fauvent ich denke, wir verwenden eine ganze Stunde darauf. Es ist nicht zu viel. Seien Sie um elf Uhr mit Ihrer Stange an dem Hauptaltar. Das Amt beginnt um Mitternacht. Eine gute Viertelstunde vorher muß alles vorbei sein.«

»Ich werde alles thun, um meinen Eifer für das Kloster zu beweisen. Es ist abgemacht. Ich nagele den Sarg zu. Punkt elf Uhr bin ich in der Kapelle. Die Singemütter werden auch da sein, ebenso die Mutter Ascension. Zwei Männer wären freilich besser. Was thuts! ich habe meinen Hebel. Wir öffnen das Gewölbe, lassen den Sarg hinunter und schließen das Gewölbe wieder zu. Ist’s vorbei, so ist keine Spur mehr davon zu sehen. Die Regierung wird nichts ahnen. Ist so alles geordnet, Hochwürdige Mutter?«

»Nein.«

»Was giebts noch?«

»Noch Eins ist zu erledigen, der leere Sarg. Vater Fauvent, was machen wir mit dem?«

»Man trägt ihn in das Grab, auf den Kirchhof.«

»Leer?«

Fauchelevent machte mit der linken Hand die Geberde, welche eine unbequeme Frage abweist.

»Hochwürdige Mutter, ich bin es, der den Sarg in der niedrigen Kammer neben der Kirche zunagelt und das Grabtuch darauflegt. Außer mir kommt Niemand hinein.«

»Ja, aber die Träger, wenn sie ihn auf den Wagen heben und in das Grab hinunterlassen, werden es merken, daß nichts darin ist.«

»Ha, zum Teu…!« rief Fauchelevent.

Die Priorin begann ein Zeichen des Kreuzes und sah den Gärtner fest an. Das …fel« war ihm in der Kehle stecken geblieben. Er beeilte sich, damit der Fluch vergessen werde, ein Auskunftsmittel zu erfinden.

»Hochwürdige Mutter, ich werde Erde in den Sarg thun. Das wird so gut sein, als wenn Jemand darin wäre.«

»Sie haben Recht. Erde ist dasselbe wie der Mensch. Sie werden es also mit dem leeren Sarge so machen?«

»Ich werde meine Schuldigkeit thun.«

Das Gesicht der Priorin, das bis dahin ernst und trübe gewesen war, heiterte sich auf. Sie verabschiedete ihn mit dem Zeichen, das den Vorgesetzten eigen ist, wenn sie den Untergebenen entlassen. Fauchelevent ging nach der Thür zu. Als er schon auf der Schwelle stand, sagte die Priorin mit freundlichem Tone zu ihm:

»Vater Fauvent, ich bin mit Ihnen zufrieden. Morgen nach der Beerdigung führen Sie mir Ihren Bruder zu und sagen Sie ihm, daß er seine Tochter mitbringe.«

  1. Fest steht das Kreuz, während die Erde sich dreht.

IV. Als ob Johann Valjean den Justin Castillejo gelesen hätte.

Große Schritte des Lahmen sind wie Liebesblicke des Einäugigen; sie kommen nicht schnell zum Ziele. Außerdem war Fauchelevent ganz perplex geworden, so daß er beinahe eine Viertelstunde brauchte, um in seine Hütte zurück zu kommen. Cosette war erwacht. Johann Valjean hatte sie an das Feuer gesetzt. In dem Augenblicke, als Fauchelevent eintrat, zeigte ihr Johann Valjean den Tragkorb, der an der Wand hing und sagte zu ihr:

»Gieb jetzt gut Achtung auf das, was ich Dir sagen werde, meine kleine Cosette. Wir müssen aus diesem Hause gehen, aber wir werden wieder zurück kommen und uns dann hier sehr wohl befinden. Der gute Mann hier wird Dich da drin auf seinem Rücken forttragen. Du wirst mich bei einer Frau erwarten, von der ich Dich abholen werde. Wenn Du nicht willst, daß Dich die Thenardier wieder holen soll, so sei folgsam und still.«

Cosette machte mit dem Kopf ein sehr ernstes Zeichen.

