Vierzehntes Kapitel

Nechludoff war schon lange im Gefängnis. Er war sehr früh gekommen und hatte der Schildwache und einem Aufseher den Erlaubnisschein des Staatsanwalts gezeigt.

»In diesem Moment ist es unmöglich,« erklärte der Aufseher; »der Direktor ist beschäftigt.«

»Im Bureau?« fragte Nechludoff.

»Nein, hier, im Sprechzimmer!« versetzte der Aufseher mit einer gewissen Verlegenheit.

»Ist Besuchstag?«

»O nein, in einer andern Angelegenheit!«

»Und wie kann ich den Direktor sprechen?«

»Sie müssen hier auf ihn warten. Er wird gleich vorbeikommen, dann können Sie mit ihm sprechen.«

Einige Minuten darauf sah Nechludoff einen jungen Unteroffizier mit glitzernden Galons, schneidig und mit hochgedrehtem Schnurrbart in den Saal treten; als derselbe ihn bemerkte, wandte er sich mit strenger Miene zu dem Aufseher und sagte:

»Warum haben Sie hier Leute hereingelassen? Nach dem Bureau sollen Sie doch alles schicken.«

»Man sagte mir, der Direktor würde hier durchkommen; ich habe mit ihm zu sprechen!« sagte Nechludoff überrascht, als er auf dem Gesicht des Unteroffiziers denselben verlegenen Ausdruck bemerkte, der ihm schon bei dem Aufseher aufgefallen war.

In diesem Augenblick öffnete sich die Thür, durch die der Unteroffizier eingetreten war, von neuem, und ein Aufseher, ein wahrer Koloß, trat erhitzt, ganz in Schweiß gebadet, ein. Das war der berüchtigte Petroff.

»Daran wird er denken!« erklärte er, sich an den Unteroffizier wendend.

Doch dieser machte ihn mit einer Kopfbewegung auf die Anwesenheit eines Fremden aufmerksam, und Petroff ging, ohne ein Wort hinzuzufügen, durch eine andere Thür hinaus.

»Wer wird an etwas denken? Und warum sehen sie alle so verlegen aus?« fragte sich Nechludoff.

»Hier wird nicht gewartet! Gehen Sie gefälligst ins Bureau!« sagte der Unteroffizier zu ihm, und Nechludoff wollte bereits hinausgehen, als er durch dieselbe Thür, wie die beiden andern, den Direktor erscheinen sah. Er schien noch verlegener, als seine Untergebenen, und sah vor Aufregung ganz entstellt aus.

Nechludoff sprach ihn an und zeigte ihm den Erlaubnisschein des Staatsanwalts.

»Fedoroff!« rief der Direktor einem der Aufseher zu; »holen Sie mal gleich die Maslow! Fünfter Frauensaal! Sie soll in das Advokatensprechzimmer geführt werden.«

Dann wandte er sich zu Nechludoff:

»Gestatten Sie mir, Sie zu begleiten?«

Sie stiegen eine Wendeltreppe hinauf und traten in ein kleines Zimmer, das mit einem Tisch und einigen Stühlen möbliert war.

Der Direktor setzte sich und sagte seufzend, während er eine dicke Cigarette aus seinem Etui nahm:

»Welch hartes Handwerk! Welch hartes Handwerk!«

»Sie scheinen abgespannt?«

»Mein ganzer Dienst ist mir zuwider! Es sind wirklich zu harte Verpflichtungen! Man möchte diesen Elenden ihr Schicksal erleichtern, und alles, was man thut, macht die Sache noch schlimmer. Wenn ich wenigstens ein Mittel wüßte, von hier wegzukommen! Ein hartes, hartes Handwerk!«

Nechludoff wußte nicht, worin die harten Verpflichtungen des Direktors bestanden; doch ohne sie zu kennen, glaubte er an diesem Tage an ihm ein außergewöhnliches Leiden, eine ganz besonders traurige und verzweifelte Stimmung zu bemerken.

»Ja, ich glaube gern, daß es ein hartes Handwerk ist,« sagte er zu ihm. »Aber wenn es Sie in einen solchen Zustand bringt, warum verzichten Sie nicht darauf?«

»Der Mangel an Vermögen, die Familie …«

Er hielt einen Augenblick inne und fuhr dann fort:

»Das ist noch nicht alles. Denn schließlich thue ich nach meinen Kräften alles, was ich kann, um das Schicksal der Gefangenen zu lindern, und in gewissen Punkten gelingt es mir ja auch; ein anderer würde sie an meiner Stelle ganz anders behandeln. Glauben Sie, es sei eine Kleinigkeit, fast zweitausend Menschen, und Menschen dieser Art, zu dirigieren? Man muß wissen, wie man sie zu nehmen hat. Es sind doch Menschen, und sie thun einem immerhin leid. Doch wenn man sie verzieht, ist alles verloren.«

Der Direktor begann nun eine erst kürzlich passierte Geschichte zu erzählen; eine Prügelei zwischen zwei Gefangenen, die mit dem Tode des einen geendet hatte.

Seine Erzählung wurde durch den Eintritt der Maslow unterbrochen, die in Begleitung eines Aufsehers erschien.

Nechludoff sah sie bereits aus der Schwelle, bevor sie die Anwesenheit des Direktors noch bemerkte. Ihr Gesicht war rot und glühend. Sie schritt schnell hinter dem Aufseher her, ohne ihr Lächeln einzustellen. Als sie den Direktor bemerkte, blieb sie einen Augenblick mit erschrockener Miene stehen, wandte sich aber sofort in fröhlicher Laune nach Nechludoff und sagte zu ihm mit lächelnder Miene: »Guten Tag!«

Dabei drückte sie ihm kräftig die Hand, anstatt sie, wie beim vorigen Mal, nur einfach zu berühren.

»Ich habe Ihnen Ihre Berufung mitgebracht,« sagte Nechludoff, der sich wunderte, sie so lebhaft zu sehen. »Der Advokat hat sie aufgesetzt; Sie brauchen sie nur zu unterzeichnen; wir schicken sie dann nach St. Petersburg.«

»Nun gut, dann werden wir sie eben unterzeichnen; nichts einfacher als das!«

Sie fuhr fort zu lächeln, und eins ihrer Augen schielte stärker, als gewöhnlich. Nechludoff zog das Papier aus der Tasche und näherte sich dem Tische.

»Kann man das hier unterzeichnen?« fragte er den Direktor.

»Setz‘ dich hierher,« sagte der Direktor zu der Maslow. – »Da ist eine Feder und Tinte. Kannst du denn schreiben?«

»Ich habe es früher gekonnt!« versetzte sie lächelnd, hob ihren Rock hoch, warf ihren Aermel zurück, setzte sich an den Tisch, ergriff energisch die Feder und fragte, sich wieder lächelnd zu Nechludoff wendend, was sie thun sollte. Er erklärte ihr, wo und in welchen Ausdrücken sie unterzeichnen müßte.

»Das ist alles?« fragte sie und sah abwechselnd Nechludoff und den Direktor an.

»Ich habe Ihnen noch etwas zu sagen!« sagte Nechludoff, während er ihr die Feder aus der Hand nahm.

»Nun, so sprechen Sie!«

Ihr Gesicht wurde plötzlich wieder ernst, als wäre ihr irgend ein Gedanke in den Sinn gekommen oder als hätte sie eine heftige Schlafsucht befallen.

Der Direktor erhob sich und verließ das Zimmer, und Nechludoff blieb mit der Maslow allein.

Der entscheidende Augenblick war für Nechludoff endlich gekommen. Er hatte sich fortwährend Vorwürfe gemacht, daß er nicht schon bei seiner ersten Zusammenkunft mit der Maslow gewagt, ihr die Hauptsache zu sagen, daß es seine Absicht war, seine Schuld dadurch zu büßen, daß er sie heiratete. Doch diesmal wollte er ihr alles sagen, mochte kommen, was da wollte!

Er bestärkte sich in seinem Entschlusse, als er der Gefangenen gegenüber am andern Ende des Tisches Platz nahm.

Das Zimmer, in dem sie sich befanden, war hell, und Nechludoff konnte das Gesicht der Maslow in Ruhe betrachten; er sah die Runzeln um den Mund und an den Augen, die angeschwollenen Lider, den allgemeinen Ausdruck frühzeitiger Ausschweifung und Erniedrigung, es beschlich ihn eine tiefe Traurigkeit, und sein Mitleid mit ihr ward noch größer.

Er stellte sich so an den Tisch, daß er von dem Aufseher, der die Maslow hergebracht, weder gehört, noch gesehen werden konnte; der Aufseher blieb im Winkel am Fenster, am andern Ende des Zimmers sitzen. Jetzt neigte sich Nechludoff zu der Maslow hinüber und sagte zu ihr:

»Wenn die Berufung nicht durchdringt, werden wir ein Gnadengesuch an den Zaren richten. Wir werden alles Mögliche thun.«

»Welch Unglück, daß Sie mich nicht früher gefunden haben! Sie hätten mir einen guten Advokaten verschafft! Denn der, den ich hatte, ist an allem schuld! Dieser Dummkopf! Alle beglückwünschen sie mich Ihretwegen,« setzte sie hinzu und fing an zu lachen. »Ach, hätte man am Tage der Verhandlung gewußt, daß Sie mich kennen, die Sache hätte eine ganz andere Wendung genommen. Dagegen so … Ach was, haben sie sich gesagt: das ist ganz einfach ’ne Diebin!«

»Wie seltsam sie heute ist!« dachte Nechludoff und wollte eben die große Frage berühren, als sie von neuem das Wort ergriff:

»Hören Sie nur, was ich Ihnen zu sagen habe … In unserem Saale ist eine alte Frau, über die sich jeder wundern muß! Eine merkwürdige, kleine, alte Frau, wie Sie eine zweite nicht sehen werden! Man hat sie und ihren Sohn verurteilt, Gott weiß, warum; und jeder weiß, daß sie unschuldig sind; und dabei hat man sie angeklagt, sie hätten Feuer angelegt! Da hat sie gehört, daß ich Sie kenne, und daraufhin zu mir gesagt: »Täubchen, sag‘ ihm, er solle mit meinem Sohn sprechen, der wird ihm alles erklären!« Mentschoff ist ihr Familienname. Wenn Sie wüßten! Eine so merkwürdige kleine Frau! Man sieht gleich, daß sie nicht schuldig ist! Nicht wahr, mein Schatz, Sie werden sich mit ihr beschäftigen?« sagte sie und sah ihm mit vertraulichem Lächeln in die Augen.

»Gut, ich werde mich damit beschäftigen und Erkundigungen einziehen,« versetzte Nechludoff, der sich über ihre Gesprächigkeit immer mehr wunderte. »Aber ich möchte mit Ihnen von einer persönlichen Angelegenheit sprechen. Erinnern Sie sich, was ich Ihnen neulich gesagt habe?«

»Sie sagten mir neulich so viel! Was haben Sie mir denn gesagt?« fragte sie.

Sie hörte nicht auf, ihm zuzulächeln und neigte den Kopf bald nach dieser, bald nach jener Seite.

»Ich habe Ihnen gesagt, ich wäre gekommen, um Sie um Verzeihung zu bitten,« sagte er.

»Ach ja, ganz recht. Da ist nichts zu verzeihen. Sie thäten besser …«

»Ich habe Ihnen noch zu sagen,« fuhr Nechludoff fort, »daß ich meine Schuld wieder gutmachen will, aber nicht durch Worte, sondern durch Thaten … Ich bin entschlossen, Sie zu heiraten!«

Bei diesen Worten nahm das Gesicht der Maslow wieder einen Ausdruck der Angst an. Ihre Augen hörten auf zu schielen und richteten sich strenge auf Nechludoff.

»Weiter fehlte nichts!« sagte sie in bösem Tone.

»Ich habe das Gefühl, daß ich das vor Gott thun muß!«

»Jetzt spricht er noch obendrein von Gott! Gott! Was für’n Gott! Sie hätten besser gethan, früher an Gott zu denken, als …«

Sie hielt offenen Mundes inne, und jetzt spürte Nechludoff zum erstenmale den starken Branntweingeruch, der ihrem Munde entströmte; er begriff die Ursache ihrer Aufregung und sagte:

»Beruhige dich!«

»Ich brauche mich nicht zu beruhigen. Du glaubst, ich bin betrunken? Nun denn ja, ich bin betrunken, aber ich weiß, was ich spreche!« versetzte sie in einem Zuge mit blutrotem Gesicht. »Ich bin eine öffentliche Dirne, eine Zuchthäuslerin, und Sie sind ein vornehmer Herr, ein Fürst. Sie haben nichts mit mir zu schaffen. Geh‘ doch zu deinen Fürstinnen!«

»So grausam du auch mit mir sprichst, deine Worte sind nichts im Vergleich zu dem, was ich selbst empfinde,« versetzte Nechludoff ganz leise und zitternd. »Du kannst dir nicht denken, wie sehr ich mir meiner Schuld gegen dich bewußt bin!«

»Deiner Schuld bewußt warst du!« versetzte sie mit bösem Lachen. »Als du mir die hundert Rubel zustecktest, da warst du dir ihrer nicht bewußt!«

»Ich weiß, ich weiß; doch was soll ich jetzt thun? Ich habe mir geschworen, dich nicht zu verlassen, und werde das ausführen, was ich gesagt habe.«

»Und ich sage dir, du wirst es nicht ausführen!«

»Katuscha!« sagte Nechludoff und versuchte, ihre Hand zu ergreifen.

»Rühr‘ mich nicht an! Ich bin eine Zuchthäuslerin, und du bist ein Fürst; du hast hier nichts zu suchen!« lief sie, toll vor Zorn ihre Hand zurückziehend. »Geh‘ fort,« fuhr sie fort, »ich hasse dich; alles ekelt mich bei dir an, dein Lorgnon, Und dein ganzes schmutziges, fettes Gesicht! Geh‘! Geh‘ deiner Wege!«

Mit schneller Bewegung sprang sie auf die Füße.

Der Aufseher näherte sich ihr.

»Was hast du hier Skandal zu machen?«

»Lassen Sie sie, bitte,« sagte Nechludoff.

»Ich werde dich lehren, dich so zu vergessen,« fuhr der Aufseher fort.

»Ich bitte Sie, warten Sie noch eine Minute!«

Der Aufseher entfernte sich und setzte sich wieder ans Fenster.

Auch die Maslow setzte sich wieder. Sie schlug die Augen nieder und fing an, fieberhaft mit den zusammengedrückten Fingern ihrer kleinen Hände zu spielen.

