V. Das Gebet.

Sie beten.

Zu wem?

Zu Gott.

Was heißt das, zu Gott beten?

Beten heißt, durch den Gedanken das Unendliche hienieden mit dem Unendlichen über uns in Verbindung bringen; denn die Seele des Menschen ist ein ebenso unendliches Ich, wie die unendliche Ichheit Gottes oben. Unser Ich ist die Spiegelung, der Wiederschein, das Echo des göttlichen Ichs. Das Gebet ist die geistige Verbindung Beider.

Entziehen wir dem menschlichen Geiste nichts; unterdrücken ist schlecht. Man muß umgestalten, neugestalten. Gewisse Fähigkeiten des Menschen sind nach dem Unbekannten hin gerichtet: das Denken, das Traumen, das Beten. Das Unbekannte ist ein Ocean, und der Compaß in diesem ist das Gewissen. Denken, Träumen, Beten sind große, geheimnißvolle Strahlungen des unendlichen Lichtes, Wir müssen sie achten.

Die Größe der Demokratie besteht darin, daß sie dem Menschen nichts Menschliches ableugnet, nichts verleugnet. Neben dem Rechte des Menschen liegt das Recht der Seele.

Das Gesetz lautet, den Fanatismus ausrotten, das Unendliche verehren. Beschränken wir uns nicht darauf, uns unter den Schöpfungsbaum niederzuwerfen und seine unermeßlichen Aeste voll Sterne zu betrachten. Wir haben eine Pflicht: an der menschlichen Seele zu arbeiten, das Geheimniß gegen das Wunder zu verteidigen, das Unbegreifliche anzubeten und das Thörichte zu verwerfen, bei dem, was unerklärlich ist, nur das Nothwendige zuzugeben, den Glauben gesund zu machen, den Aberglauben aus der Religion zu entfernen.

VI. Der absolute Nutzen des Gebetes.

Alle Arten des Gebets sind gut, wenn sie nur aufrichtig sind. Selbst aus einem verkehrt in die Hand genommenen Buche kann man mit Nutzen beten, wenn man hierbei mit seinen Gedanken nur im Unendlichen ist.

Es giebt, wie wir wissen, eine Philosophie, welche das Unendliche leugnet. Es giebt auch eine, welche die Sonne leugnet. Diese Philosophie heißt Blindheit.

Einen Sinn, der uns fehlt, als Quelle der Wahrheit aufzustellen, ist eine Geschicklichkeit des Blinden.

Das Merkwürdige dabei ist die hochmüthige, überlegene und mitleidsvolle Miene, welche diese Tast-Philosophie der Philosophie gegenüber annimmt, welche Gott sieht. Man glaubt einen Maulwurf ausrufen zu hören: »Ihr thut mir recht leid mit Eurer Sonne.«

Es giebt große, berühmte Atheisten. Diese, welche allein durch ihren Geist zur Wahrheit geführt werden, sind im Gründe nicht einmal sicher, ob sie Atheisten sind; bei ihnen handelt es sich eigentlich nur um eine Definition. Wie dem aber auch sei, wenn sie auch nicht an Gott glauben, so beweisen sie dadurch, daß sie große Geister sind, für die Existenz Gottes.

Wunderbar ist es auch, wie leicht sie sich mit Worten bezahlt machen. Eine nordische, ein Wenig von dem Nebel ihrer Heimath durchdrungene philosophische Schule glaubte eine Revolution im menschlichen Verstände dadurch bewirken zu können, daß sie für das Wort Kraft das Wort Wille setzte. Wenn man sagt: die Pflanze will, anstatt die Pflanze wächst, so könnte man auch bald hinzusetzen: die Welt will. Warum? Weil daraus auch hervorginge: die Pflanze will, sie hat also ein Ich; das Universum will, also hat es einen Gott.

Uns scheint ein Wille in der Pflanze schwerer annehmbar zu sein als ein Wille in dem Universum. Und ersteren nimmt sie an, letzteren leugnet sie!