Bei dem Geräusch, welches Fauchelevent durch das Oeffnen der Thür machte, drehte sich Johann Valjean um.

»Nun?«

»Alles ist geordnet und nichts,« antwortete Fauchelevent, »Ich habe die Erlaubniß Sie hier herein zu lassen, aber ehe ich das kann, muß ich Sie hinausschaffen. Mit der Kleinen, da ist’s leicht.«

»Sie tragen sie fort?«

»Wird sie still sein?«

»Ich stehe dafür.«

»Aber Sie, Vater Madeleine?«

Nach einer ziemlich ängstlichen Pause rief Fauchelevent:

»Gehen Sie doch auf dem Wege hinaus, auf dem Sie hereingekommen sind!«

Johann Valjean beschränkte sich, wie das erste Mal, darauf, daß er antwortete: »Unmöglich.«

Fauchelevent, der mehr mit sich selbst als zu Johann Valjean sprach, murmelte:

»Noch etwas Anderes quält mich. Ich habe gesagt, daß ich Erde hinein thun würde. Das wird nicht gehen; sie wird sich bewegen, sich verschieben. Die Leute werden’s merken. Die Regierung wird es erfahren, das begreifen Sie, Vater Madeleine.«

Johann Valjean sah ihn mit halb zugekniffenen Augen an und glaubte, er rede irre.

Fauchelevent fuhr fort:

»Wie zum Teu…fel werden Sie hinauskommen? Und morgen muß Alles gemacht werden! Morgen soll ich Sie bringen. Die Priorin erwartet Sie.«

Hierauf theilte er Johann Valjean die ganze im vorigen Kapitel verzeichnete Unterhaltung zwischen ihm und der Priorin mit, so wie auch die beiden Verlegenheiten, in denen er sich befände: wie Johann Valjean hinausbringen, und wie den leeren Sarg füllen?

»Was ist das für ein leerer Sarg?« fragte Johann Valjean.

»Nun der Sarg der Verwaltung,« antwortete Fauchelevent.

»Welchen Sarg? Welche Verwaltung?

»Jetzt stirbt eine Nonne. Da kommt der Stadtarzt und sagt: eine Nonne ist gestorben. Die Regierung schickt einen Sarg. Den nächsten Tag schickt sie einen Leichenwagen und Leichenträger und die tragen ihn auf den Kirchhof. Nun werden die Leichenträger kommen, den Sarg aufheben und es wird Nichts darin sein.«

»Legen Sie etwas hinein.«

»Einen Todten? Ich habe keinen.«

»Nicht einen Todten.«

»Was denn?«

»Einen Lebendigen.«

»Welchen Lebendigen?«

»Mich,« sagte Johann Valjean.

Fauchelevent, der sich gesetzt hatte, sprang auf als wäre eine Bombe unter seinem Stuhle losgegangen.

»Sie?«

»Warum nicht?«

Johann Valjean hatte eines der seltenen Lächeln, die in seinem Gesicht erschienen wie ein Sonnenblick am Winterhimmel.

»Sie wissen, Fauchelevent, daß Sie gesagt haben: Mutter Crucifixion ist gestorben und daß ich hinzugefügt habe: Und Vater Madeleine wird begraben, Und so wird es sein.«

»Sie lachen! Sie reden nicht im Ernst.«

»Sehr im Ernst. Soll ich nicht hinaus?«

»Ohne Zweifel.«

»Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollten auch für mich einen Tragekorb und eine Decke darüber finden.«

»Nun?«

»Der Tragkorb ist in dem Sarge, die Decke im Leichentuch gefunden.«

»Sie sind nicht ein Mann wie die andern, Vater Madeleine.«

Solche Einfälle zu sehen, die nichts anderes sind, aIs wilde und verwegene Erfindungen des Bagno, hier mitten in einem friedlichen Kloster, das versetzte Fauchelevent in ein ungeheures Staunen.