Nechludoff stand neben ihr und wußte nicht, was er thun sollte.

»Du glaubst mir nicht?« fragte er.

»Was glaube ich nicht? Daß Sie mich heiraten wollen? Nein, nein, das wird nie geschehen! Lieber würde ich mich aufhängen! So, das merken Sie sich!«

»Gleichviel! Trotzdem werde ich dir weiter dienen!«

»Das ist Ihre Sache! Aber ich bedarf Ihrer nicht. So wahr ich es Ihnen sage! – Warum bin ich damals nicht gestorben!« fügte sie hinzu und brach in Thränen aus.

Nechludoff wollte zu ihr sprechen, doch er war nicht dazu im stande. Der Anblick dieser Thränen zerriß ihm das Herz.

Nach kurzer Pause erhob sie wieder die Augen, warf einen gleichsam erstaunten Blick auf ihn und fing an, sich mit ihrem Tuch die Thränen abzutrocknen, die ihr über die Wangen liefen.

Der Schließer, der sich wieder näherte, erklärte, der Zeitpunkt, sie zurückzuführen, wäre gekommen.

»Sie sind heute aufgeregt. Wenn es möglich ist, werde ich morgen wiederkommen. Denken Sie inzwischen nach!« sagte Nechludoff.

Sie gab keine Antwort, sondern ging, ohne ihn anzusehen, mit dem Schließer hinaus.

»Na, meine Kleine, nun werden sie dich aus der Patsche ziehen!« sagte die Korablewa zur Maslow, als diese in ihre Zelle trat; »er wird dich schon ‚rauskriegen! Den reichen Leuten ist ja alles möglich!«

»Das ist wahr,« versetzte die Eisenbahnwärterin mit ihrer singenden Stimme, »Der reiche Mann braucht nur etwas zu wünschen, und alles geschieht, wie er es will. Da war mal einer bei uns …«

».Haben Sie mit ihm gesprochen?« fragte die kleine Alte.

Doch die Maslow warf sich, ohne jemandem zu antworten, auf ihr Bett und blieb, vor sich hinstarrend, bis zum Abend liegen.

Was ihr Nechludoff gesagt, hatte die Vision einer Welt in ihr erweckt, in der sie gelitten und die sie verlassen hatte; sie hatte diese Welt zu hassen angefangen und glaubte, sie auf ewig vergessen zu haben. Jetzt war diese Vergessenheit, in der sie gelebt, verschwunden; doch andererseits war ihr die helle, klare Erinnerung der Vergangenheit unerträglich. Gegen Abend kaufte sie sich eine neue Flasche Branntwein und leerte sie mit ihren Genossinnen.

»So also steht’s!« sagte sich Nechludoff, während er die langen Gefängniskorridore entlangging.

Erst jetzt war er sich zum erstenmal über die Ausdehnung seiner Schuld klar. Hätte er nicht versucht, seine Schuld zu sühnen, sie wieder gutzumachen, er hätte die ganze Ausdehnung nie so gefühlt; und auch Katuscha hätte die Ungeheuerlichkeit des Leids, das er ihr zugefügt, niemals empfunden! Zum erstenmal kam das alles in seinem ganzen Greuel ans Tageslicht.

Bis dahin hatte Nechludoff über sich selbst Rührung empfunden; seine Buße war ihm als ein Spiel erschienen, doch jetzt erfaßte ihn ein wahres Entsetzen. Diese Frau zu verlassen, war jetzt für ihn etwas Unmögliches; doch was sich aus seinen Beziehungen mit ihr entwickeln sollte, das konnte er sich nicht vorstellen.

Vor der Thür des Gefängnisses sah er, wie ein Aufseher, ein Mann mit tückischer und abstoßender Miene, von stark ausgeprägtem jüdischen Typus auf ihn zutrat, der ihm geheimnisvoll ein Papier in die Hand steckte.

»Das ist für Ew. Excellenz,« flüsterte er. »Es ist ein Brief von einer gewissen Person …«

»Von was für einer Person?«

»Ew. Excellenz mache sich die Mühe, zu lesen, dann werden Sie schon sehen! Eine Gefangene von der politischen Abteilung. Ich habe die Aufsicht über sie. Da hat sie mich denn gebeten … Es ist verboten, aber aus Menschlichkeit …« fügte der Aufseher in heuchlerischem Tone hinzu.

Etwas überrascht, daß ein Aufseher einen solchen Auftrag übernahm, steckte Nechludoff das Papier in die Tasche und las es schnell, sobald er das Gefängnis verlassen hatte. Man hatte ihm mit Bleistift in aller Hast folgende Worte geschrieben:

»Da ich erfahren habe, daß Sie in das Gefängnis kommen und sich für eine Gefangene der Kriminalabteilung interessieren, so möchte ich gern mit Ihnen sprechen. Kommen Sie um die Erlaubnis ein, mich sehen zu können. Man wird sie Ihnen bewilligen und ich werde Ihnen sowohl für Ihren Schützling, wie für unsere Gruppe wichtige Dinge sagen. Wera Bogoduschoffska.«

»Bogoduschoffska! Wo habe ich diesen Namen schon gehört?« fragte sich Nechludoff, der von der Erinnerung an seine Unterredung mit Katuscha noch ganz erschüttert war. »Ach ja, ich erinnere mich! Die Tochter des Kirchendieners, während der Bärenjagd!«

Wera Bogoduschoffska war Erzieherin in einem Dorfe des Gouvernements Nowgorod, als Nechludoff auf einer Bärenjagd in jenes Dorf gekommen war. Die Erzieherin hatte den jungen Mann um Geld gebeten, damit sie ihre Schule aufgeben und an der Universität studieren konnte. Nechludoff hatte ihr die gewünschte Summe gegeben und seitdem nie wieder etwas von ihr gehört. Und jetzt erschien diese Person als politische Gefangene vor ihm und versprach, ihm wichtige Dinge über die Maslow mitzuteilen!

Wie einfach und leicht war damals alles, und wie schwer und verwickelt war es jetzt! Nechludoff empfand eine wahre Erschütterung, als er sich an den Tag erinnerte, da er die Bogoduschoffska kennen gelernt.

Es war am Tage vor dem Karneval, in einem einsamen Dorfe, sechzig Werst von der nächsten Eisenbahnstation. Die Jagd war sehr glücklich gewesen. Man hatte zwei Bären erlegt, vorzüglich gespeist und wollte eben wieder aufbrechen, als der Wirt der kleinen Herberge ihnen sagte, die Tochter des Kirchendieners wolle mit dem Fürsten Nechludoff sprechen.

»Ist sie hübsch?« hatte einer der Jäger gefragt.

»Das werden wir gleich sehen,« hatte Nechludoff geantwortet, war dann mit der ernsthaftesten Miene von der Welt vom Tische aufgestanden, hatte sich den Mund gewischt und war hinausgegangen, ohne sich recht zu denken, was die Tochter eines Kirchendieners von ihm wollte.

Im Nebenzimmer stand, in einen großen Bauernpelz gehüllt, doch mit einem Filzhut aus dem Kopfe, ein mageres, knochiges junges Mädchen mit einem langen, anmutslosen Gesicht, in welchem allein die Augen einige Schönheit besaßen.

»Da ist der Fürst, Wera Efremowna,« hatte der Gastwirt gesagt und sie im Zimmer allein gelassen.

»Womit kann ich Ihnen dienen?« fragte Nechludoff.

»Ich, ich … Sehen Sie, Sie sind reich, und geben Ihr Geld aus, um dafür zu jagen und sich zu amüsieren. Ich weiß das und wünsche nur eins, mich andern nützlich zu machen. Aber ich kann nichts thun, weil ich nichts verstehe.«

»Und was kann ich für Sie thun?«

»Ich bin hier Erzieherin und möchte zur Universität gehen, doch man läßt mich nicht hin. Oder vielmehr, man läßt mich schon hin, aber ich brauche Geld. Geben Sie mir Geld; wenn ich meine Studien beendet habe, werde ich es Ihnen zurückgeben. Ich sage mir: »Die reichen Leute gehen auf die Bärenjagd, machen die Muschiks betrunken, und das alles ist schlecht; warum sollten sie nicht auch ein bißchen Gutes thun?« Ich brauche nur achtzig Rubel; wenn Sie nicht wollen, so schadet es auch nichts …«

»Aber in: Gegenteil, ich bin Ihnen für die Gelegenheit, die Sie mir geben, sehr dankbar; ich werde Ihnen das Geld sofort bringen.«

Nechludoff war in das Gastzimmer zurückgegangen; ohne auf die Witzeleien seiner Kameraden zu achten, hatte er aus seiner Reisetasche vier Zwanzigrubelscheine genommen und sie ihr gebracht.

»Ich bitte Sie,« hatte er ihr erklärt, »danken Sie mir nicht, ich bin Ihnen Dank schuldig.«

Nechludoff erinnerte sich jetzt daran mit großem Vergnügen, wie er sich fast mit einem seiner Kameraden gezankt, der über die Geschichte hatte spötteln wollen, und wie die ganze Jagd glücklich und fröhlich gewesen war und er sich in heiterster Stimmung befunden hatte, als er von dem Dorfe zur Eisenbahnstation zurückgekommen war. Und nun war diese Wera Efremowna eine Revolutionärin geworden und wegen ihrer politischen Meinung ins Gefängnis gekommen. Nechludoff entschloß sich, sie aufzusuchen, denn vielleicht konnte sie ihm etwas Interessantes sagen, wie man der Maslow ihr Schicksal erleichtern konnte.

Elftes Kapitel

Auch Nechludoff war frühzeitig aufgestanden. Als er seine Wohnung verließ, um sich nach dem Gefängnisse zu begeben, schien die ganze Stadt noch zu schlafen. Nur ein Bauer fuhr mit seinem Karren von Thür zu Thür und rief mit dumpfer Stimme: »Milch, Milch, Milch!«

Der erste warme Frühlingsregen war in der Nacht gefallen. Ueberall, wo das Pflaster es nicht erdrückte, wuchs das Gras. Die Birken hatten sich in den Gärten mit frischem Grün geschmückt, die Maulbeerbäume und Pappeln zeigten ihre langen, duftigen Blätter. Auf den Straßen wurden langsam die Thüren geöffnet; doch auf dem Trödelmarkt, über den Nechludoff gehen mußte, waren schon viele Menschen. Männer und Frauen drängten sich um die in Reihen aufgestellten Zelte, betasteten, maßen und feilschten um die Jacken, Westen und Hosen.

Auch in den Schenken waren schon Leute. Man sah hier Arbeiter in sauberen Jacken und leuchtenden Stiefeln, die hocherfreut schienen, den Anstrengungen der Fabrik für einen Tag entfliehen zu können; mehrere waren von ihren Frauen begleitet, die seidene Kopftücher in auffallenden Farben und mit Glasperlen garnierte Jackets trugen. Polizisten in großer Uniform, mit Pistolen im Gürtel, standen unbeweglich an den Straßenecken und warteten auf irgend einen Auflauf, der ihnen die Langeweile ein bißchen vertrieb. In den Alleen der Boulevards und auf dem noch feuchten Rasen der öffentlichen Plätze liefen Kinder und Hunde spielend umher, während die in Gruppen auf ihren Bänken sitzenden Ammen laut schwatzten. Ueberall in den Straßen erklang der Ton und das Echo der Glocken, das sich mit dem Lärm der über das Pflaster rollenden Wagen vermischte und die Menge zu einem ähnlichen Gottesdienst rief, wie der, der in der Kapelle abgehalten wurde. Einzelne Fußgänger schlugen, sonntäglich gekleidet, den Weg nach der nächsten Kirche ein.

Als Nechludoff nach dem Gefängnis kam, war dasselbe noch geschlossen.

Auf einem kleinen Platze, etwa hundert Schritt von der Thür, stand eine Gruppe von Männern und Frauen, von denen die meisten Pakete in der Hand hielten. Rechts von dem Platze erblickte man ein niedriges Holzgebäude, links zeigte sich ein zweistöckiges Haus mit einem Schilde. Im Hintergrunde sah man den ungeheuren steinernen Eingang des Gefängnisses, vor dem ein Soldat mit dem Gewehr auf der Schulter Wache hielt. Vor dem Schalter der Holzbaracke saß ein Aufseher, der eine gallonierte Uniform trug und ein Register auf den Knieen hielt. An ihn wandten sich die Besucher, um die Namen der Gefangenen, die sie zu sprechen wünschten, einschreiben zu lassen.

Nechludoff näherte sich ihm und sagte: »Die unverehelichte Katharina Maslow!« Dann fügte er fragend hinzu: »Warum läßt man die Leute denn nicht eintreten?«

»Die Messe wird gerade abgehalten,« versetzte der Aufseher, »sobald sie zu Ende ist, können Sie hinein!«

Nechludoff näherte sich der Gruppe der Besucher, aus der in demselben Augenblick ein in Lumpen gekleideter Mann mit nackten Füßen und einem von roten Furchen durchzogenen Gesicht trat, der sich bis zum Thor des Gefängnisses schlich.

»Höre mal, wo willst du denn hin?« rief ihm der Soldat zu und fuhr mit der Hand nach dem Gewehr.

»Na, was hast du denn so zu brüllen?« versetzte der Mann, indem er langsam umkehrte, ohne sich über das Geschrei des Soldaten weiter aufzuregen. »Du willst mich nicht ‚reinlassen? Nun gut; dann werde ich warten. Hat man je einen Menschen so brüllen hören? Als wenn der Herr ein General wäre!«

Ein zustimmendes Lachen begleitete diesen Scherz. Die Besucher waren meistenteils schlecht gekleidete arme Leute, andere waren sogar ganz zerlumpt; nur einige wenige Männer und Frauen waren elegant gekleidet. Neben Nechludoff stand ein sorgfältig rasierter dicker Mann mit rosigem Gesicht, im Gehrock, der ein schweres Paket in der Hand trug, das Wäsche zu enthalten schien. Nechludoff fragte ihn, ob er zum erstenmale nach dem Gefängnis käme. Nein, der Mann mit dem Paket war schon sehr oft gekommen und kam jeden Sonntag. Er erzählte Nechludoff seine ganze Geschichte. Er war Portier in einem Bankhause, und der Gefangene, den er besuchte, war sein Bruder, der wegen Fälschung verurteilt worden.