Den Willen des Unendlichen, das heißt Gottes, kann man nur unter der Bedingung leugnen, wenn man das Unendliche leugnet.

Das Leugnen des Unendlichen führt gradeswegs zum Nihilismus. Alles wird »ein Begriff des Geistes.« Mit dem Nihilismus ist eine Discussion nicht möglich, denn der logische Nihilismus zweifelt ja, ob er selbst und sein Gegner sind.

Von seinem Gesichtspunkte aus ist es möglich, daß er selbst für sich nur »ein Begriff seines Geistes« sei.

Er bemerkt nur nicht, daß er alles, was er als Einzel-Existenzen leugnet, im Ganzen wieder zugiebt, indem er das Wort: Geist ausspricht.

Es giebt kein Nichts. Eine Null existirt nicht. Alles ist etwas. Nichts ist nichts.

Der Mensch lebt von der Bejahung noch mehr als vom Brode.

Sehen und Zeigen genügt nicht; energisch muß die Philosophie das Ziel zu erreichen suchen, den Menschen zu bessern. Socrates muß in Adam eindringen und einen Marc-Aurel erzeugen; das heißt so viel, als den Menschen aus dem Glücke, aus der Weisheit entstehen lassen. Die Wissenschaft muß eine Kräftigung des Herzens sein. Genießen! Welch trauriger Zweck und welch ärmlicher Ehrgeiz! Das Thier genießt; Denken, das ist der wahre Triumph der Seele. Allen Menschen den Begriff Gottes beizubringen, das Gewissen mit dem Wissen in Uebereinstimmung zu bringen und die Menschen dadurch gerecht zu machen, das ist die wahre Aufgabe der Philosophie. In der Moral soll die Wahrheit Knospen schlagen. Betrachten soll zum Handeln führen. Das Absolute muß practisch werden, das Ideal muß belebt, es muß eß- und trinkbar werden für den menschlichen Geist. Das Ideal hat das Recht zu sagen: »Nehmet, es ist mein Fleisch und Blut.« Die Weisheit und die Religion haben beide dasselbe heilige Sakrament des Abendmahls.

Ohne Glaube und Liebe, diesen beiden mächtigen Hebeln der Menschheit, begreifen wir wenigstens nieder das Warum? noch das Woher? und Wohin? des menschlichen Daseins.

VII. Beim Tadeln muß man vorsichtig sein.

Die Geschichte und die Philosophie haben Pflichten, welche ebenso unendlich wie einfach sind. Der Tadel gegen gewisse Persönlichkeiten, wie z. B. gegen Kaiphas als Bischof, Drako als Richter, Trimalcion als Gesetzgeber, Tiberius als Kaiser ist klar und deutlich. Das Urtheil über gewisse Dinge bietet keine Schwierigkeiten. Anders mit dem Recht, für sich zu leben, mit der Beurtheilung jenes sich freiwillig auferlegten Lebens voller Unbequemlichkeiten und freier Mißbräuche. Es will constatirt, aber geschont sein.

Wenn man von den Klöstern spricht, diesen Stätten des Irrthums aber der Unschuld, der Verirrung aber des guten Willens, der Unwissenheit aber der Demuth, der Strafe aber des Märtyrerthums, so muß man fast immer ja und nein sagen.

Ein Kloster ist ein Widerspruch. Als Zweck das Heil, als Mittel das Opfer. Das Kloster ist der höchste Egoismus, der den größten Grad der Selbstverleugnung zum Zweck hat.

Abzudanken, um zu herrschen, dies scheint die Devise des Mönchthums zu sein.

Im Kloster leidet man, um zu genießen. Man zieht einen Wechsel auf den Tod. Man discontirt das himmlische Licht in irdischer Finsterniß. Im Kloster nimmt man die Hölle im Voraus von der Erbschaft des Paradieses an.