Johann Valjean fuhr fort:

»Es handelt sich darum, ungesehen von hier hinaus zukommen. Das ist ein Mittel. Zunächst aber erzählen Sie alles genau. Wo ist der Sarg?«

»Der leere?«

»Ja.«

»Unten im sogenannten Todtensaale. Auf zwei Böcken steht er unter dem Leichentuche.«

»Wie lang ist er?«

»Sechs Fuß.«

»Was ist das, der Todtensaal?«

»Eine Kammer im Erdgeschoß, mit einem vergitterten Fenster nach dem Garten zu, das von außen mit einem Laden geschlossen wird, und mit zwei Thüren. Die eine führt in das Kloster, die andere in die Kirche.

»In welche Kirche?«

»In die Straßenkirche, in die Kirche für alle Welt.«

»Haben Sie die Schlüssel zu den beiden Thüren?«

»Nein. Ich habe nur den Schlüssel zu der Thür, welche in’s Kloster führt; den andern hat der Portier.«

»Wann macht der Portier diese Thür auf?«

»Nur um die Leichenträger einzulassen, welche den Sarg holen kommen. Ist der Sarg hinaus, wird die Thür wieder geschlossen.«

»Wer nagelt den Sarg zu?«

»Das bin ich.«

»Wer legt das Tuch darüber?«

»Das bin ich.«

»Sind Sie dabei allein?«

»Kein anderer Mann, außer dem Polizeiarzte, darf in die Todtenkammer hinein. Es steht sogar an der Wand geschrieben.«

»Könnten Sie mich in der Nacht, wenn alles im Kloster schläft, in diesem Saale verbergen?«

»Nein. Aber in einem kleinen dunklen Kämmerchen kann ich Sie verstecken, das in den Saal führt, wo ich meine Beerdigungsgeräthe aufbewahre und wozu ich den Schlüssel habe.«

»Zu welcher Zeit wird morgen der Leichenwagen kommen?«

»Gegen drei Uhr Nachmittags. Die Beerdigung findet kurz vor einbrechender Nacht statt. Der Kirchhof ist nicht ganz nahe.«

»Ich werde die Nacht und den Tag in dem Kämmerchen mit den Gerätschaften bleiben. Ich werde aber Hunger bekommen, was soll ich essen?«

»Ich werde ihnen etwas bringen.«

»Sie könnten mich um zwei Uhr in den Sarg einnageln.«

Fauchelevent fuhr zurück und knackte die Fingergelenke.

»Das ist nicht möglich!«

»Was? einen Hammer zu nehmen und Nägel in ein Brett zu schlagen?«

Das was Fauchelevent unerhört vorkam, war für Johann Valjean ganz einfach. Wer gefangen gewesen ist, versteht die Kunst, seinen Körper zusammen zu ziehen und klein zu machen, sich in eine Kiste einnageln und forttragen zu lassen, wie ein Waarenballen, lange in einem Kasten zu leben, Luft zu finden, wo keine ist, Stunden lang mit dem Athem sparsam umzugehen, zu ersticken ohne zu sterben.

Uebrigens ist dieses Auskunftsmittel, ein Sarg mit einem Lebenden darin, sowohl eines des Sträflings, wie des Kaisers.

Wenn man dem Mönch Justin Castillejo glauben darf, war es das Mittel, welches Karl V., als er nach seiner Abdankung ein letztes Mal die Plombes sehen wollte, anwendete, um sich in das Kloster St. Just und aus demselben bringen zu lassen.

Als Fauchelevent wieder ein Wenig zu sich gekommen, rief er:

»Wie wollten Sie denn athmen?«

»Ich werde athmen.«

»In diesem Kasten! Ich ersticke schon bei dem bloßen Gedanken daran.«

»Sie haben doch gewiß einen Bohrer und werden um den Mund herum da und dort einige Löcher machen können, auch den Sarg zumachen, ohne die Bretter zu fest darauf zu nageln.«

»Gut! Aber wenn Ihnen das Husten oder das Niesen ankommt?«

»Wer entflieht, hustet und nieset nicht. – Vater Fauchelevent,« setzte Johann Valjean hinzu, »wir müssen uns entschließen: entweder hier gefangen oder hinein in den Sarg, der uns aus aller Verlegenheit bringt.«