Gerade, als der brave Portier, der über sich alles gesagt, Nechludoff ausfragen wollte, wurde ihre Aufmerksamkeit durch eine Mietskutsche abgelenkt, aus der ein junger Student und eine Dame in hellem Kleide stieg. Der Student hielt ein dickes Paket in der Hand, ging auf Nechludoff zu und fragte ihn, ob er wohl glaube, daß man ihm gestatten würde, den Gefangenen eine Ration Weißbrot zu geben, das sein Paket enthielte. »Meine Braut hat diese Idee gehabt; diese junge Dame dort ist meine Braut; ihre Eltern haben uns erlaubt, den Gefangenen dies hier herzubringen.«

»Ich komme selbst zum erstenmal her und kenne die Gebräuche des Ortes nicht, glaube aber, Sie thun gut, sich dorthin zu wenden,« versetzte Nechludoff und deutete mit dem Finger auf den galonnierten Aufseher, der vor seinem Register saß.

Plötzlich öffnete sich die äußere Thür des Gefängnisses, und man sah einen Offizier in Gala-Uniform, der von einem Aufseher begleitet wurde, der einige Worte leise mit seinem Vorgesetzten wechselte und dann erklärte, die Besucher könnten eintreten.

Die Schildwache trat zur Seite, und alle drängten sich dem Gefängnisthor zu, als fürchteten sie, zu spät zu kommen.

Hinter der Thür stand ein Aufseher, der die Besucher, die an ihm vorüberschritten, mit lauter Stimme zählte. Einige Schritte weiter im Hintergrunde des ersten Korridors stand wieder ein Aufseher, der alle Personen, die an ihm vorüberkamen, am Arm faßte, bevor er sie durch eine kleine Thür gehen ließ, und sie von neuem zählte, damit man sich beim Ausgang davon überzeugen konnte, daß kein einziger Besucher im Gefängnis geblieben und kein einziger Gefangener dasselbe verlassen hatte. Dieser Aufseher, der mit seiner Berechnung viel zu sehr beschäftigt war, um sich die Gesichter anzusehen, mit denen er zu thun hatte, schlug Nechludoff, als dieser vorüberkam, heftig auf die Schulter, worüber er sich trotz seiner vortrefflichen Absichten doch etwas ärgerte.

Die kleine Thür führte in ein großes gewölbtes Zimmer mit Eisenbeschlägen an den Fenstern. Nechludoff durchschritt es langsam und ließ die eilige Flut der Besucher an sich vorüber. Er empfand gleichsam ein Gefühl des Widerwillens gegen die in diesem Gefängnis eingesperrten Verbrecher, ein Gefühl des Mitleids für die Unschuldigen, die, wie Katuscha und der Angeklagte vom vorigen Tage, mit ihnen zusammen dort eingesperrt waren, und ein Gefühl des Stolzes und der Freude bei dem Gedanken an die Heldenthat, die er vollbringen wollte.

Am andern Ende des großen Saales sagte ein Aufseher etwas zu den Besuchern, die an ihm vorüberzogen. Doch Nechludoff, der in seine Gedanken versunken war, hörte nicht auf ihn und folgte weiter der vor ihm herschreitenden Gruppe. So kam er nach dem Männersprechzimmer, während er sich doch hatte nach dem Frauensprechzimmer begeben wollen.

Als er als letzter in das Sprechzimmer trat, war er zuerst von einem betäubenden Lärm betroffen, den eine große Reihe gleichzeitig sprechender Stimmen hervorbrachte. Die Ursache dieses Lärmes erkannte er erst, als er in die Mitte des Saales gelangte, wo die Menge der Besucher wie ein Schwarm Fliegen auf einem Stückchen Zucker sich vor einem Gitter zusammendrängte.

Der Saal war von einem Doppelgitter, das von der Erde bis zur Decke hinanstieg, in zwei Hälften geteilt. Zwischen den beiden Gittern lag ein Raum von ungefähr drei Arschin, in welchem Soldaten auf und ab gingen. Auf der einen Seite standen die Gefangenen, auf der andern Seite die Besucher. Sie waren durch zwei Gitter und einen leeren Raum von drei Arschin getrennt, so daß es dem Besucher nicht nur schwierig war, den Gefangenen etwas zu geben, sondern sogar sie zu sehen. Ebenso schwierig war es, von einer Gruppe zur andern zu sprechen. Man mußte, um sich verständlich zu machen, aus Leibeskräften schreien. Da sich aber jeder verständlich machen wollte und eine Stimme die andere übertönte, so war jeder gezwungen, noch lauter als die andern zu brüllen. Daher kam der merkwürdige Lärm, der Nechludoff beim Eintritt in den Saal aufgefallen war.

Die einzelnen Worte zu verstehen, daran war nicht zu denken. Nur an den Gesichtern konnte man die Gegenstände, von denen die Rede war, und die Beziehungen, die zwischen den Gefangenen und ihren Besuchern bestanden, erraten.

Ganz in Nechludoffs Nähe stand eine kleine alte Frau mit einem Taschentuch auf dem Kopf, die sich an das Gitter drängte und einem jungen Manne, einem Sträfling mit halbrasiertem Kopfe, etwas zurief; der junge Mann zog die Stirne kraus und schien mit größter Aufmerksamkeit zuzuhören. Dann kam der zerlumpte Mann, der vorhin die Menge vor der Thür so belustigt hatte; er sprach mit einem Freunde, machte heftige Bewegungen, schrie und lachte. Neben ihm sah Nechludoff eine saubergekleidete Frau auf der Erde sitzen, die ein Kind auf den Armen hielt und weinte und schluchzte, ohne auch nur die Kraft zu haben, die Augen auf den Sträfling zu richten, der mit halbrasiertem Kopfe und Eisen an den Füßen an der andern Seite des Gitters ihr gegenüberstand.

Als Nechludoff erkannte, er würde sich auch mit Katuscha unter denselben Bedingungen unterhalten müssen, wandelte ihn ein heftiger Haß gegen die Menschen an, die eine solche Qual hatten erfinden und gestatten können. Entsetzen packte ihn bei dem Gedanken, daß eine so gräßliche Einrichtung, ein so grausamer Schimpf den heiligsten Gefühlen gegenüber noch niemand vor ihm empört hatte. Mit Entrüstung sah er, daß die Soldaten und der Aufseher, ja, die Gefangenen selbst sich darin fügten, sich in dieser Weise zu unterhalten, als wäre das ganz natürlich und unvermeidlich.

Nechludoff blieb so einige Minuten im Banne einer tiefen Schwermut stehen, in die sich der Ekel vor allem Möglichen und das Gefühl seiner eigenen Schwäche mischten.

»Trotzdem muß ich das thun, weshalb ich hierhergekommen bin,« sagte sich Nechludoff, »doch an wen soll ich mich wenden?«

Er suchte mit den Augen den Aufseher des Saales und entdeckte ihn schließlich unter der Menge. Es war ein kleiner, magerer Mann mit Offiziersepauletten an seiner Uniform. Nechludoff trat auf ihn zu und sagte mit erzwungener Unterwürfigkeit:

»Verzeihung, mein Herr, können Sie mir nicht sagen, wo die Frauenabteilung ist und an wen ich mich wenden muß, um dort jemand zu sprechen?«

»Sie wollen nach dem Frauensprechzimmer?«

»Ja, ich möchte eine Frau sprechen!«

»Warum haben Sie das nicht gleich in dem ersten Saale gesagt, als man Sie danach fragte?«

Dann wurde er ruhiger:

»Wen wollen Sie denn sprechen?«

»Die unverehelichte Katharina Maslow!«

»Eine politische Gefangene?«

»Nein, sie ist nur …«

»Na, was denn? Eine Angeklagte oder eine Verurteilte?«

»Ja, seit vorgestern verurteilt,« versetzte Nechludoff in sanftem Tone, denn er fürchtete, durch eine zu heftige Bemerkung die gute Laune zu zerstören, die er bei dem Aufseher zu bemerken geglaubt, und thatsächlich schien seine Sanftmut den schrecklichen Menschen zu rühren.

»Ich werde Sie in das Frauensprechzimmer bringen lassen, obwohl es mir verboten ist, jemand vor dem Signal hier hinausgehen zu lassen. Aber ein andermal irren Sie sich gefälligst nicht wieder!«

»Sidoroff,« rief er einem ganz mit Medaillen behangenen Aufseher zu, »komm‘ mal hierher und führe den Herrn ins Frauensprechzimmer.«

Der Aufseher öffnete die Thür, die doppelt verschlossen war, ließ Nechludoff in den Korridor treten, führte ihn wieder in den großen gewölbten Saal und dann durch einen andern Korridor in das Frauensprecchzimmer.

Dieses Sprechzimmer war wie das andere durch zwei Gitter in drei Teile geteilt, und obwohl es bedeutend kleiner und die Zahl der Besucher geringer war, so war das Geschrei hier vielleicht noch betäubender. Auch hier stand die Behörde zwischen den beiden Gittern, doch diesmal wurde sie von einer Aufseherin verkörpert, ebenfalls in Uniform mit Galons auf den Aermeln, blauen Aufschlägen und einem Gürtel von derselben Farbe. Ganz wie in dem andern Sprechzimmer klammerten sich auf der einen Seite die in der verschiedensten Weise gekleideten freien Besucher an das Gitter; auf der andern standen die Gefangenen, meistens im weißen Kleide mit weißen Kopftüchern. Auf der ganzen Breitseite des Gitters war nicht ein freies Plätzchen, und auf der Seite der Besucher war das Gedränge so groß, daß sich mehrere Frauen auf die Fußspitzen stellen mußten, um über die Köpfe der vor ihnen stehenden Personen hinwegzuschreien.

Als Nechludoff sich ein wenig an den Lärm des Saales gewöhnt hatte, wurde seine Aufmerksamkeit von der langen und mageren Gestalt einer Zigeunerin erregt, die im Mittelpunkte des Gitters auf der Seite der Gefangenen mit hastigen Bewegungen und einer kreischenden Stimme einem Besucher in blauer Jacke, ebenfalls einem Zigeuner, der auf der andern Seite stand, etwas erklärte. Neben diesem Zigeuner stand ein junger Bauer mit blondem Knebelbart, der sich unter heftigem Erröten bemühte, seine Thränen zurückzuhalten; er lauschte auf die Worte, die eine ihm gegenüberstehende hübsche Gefangene zu ihm sprach, die ihn zärtlich mit ihren großen blauen Augen betrachtete. Das war Fenitschka mit ihrem Gatten.

Nechludoff betrachtete die Gesichter der Gefangenen, die sich gegen das Gitter lehnten; die Maslow war nicht darunter. Doch hinter der ersten Reihe verborgen, stand eine Frau, und Nechludoff sah, daß sie das war. Der Atem stockte ihm in der Brust und das Herz klopfte ihm stärker. Die entscheidende Minute nahte.

Er trat bis zum Gitter vor, bahnte sich mit Mühe einen Weg und heftete seinen Blick auf die Maslow.

Sie stand hinter der Bäuerin mit den blauen Augen und schien lächelnd auf ihre Unterhaltung mit ihrem Manne zu lauschen. Anstatt des grauen Kittels, den sie am vorigen Abend trug, war sie ganz weiß gekleidet. Unter ihrem Kopftuch erschienen die reizenden Locken ihrer schwarzen Haare.

»Ich muß einen Entschluß fassen,« dachte Nechludoff, »Aber wie soll ich sie anrufen? Wenn sie mich doch sehen und von selber kommen möchte!«

Sie kam aber nicht auf diesen Gedanken, denn sie glaubte stets, Bertha oder Klara auftauchen zu sehen, und vermutete nicht, daß dieser elegante Besucher ihretwegen gekommen war.

»Wen wünschen Sie zu sprechen?« fragte die Aufseherin Nechludoff und blieb bei ihm stehen.

»Katharina Maslow!« versetzte Nechludoff, der nur mit großer Mühe sprechen konnte.

»Heda, Maslow!« rief die Aufseherin, »da ist jemand für dich!«

Die Maslow drehte sich plötzlich um, erhob den Kopf, streckte die Brust vor und näherte sich mit jenem Ausdruck des Eifers, den Nechludoff früher an ihr gekannt, dem Gitter, nachdem sie zwischen zwei Gefangenen durchgeschlichen war. Dann begann sie Nechludoff mit einem Gemisch von Ueberraschung und Erstaunen zu betrachten, erkannte ihn aber noch immer nicht. Doch schnell erriet sie in ihm nach seiner Kleidung einen reichen Mann und lächelte ihm zu.

»Sie sind meinetwegen gekommen?« fragte sie und drückte ihre lächelnden, etwas schielenden Augen an das Gitter.

»Ja, ich wollte …«

Nechludoff hielt inne, denn er wußte nicht, ob er »Sie« oder »du« zu ihr sagen sollte. Endlich entschloß er sich zum »Sie« …

»Ich wollte Sie sehen … ich …«

»Du langweilst mich mit deinen Geschichten,« rief ein neben ihm stehender Besucher, »hast du’s genommen, ja oder nein?«

»Alle Tage kränker; sie stirbt,« rief man von der andern Seite.

Die Maslow konnte von dem, was ihr Nechludoff sagte, nichts verstehen. Doch am Ausdruck seines Gesichts erkannte sie ihn, während er sprach. Oder sie glaubte vielmehr ihn zu erkennen, denn einen Augenblick später sagte sie sich, sie hätte sich geirrt. Das Lächeln verschwand von ihren Lippen und in ihrer Stirn blieb eine Leidensfalte zurück.

»Man hört nicht, was Sie sprechen,« schrie sie augenblinzelnd, während sich ihre Stirn immer krauser zog.

»Ich kam …«

»Ja, ich thue meine Pflicht; ich büße!« dachte Nechludoff, und kaum war ihm dieser Gedanke gekommen, als ihm Thränen die Augen und die Kehle füllten. Er klammerte sich mit den Fingern an das Gitter und schwieg, denn er fühlte, beim ersten Wort würde er in Schluchzen ausbrechen.

»So wahr Gott mich hört, ich weiß nichts davon!« rief eine Gefangene im Hintergrunde des Saales.

Die Aufregung hatte Nechludoffs Gesicht einen Ausdruck verliehen, daß die Maslow ihn sofort erkannte. Alle ihre Zweifel schwanden, aber sie glaubte doch, während sie ihn anblickte, sprechen zu müssen.

»Ich bin nicht recht sicher, daß ich Sie erkenne.«

Dabei überströmte eine plötzliche Röte ihre Wangen, und der Ausdruck ihrer Züge ward noch düsterer.

»Ich bin gekommen, dich um Verzeihung zu bitten,« sagte Nechludoff jetzt.