Das Nehmen des Schleiers oder der Kutte ist ein mit der Ewigkeit bezahlter Selbstmord.

Der Spott scheint bei einem solchen Gegenstände nicht angemessen zu sein. Hier ist Alles ernst, das Gute wie das Böse.

Der Gerechte runzelt die Augenbraunen, das böswillige Lächeln aber liegt ihm fern. Man darf zornig aber nicht boshaft sein.

VIII. Glaube, Gesetz.

Wir tadeln die Kirche, wenn sie sich an Intriguen satt frißt, wir verachten das Geistliche, das nach dem Weltlichen giert, überall aber ehren wir den denkenden Menschen.

Wir verneigen uns vor dem Knieenden.

Der Glaube ist für den Menschen eine Nothwendigkeit. Wehe dem, der an nichts glaubt!

Man ist nicht unbeschäftigt, wenn man in Gedanken versunken ist. Es giebt eine sichtbare und unsichtbare Arbeit.

Betrachten heißt pflügen, denken handeln. Die übereinandergeschlagenen Arme, die gefalteten Hände arbeiten auch. Der Blick zum Himmel ist auch ein Werk.

Thales blieb vier Jahre unbeweglich. Er begründete die Philosophie.

Für uns sind die Klosterbewohner keine Müßiggänger, die Einsamen keine Faullenzer.

Trotz alledem, was wir gesagt haben, ist die Bemerkung nicht inconsequent, daß der stäte Gedanke an das Grab den Lebendenden nicht unziemlich ist.

In diesem Punkte stimmen der Geistliche und der Philosoph überein.

Es giebt ein materielles Wachsthum und eine moralische Größe; wir wollen Beides.

Die, welche immer beten, beten mit für die, welche nie beten.

Für uns kommt Alles auf die Gedanken an, mit denen man betet.

Wenn Leibnitz betet, so ist das groß; wenn Voltaire betet, so ist das etwas Schönes.

Wir sind für die Religion gegen die Religionen.

Wir gehören zu denen, welche an die Erbärmlichkeit der Gebete und an die Erhabenheit des Gebetes glauben.

Uebrigens erscheint uns in der jetzigen uns zum Leben angewiesenen Minute, die hoffentlich dem neunzehnten Jahrhundert ihre Gestalt nicht hinterlassen wird, in dieser Stunde, in welcher so viele Menschen eine niedrige Stirn und eine kleine Seele haben, unter so vielen Lebenden, welche nur den Genuß als Moral kennen und die sich mit kleinlichen unbedeutenden Interessen der Materie beschäftigen, jeder ehrwürdig, der sich in die Verbannung begiebt. Wenn auch die Art, wie das Opfer gebracht werden mag, falsch ist, das Opfer bleibt doch immer Opfer. Es hat sein Großartiges, einen strengen Irrthum als Pflicht anzunehmen.

An sich, als Ideal, hat das Kloster, das Frauenkloster namentlich – denn in unserer Gesellschaft leidet das Weib am meisten und in diesem Exil des Klosters liegt eine Protestation – unbestreitbar eine gewisse Majestät.

Dieses so strenge und düstere Klosterleben ist nicht das Leben, denn es ist nicht die Freiheit; es ist auch nicht das Grab, es ist der seltsame Ort, von dem aus man, wie von der Spitze eines hohen Berges, auf der einen Seite den Abgrund, in dem wir sind, auf der anderen den Abgrund, in dem wir sein werden, erblickt; es ist eine schmale neblige Grenze, welche zwei Welten von einander trennt, von beiden zugleich beleuchtet und verdunkelt, wo der schwache Strahl des Lebens mit dem undeutlichen Schimmer des Todes sich mischt: es ist das Halbdunkel des Grabes.

III. Wo ein Plan von Paris aus dem Jahre 1727 zu sehen ist.

Nach dreihundert Schritten kam er an einen Punkt, wo das Gäßchen in zwei Straßen auslief, die eine nach der Linken, die andere nach der rechten Seite.