Jedermann hat gewiß schon die Vorliebe der Katzen bemerkt, zwischen den beiden Flügeln einer halboffenen Thür sich aufzuhalten oder herumzuschleichen. Es giebt auch Menschen, die in einem halb vor ihnen geöffneten Vorgange unentschlossen zwischen zwei Entschlüssen bleiben, auf die Gefahr hin, von dem sich plötzlich schließenden Geschick zerquetscht zu werden. Die allzu Vorsichtigen laufen bisweilen größere Gefahr als die Kühnen, Fauchelevent gehörte zu diesen zögernden Naturen. Indeß gewann die Kaltblütigkeit Johann Valjeans die Oberhand über ihn. Er murmelte:

»In der That, es giebt kein anderes Mittel.«

Johann Valjean fuhr fort:

»Das Einzige, was mich beunruhiget, ist das was auf dem Kirchhofe geschehen wird.«

»Gerade das beunruhigt mich gar nicht,« sagte Fauchelevent.

»Wenn Sie sicher sind, mit dem Sarge zurecht zu kommen, so bin ich meinerseits auch sicher, mit dem Grabe fertig zu werden. Der Todtengräber ist mein Freund und immer betrunken. Der Todtengräber legt die Todten in das Grab und ich stecke den Todtengräber in die Tasche. Ich will Ihnen sagen, wie es kommen wird. Kurz vor der Abenddämmerung, drei Viertelstunde ehe die Gitter geschlossen werden, wird man kommen. Der Leichenwagen fährt bis an das Grab. Ich folge; es ist mein Amt. Hammer und Zange habe ich in der Tasche. Der Leichenwagen hält, die Leichenträger legen ein Seil um Ihren Sarg und lassen Sie hinunter. Der Geistliche spricht das Gebet, macht das Zeichen des Kreuzes, sprengt Weihwasser und macht sich aus dem Staube. Ich bleibe mit dem Todtengräber allein zurück. Er ist mein Freund, wie ich Ihnen schon gesagt habe, Eins von beiden: entweder ist er schon betrunken oder er ist es noch nicht. Ist er es nicht, so sage ich: komm! wir wollen eins trinken. Ich führe ihn fort und mache ihn betrunken. Das dauert bei ihm nicht lange, denn den Anfang hat er immer schon gemacht. Liegt er unter dem Tische, so nehme ich ihm seine Karte ab, um auf den Kirchhof zurück gelangen zu können und komme ohne ihn wieder an. Sie haben es dann nur mit mir zu thun. Ist er schon betrunken, so sage ich: geh Du. Ich werde es schon für Dich mit besorgen. Er geht und ich ziehe Sie aus dem Loche heraus.«

Johann Valjean reichte ihm die Hand, auf die Fauchelevent sich mit bäuerlichem Enthusiasmus stürzte.

»Es ist abgemacht, Vater Fauchelevent. Es wird Alles gut gehen.«

»Wenn nichts dazwischen kommt,« dachte Fauchelevent.

V. Betrunkensein reicht nicht aus zur Unsterblichkeit.

Am anderen Tage, als die Sonne unterging, nahmen die wenigen Vorübergehenden auf dem Boulevard du Maine den Hut vor einem Leichenwagen, einem alten Modell, ab, der mit Todtenköpfen, Todtengebeinen und Todtenlarven verziert war. In dem Leichenwagen befand sich ein mit einem weißen Tuche bedeckter Sarg, auf welchem ein großes schwarzes Kreuz stand, das wie eine todte Frau mit herabhängenden Armen aussah. Ein schwarz behangener Wagen, in dem man einen Geistlichen und einen Chorknaben bemerkte, folgte. Zwei Todtengräber in grauem Anzuge mit schwarzen Aufschlagen gingen zur Rechten und Linken des Leichenwagens. Hinter demselben kam ein alter Mann in Arbeiterkleidung zu Fuß. Dieser hinkte.