Er sagte das, so laut er konnte, mit eintöniger Stimme, wie eine auswendig gelernte Lektion.

Doch als er es gesagt, ergriff ihn eine heftige Scham, und er sah sich um. Doch er dachte, diese Scham wäre gut, und es wäre recht, sich so der Schande auszusetzen, und deshalb rief er, so laut er konnte:

»Verzeihe mir; ich habe schwer gesündigt gegen …«

Sie stand unbeweglich hinter dem Gitter und verließ ihn nicht mit den Augen.

Er hatte nicht die Kraft, den Satz zu vollenden, und entfernte sich von dem Gitter, indem er sich bemühte, die Thränen zurückzuhalten, die seine Brust erschütterten.

Der Aufseher, der ihn hergebracht, war im Saale geblieben und der Scene jedenfalls mit den Augen gefolgt. Als er Nechludoff vom Gitter forttreten sah, ging er auf ihn zu und fragte ihn, warum er sich nicht weiter mit der Frau unterhalte, die er zu sprechen gewünscht. Nechludoff schnäuzte sich, faßte sich nach Möglichkeit und erwiderte:

»Es ist nicht möglich, durch das Gitter zu sprechen! Man versteht ja sein eigenes Wort nicht!«

Der Aufseher überlegte einen Augenblick und sagte dann:

»Hören Sie! Ich glaube, ich könnte die Gefangene vielleicht hierherkommen lassen. Aber nur eine Minute!«

»Maria Karlowna,« rief er der Aufseherin zu, »lassen Sie die Maslow hierherkommen! Es handelt sich um eine sehr dringende Angelegenheit!«

Bald trat die Maslow durch eine Seitenthür ein. Sie näherte sich Nechludoff leise und betrachtete ihn von der Seite, ohne den Kopf zu erheben. Ihr krankhaftes, aufgedunsenes, blutleeres, aber immer noch angenehmes Gesicht war vollkommen ruhig; doch die schwarzen Augen glänzten unter den angeschwollenen Lidern in ungewöhnlichem Glanze.

»Sie können sich hier ein oder zwei Minuten unterhalten!« sagte der Aufseher und trat diskret zur Seite.

Nechludoff hatte sich auf eine in der Wand eingelassene Bank gesetzt; die Maslow blieb mit ehrerbietiger Miene vor dem Aufseher stehen, doch als er fortgetreten war, entschloß sie sich, zu Nechludoff heranzugehen und setzte sich, ihren Rock hochhebend, neben ihn auf die Bank.

»Ich weiß, es wird Ihnen schwer, mir zu verzeihen,« begann Nechludoff, hielt von neuem inne, als wolle er Mut schöpfen, und fuhr dann fort:

»Aber wenn es auch nicht mehr möglich ist, die Vergangenheit auszulöschen, so bin ich doch wenigstens jetzt entschlossen, alles zu thun, was in meinen Kräften steht. Sagen Sie mir …«

»Wie haben Sie mich denn nur aufgefunden?« unterbrach sie, ohne auf seine Fragen zu antworten, und richtete den Blick ihrer glänzenden Augen bald auf ihn, bald auf den Erdboden.

»Mein Gott! Komm‘ du mir zu Hilfe! Lehre mich, was ich thun soll,« sagte sich Nechludoff, von dem lasterhaften und gemeinen Ausdruck, den er auf diesem blassen Gesicht las, ganz entsetzt.

»Es war vorgestern, im Schwurgerichtssaal,« sagte er, »als man gegen Sie verhandelte. Ich war Geschworener … Sie haben mich nicht erkannt?«

»Nein, gar nicht! Wie hätte ich Sie erkennen sollen? Uebrigens habe ich auch niemand angesehen!« fügte sie hinzu.

»Es ist also ein Kind gekommen?« fragte Nechludoff und fühlte, wie er rot wurde.

»Gott sei Dank ist es gleich gestorben,« versetzte die Maslow mit kurzer, boshafter Stimme, indem sie die Augen abwandte.

»Woran und wie?«

»Ich war selbst krank und wäre fast gestorben!« fuhr sie fort, ohne die Augen zu erheben.

»Und meine Tanten haben Sie fortgeschickt?«

»Behält man eine Zofe, die ein Kind bekommt? Sobald sie bemerkten, daß ich in anderen Umständen war, haben sie mich abgelohnt … Aber wozu auch darüber sprechen? Ich erinnere mich an nichts mehr, ich habe alles vergessen … Das ist alles vorbei!«

»Nein, es ist nicht vorbei! Es darf nicht vorbei sein! Ich will meine Schuld jetzt gutmachen.«

»Es ist nichts gutzumachen! Was geschehen ist, ist geschehen und alles ist vorbei,« versetzte sie und richtete mit häßlichem, kläglichem und herausforderndem Lächeln ihre Blicke auf Nechludoff.

Die Maslow hatte nicht erwartet, Nechludoff je wiederzusehen, vor allem nicht in diesem Augenblick und an diesem Orte. Deshalb hatte sie sein Anblick zuerst verletzt und ihr Dinge ins Gedächtnis zurückgerufen, an die sie nie mehr hatte denken wollen. Als sie Nechludoff wiedersah, hatte sie sich zunächst an die wunderbare Welt von Gefühlen und Träumen erinnert, die ihr ihre erste Liebe einst vorgezaubert; sie hatte sich erinnert, wie sie diesen Mann und wie er sie geliebt, doch auch an die Grausamkeit seines Treubruchs, die lange Reihe von Leiden und Demütigungen aller Art hatte sie gedacht, die diesen kurzen Augenblicken des Glückes gefolgt waren, und alle diese Erinnerungen thaten ihr weh. Doch da sie nicht die Kraft hatte, sich damit abzufinden, so nahm sie wieder einmal zu ihrem gewöhnlichen Mittel ihre Zuflucht, sie drängte diese schmerzlichen Erinnerungen in die tiefsten Tiefen ihrer Seele zurück.

Als sie Nechludoff wiedersah, hatte sie ihn zuerst mit dem Jüngling verglichen, den sie einst geliebt; doch schon im nächsten Augenblick verzichtete sie darauf, da ihr das zu peinlich war. Jetzt war dieser elegant gekleidete Herr mit dem schönen, feingeschnittenen Bart für sie nur noch einer ihrer »Kunden«, die sich solcher Geschöpfe, wie sie eins war, bedienten, wenn sie sie brauchten, und deren sich Geschöpfe wie sie bedienen konnten, soweit ihnen das möglich war. Deshalb sah sie ihn jetzt so einschmeichelnd lächelnd an.

Sie schwieg und überlegte, wie sie sich seiner am besten bedienen könnte.

»Ja,« sagte sie, »alles ist aus! Und jetzt hat man mich zur Zwangsarbeit verurteilt!«

Ihre Lippen zitterten, als sie diese schrecklichen Worte aussprach.

»Ich wußte, ich war überzeugt. Sie wären nicht schuldig!«

»Gewiß war ich nicht schuldig! Bin ich eine Diebin oder eine Giftmischerin?«

Wieder schwieg sie einen Augenblick und fuhr dann fort:

»Man sagt hier, der Verteidiger sei schuld, und ich solle eine Berufung einlegen. Doch man sagt, das sei sehr teuer … wegen der Kosten … und der Verteidiger …«

»Ja, gewiß,« versetzte Nechludoff; »ich habe mich schon an einen Advocaten gewendet …«

»Aber man muß auch einen guten nehmen … einen teuren …«

»Ich werde alles Mögliche thun.«

Wieder trat eine Pause ein. Das Lächeln der Maslow wurde immer freundlicher.

»Ich möchte Sie – wenn es Ihnen nicht unangenehm ist – um ein bißchen Geld bitten. Nicht viel … zehn Rubel – Aber nur, wenn es Ihnen keine Umstände macht … Ich habe weiter nichts nötig!«

»Gewiß, gewiß!« versetzte Nechludoff verwirrt und zog seine Brieftasche hervor.

Die Maslow warf einen schnellen Blick auf den Aufseher, der im Hintergründe des Saales auf- und abspazierte.

»Warten Sie, bis er den Rücken gedreht hat, sonst würde man mir das Geld fortnehmen!«

Nechludoff nahm einen Zehnrubelschein aus seiner Brieftasche, doch gerade, als er ihn ihr geben wollte, drehte sich der Aufseher um. Er versteckte den Schein in der Handfläche und dachte, während er dieses blasse und aufgedunsene Geschöpf beobachtete, das mit seinen zu glänzenden Augen abwechselnd die Bewegungen des Aufsehers und die Gesten der die zehn Rubel haltenden Hand beobachtete:

»Aber das ist ja ein totes Geschöpf!«

Einen Augenblick war der Unglückliche ganz mutlos. Der Versucher, der in der vorvorigen Nacht zu ihm gesprochen, erhob von neuem in seinem Innern die Stimme, um seine Gedanken von dem, was er thun mußte, abzulenken und sie vielmehr auf die Folgen dessen, was er thun wollte, hinzulenken.

»Nie wirst du aus diesem Weibe etwas machen,« sagte der Versucher, »du wirst dir nur einen Stein um den Hals legen, der dich ersäufen und dich hindern wird, andern nützlich zu werden! Ihr Geld geben, das ist recht! Alles Geld, das du in deiner Brieftasche hast! Dann aber sag‘ ihr Lebewohl und mach‘ ein Ende!«

Doch sofort fühlte Nechludoff, daß sich in dieser nämlichen Minute eine entscheidende Krisis in ihm vollzog, daß seine Seele sich am Trennpunkte zweier Wege befand, und er, wenn er den einen gewählt, nie mehr auf den andern zurückkehren konnte. Er fühlte, daß er in diesem Augenblick an einem Wendepunkt seines ganzen Lebens angelangt war, und diesen Wendepunkt überschritt er, nachdem er den Gott zu Hilfe gerufen, dessen Anwesenheit er in seinem Herzen am vorvorigen Tage so klar und deutlich wahrgenommen hatte.

Er beschloß, der Maslow alles zu sagen, und zwar sofort:

»Katuscha! Ich bin hergekommen, um dich um Verzeihung zu bitten! Doch du, du hast mir nicht geantwortet, du hast mir nicht gesagt, ob du mir verzeihst, ob du mir je verzeihen würdest!«

Doch sie hörte nicht einmal auf ihn und betrachtete abwechselnd die zehn Rubel und den Aufseher. Als dieser sich umdrehte, streckte sie schnell die Hand aus, ergriff den Schein und versteckte ihn in ihrem Gürtel.

»Was Sie mir da sagen, klingt recht seltsam,« fuhr sie dann mit einem Lächeln fort, von dem sich Rechludoff angewidert fühlte.

Er hatte den Eindruck, es schlummere in ihr hinter diesem Lächeln etwas wie Haß gegen ihn, das ihn stets hindern würde, tiefer in ihre Seele einzudringen.

Doch diese Empfindung lenkte ihn, ohne daß er wußte, wie es geschah, nicht nur nicht mehr von der Maslow ab, nein, sie verband ihn nur noch inniger mit ihr. Er fühlte, er hatte die Pflicht, diese Seele, trotz allem, aufzuwecken; diese Aufgabe war furchtbar schwierig, aber diese Schwierigkeit lockte ihn sogar noch mehr. Er empfand der Maslow gegenüber ein Gefühl, das er bis dahin bei niemandem empfunden, er wünschte an ihr für sich nichts; er wünschte nur, sie möge aufhören, so zu sein, wie sie jetzt war, und wieder so werden, wie sie einst gewesen.

»Katuscha, warum sprichst du so zu mir? Du weißt doch, ich kenne dich; ich weiß, wie du früher in Panofko warst …«

»Das Alte verschwindet,« versetzte sie trocken.

»Ich erinnere mich an alles, um meine Schuld gutzumachen und zu sühnen,« erklärte Rechludoff.

Er wollte ihr sagen, er sei bereit, sie zu heiraten; doch er richtete die Augen auf sie und las in ihnen etwas so Gemeines und Abstoßendes, daß er nicht die Kraft fand, sein Geständnis weiter fortzusetzen.

In diesem Augenblick wurde das Zeichen gegeben, daß die Besuchsstunde zu Ende war. Der Aufseher näherte sich Nechludoff und sagte ihm, der Moment, die Unterredung zu beenden, wäre gekommen. Die Maslow erhob sich und betrachtete Nechludoff mit freundlichem Blick, doch im Grunde war sie hocherfreut, ihn loszuwerden.

»Auf Wiedersehen; ich habe Ihnen noch viel zu sagen,« sagte Nechludoff und reichte ihr die Hand.

Die Maslow berührte die Hand, drückte sie ihm aber nicht.

»Ich werde Sie wieder besuchen und Ihnen dann sehr wichtige Dinge sagen, die ich Ihnen sagen muß!« fügte Nechludoff hinzu.

»Es ist gut! Kommen Sie! Es wird mich freuen,« versetzte sie, und fand für ihn das Lächeln wieder, das sie bei solcher Gelegenheit ihren »Kunden« zu teil werden ließ.

»Sie stehen mir näher als eine Schwester!« sagte Nechludoff noch.

»Was sagen Sie da?« fragte sie, ohne sich darüber weiter zu wundern, und lief mit einem letzten Lächeln zur Thür.

Nechludoff hatte sich eingebildet, Katuscha würde sich freuen, wenn sie ihn wiedersah und wenn er ihr seine Reue und seine Absicht, ihr zu Hilfe zu kommen, entdecken würde, Rührung empfinden und gleich wieder die alte Katuscha werden. Doch er mußte sich sagen, daß Katuscha nicht mehr existierte und nur noch die Maslow vorhanden war, und dieser Gedanke setzte ihn in Erstaunen.

Vor allem aber wunderte er sich, daß Katuscha sich ihres Standes als Prostituierte nicht nur nicht schämte, sondern darüber sogar glücklich und fast stolz war, während sie sich ihres Standes als Gefangene sehr schämte.

Das war aber im Grunde gar nicht so verwunderlich. Wir alle müssen, um wirken zu können, unsere Art der Betätigung als bedeutend und schön betrachten; daher kommt es, daß jedes menschliche Wesen, seine Stellung mag sein, welche sie wolle, sich vom Leben eine Auffassung zurechtmacht, in der ihm seine besondere Bethätigungsart als richtig und schön erscheint.