Wohin sollte er sich wenden?

Er schwankte nicht und wählte rechts.

Warum?

Weil der linke Strahl nach der Vorstadt, das heißt nach bewohnten Orten, der rechte Zweig dagegen ins Feld, das heißt nach verödeten Orten führte.

Schnell freilich kamen sie nicht vorwärts. Cosettens Schritt hielt Johann Valjean zurück.

Er nahm sie wieder in den Arm. Cosette legte ihren Kopf auf seine Achsel und sprach kein Wort.

Von Zeit zu Zeit drehte er sich um und sah zurück. Sorgfältig hielt er sich an der Schattenseite. Hinter ihm war das Gäßchen eng. Die ersten zwei oder drei Mal als er sich umkehrte, sah er nichts; es war ganz still und er setzte seinen Weg etwas beruhigter fort. Plötzlich aber, als er sich umdrehte, glaubte er in demjenigen Theile des Gäßchens, das er passirte, im Dunkel Etwas zu sehen, das sich bewegte.

Er stürzte mehr als er ging, weil er irgend ein Seitengäßchen zu finden, durch dasselbe zu entkommen und so noch einmal seine Fährte zu unterbrechen hoffte.

Er gelangte an eine Mauer, die es ihm indeß nicht unmöglich machte weiter zu kommen. Die Mauer stieß an ein Quergäßchen, in welches die Straße endete, wo Johann Valjean sich befand. Er mußte sich wiederum entscheiden, ob links, ob rechts.

Er sah nach rechts. Das Gäßchen zog sich zwischen Schuppen oder derartigen Gebäuden hin und schloß sich dann ohne Ausgang. Es war eine Sackgasse. Deutlich sah man die große weiße Mauer am Ende, welche das Gäßchen schloß.

Er sah nach links. Nach dieser Seite hin war das Gäßchen offen und mündete nach etwa zweihundert Schritten in eine Straße, wozu sie gleichsam einen Nebenfluß bildete. Von dieser Seite war Rettung.

In dem Augenblicke, als Johann Valjean daran dachte, sich links zu wenden, um die Straße zu erreichen, welche er von weitem halb und halb sah, erblickte er an der Ecke, da, wo diese Gäßchen zusammentrafen, eine Art dunkeler, unbeweglicher Statue.

Es war ein Mann, der offenbar dahingestellt worden war, wartete und die Passage versperrte.

Johann Valjean wich zurück.

Die Stelle von Paris, wo Johann Valjean sich befand, zwischen der Vorstadt St. Antoine und La Ravée, gehört zu denen, welche vom Grundpfeiler bis zum Giebel durch die neuen Bauten umgestaltet worden sind. Die Felder, die Lagerhöfe, die alten Gebäude sind verschwunden. Heut zu Tage sind lauter ganz neue große Straßen, Circusse, Arenen, Hippodromes, Bahnhöfe und das Gefängniß Mazas da: – der Fortschritt, wie man sieht, und sein Correctiv 1.

Vor einem halben Jahrhunderte hieß die Stelle, wo Johann Valjean angekommen war, in der Volkssprache »Klein Picpus«.

Klein Picpus, wie das Thor des heiligen Jakob, die Sergeanten-Barriere u. dgl. sind Namen des alten Paris, welche noch in die Neuzeit hineingeschwommen sind.

Klein Picpus, das übrigens kaum existirt hat und nur eine Stadtviertelskizze gewesen ist, hatte fast das klösterliche Aussehen einer spanischen Stadt. Die Straßen waren wenig gepflastert und wenig bebaut. Außer den zwei oder drei Gäßchen, von denen wir gesprochen haben, war hier alles Mauer und Einöde. Nicht ein Verkaufsladen, nicht ein Wagen; kaum hie und da ein Licht hinter einem Fenster. Nach zehn Uhr wurden alle Lichter ausgelöscht. Dafür Gärten, Klöster, Holzhöfe, Sümpfe; selten niedrige Häuser und Mauern fast so hoch wie die Häuser.