Der Gottesacker Vaugirard, wohin sich der Zug bewegte, hatte früher den Bernhardinern und Benediktinerinnen von Klein-Picpus gehört, deshalb hatten sie es erlangt, dort in einem besonderen Winkel und des Abends begraben zu werden. Die Todtengräber, welche aus diesem Grunde auf dem Kirchhofe im Sommer des Abends und im Winter des Nachts Dienst hatten, waren einer besonderen Aufsicht unterworfen. Die Thore der Kirchhöfe zu Paris wurden damals mit Sonnenuntergang geschlossen. Die beiden Thore des Kirchhofes von Vaugirard waren zwei anstoßende Gitter neben einem kleinen Häuschen, wo der Kirchhofs-Portier wohnte. Diese Gitter schlossen sich unerbittlich, sobald die Sonne hinter dem Invalidendome verschwand. Wenn irgend ein Todtengräber sich auf dem Kirchhofe verspätet hatte, so konnte er nur heraus, wenn er seine Karte vorzeigte, welche ihm von der allgemeinen Begräbnißverwaltung ausgestellt worden war. In dem Fensterladen des Portier war eine Art Briefkasten angebracht. In diesen Kasten warf der Todtengräber seine Karte, der Portier zog die Schnur und das Thor ging auf. Hatte der Todtengräber seine Karte nicht bei sich, so nannte er sich, der bereits eingeschlafen gewesene Portier stand auf, erkannte den Todtengräber, schloß auf und ließ ihn heraus. Dafür mußte der Todtengräber aber fünfzehn Francs Strafe bezahlen.

Die Sonne war noch nicht untergegangen, als der Leichenwagen mit dem weißen Tuche und dem schwarzen Kreuze in die Allée des Kirchhofs einfuhr.

Das Begräbniß der Mutter Crucifixion in dem Gewölbe unter dem Altare, das Hinaustragen Cosettes, das Hineinführen Johann Valjeans in den Todtensaal, alles dies war ohne Hinderniß ausgeführt worden.

Die Bestattung der Mutter Crucifixion unter dem Altare macht uns übrigens auf jene Gattung von Vergehen aufmerksam, welche einer Pflicht gleichen. Die Nonnen hatten es begangen nicht nur ohne Unruhe, sondern mit innerer Befriedigung. Dasjenige, was man im Kloster »die Regierung« nennt, ist nur eine immer streitige Einmischung in die kirchliche Autorität. Erst kommt die Ordensregel. Macht Gesetze, ihr Menschen da draußen, so viel Ihr wollt, behaltet sie aber für Euch! Was ist ein Fürst neben einem Princip?

Fauchelevent hinkte ganz zufrieden hinter dem Leichenwagen her. Bisher war ihm Alles geglückt. Er zweifelte auch an dem weiteren Erfolge nicht, denn das was noch zu thun übrig, war so gut wie nichts. Seit zwei Jahren hatte er den Todtengräber zehnmal betrunken gemacht. Er spielte mit ihm und machte mit ihm, was er wollte. Er fühlte sich vollkommen sicher. Als der Zug in den Kirchhof hineinfuhr, war Fauchelevent glücklich und rieb sich vergnügt die Hände.

Plötzlich hielt der Leichenwagen; man war vor dem Gitter und der Begräbnißschein mußte vorgezeigt werden. Man sprach mit dem Portier und während dieses Gespräches, das immer einen Aufenthalt von Ein oder Zwei Minuten verschaffte, stellte sich Jemand hinter den Wagen neben Fauchelevent, eine Art Arbeitsmann in einer Jacke mit großen Taschen und einer Hacke unter dem Arme.

Fauchelevent sah den Unbekannten an und fragte:

»Wer sind Sie?«

Der Mann antwortete:

»Der Todtengräber.«

Wenn man noch lebte, nachdem man eine Kanonenkugel in die volle Brust erhalten, so würde man ein Gesicht machen, wie Fauchelevent es jetzt machte.

»Der Todtengräber?«

»Ja.«

»Sie?«

»Ich.«

»Der Todtengräber ist der Vater Mestienne.«

»Er war es.«

»Wie so war es?«

»Er ist gestorben.«

Fauchelevent hatte es alles erwartet, nur das nicht, daß ein Todtengräber sterben könnte.

Fauchelevent war ganz bestürzt.

»Das ist ja aber nicht möglich.«

»Es ist so.«

»Der Todtengräber ist ja aber der alte Mestienne,« erwiederte er mit schwacher Stimme.