Man redet sich gern ein, der Mörder, der Verräter, der Dieb, die Dirne erröten über ihr Handwerk oder halten es doch wenigstens für schlecht. In Wirklichkeit geschieht nichts dergleichen. Die Menschen, die ihr Geschick und ihre Fehler in eine bestimmte Lage gebracht haben, bilden sich, so unmoralisch dieselbe auch sein mag, immer eine allgemeine Lebensauffassung, in der ihre besondere Lage ihnen als berechtigt und bedeutend erscheinen kann. Um diese Ausnahme zu bekräftigen, stützen sie sich instinktiv auf andere Menschen, die sich in derselben Lage wie sie befinden, und das Leben im allgemeinen und ihren Platz in diesem Leben im besonderen in derselben Weise auffassen.

Wir sehen mit Erstaunen, wie Diebe sich ihrer Gewandtheit, Dirnen ihrer Sittenlosigkeit, Mörder ihrer Fühllosigkeit rühmen. Doch wir wundern uns darüber nur, weil die Zahl dieser Personen sehr beschränkt ist und ihr Kreis, ihre Atmosphäre sich außerhalb der unsrigen befinden. Doch wir sind z.B. nicht überrascht, daß reiche Leute auf ihren Reichtum, d.h. auf ihren Diebstahl, oder Mächtige auf ihre Macht, d.h. auf ihre Gewalttätigkeit und Grausamkeit stolz sind. Wir bemerken nicht, wie diese Leute ihre natürliche Lebensauffassung und ihre ursprüngliche Bedeutung von Gut und Böse umgestalten und vernichten, um ihre Lage in ihren eigenen Augen zu rechtfertigen. Wir wundern uns darüber nicht und denken gar nicht daran, uns darüber zu wundern; und zwar einzig und allein darum, weil der Kreis der Personen, der diese verrohte Auffassung hat, groß ist und wir selbst dazu gehören.

Eine Auffassung dieser Art hatte sich die Maslow vom Leben im allgemeinen und von ihrer eigenen Rolle im besonderen gebildet. Obwohl eine Dirne niedrigen Grades und zur Zwangsarbeit verurteilt, machte sie sich trotzdem eine Lebensauffassung zurecht, die ihr gestattete, ihr Benehmen zu rechtfertigen und sogar vor andern ihrer Art darauf stolz zu sein.

Diese Auffassung beruhte auf dem Gedanken, daß das hauptsächliche Glück aller Männer – aller, ohne Ausnahme, alter und junger, reicher und armer, gebildeter und ungebildeter – im körperlichen Besitz des Weibes bestände. Die Maslow nahm es als feststehend an, daß alle Männer, trotz der andern Gedanken, die sie angeblich im Kopfe hatten, in Wirklichkeit nur daran dachten; und da sie ein angenehmes Weib war, das diesen Wunsch der Männer nach ihrem Belieben befriedigen oder nicht befriedigen konnte, so hielt sie sich gleichzeitig für eine unendlich wichtige und notwendige Persönlichkeit.

Das war ihre Lebensauffassung, und thatsächlich wurde dieselbe durch ihre ganze persönliche, augenblickliche wie frühere Erfahrung vollauf bestätigt.

Seit zehn Jahren hatte sie überall, wo sie gewesen war, bei allen Männern den Wunsch wahrgenommen, sie zu besitzen. Vielleicht war sie auch mit Männern zusammengekommen, die dieses Verlangen nicht empfunden hatten, doch diese waren ihr nie aufgefallen. So war ihr die ganze Welt als eine Vereinigung von Männern erschienen, die in ihren Körper verliebt waren, sie unermüdlich zu besitzen wünschten und sich durch gleichviel welche Mittel, durch Verführung, Gewalt, List oder Geld bemühten, ihren Körper zu genießen.

An diese Lebensauffassung hatte sich die Maslow um so fester angeklammert, als sie fühlte, daß sie, wenn sie sie verlor, in ihren eigenen Augen auch die Bedeutung verlor, die sie sich beigelegt, und um diese Bedeutung nicht einzubüßen, schloß sie sich instinktiv an den Kreis der Personen, die das Leben in derselben Weise auffaßten. Darum war sie auch so eifrig bemüht, die Erinnerungen an ihre erste Kindheit aus ihrem Herzen zu verjagen, denn diese paßten nicht zu ihrer augenblicklichen Lebensauffassung; in den tiefsten Winkel ihres Herzens hatte sie sie zurückgedrängt, eingesargt und, so gut es ging, vermauert, wie die Bienen den Eingang zu den Nestern bestimmter Insekten verstopfen, die im stande sind, ihren Stock zu zerstören. Darum hatte sie in Nechludoff, als sie ihn wiedersah, nicht mehr den Mann sehen wollen, den sie früher keusch und unschuldig geliebt: darum wollte sie nur einen reichen Kunden in ihm sehen, einen Menschen, aus dem Nutzen zu ziehen sie das Recht und die Pflicht hatte, und mit dem sie Beziehungen unterhalten konnte wie mit den anderen Männern ihrer Kundschaft.

»Nein, das Wichtigste, was ich ihr zu sagen hatte, konnte ich ihr heute nicht sagen, ich konnte es nicht,« dachte Nechludoff, als er das Sprechzimmer mit der Schar der Besucher verließ. »Doch das nächste Mal werde ich ihr alles sagen!«

In dem großen Saale zählten die beiden Aufseher von neuem die Vorübergehenden, damit kein Gefangener hinauskam und kein Besucher im Gefängnis blieb. Und von neuem stieß man Nechludoff und schlug ihn auf die Schulter. Doch er bemerkte es jetzt nicht einmal.

Zwölftes Kapitel

Am Tage, nachdem er Katuscha auf der Anklagebank wiedergesehen, hatte Nechludoff den Entschluß gefaßt, seine Lebensweise zu ändern; er hatte beschlossen, sein Haus zu vermieten, seine Dienerschaft zu entlasten und wie ein Student in einem möblierten Zimmer zu wohnen.

Doch Agrippina Petrowna bewies ihm, es wäre eine Thorheit von ihm, seine Lebensweise vor dem Winter zu ändern, denn niemand würde das Haus im Sommer mieten, niemand die Möbel kaufen, und er müßte dieselben bis zum Winter irgendwo unterstellen. Daher blieben die Bemühungen Nechludoffs in diesem Punkte und seine schönen Entschlüsse wirkungslos.

Es ging nicht nur alles in seinem Hause genau so wie vorher weiter, nein, man begann sogar die Möbel, Pelze, Kleidungsstücke und Wollsachen zu bürsten, abzustäuben und auszubessern; eine Arbeit, an der der Portier und sein Gehilfe, die Köchin und der Wiener Kornej teilnahmen. Nechludoff sah, wie eine Menge Röcke, Uniformhosen, Pelze, die niemand mehr gebrauchen konnte, aus den Schränken genommen und auf Stricke gehängt wurden; er sah, wie man die Teppiche fortnahm und die Möbel von einem Zimmer ins andere schleppte; er wohnte unzähligen Reinigungen bei und mußte den Naphtalingeruch ertragen, der sich durch sämtliche Stuben verbreitete. Mit Erstaunen entdeckte er, welche ungeheure Menge unnützer Gegenstände er bis dahin in seinem Hause behalten hatte. Das alles hatte jedenfalls keine weitere Daseinsberechtigung und Bestimmung, als Agrippina Petrowna, Kornej, dem Portier, seinem Gehilfen und der Köchin Gelegenheit zu geben, ihre Zeit totzuschlagen, dachte er.

»Doch übrigens,« sagte er sich weiter, »es ist wahr: ich kann nicht daran denken, meine Lebensweise zu ändern, so lange das Schicksal der Maslow nicht entschieden ist. Alles hängt davon ab, was man mit ihr anfängt; ob man ihr die Freiheit wiedergiebt oder sie nach Sibirien schickt; denn in diesem Falle gehe ich mit ihr mit!«

Am festgesetzten Tage begab sich Nechludoff zu dem Advokaten Fajnitzin, der ein großes, prachtvolles Haus bewohnte, das mit seltenen Pflanzen geschmückt, mit prächtigen Vorhängen an den Fenstern und einem teuren und geschmacklosen Mobiliar ausgestattet war, wie man es nur bei Leuten sieht, die ohne Mühe und niedrige Mittel allzu schnell reich geworden sind. In dem Wartezimmer fand Nechludoff zehn Klienten, die wie bei einem Zahnarzt traurig an den Tischen saßen, darauf warteten, bis sie an die Reihe kamen, und in der Lektüre alter illustrierter Zeitungen einigen Trost suchten. Doch der Sekretär des Advokaten, der im Hintergründe des Salons an einem imposanten Schreibtisch thronte, erkannte Nechludoff sofort, trat auf ihn zu und sagte ihm, er würde seinen Chef von seiner Anwesenheit unterrichten.

In demselben Augenblick öffnete sich die Thür von Fajnitzins Zimmer, und man sah den Advokaten heraustreten, der eine äußerst lebhafte Unterhaltung mit einem vierschrötigen jungen Manne mit einem dicken, roten Gesicht fortsetzte, der einen sehr schönen neuen Anzug trug. Seine und Fajnitzins Gesichtszüge zeigten den eigentümlichen Ausdruck, den man auf den Zügen von Männern liest, die eben ein ausgezeichnetes, allerdings nicht sehr sauberes, aber doch ausgezeichnetes Geschäft beendet haben.

»Das ist Ihre Schuld, Väterchen!« sagte Fajnitzin lächelnd, »Ich möchte gern ins Paradies kommen, aber meine Sünden lassen es nicht zu!«

»Das ist gut, das ist gut, alter Spaßvogel; man weiß schon, wie es damit steht.«

Dabei fingen beide affektiert zu lachen an.

»Ah, Fürst, haben Sie die Güte, einzutreten,« sagte Fajnitzin, als er Nechludoff bemerkte, und führte ihn in sein Arbeitszimmer, das im Gegensatz zu seinem Salon mit strenger Einfachheit ausgestattet war.

»Legen Sie sich bitte keinen Zwang auf; rauchen Sie ganz nach Belieben,« sagte er, indem er Nechludoff gegenüber Platz nahm und sich bemühte, das Lächeln zu verbergen, das der Gedanke an das eben abgeschlossene gute Geschäft in ihm hervorrief.

»Ich danke!« versetzte Nechludoff; »ich komme wegen des Falles Maslow …«

»Ja, ja, ganz recht! Ach, was sind diese reichen Bürger doch für Hallunken! Sie haben doch eben den Kerl gesehen, der vorhin fortging? Denken Sie sich, er hat zwölf Millionen Kapital! Aber wenn er Ihnen einen Fünfundzwanzigrubelschein abknüpfen kann, dann wird er ihn Ihnen eher mit den Zähnen fortreißen, ehe er ihn Ihnen läßt!«

Der Advokat sagte das in vertraulichem, scherzhaftem Tone, als wollte er Nechludoff daran erinnern, daß er mit ihm auf gleicher Stufe stand, während er weder mit seinem vorigen Besucher, noch mit denen, die im Salon auf ihn warteten, etwas gemein hatte.

»Ich bitte Sie um Verzeihung, aber der Kerl hat mich wirklich zu sehr geärgert; ich mußte mein Herz ein bißchen ausschütten,« fuhr er fort, als wollte er sich wegen der Abschweifung entschuldigen. – »Kommen wir jetzt zu unserer Sache! Ich habe die Akten genau studiert. Dieses verdammte Verteidigerchen war ja unter der Kanone! Er hatte sich alle Annullierungsgründe entgehen lassen!«

»Und was beschließen Sie?«

»Ich stehe in einer Minute ganz zu Ihrer Verfügung,« – »Sagen Sie ihm,« erklärte er seinem Sekretär, der eben eingetreten war und ihm eine Karte übergeben hatte, »sagen Sie ihm, es wird so geschehen, wie ich gesagt habe; wenn er die Mittel hat, so ist es gut; wenn nicht, geschieht nichts!«

»Aber er meint, er könne auf Ihre Bedingungen nicht eingehen!«

»Dann geschieht also nichts,« entgegnete Fajnitzin, und sein so fröhliches und liebenswürdiges Gesicht wurde für einen Augenblick düster und bösartig.

»Man behauptet, die Advokaten verdienten Geld, ohne etwas zu thun,« sagte er, sich wieder zu Nechludoff wendend, mit diensteifrigem Lächeln, »Denken Sie sich, ich habe einen bösen Schuldner von einem schlimmen Prozeß befreit, den zu verlieren er alle Chancen hatte, und jetzt wenden sich alle seine »Gesinnungsgenossen« an mich! Und wenn Sie wüßten, was mir das für Mühe macht! Ich muß mir doch meinen Lebensunterhalt verdienen! Um aber auf Ihre Sache zurückzukommen, oder vielmehr auf die Sache, die Sie interessiert, so ist sie, wie ich Ihnen sagte, ganz liederlich geführt worden. Gute Gründe zur Annullierung des Urteils habe ich nicht gefunden, aber man kann schließlich immerhin den Versuch machen, welche zu entdecken. Sehen Sie, da habe ich einen Entwurf der Berufung für Sie fertiggestellt.«

Er nahm ein Papier vom Tische und begann laut zu lesen, wobei er über die juristischen Formeln sehr schnell hinwegging und dafür andere Stellen betonte.

»Berufung vor der Kassations-Kriminalkammer des Senats u.s.w. u.s.w. … gegen das Urteil des Schwurgerichtshofes u.s.w. verurteilt die unverehelichte Katharina Maslow zur Strafe von u.s.w. u.s.w. … Zwangsarbeit … wegen Mordes begangen an der Person des … u.s.w. … auf Grund des Paragraphen u.s.w.«

Hier hielt der Advokat inne und richtete die Augen auf Nechludoff. Trotz seiner langen Gewohnheit hörte er mit offenbarem Wohlgefallen das schöne Dokument, das er da zu stande gebracht.

»Dieses Urteil,« fuhr er fort, »scheint aus so schweren gesetzlichen Irrtümern und Fehlern hervorgegangen zu sein, daß es nicht aufrecht erhalten bleiben darf. Erstens ist die Verlesung des Protokolls über den Leichenbefund des Kaufmanns Smjelkoff vor dem Schlusse vom Präsidenten unterbrochen worden.«

»Aber der Staatsanwalt hat ja diese Verlesung gefordert!« sagte Nechludoff ganz überrascht.