So war dieses Viertel zu Ende des vorigen Jahrhunderts. Vor dreißig Jahren verschwand es unter der Rasur neuer Bauten. Heut zu Tage ist es ganz anders geworden.

Klein Picpus, von dem man keine Spur auf einem jetzigen Plane sieht, ist in dem von 1727 ziemlich genau bezeichnet.

Es war ein Y von Gassen. Die beiden Schenkel dieses Y waren in der Spitze wie durch eine Stange verbunden, welche den Namen Rechts-Mauer führte.

Hier also war Johann Valjean, welcher ohne Zweifel durch jenes Fantom bewacht wurde.

Was sollte er thun?

Zum Umkehren war keine Zeit mehr. Das, was er im Schatten einige Schritte hinter sich hatte bewegen sehen, war offenbar Javert mit seinen Begleitern. Javert war wahrscheinlich schon im Anfange des Gäßchens, an dessen Ende Johann Valjean sich befand. Javert kannte Allem Anscheine nach dieses kleine Labyrinth und hatte seine Maßregeln genommen, indem er einen seiner Leute zur Bewachung des Ausgangs ausgeschickt. Diese so wahrscheinlichen Vermuthungen wirbelten plötzlich wie eine Hand voll Staub, der mit dem Winde sich erhebt, schmerzlich in dem Kopfe Johann Valjeans umher. Er prüfte die Sackgasse; sie war versperrt. Er prüfte das Gäßchen Picpus, da stand eine Schildwache. Vorwärts gehen hieß gerade auf den Mann fallen. Zurück hieß sich in die Arme Javerts werfen. Johann Valjean fühlte sich wie in einem Netze gefangen, das sich langsam zusammen zieht. Verzweiflungsvoll sah er gen Himmel.

  1. Zucht, Strafe, Besserung, Milderungsmittel – auf das Gefängniß bezüglich.

II. Glücklicherweise trägt die Austerlitz-Brücke Wagen.

Für Johann Valjean war die Ungewißheit vorbei, glücklicher Weise dauerte sie noch für die vier Männer fort. Er benutzte ihr Zögern, es war für sie verlorene, für ihn gewonnene Zeit. Er ging aus seinem Verstecke hervor und nach dem botanischen Garten zu. Cosette fing an müde zu werden, er nahm sie in seine Arme und trug sie. Er begegnete Niemand und des Mondscheins wegen hatte man die Laternen nicht angezündet.

Er verdoppelte seine Schritte, passirte den botanischen Garten und gelangte endlich auf den Quai. Hier drehte er sich um. Der Quai war leer. Die Straßen waren öde. Niemand hinter ihm Er athmete auf.

Er erreichte die Austerlitz-Brücke.

Damals mußte noch Brückengeld bezahlt werden. Er trat an die Einnahmestelle und zahlte einen Sous.

»Es macht zwei Sous,« sagte der Invalide. »Sie tragen da ein Kind, das gehen kann. Sie müssen für zwei bezahlen.«

Aergerlich darüber, daß er zu einer Bemerkung Veranlassung gegeben, bezahlte er. Jede Flucht muß ein Entschlüpfen sein.

Gleichzeitig mit ihm passirte ein schwer beladener Wagen die Seine. Dieser wollte sich, ebenso wie er, auf das rechte Ufer derselben begeben. Das war ihm nützlich. Er konnte die ganze Brücke im Schatten dieses Wagens überschreiten. Ungefähr in der Mitte der Brücke wünschte Cosette wieder zu gehen, da ihr die Beine eingeschlafen. Er ließ sie herunter und nahm sie wieder bei der Hand.