»Nach Napoleon Ludwig der XVIII. Nach Mestienne Gribier. Ich heiße Gribier.«

Fauchelevent war ganz blaß und besah sich diesen Gribier. Es war ein langer, hagerer, bleicher Mann, ein wahrer Leichenmensch. Er sah aus wie Einer der während er Arzt werden wollte, Todtengräber geworden ist.

Fauchelevent brach in lautes Lachen aus.

»Was doch für komische Sachen passiren! Der Vater Mestienne ist todt! Der kleine Vater Mestienne ist todt! Es thut mir leid; er war ein guter Kerl, als er noch lebte. Sie sind aber auch ein guter Kerl. Nicht wahr, Camerad, wir trinken Eins mit einander auf der Stelle?«

Der Mann antwortete:

»Ich habe studirt. Ich trinke nie.«

Der Leichenwagen hatte sich wieder in Bewegung gesetzt.

Fauchelevent fing an langsamer zu gehen. Er hinkte noch mehr aus Angst als aus Gebrechlichkeit.

Der Todtengräber ging vor ihm.

»Camerad!« rief Fauchelevent.

Der Mann drehte sich um.

»Ich bin der Todtengräber des Klosters.«

»Mein College also,« antwortete der Mann.

Fauchelevent war nicht gelehrt, aber sehr pfiffig und begriff, daß er mit einer fürchterlichen Gattung Menschen, mit einem Schönredner zu thun habe.

Er murmelte:

»Hm! hm! Ist der alte Mestienne gestorben!«

Der Mann antwortete:

»Vollständig. Der liebe Gott sah in seinem Wechselportefeuille nach. Es war die Reihe an den alten Mestienne und der alte Mestienne starb.«

Fauchelevent wiederholte mechanisch:

»Der liebe Gott …«

»Der liebe Gott,« fiel der Andere mit einer gewissen Autorität ein. »Für die Philosophen ist es der ewige Vater, für die Jacobiner das höchste Wesen.«

»Wollen wir nicht Bekanntschaft mit einander machen?« stotterte Fauchelevent.

»Ist schon gemacht. Sie sind Bauer, ich bin Pariser.«

»So lange man nicht mit einander getrunken hat, kennt man einander nicht. Wer sein Glas leert, leert auch sein Herz aus. Wir trinken Eins mit einander. Das schlägt man einander nicht aus.«

»Erst die Arbeit.«

Fauchelevent dachte: »ich bin verloren.«

Man war nur noch einige Schritte von dem Wege entfernt, welcher zu dem Winkel führte, wo die Nonne begraben wurde. Da sagte der Todtengräber:

»Bauer, ich habe sieben Mäuler zu füttern. Da sie essen wollen, darf ich nicht trinken. Ihr Hunger ist der Feind meines Durstes.«

Der Leichenwagen fuhr um einen Cypressenbaum herum, verließ die große Haupt-Allee, bog in eine schmale hinein, verließ dann auch diese und fuhr auf ungebahntem Erdreich hin, ein Zeichen, daß er nicht mehr weit vom Grabe war.

Fauchelevent ging langsamer, aber den Wagen konnte er nicht aufhalten. Zum Glück war der Boden vom Winterregen weich und feucht, so daß die Räder tief einschnitten und er nicht schnell gehen konnte.

Er trat wieder zu dem Todtengräber und sprach verlockend:

»Es giebt einen so vortrefflichen Wein von Argenteuil.«

»Bauer,« antwortete der Andere, »eigentlich sollte ich nicht Todtengräber sein. Mein Vater war Portier im Prytanäum. Er bestimmte mich für die Literatur. Er hatte aber Unglück. Er hatte Verluste an der Börse. Ich mußte auf den Schriftstellerstand verzichten, bin aber noch öffentlicher Schreiber.«

»So sind Sie also nicht Todtengräber?« fragte Fauchelevent, indem er sich an diesem so schwachen Aste anzuklammern suchte.

»Eins schließt das Andere nicht aus.«

»Trinken wir doch Eins,« sagte Fauchelevent.