»O, das thut nichts! Die Verteidigung konnte sich darauf auch stützen.«

»Aber dieses Dokument hatte doch für einen andern keinen Nutzen.«

»Gleichviel; es ist immer ein Annullierungsgrund! Fahren wir fort: zweitens ist der Verteidiger der Maslow im Augenblick vom Präsidenten unterbrochen worden, als er die Personalien der Angeklagten charakterisieren wollte und die intimen Gründe ihres Falles auseinandersetzte, die nach Ansicht des Präsidenten mit der Sache nichts zu thun hätten; doch in Kriminalfällen ist, wie der Senat erst kürzlich festgestellt hat, die psychologische Erklärung des Charakters für die Abschätzung des Grades der Kriminalität von größter Wichtigkeit. Das ist der zweite Punkt!« sagte der Advokat, indem er die Augen von neuem auf Nechludoff richtete.

»Der Verteidiger sprach sehr schlecht,« sagte dieser; »man konnte von dem, was er sprach, nichts verstehen.«

»Das hatte ich geahnt; solch kleiner Schafskopf konnte nur dummes Zeug schwätzen. Aber schließlich kann man darin immerhin einen Grund zur Annullierung finden. Aber hören Sie die Fortsetzung: drittens hat der Präsident, im Gegensatz zu dem Artikel … des Kriminalstrafverfahrens den Geschworenen nicht auseinandergesetzt, daß sie erklären konnten, die Maslow hätte, als sie dem Kaufmann Smjelkoff das Gift ins Glas schüttete, nicht die Absicht zu töten gehabt. Deshalb konnte das Urteil der Geschworenen zu stande kommen; hätte sie der Präsident dagegen von der Möglichkeit einer solchen Einschränkung unterrichtet, so hätte die von der Maslow begangene Handlung nicht als Mord, sondern als fahrlässige Tötung aufgefaßt werden können; das ist sehr wichtig!«

»Aber das hätten wir ja selbst begreifen können, ohne daß man es uns zu erklären brauchte! Denn wir allein sind für den begangenen Irrtum verantwortlich!«

»Endlich, viertens: ist die Antwort der Geschworenen in einer Form abgefaßt, die einen Widerspruch in sich schließt. Die Geschworenen haben anerkannt, daß die Maslow nicht schuldig ist, sich das Geld des Kaufmanns Smjelkoff angeeignet zu haben, während sie sie andererseits schuldig fanden, ihn vergiftet zu haben; daraus geht hervor, daß die Angeklagte nach Ansicht der Geschworenen wohl den Kaufmann Smjelkoff getötet hat, doch ohne die Absicht dazu zu haben, denn nur der Wunsch, ihn zu bestehlen, könnte eine solche Absicht bei ihr erklären. Infolgedessen fiel diese Antwort der Geschworenen unter den Artikel 817 und folgende, und der Präsident hätte die Pflicht gehabt, die Geschworenen auf den begangenen Irrtum aufmerksam zu machen und sie zur Fertigstellung einer neuen Antwort in ihr Beratungszimmer zurückzuschicken.«

»Aber warum hat der Präsident das nicht gethan?«

»Ja, das ist seine Sache,« versetzte Fajnitzin fröhlich.

»Und glauben Sie, daß der Senat den Irrtum berichtigen wird?«

»Das hängt von den Senatoren ab, in deren Hände die Berufung fällt. Hören Sie jetzt die Schlußfolgerung!«

Nun las der Advokat Nechludoff noch einen langen Abschnitt vor, in welchem er sich auf zahlreiche Artikel des Strafgesetzbuches und verschiedene Präcedenzfälle stützte; zum Schluß verlangte er, das Urteil solle kassiert und der Fall einem neuen Gericht vorgelegt werden.

»So!« sagte der Advokat schließlich. »Alles, was man thun konnte, habe ich gethan; doch ich will Ihnen aufrichtig meine Ansicht sagen, wir haben fast keine Chancen, durchzudringen. Übrigens hängt alles von den Senatoren ab, die in der Kassationskammer sitzen. Wenn es Ihnen möglich ist, suchen Sie die Sache nach dieser Seite hin zu günstigem Ende zu führen.«

»Ja, ich habe einige Verbindungen im Senat.«

»Und beeilen Sie sich, denn diese ehrwürdigen Beamten dürften bald ihre Hämorrhoiden pflegen, und dann müssen Sie drei Monate warten. Im Fall des Nichterfolges haben wir dann noch das Mittel eines Gnadengesuchs. Alles hängt von der Arbeit hinter den Kulissen ab, und ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, daß ich auch in diesem Fall zu Ihrer Verfügung stehe, sowohl um hinter den Kulissen zu arbeiten, wie auch um das Gesuch aufzusetzen.«

»Ich danke Ihnen herzlich … Und was das Honorar betrifft …«

»Mein Sekretär wird Ihnen eine Kopie des Dokumentes mit allen Angaben über die noch zu machenden Schritte geben.«

»Noch um eins möchte ich Sie bitten. Der Staatsanwalt hat mir einen Erlaubnisschein gegeben, die Verurteilte in ihrem Gefängnis zu sprechen; doch ich möchte sie auch außer den Besuchstagen und anderswo als in dem gemeinsamen Sprechzimmer sehen. An wen habe ich mich zu wenden, um die Erlaubnis zu erhalten?«

»An den Gouverneur! Doch er ist augenblicklich abwesend, und der Vizegouverneur vertritt ihn. Ein Idiot sondergleichen; ich zweifle, daß Sie bei dem etwas durchsetzen.«

»Maslinnikoff, nicht wahr? Den kenne ich genau,« sagte Nechludoff und stand auf, um sich zu verabschieden.

Während Nechludoffs Unterredung mit dem Advokaten war eine kleine, schrecklich häßliche, gelbliche und knochige Frau schnellen Schrittes in das Wartezimmer getreten. Das war Fajnitzins Frau. Ohne sich von ihrer Häßlichkeit entmutigen zu lassen, war sie mit größtem Luxus gekleidet. Sie hatte Spitzen, Sammet und Seide auf dem Leibe, und ihre aschfahlen Haare waren in der auffallendsten Weise frisiert. Sie war in den Salon gestürzt, wo ihr ein großer, magerer Mann mit erdfahlem Teint entgegeneilte, der einen Gehrock mit seidenen Aufschlägen trug. Es war ein Schriftsteller; Nechludoff kannte ihn von Ansehen.

»Anatole!« sagte die Dame zu ihrem Gatten und öffnete die Thür seines Arbeitszimmers; »Simon Iwanowitsch ist da! Wir erwarten dich im kleinen Salon! Er bringt sein Gedicht mit, und du wirst uns deinen Aufsatz über Garschin vorlesen!«

Nechludoff wollte sich verabschieden, doch die Dame wandte sich zu ihm:

»Fürst Nechludoff, nicht wahr? Ich kenne Sie schon seit langer Zeit dem Namen nach. Machen Sie uns doch das Vergnügen, unserer literarischen Matinee beizuwohnen. Es wird sehr interessant, Anatole liest vollendet vor.«

»Sie sehen, was für verschiedenartige Beschäftigungen ich habe!« sagte Anatole lächelnd und deutete mit einer Handbewegung auf seine Frau, als wolle er sagen, einem so verführerischen Weibe könne man nichts abschlagen.

Doch Nechludoff dankte sehr höflich, allerdings mit etwas kühlem Gesicht, Frau Fajnitzin für die Ehre, die sie ihm erwies, und sagte ihr, er könne zu seinem großen Bedauern nicht annehmen.

»Was ist das für ein Grimassenschneider!« sagte die Dame von ihm, als er sich entfernt hatte.

Im Salon übergab der Sekretär Nechludoff eine Abschrift der Berufung und antwortete auf seine Frage wegen des Honorars, Anatole Petrowitsch habe dasselbe auf tausend Rubel festgesetzt, wobei er erklärend hinzufügte, Anatole Petrowitsch befasse sich nie mit Geschäften dieser Art und habe diese Sache nur aus reiner Gefälligkeit übernommen.

»Und wer muß dieses Papier unterzeichnen?« fragte Nechludoff.

»Die Angeklagte kann es selbst unterzeichnen, wenn sie dazu im stande ist, sonst wird es Anatole Petrowitsch für sie unterzeichnen.«

»Nein, ich werde der Verurteilten das Papier bringen und es von ihr unterzeichnen lassen,« rief Nechludoff, glücklich, einen Vorwand zu haben, um sich schon am nächsten Morgen mit Katuscha wieder aussprechen zu können.

Zweites Kapitel

Als Nechludoff vom Land zurückkam, machte die Stadt einen ganz besonders unangenehmen Eindruck auf ihn. Er kam abends an und begab sich gleich in sein Haus. Alle Zimmer waren von einem starken Naphtalingeruch durchsetzt, und Agrippina Petrowna und Kornej schienen beide gleichzeitig unzufrieden und müde; sie hatten sich sogar am Nachmittag wegen ihrer Arbeit gezankt, die übrigens nur darin bestand, die Teppiche und Kleidungsstücke auszubreiten, trocknen zu lassen und wieder fortzuschließen.

Nechludoffs Schlafzimmer war verhältnismäßig nicht allzusehr in Unordnung; doch man hatte verabsäumt, es für die Nacht in Stand zu setzen, und so standen Koffer, die den Durchgang hinderten, vor der Thür. Offenbar hatte Nechludoff durch seine Rückkehr das große Unternehmen der Reinigung gestört, die schon seit Wochen mit außergewöhnlicher Langsamkeit im Hofe vorgenommen wurde. Das alles erschien Nechludoff, im Vergleich zu dem Elend, das er eben bei den Bauern gesehen, so blöd und lächerlich, daß er das Haus schon am nächsten Morgen zu verlassen beschloß, um sich im Hotel niederzulassen, wobei er Agrippina Petrowna ihre Bestimmungen nach ihrem eigenen Gutdünken treffen ließ. Thatsächlich ging er am nächsten Morgen frühzeitig aus, wählte zwei kleine möblierte Stuben von bescheidenstem Aussehen in dem ersten Wirtshause, das er auf dem Wege zum Gefängnis traf, ließ seinen Koffer, den er schon am vorigen Abend gepackt, hierherbringen und machte sich zu dem Advokaten auf den Weg.

Der Morgen war kalt. Auf die Stürme und Regengüsse war Frost gefolgt, wie er gewöhnlich zu Beginn des Frühlings eintritt. Die Temperatur war so frisch und der Wind so scharf, daß Nechludoff in seinem zu leichten Ueberzieher fröstelte und schneller ging, um sich zu erwärmen.

Seine Erinnerung wurde von dem, was er auf dem Dorfe gesehen, heimgesucht; er sah wieder diese Weiber, Kinder und Greise, dieses Elend und diese Abspannung, die er zum erstenmale entdeckt; er sah ganz besonders das arme, elende Kind, das ihm auf den Armen seiner Mutter so kläglich zugelächelt und unaufhörlich seine fleischlosen Beine bewegte; und unwillkürlich verglich er diese Erinnerungen mit dem, was er rings umher sah. Als er an den Läden der Gewürzkrämer, der Schlächter, der Fischhändler und der Konfektionsgeschäfte vorüberkam, fiel ihm das wohlgenährte Aussehen dieser Kleinbürger und der Unterschied dieses Aussehens mit dem der Bauern auf. Ebenso wohlgenährt erschienen ihm die Kutscher der herrschaftlichen Wagen mit ihren ungeheuren Schenkeln, auf denen sich riesige Goldknöpfe breit machten, die Portiers in galonnierter Livree, die Kammerzofen in weißen Schürzen mit den gebrannten Haaren, ja, sogar die Fiakerkutscher erster Klasse, die auf den Kissen ihrer Wagen lagen und zerstreut die Vorübergehenden anstarrten. Doch unter dieser wohlgenährten Miene erkannte Nechludoff jetzt in ihnen dieselbe Sorte Menschen, die er auf dem Lande gesehen. Durch den Mangel an Erde aus ihrem Dorfe verjagt, hatten sie es verstanden, sich den Bedingungen des Stadtlebens anzupassen, sie waren Bürger geworden, freuten sich dessen und waren stolz darauf; doch wie viele andere gab es, die der Mangel an Erde ebenfalls aus ihrem Dorfe gejagt, die weniger Glück gehabt, und die sich in viel erbärmlicherer Lage befanden, als wie sie sie bei sich zu Hause nicht zu ertragen vermocht! So z. B. die Schuhmacher, die an den Fenstern eines Kellers auf das Leder schlugen; die mageren und blassen Wäscherinnen mit den wirren Haaren, die an den geöffneten Fenstern, denen ein erstickender Seifengeruch entströmte, Wäsche plätteten; ferner zwei Häuseranstreicher, an denen Nechludoff vorüberkam und die barfüßig und von Kopf bis Fuß mit Farbe bespritzt durch die Straße marschierten. Die Aermel bis über die Ellenbogen aufgekrempt, trugen sie einen großen Eimer voller Farbe und schrieen sich fortwährend Schimpfworte zu. Ihre Gesichter drückten ein Gemisch von Müdigkeit und schlechter Laune aus. Denselben Ausdruck las er auf den Gesichtern der Fiakerkutscher zweiter Klasse, die zitternd vor Kälte auf ihren Böcken saßen; denselben Ausdruck las man ferner auf den Gesichtern der zerlumpten Männer, Weiber und Kinder, die an den Straßenecken um Almosen bettelten. Doch nirgends fand Nechludoff diesen Ausdruck so auffallend, als auf den Gesichtern, die er an den Fenstern der Kneipen bemerkte, an denen er vorüberkam. An schmutzigen Tischen voller Flaschen und Gläser saßen Gruppen von Männern, die mit schweißgebadeten Gesichtern und flammenden Wangen schrieen oder sangen. An einem Fenster sah Nechludoff einen jener Unglücklichen, der mit hochgezogenen Augenbrauen und geöffnetem Munde gerade vor sich hinstarrte, als wenn er sich an etwas erinnern wollte.

»Aber warum haben sich denn alle in der Stadt versammelt?« fragte sich Nechludoff, während er unwillkürlich mit der Frische des Windes einen widrigen Oelgeruch einatmete, der den Neubauten entströmte.

In einer Straße stieß er auf Lastkutscher, die Eisenstangen fuhren und das Pflaster unter heftigem Eisengeklapper erbeben ließen. Dieser betäubende Lärm verursachte ihm Kopfschmerzen. Er lief, um die Lastfuhrwerke zu überholen, als er plötzlich mitten im Geklapper der Eisenstangen seinen Namen rufen hörte.

Er blieb stehen und bemerkte einen korpulenten, elegant gekleideten Mann mit rotem Gesicht und hochgedrehtem Schnurrbart, der in einem Fiaker erster Klasse saß, ihm freundschaftliche Zeichen mit der Hand machte, ihm zulächelte und dabei Zähne von ungewöhnlicher Weiße zeigte.