Hinter der Brücke sah er ein wenig rechts Holzlagerplätze. Er ging darauf zu. Um dorthin zu gelangen, mußte er sich in einen ziemlich großen, freien und hellbeschienenen Raum wagen. Er zögerte nicht. Die, welche ihn verfolgten, hatten offenbar seine Spur verloren. Johann Valjean glaubte sich außer Gefahr. Man suchte ihn noch – ja, man folgte ihm aber nicht mehr.

Zwischen zwei von Mauern eingeschlossenen Lagerplätzen ging ein Gäßchen hin, schmal und dunkel, als sei es ganz besonders für ihn gemacht. Ehe er hineintrat, sah er hinter sich.

Von seinem Standpunkt aus konnte er die ganze Länge der Brücke von Austerlitz übersehen.

Vier Schatten traten eben auf die Brücke. Sie wendeten dem botanischen Garten den Rücken zu und gingen auf das rechte Seineufer. Diese vier Schatten waren die vier Männer.

Johann Valjean empfand das Zittern eines wiedergefangenen Wildes.

Eine Hoffnung blieb ihm: daß die vier Männer in dem Augenblicke, als er mit Cosetten an der Hand über den hellen Platz gegangen, noch nicht auf der Brücke gewesen und ihn noch nicht gesehen hätten.

In diesem Falle konnte er entkommen, wenn er durch das vor ihm liegende Gäßchen die Holzplätze erreichte und die unbebauten äußeren Stellen der Stadt.

Er glaubte sich dem schweigsamen Gäßchen anvertrauen zu können und schritt hinein.

X. Ursprung der Ewigen Anbetung.

Der Orden der Ewigen Anbetung ist nicht sehr alt. Es sind seit seinem Entstehen noch nicht zweihundert Jahre verflossen.

Im Jahre 1649 wurde die Heilige Monstranz zwei Mal in einer Zeit von nur wenigen Tagen in zwei Kirchen zu Paris entweiht. Diese entsetzliche und seltene Kirchenschändung setzte die ganze Stadt in Aufregung. Der Prior Groß-Vicar von St. Germain des Pres ordnete eine feierliche Prozession seiner ganzen Geistlichkeit an, bei welcher der päpstliche Nuntius celebrirte. Diese Sühnung genügte jedoch zweien würdigen Frauen, der Madame Courtin, Marquise v. Boucs und der Gräfin von Chateauvieux nicht. Diese gegen das »allerheiligste Sakrament des Altares« verübte Schmähung konnten die beiden frommen Seelen nicht vergessen und schien ihnen nicht anders gut gemacht werden zu können als durch eine Ewige Anbetung in einigen Nonnenklöstern. Beide, die eine 1652, die andere 1653 übermachten der Mutter Katharina von Bar, genannt vom heiligen Sakrament, einer Benedictinerin, ansehnliche Summen zum Geschenk, um zu diesem frommen Zwecke ein Kloster vom Orden des heiligen Benedict zu gründen. Die erste Erlaubniß zu dieser Stiftung erhielt Katharina von Bar von Herrn v. Metz, Abt von St. Germain, unter der Bedingung, »daß kein Mädchen aufgenommen werde, welche nicht dreihundert Livres Renten, also ein Kapital von sechstausend Livres, mitbringe.«

Die königliche Bestätigung datirt von 1654. Drei Jahre später, also im Jahre 1657 ermächtigte der Papst Alexander XII. durch ein besonderes Breve, auch die Bernhardinerinnen von Klein-Picpus die Ewige Anbetung zu verrichten, ebenso wie die Benedictinerinnen vom Heiligen Sakrament.

Die beiden Orden selbst sind jedoch ganz verschieden von einander.

XI. Ende von Klein-Picpus.

Seit dem Beginn der Restauration verfiel das Kloster von Klein-Picpus; es unterlag dem allgemeinen Hinsterben des Klosterlebens, welches seit Ablauf des achtzehnten Jahrhunderts vergeht, wie alle religiösen Orden. Die beschauliche Selbstbetrachtung ist wie das Gebet ein Bedürfnis des Menschen. Wie alles aber, was die Revolution berührt hat, wird sie sich umgestalten und dem gesellschaftlichen Fortschritte nicht ferner feindlich sein, sondern ihm günstig werden.