Hier ist die Bemerkung nöthig, daß so groß auch die Angst Fauchelevents war, er sich bei seiner Aufforderung zum Trinken über den Punkt des Bezahlens nicht ausließ. Er war so aufgeregt, daß er gar nicht ans Bezahlen dachte.

Mit einem überlegenen Lächeln fuhr der Todtengräber fort:

»Man muß essen. Ich habe die Erbschaft des Vaters Mestienne angetreten. Wenn man die Schule fast durchgemacht hat, ist man Philosoph. Ich arbeite nicht nur mit dem Arme, auch mit der Hand. Meine Schreiberstube steht in der Sevresstraße, wissen Sie, am Paraplui-Markte. Alle Köchinnen des Viertels wenden sich an mich. Ich schreibe die Briefe an ihre Täuber. Früh schreibe ich Liebesbriefe, Abends mache ich Gräber. So ist das Leben, Landmann.«

Der Leichenwagen fuhr immer weiter. Fauchelevent, der sich in der größten Unruhe befand, sah sich nach allen Seiten um. Große Schweißtropfen fielen von seiner Stirn.

»Indessen,« fuhr der Todtengräber fort, »zweien Herren kann man nicht dienen. Ich werde wählen müssen, entweder die Feder oder das Grabscheit. Das Grabscheit verdirbt mir die Hand.«

Der Leichenwagen hielt.

Der Chorknabe stieg aus dem schwarz behangenen Begleitwagen, dann der Geistliche.

VI. Zwischen vier Brettern.

Wer lag in dem Sarge? man weiß es. Johann Valjean.

Er hatte sich eingerichtet, um darin leben zu können und athmete kaum.

Es ist merkwürdig, wie sicher Einen die Ruhe des Gewissens machen kann.

Der ganze von Johann Valjean ausgedachte Plan verlief seit dem vorigen Abend ganz gut. Johann Valjean rechnete wie Fauchelevent auf den Vater Mestienne. Er zweifelte nicht an dem guten Ende. Es konnte keine gefährlichere Lage, aber auch keine größere Ruhe geben.

Die vier Bretter des Sarges umschließen einen gewissen, schrecklichen Frieden. Auch die Ruhe Johann Valjeans schien etwas von der Ruhe der Todten zu haben.

Er hatte aus dem Sarge heraus allen Phasen des furchtbaren Dramas folgen können, das er mit dem Tode spielte.

Bald nachdem Fauchelevent den Sarg zugenagelt, hatte Johann Valjean gefühlt, daß er fortgetragen, dann fortgefahren werde. An den geringeren Stößen merkte er, daß man das Pflaster verlassen und nach dem Boulevard gekommen sei. Aus einem dumpfen Geräusch hatte er errathen, daß der Wagen über die Brücke von Austerlitz fahre. Als man das erstemal anhielt, merkte er, daß man beim Kirchhofe angelangt sei; bei dem zweiten Halt sagte er sich: wir sind am Grabe.

Er fühlte, daß Hände den Sarg ergriffen, sodann ein rauhes Reiben an den Brettern. Das war das Seil, das man um den Sarg legte, um ihn in die Grube hinunter zu lassen.

Dann fühlte er sich eine Zeitlang ganz betäubt.

Wahrscheinlich hatten die Leichenträger und der Tootengräber beim Hinunterlassen des Sarges die Kopfseite zuerst hinunter sinken lassen. Als er fühlte, daß sich der Sarg unbeweglich in horizontaler Lage befinde, kam er wieder zum Bewußtsein, Er befand sich unten auf dem Boden des Grabes.

Es war ihm kalt.

Ueber ihm erhob sich eine kalte, feierliche Stimme:

» Qui dormiunt in terrae pulvere, evigilabunt, alii in vitam aeternam, et alii in opprobrium, ut videant semper.«

(Die im Staub der Erde schlafen, werden erwachen, die Einen zum ewigen Leben, die Andern zu ewiger Schande.)

Eine Knabenstimme sprach:

» De profundis.«

(Aus den Tiefen.)

Die tiefere Stimme begann von neuem:

» Requiem aeternam dona ei, domine.«

(Gieb ihnen, o Herr, ewige Ruhe.)