»Nechludoff? Du bist’s?«

Der erste Eindruck Nechludoffs war der des Vergnügens.

»Sieh da, Tschembok!« rief er fröhlich, erkannte aber schon im nächsten Augenblick, daß für ihn kein Grund zu solcher Freude vorlag.

Es war derselbe Tschembok, der ihn am Tage, nachdem er Katuscha verführt, von seinen Tanten abgeholt. Nechludoff hatte ihn seit langer Zeit aus dem Gesicht verloren; doch man hatte ihm gesagt, auch Tschembok habe das Regiment verlassen, lebe aber trotz seines Mangels an Vermögen und trotz seiner Schulden – man wußte nicht recht, wie – noch immer in der reichen Gesellschaft. Die Eleganz seiner Kleidung und der befriedigte Ausdruck seiner Züge bewiesen Nechludoff, daß man ihn nicht getäuscht hatte.

»Das ist aber ein Glück, daß ich dich treffe! Auf Ehrenwort, es ist niemand mehr in der Stadt. Ach, mein Lieber, du bist aber alt geworden,« sagte der ehemalige Offizier, aus dem Wagen steigend. »Denke dir, ich habe dich nur an deinem Gange erkannt! Wir speisen zusammen, nicht wahr? Wo kann man denn hier anständig essen?«

»Ich fürchte, ich kann deinen Vorschlag nicht annehmen,« versetzte Nechludoff, der nur nach einem Vorwand suchte, sich von seinem Kameraden zu verabschieden, ohne ihn zu verletzen. »Und du? was thust du hier?« fuhr er fort.

»Ich, mein Lieber, ich bin hier in Geschäften! In Sachen meines Mündels, Denn du weißt doch, ich bin Vormund! Ich verwalte Samanoffs Güter. Du kennst doch den reichen Samanoff? Denke dir, er ist gehirnweich! 54+000 Dessjatinen Land!« fügte Tschembok mit ganz eigentümlichem Lächeln hinzu. »Das Ganze war in einer jammervollen Unordnung! Die Bauern hatten sich die Aecker angeeignet; sie bezahlten nicht, und das Defizit war ungeheuer! In einem Jahre habe ich alles wieder in Stand gesetzt, und die Güter bringen jetzt 70 Prozent mehr. Na, was sagst du dazu?« fragte er mit noch stärker ausgeprägtem Stolze.

Nechludoff erinnerte sich, daß man ihm diese Geschichte allerdings erzählt. Gerade, weil er sein ganzes Vermögen vergeudet und bis an den Hals in Schulden steckte, war Tschembok gewählt worden, um das Vermögen eines alten kindisch gewordenen Millionärs zu verwalten.

»Wie kann ich ihn nur los werden, ohne ihn zu verletzen?« dachte Nechludoff und betrachtete dieses rote und aufgedunsene Gesicht, in welchem ein von Kosmetik glänzender Schnurrbart prangte.

»Na, wo wollen wir speisen?«

»Heut‘ ist es mir wirklich unmöglich,« sagte Nechludoff und zog seine Uhr.

»Wirklich? Na, dann höre! Heut‘ nachmittag findet ein Rennen statt. Du kommst doch?«

»Nein, unmöglich!«

»Aber doch, aber doch, du mußt kommen. Ich habe keine eigenen Pferde mehr, aber Grischin leiht mir eins von seinen. Weißt du, er hat einen prachtvollen Stall! Es ist also abgemacht, du kommst und wir soupieren zusammen!«

»Auch das kann ich dir nicht versprechen,« versetzte Nechludoff lächelnd.

»Dann also auf ein andermal! Und wo gehst du jetzt hin? Soll ich dich begleiten?«

»Danke! ich gehe zu meinem Advokaten, ganz hier in der Nähe.«

»Ach ja, du verbringst ja jetzt dein Leben in den Gefängnissen! Du besorgst Gänge für die Gefangenen! Ja, ich weiß, die Kortschagins haben es mir erzählt,« sagte Tschembok lachend. »Weißt du, daß sie schon abgereist sind? Na, erzähle mir die Sache doch!«

»Ja, ja, das ist alles wahr,« versetzte Nechludoff. – »Aber es ist eine ziemlich verwickelte Geschichte, die sich nicht so auf der Straße erzählen läßt!«

»Ach, alter Junge, du bleibst also immer noch ein Original? Aber gleichviel, ich erwarte dich heut‘ abend nach dem Rennen!«

»Unmöglich, wirklich unmöglich! Du bist mir doch nicht böse?«

»Keine Idee! Das Wetter wird jetzt kalt, nicht?«

»Ja, ja!«

»Na, denn auf das Vergnügen, dich wiederzusehen! Ich habe mich gefreut, dich zu treffen,« sagte Tschembok, schüttelte Nechludoff kräftig die Hände, und sprang in den Wagen, von dem aus er mit seiner weißbehandschuhten Rechten liebevoll winkte, während ein freundschaftliches Lächeln von neuem seine langen, zu weißen Zähne zeigte.

»So bin ich also gewesen?« fragte sich Nechludoff, während er seinen Weg zum Hause des Advokaten fortsetzte. »Ach, bei mir war es noch schlimmer, denn mir ist es nie gelungen, so zu sein, und doch habe ich gehofft, so zu werden und mir eingebildet, ich würde mein ganzes Leben in dieser Weise fortsetzen.«

Zehntes Kapitel

In der Nacht nach ihrer Verurteilung hatte die Maslow, die vor Ermüdung zusammenbrach, in einem wahren Bleischlummer gelegen; in der zweiten Nacht dagegen konnte sie nicht schlafen. Sie wachte allein in dem ganzen Saale, blieb mit weit aufgerissenen Augen in ihrem Bett liegen und grübelte.

Sie dachte daran, daß sie um keinen Preis der Welt sich mit einem Sträfling verheiraten würde, wenn sie erst auf der Insel Sachalin wäre, wohin man sie, wie man ihr sagte, zweifellos bringen würde. Sie wollte es bestimmt so einrichten, daß das nicht geschah, und versuchen, sich mit einem Inspektor oder Sekretär oder auch nur mit einem Aufseher zu verheiraten. »All diese Leute sind leicht zu verführen,« sagte sie sich. »Wenn ich nur nicht zu sehr abmagere, denn dann wäre ich verloren.«

Sie erinnerte sich, wie die Verteidiger, die Geschworenen, die Richter sie angeblickt und wie alle Männer sie auf dem Wege durch die Stadt mit lüsternen Augen angeschaut. Sie erinnerte sich, wie ihr ihre Freundin Klara, die sie im Gefängnis besucht, erzählt, ein Student, ihr »Lieblingskunde«, wäre untröstlich, daß sie nicht mehr bei Frau Kitajeff wäre. Sie dachte an alle Männer, die sie geliebt hatte, an alle, nur nicht an Nechludoff.

An ihre Kindheit und ihre Jugend, vor allem aber an ihre Liebe zu Nechludoff dachte sie niemals. Das waren für sie zu peinliche Erinnerungen, die sie irgendwo in den tiefsten Grund ihres Herzens versenkt hatte, um nicht mehr daran zu rühren. Selbst im Traume sah sie Nechludoff niemals wieder. Wenn sie ihn im Schwurgerichtssaal nicht erkannt, so kam das nicht allein daher, daß das Alter ihn verändert hatte, daß er einen Vollbart trug, sein Schnurrbart lang gewachsen und seine Haare spärlicher geworden waren; trotz alledem hätte sie ihn erkannt, hätte sie sich nicht angewöhnt, niemals an ihn zu denken. Diese Gewohnheit hatte in der schrecklichen, düsteren Nacht begonnen, da Nechludoff, als er aus dem Kriege zurückkehrte, am Hause seiner Tanten vorübergekommen war, ohne dasselbe zu betreten.

Katuscha wußte damals schon, daß sie Mutter wurde, doch so lange sie gehofft hatte, Nechludoff wiederzusehen, so lange hatte ihr der Gedanke an das Kind nicht nur keine Sorgen bereitet, sondern sie war sogar manchmal ganz fröhlich und gerührt darüber.

Die beiden alten Tanten, welche wußten, Nechludoff würde an ihrem Hause vorbeikommen, hatten ihn gebeten, bei ihnen abzusteigen, doch er hatte telegraphisch geantwortet, er könne sich nicht aufhalten, sondern müsse so schnell wie möglich in St. Petersburg sein. Sofort hatte Katuscha den Entschluß gefaßt, nach dem Bahnhof zu laufen, um ihn bei der Durchfahrt wiederzusehen.

Der Zug fuhr bei Nacht, um zwei Uhr, in den Bahnhof. Katuscha hatte, nachdem sie ihre Herrinnen zu Bett gebracht, große Stiefel angezogen, ein Tuch um den Kopf genommen und war in Begleitung der Tochter der Köchin, eines Mädchens von zehn Jahren, fortgegangen.

Die Nacht war schwarz und kalt. Bald begann der Regen in dichten Tropfen zu fallen, bald hörte er wieder auf. Auf den Feldern konnte man den Weg noch unterscheiden, doch im Gehölz herrschte tiefe Finsternis, so daß Katuscha, obwohl sie den Weg ganz genau kannte, sich fast verirrt hätte; infolgedessen kam sie erst spät zu der kleinen Station, als der Zug schon da war.

Sie stürzte auf den Perron und erkannte Nechludoff, der am Fenster eines Waggons erster Klasse saß, sofort. Der Waggon war hell erleuchtet. Auf den Sammetbänken saßen zwei Offiziere und spielten Karten, während er ihnen lächelnd zusah.

Sobald sie ihn bemerkte, wollte das junge Mädchen auf die Plattform des Wagens klettern und ihn anrufen; doch in demselben Augenblick pfiff die Maschine, und die Waggons setzten sich langsam in Bewegung. Der Zugführer hatte Katuscha heruntergejagt, bevor er selbst wieder in den Waggon stieg, und so sah sich das junge Mädchen wieder auf dem Perron, wahrend der Waggon erster Klasse schon an ihr vorübergefahren war. Sie war ihm nachgelaufen, um ihn einzuholen; doch der Zug fuhr schneller; sie sah die Wagen zweiter Klasse, dann die dritter Klasse, und endlich den letzten Wagen mit seiner roten Laterne vorübergleiten. Am Ende des Perrons angelangt, war sie den Schienenweg weitergelaufen. Der Wind, der heftig blies, hatte ihr das Tuch vom Kopfe gerissen, und sie lief mit wirren Haaren, während sie bei jedem Schritte in die Schmutzlachen einsank.

»Tantchen Katuscha,« rief die Kleine, die hinter ihr dreinlief, »dein Tuch ist heruntergefallen!«

Von diesem Schrei erwachend, war Katuscha endlich stehengeblieben und hatte plötzlich eine unendliche Leere empfunden.

»Da sitzt er in diesem warmen Waggon in einem Sammetsessel und lächelt und amüsiert sich,« sagte sie sich, »und ich stehe hier allein in Wind und Wetter, in der dunklen Nacht!« Sie hatte sich auf die Erde gesetzt und war in so lautes Schluchzen ausgebrochen, daß das kleine Mädchen vor Schreck nicht wußte, was sie ihr zum Troste sagen sollte.

»Tantchen,« bat die Kleine, »wir wollen gehen, komm‘ schnell nach Hause!«

Doch Katuscha blieb in Sturm und Regen sitzen. »Ein Zug wird vorüberfahren; ich werde mich auf die Schienen legen, und alles wird vorüber sein!« Schon wollte sie diese Absicht ausführen, als das Kind, das sie unterm Herzen trug, zu zittern begann, und auf der Stelle beruhigte sich ihre Verzweiflung. Alles, was sie noch kurz vorher mit Angst erfüllt, das Gefühl, unmöglich weiter leben zu können, ihr Haß gegen Nechludoff, ihr Verlangen.

sich an ihm zu rächen, indem sie sich tötete, alle diese bösen Gedanken waren verschwunden. Sie war aufgestanden, hatte ihr Tuch wieder umgebunden und war nach Hause zurückgekehrt.

Aus jener Nacht stammte die vollständige Umwälzung ihrer Seele; damals hatte sie angefangen, das zu werden, was sie jetzt geworden war. In jener Nacht hatte sie aufgehört, an Gott zu glauben, an den sie bis dahin geglaubt, und hatte gedacht, auch die andern glaubten an ihn; doch in jener Nacht hatte sie sich gesagt, es gebe keinen Gott, niemand glaube an ihn, und die, die von Gott und seinen Gesetzen sprächen, hätten keine andere Absicht, als sie zu täuschen. Der Mann, den sie liebte und der auch sie geliebt, der sie verführt und verlassen, war noch der beste von allen. Die andern waren noch schlimmer! Alles, was Katuscha in der Folge zugestoßen war, hatte nur dazu beigetragen, sie in dieser Ueberzeugung zu bestärken. Nechludoffs alte Tanten, diese frömmlerischen alten Weiber, hatten sie an dem Tage fortgejagt, da sie nicht mehr im stande war, so viel wie früher zu arbeiten. Von verschiedenen Personen, mit denen sie zu thun gehabt, hatten die einen – vor allem die Frauen – nur eine Ware, mit der sie Geld verdienen konnten, die Männer, von dem Stanovoj bis zu den Gefängnisschließern, nur die Befriedigung ihrer sinnlichen Lüste in ihr gesehen. Niemand in der Welt kümmerte sich um etwas anderes, als um die Befriedigung seiner Lüste. Das hatte ihr namentlich der alte Schriftsteller begreiflich gemacht, dessen Geliebte sie einst gewesen war; er hatte ihr offen heraus erklärt, die Befriedigung der sinnlichen Lüste wäre die einzige Klugheit, die einzige Schönheit des Lebens.

Jeder in der Welt lebte nur für sich, und alles, was man von Gott und dem Guten sprach, war nur Schwindel! Das dachte die Maslow, und wenn sich ihr zufällig die Frage aufdrängte, warum alles in der Welt so schlecht eingerichtet wäre und die Menschen sich nur gegenseitig quälten, anstatt das Leben in Ruhe zu genießen, dann drängte sie diese lästige Frage schnell zurück. Eine Cigarette, ein Glas Branntwein, und sie fühlte sich wieder vollständig beruhigt.

Der folgende Tag war ein Sonntag. Um fünf Uhr morgens, sobald der Pfiff des Wächters im Gange des Gefängnisses ertönte, weckte die Korablewa ihre Nachbarin, die erst gegen Morgen hatte einschlafen können.