Das Haus in Klein-Picpus entvölkerte sich schnell. Im Jahre 1840 war das kleine Kloster verschwunden, ebenso das Pensionat. Es gab weder alte Frauen noch junge Mädchen darin; die einen waren gestorben, die anderen hatten das Haus verlassen.

Wegen der Strenge der Ordensregel ergänzt sich der Orden nicht mehr. Vor vierzig Jahren waren ungefähr noch hundert Nonnen im Kloster, vor fünfzehn Jahren nur noch achtundzwanzig. Im Jahre 1847 war die Priorin eine junge Dame von noch nicht vierzig Jahren, ein Zeichen, daß der Kreis der Wählbaren zusammengeschrumpft war. Und in dem Maaße, in welchem die Anzahl sich verringert, in demselben Maaße wird der Dienst einer Jeden beschwerlicher.

Wegen dieses Verfalles hat das Kloster auch die Erziehung von Mädchen aufgegeben. –

Wir haben vor diesem außerordentlichen, unbekannten, dunklen Hause nicht vorüber gehen können, ohne in dasselbe einzutreten, ohne in dasselbe das Gemüth der Leser, welche uns begleiten und denen wir unsere Erzählung vortragen, einzuführen. Für Manche wird dieser Besuch vielleicht nicht nutzlos gewesen sein. Wir haben von diesem seltsamen Orte mit möglichster Ehrfurcht gesprochen, wenn die Mittheilung einiger Einzelheiten uns auch manchmal betreffs der dem heiligen Orte schuldigen Rücksicht verdächtigt haben mag. Wir begreifen nicht Alles, wir wollen aber Niemand beleidigen. Wir sind ebenso weit entfernt von dem Hosiannah Joseph de Maistres, wie von dem höhnischen Grinsen Voltaires, welcher sogar das Crucifix verspottete.

Im neunzehnten Jahrhundert erleidet die religiöse Idee eine Krisis. Man verlernt gewisse Dinge und man thut wohl daran, wenn man nur statt dessen etwas anderes lernt. Im menschlichen Herzen darf es keinen leeren Raum geben. Wenn dem Einsturz der Neubau folgt, so kann man sich trösten.

Die Nachahmungen der Vergangenheit nehmen falsche Namen an und nennen sich gern Zukunft. Die Vergangenheit ist ein Gespenst, das gar zu häufig seinen Paß fälscht. Wir müssen uns in Acht nehmen, daß wir uns von diesem Passe nicht täuschen lassen und Todtes nicht für das Leben der Zukunft halten. Die Vergangenheit hat ein Gesicht und eine Maske; das Gesicht ist der Aberglaube, die Maske ist die Heuchelei. Zeigen wir das Gesicht und reißen wir die Maske ab.

Die Klosterfrage ist eine sehr verwickelte. Sie ist eine Frage der Civilisation, welche sie verurtheilt; sie ist eine Frage der Freiheit, welche sie in ihren Schutz nimmt.

I. Das Kloster als abstracter Begriff.

Dieses Buch ist ein Drama, in welchem das Unendliche die erste, der Mensch die zweite Rolle spielt.

Da dem so ist und wir auf unserm Wege ein Kloster gefunden haben, so mußten wir in dasselbe eintreten, denn das Kloster, dem Morgenlande wie dem Abendlande, dem Alterthume wie der modernen Zeit, dem Heidenthume, dem Buddhaismus, dem Mohamedanismus, wie dem Christenthume eigen, ist ein optischer Apparat, welchen der Mensch auf das Unendliche richtet.