Die Knabenstimme antwortete:

» Et lux aeterna luceat ei.«

(Und es leuchte ihnen das ewige Licht.)

Er hörte auf dem oberen Brette ein leises Klopfen wie von einigen Regentropfen. Das war wahrscheinlich das Weihwasser. Er dachte: jetzt ist’s zu Ende. Noch ein wenig Geduld. Der Geistliche entfernt sich, Fauchelevent führt den alten Mestienne zum Trinken. Man wird mich liegen lassen. Dann kommt Fauchelevent allein zurück und ich bin befreit.

Die tiefe Stimme begann nochmals:

» Requiescat in pace.«

(Ruhe in Frieden.)

Und die Knabenstimme antwortete:

» Amen.«

Johann Valjean spitzte die Ohren und glaubte etwas wie sich entfernende Schritte zu hören.

»Nun gehen sie,« dachte er. »Ich bin allein.«

Plötzlich hörte er über seinem Kopf ein donnerähnliches Getöse.

Eine Schaufel Erde fiel auf den Sarg; dann eine zweite.

Eines der Löcher, durch die er athmete, verstopfte sich.

Eine dritte und eine vierte Schaufel voll fiel herunter.

Es giebt Dinge, welche selbst der stärkste Mensch nicht ertragen kann. Johann Valjean verlor das Bewußtsein.

IV. Beurtheilung der Existenzberechtigung des Klosters.

Menschen vereinigen sich und wohnen gemeinschaftlich mit einander. Nach welchem Recht? Nach dem Associationsrechte.

Sie schließen sich ein. Nach welchem Rechte? Nach dem Rechte, das jeder Mensch hat, seine Thür nach Belieben zu öffnen und zu schließen.

Sie gehen nicht aus. Nach welchem Rechte? Nach dem Rechte eines Jeden zu gehen und zu kommen, wie es ihm beliebt, das das Recht in sich schließt, zu Haus zu bleiben.

Und zu Hause, was thuen sie da?

Sie sprechen leise; sie schlagen die Augen nieder; sie arbeiten. Sie entsagen der Welt, den Städten, den Sinnengenüssen, den Vergnügungen, den Eitelkeiten dieser Welt, dem Stolze, den Sonderinteressen. Keiner von ihnen besitzt irgend Etwas eigentümlich. Beim Eintritt wird der Reiche arm. Der Adlige, der Edelmann und gnädige Herr wird dem gleich, der Bauer war. Der Fürst wird der gleiche Schatten, wie die anderen. Titel gibt es nicht mehr. Selbst die Familiennamen sind verschwunden. Nur Vornamen haben sie noch. Sie haben die fleischliche Familie aufgelöst und in ihrer Gemeinde die geistige gegründet. Sie haben keine anderen Aeltern als die Menschheit. Sie stehen den Armen bei und pflegen die Kranken. Sie wählen die, welchen sie gehorchen. Einer sagt zu dem Andern: »mein Bruder.«

Abgesehen von der Geschichte und Politik, welche beide das Kloster verdammen und lediglich nach allgemeinen Principien, vom rein philosophischen Gesichtspunkte aus beurtheilt, betrachte ich die klösterliche Gemeinschaft, unter der Bedingung, daß sie durchaus freiwillig gewählt wird, stets mit einem gewissen aufmerksamen, ja in gewisser Hinsicht achtungsvollen Ernste. Wo eine Gemeinschaft ist, ist eine Gemeinde und wo eine solche ist, ist das Recht. Das Kloster ist ein Erzeugniß der Worte: Gleichheit, Brüderlichkeit. Und die Freiheit? O, wie groß, wie glänzend ist die Freiheit! Die Freiheit reichte hin, das Kloster in eine Republik umzugestalten.

Fahren wir fort.

Gut, die Männer, die Frauen hinter diesen vier Mauern kleiden sich in rauhe Gewänder, sind gleich untereinander und nennen sich Brüder. Gut! Thun sie aber noch etwas Anderes?

Ja.

Was?

Sie betrachten das Dunkel, sie knien nieder, sie falten die Hände.

Was bedeutet das?