Es ist hier nicht der Ort, über die Grenzen dieses Werkes hinaus gewisse Ideen zu entwickeln; bei aller Einschränkung jedoch müssen wir aber sagen, daß wir jedesmal uns von Achtung ergriffen fühlen, wenn wir in den Menschen dem Unendlichen begegnen; der Mensch mag es gut oder schlecht verstanden haben. Es giebt in der Synagoge, in der Mosche, in der Pagode, dem Wigwam eine häßliche Seite, die wir verwünschen, aber auch eine erhabene, die wir verehren. Welche endlose Betrachtung für den Geist ist die Widerspiegelung Gottes im Menschen!

II. Das Kloster als historische Thatsache.

Vom Gesichtspunkte der Geschichte, der Vernunft und der Wahrheit aus ist das Mönchthum verurtheilt.

Wenn die Klöster bei einer Nation zu zahlreich sind, so bilden sie Knoten, welche die Cirkulation hindern und Mittelpunkte der Faulheit. Die Klostergemeinden verhalten sich zu der großen gesellschaftlichen Gemeinschaft wie die Mispel zur E:che, wie die Warze zum menschlichen Körper. Ihr Gedeihen ist die Verarmung des Landes. Die Mönchsherrschaft, welche im Anfange der Civilisation gut war und dazu beitrug, durch das Geistige die Roheit zu mäßigen, ist, nachtheilig im Mannesalter der Völker.

Die Klöster haben ihre Zeit gehabt. Nützlich der ersten Erziehung der modernen Civilisation, wurden sie ihrem Wachsthum lästig und ihrer Entwickelung schädlich. Im zehnten Jahrhunderte waren sie gut, im fünfzehnten konnte man über ihren Werth streiten, im neunzehnten Jahrhundert aber sind sie unbedingt verwerflich. Der Mönchsaussatz hat zwei bewundernswürdige Nationen, Italien und Spanien, von denen Jahrhunderte lang die eine die Leuchte, die andere der Glanz Europas gewesen waren, bis fast zum Gerippe zerfressen. Erst jetzt beginnen die beiden erlauchten Völker, Dank der gesunden und kräftigen Gesundheitslehre von 1789, zu genesen.

Das Kloster, namentlich das ehemalige Frauenkloster, wie es an der Schwelle unseres Jahrhunderts noch in Italien, in Oestreich und in Spanien erscheint, ist eine der düstersten Schöpfungen des Mittelalters.

Thatsachen sprechen. Sie lassen sich schwerlich in Abrede stellen, sie stehen fest.

Der Verfasser dieses Buches hat mit eigenen Augen, acht Meilen von Brüssel in der Abtei von Villers das Loch der Verließe gesehen, mitten in der Wiese, wo der Hof des Klosters gewesen war, am Dyle, vier steinerne Kerker, halb unter der Erde, halb unter dem Wasser. Das waren die in pace 5. Jeder dieser Kerker hat einen Ueberrest von einer eisernen Thür, eine Latrine und ein vergittertes Fenster, außen zwei Fuß über dem Flusse, innen sechs Fuß über dem Boden. Außen längs der Mauer hin fließt vier Fuß tief der Fluß. Der Boden ist immer feucht. Diejenigen, welche in pace wohnten, hatten diesen Boden als Bett. In einem dieser Kerker befindet sich ein Stück eines in der Wand geschmiedeten Halseisens; in einem andern sieht man einen viereckigen aus vier Granitplatten gemachten Kasten, zu kurz, um sich hinein zu legen, zu niedrig, um darin aufstehen zu können. Darein steckte man einen Menschen und darüber legte man eine Steindecke! Diese in pace, diese Kerker, diese Eisenangeln, jenes Halseisen, jenes Fenster, jener Fußboden, jener Steinkasten mit dem Steindeckel darauf wie ein Grab – sind das keine Thatsachen, sind das keine Zeugen!?

  1. D. h. in Frieden, bezeichnet in gewisser ironischer Weise Kerker.