»Zwangsarbeit!« sagte sich die Maslow entsetzt, während sie sich die Augen rieb und unwillkürlich die stinkende Pestluft des Saales einatmete. Sie wäre gern wieder eingeschlafen, um sich von neuem in das Reich der Bewußtlosigkeit zu flüchten, doch die Gewohnheit und die Furcht hatten den Schlaf verjagt, und so setzte sie sich denn in ihrem Bette auf, ließ die Füße herunterhängen und fing an, sich umzusehen.

Sämmtliche Weiber waren schon wach, nur der kleine Junge und das Mädchen schliefen noch. Ihre Mutter zog vorsichtig an dem Kittel, auf dem sie lagen. Die wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt verurteilte Frau breitete vor dem Ofen Strohwische aus, die als Windeln für den Säugling dienten, während dieser auf Fenitschkas Armen zappelte, weinte und schrie, ohne daß die zärtlichen Worte der jungen Frau ihn zu beruhigen vermochten.

Die Schwindsüchtige hatte mit blutunterlaufenem Gesicht, während sie ihre Brust mit beiden Händen hielt, ihren Morgenanfall, und stieß in den Zwischenpausen tiefe Seufzer aus, die wie Schluchzen klangen. Die Rothaarige blieb auf dem Rücken liegen und zeigte auf dem Bett ihre dicken, nackten Beine; dabei erzählte sie mit lauter, heiterer Stimme einen verwickelten Traum, den sie eben gehabt hatte. Das alte bucklige Weib stand vor dem Heiligenbild, murmelte immer dieselben Worte und schlug, sich tief verneigend, das Kreuz. Die Tochter des Kirchendieners hatte sich auf ihr Bett gesetzt und starrte mit ihren großen, von der Schlaflosigkeit erschöpften Augen vor sich hin, während die »Schönheit« ihre fettigen, schwarzen Haare über ihre Finger rollte.

Schwere Männerschritte ließen sich auf dem Gange hören, die Thür öffnete sich, und zwei Gefangene traten ein, zwei Männer mit mürrischer, brummiger Miene, die graue Leinwandjacken und graue, bis über die Kniee hochgekrempelte Hosen trugen. Sie hoben den stinkenden Nachteimer auf und trugen ihn auf ihren Schultern fort. Die Weiber traten eine nach der andern in den Korridor, um sich an der Wasserleitung zu waschen. Die Rothaarige zankte sich, während sie darauf, wartete, daß die Reihe an sie kam, mit einer andern Frau aus einem Nebensaal, und von neuem hörte man Schimpfworte, Geschrei und Beleidigungen.

»Du hast dir wohl vorgenommen, ins Karzer zu kommen?« rief der Aufseher, näherte sich der Rothaarigen und versetzte ihr einen so heftigen Schlag auf den Rücken, daß man es auf dem ganzen Korridor hören konnte.

»Ich will deine Stimme nicht mehr hören,« fuhr er, sich entfernend, fort.

»Der Alte hat wirklich eine kräftige Faust,« sagte die Rothaarige, ohne sich über diese etwas schroffe Liebkosung aufzuregen.

»Und beeilt euch,« fuhr der Aufseher fort, »es ist Zeit zur Messe!«

Die Maslow hatte sich noch nicht die Haare gemacht, als der stellvertretende Direktor mit einem Register in der Hand eintrat.

»Aufstellen zum Appell,« rief der Aufseher.

Aus den andern Sälen kam andere Weiber, und alle Gefangenen stellten sich in zwei Reihen den Korridor entlang auf, wobei die aus der zweiten Reihe die Hände auf die Schultern der vor ihnen stehenden Weibern legen mußten.

Der Offizier zählte sie, rief ihre Namen auf und entfernte sich dann mit seinem Register.

Einige Augenblicke später zeigte sich die Aufseherin, die die Gefangenen nach der Messe führen mußte. Die Maslow und die Fenitschka standen in der Mitte der Kolonne, die aus mehr als hundert Frauen gebildet wurde, und alle trugen das weiße Gefängniskleid mit den weißen Kopftüchern. Nur hier und da sah man einzelne Bäuerinnen, die nach der Mode ihrer Dörfer gekleidet waren; das waren die Frauen der zur Zwangsarbeit verurteilten Verbrecher, denen man gestattet hatte, das Schicksal ihrer Männer zu teilen.

Die lange Kolonne füllte die ganze Treppe aus, und man hörte das Klappern der Schuhe auf den Fliesen, ein Stimmengemurmel und zeitweise sogar Lachen. An einer Ecke bemerkte die Maslow das boshafte Gesicht ihrer Feindin, der Botschkoff, die an der Spitze der Kolonne marschierte; sie machte die Fenitschka darauf aufmerksam.

Am Fuße der Treppe schwiegen alle Weiber und traten, das Kreuz schlagend und sich verneigend, zu zwei und zwei in die noch leere, aber schon im Lichterglanze strahlende Kapelle. Sie stellten sich rechts auf und setzten sich dann eng zusammengedrängt auf eine Reihe von Bänken. Gleich darauf kam die Reihe an die Männer, die, sämtlich grau gekleidet, sich auf der linken Seite und im Mittelpunkt der Kapelle niederließen. Einige wurden über eine kleine Treppe zur Orgel geführt, die sich auf dem obersten Punkte des Kirchenschiffes befand.

Die Gefängniskapelle war erst kürzlich auf Kosten eines reichen Kaufmannes renoviert und neu ausgestattet worden, der zu diesem Zweck mehrere tausend Rubel ausgegeben hatte. Sie glänzte im Goldschmuck und hellen Farben.

Einige Zeit lang blieb es in der Kapelle ruhig; man hörte nur das Geräusch sich schnäuzender Nasen, Husten, Kindergeschrei und zuweilen Kettengerassel. Bald aber traten die Gefangenen, die in der Mitte saßen, zur Seite, um einen Zwischenraum freizulassen, und in diesem Gange erschien mit feierlichem Schritt der Gefängnisdirektor, der bis zur ersten Reihe vortrat.

Sofort begann der Gottesdienst. Die Maslow, die in der Mitte der Gefangenenschar stand, konnte nichts weiter, als den Rücken der vor ihr stehenden Frauen sehen, doch als sich alle in Bewegung setzten, um das Kreuz und dem Priester die Hand zu küssen, war es ihr eine große Zerstreuung, die Anwesenden, den Direktor und die Aufseher zu sehen; hinter ihnen erkannte sie einen Mann mit Knebelbart und blonden Haaren, den Gatten der Fenitschka, der seine Blicke zärtlich auf seine Frau richtete.

»Die Maslow soll ins Sprechzimmer kommen,« sagte ein Aufseher, als die Weiber die Kapelle verließen.

»Welches Glück!« sagte sich die Maslow, hocherfreut über die neue Zerstreuung, die sich ihr bot. Sie dachte, es wäre jedenfalls Bertha oder ihre Freundin Klara, die sie besuchte, und so folgte sie fröhlichen Schrittes die Korridore entlang denjenigen ihrer Gefährtinnen, die man ebenfalls in das Sprechzimmer gerufen hatte.

Neuntes Kapitel

Als Nechludoff am nächsten Morgen erwachte, hatte er sofort die unklare Empfindung, es wäre ihm am vorigen Tage etwas passiert, etwas sehr Schönes und Bedeutendes. Dann wurden seine Erinnerungen klarer. »Katuscha, der Schwurgerichtshof!« Dazu der feste Entschluß, mit der Lüge ein Ende zu machen und von jetzt ab die ganze Wahrheit zu sagen.

Infolge eines merkwürdigen Zufalles fand er unter seiner Post den so lange erwarteten Brief von Marie Wassiljewna, der verheirateten Frau, deren Geliebter er so lange gewesen war. Sie gab ihm seine Freiheit zurück und fügte die innigsten Glückwünsche für seine bevorstehende Heirat hinzu.

»Meine Heirat,« sagte er sich lächelnd, »wie fern das liegt!«

Dann erinnerte er sich an den Plan, den er am vorigen Tage gefaßt, dem Gatten seiner Geliebten alles zu sagen, ihn um Verzeihung zu bitten und sich ihm zu jeder Genugthuung, die er von ihm fordern würde, zur Verfügung zu stellen.

Doch dieser schöne Plan schien ihm am Morgen nicht mehr so leicht ausführbar, wie am vorigen Tage. Warum sollte er einen Mann unglücklich machen, indem er ihm eine Wahrheit enthüllte, die ihm nur Schmerz verursachen konnte? »Wenn er mich danach fragt, so werde ich es ihm sagen, doch es ihm selbst vorher mitteilen: nein, das ist nicht nötig!«

Ebenso undurchführbar erschien ihm nach längerer Ueberlegung sein Plan, Missy die ganze Wahrheit zu sagen. Auch hier lag kein Bedürfnis zum Sprechen vor, es hieß, sich unnütz demütigen. Bei ihr war es besser, sich auf Andeutungen zu beschränken, und Nechludoff beschloß an diesem Morgen, nicht mehr zu den Kortschagins zu gehen, außer, um ihnen den Grund seines Fernbleibens zu erklären, wenn sie ihn durchaus wissen wollten.

Was dagegen sein Verhältnis zu Katuscha betraf, so meinte er, daß er sich hier nicht auf Andeutungen beschränken konnte. »Ich werde sie in ihrem Gefängnis aufsuchen, werde ihr alles sagen, sie um Verzeihung bitten und sie, wenn es sein muß, heiraten.«

Der Gedanke, alles zur Beruhigung seines Gewissens zu opfern und im Notfalle Katuscha zu heiraten, gefiel ihm ebenso gut wie am vorigen Tage.

Was schließlich die Geldfrage anbetraf, so beschloß er, sein Verhalten den Grundsätzen anzupassen, denen er hinsichtlich der Ungerechtigkeit des Grundeigentums Ausdruck verliehen. Wenn er auch nicht die Kraft hatte, sich seines ganzen Vermögens zu berauben, so wollte er doch wenigstens nur einen Teil behalten und sein Möglichstes thun, um gegen sich selbst und die andern aufrichtig zu sein.

Seit langer Zeit hatte er sein Tagewerk nicht mit solcher Energie begonnen. Als Agrippina Petrowna seine Befehle im Eßzimmer einholte, erklärte er ihr sofort mit einer Festigkeit, über die er sich selbst wunderte, er würde seine Wohnung aufgeben und sähe sich gezwungen, auf ihre Dienste zu verzichten. Noch nie hatte er sich seit dem Tode seiner Mutter mit der Wirtschafterin darüber ausgesprochen, was er mit seinem großen, für einen Junggesellen viel zu luxuriösen Haushalt anzufangen beabsichtigte; doch es war stillschweigend abgemacht, er würde das Haus weiter bewohnen, da er ja kurz vor seiner Verheiratung stand. Der Plan, das Haus zu verlassen, hatte also eine besondere Bedeutung, die Agrippina Petrowna sofort verstand, und deshalb warf sie Nechludoff einen erstaunten Blick zu.

»Ich bin Ihnen für Ihre Freundlichkeit sehr dankbar, doch ich brauche jetzt keine so große Wohnung und so zahlreiche Dienerschaft mehr. Wenn Sie mir also behilflich sein wollen, so möchte ich Sie bitten, alles zu meinem Umzuge vorzubereiten und inzwischen alle unnötigen Möbel einpacken zu lassen. Wenn meine Schwester kommt, mag sie sehen, was sie damit anfangen will.«

Agrippina Petrowna schüttelte den Kopf und erwiderte:

»Wie, was sie damit anfangen will? Aber Sie brauchen das alles ja später noch.«

»Nein, ich brauche es nicht mehr, Agrippina Petrowna, ich brauche es wirklich nicht mehr,« entgegnete Nechludoff. »Und dann sagen Sie auch bitte Kornej, ich würde ihm zwei Monate vorher bezahlen, und er könne sich schon heute eine andere Stellung suchen.«

»Sie thun unrecht, so zu handeln, Dimitri Iwanowitsch; selbst wenn Sie die Absicht haben, ins Ausland zu gehen, brauchen Sie doch immer einen Platz, um Ihre Möbel abzustellen.«

»Das denken Sie wohl selbst nicht, Agrippina Petrowna,« entgegnete Nechludoff lächelnd. »Außerdem gehe ich nicht ins Ausland, und wenn ich irgendwo hingehe, so trete ich eine ganz andere Reise an, als Sie vermuten können.«

Bei diesen Worten überflog eine plötzliche Röte seine Wangen, und er dachte:

»Ich muß ihr alles sagen, ich habe hier keinen Grund zum Schweigen und muß ihr die ganze Wahrheit sagen.«

»Ich habe gestern etwas sehr Seltsames und sehr Ernstes erlebt,« fuhr er fort. »Sie erinnern sich wohl noch an die Katuscha, die bei meiner Tante Maria Iwanowna diente?«

»Gewiß, ich habe ihr ja das Nähen beigebracht.«

»Nun also! man hat sie gestern vor dem Schwurgericht, bei dem ich als Geschworener war, verurteilt.«

»Ach, du lieber Gott, entsetzlich,« sagte Agrippina Petrowna, »und weswegen hat sie man sie verurteilt?«

»Wegen Mordes … Und ich bin an allem schuld!«

»Was ist in der That sehr seltsam; aber wie können Sie denn an allem schuld sein?« »Ja, ich bin an alledem schuld, und dieses Ereignis hat alle meine Pläne umgestürzt.«

»Was sagen Sie da?«

»Gewiß, denn ich bin daran schuld, daß sie diesen Weg eingeschlagen hat, und darum muß ich ihr zu Hilfe kommen.«

»Daran erkenne ich Ihr gutes Herz, Dimitri Iwanowitsch, doch von Ihrer Schuld ist bei alledem gar nicht die Rede, So was passiert einem jeden, und wenn jemand Vernunft hat, so läßt sich alles einrenken und vergessen, und das Leben geht weiter. Glauben Sie mir, es wäre Thorheit von Ihnen, wollten Sie sich dafür verantwortlich machen. Man hat mir schon lange gesagt, dieses Geschöpf wäre vom rechten Weg abgewichen, und die Schuld fällt nur auf sie allein zurück.«

»Nein, nein, ich trage die Schuld, und ich muß sie auch gutmachen.«

»Wie wollen Sie sie denn gut machen?«

»Das werde ich schon sehen, das ist meine Sache. Doch wenn Sie Ihretwegen in Sorge sind, Agrippina Petrowna, so will ich Ihnen gleich sagen, daß meine Mutter in ihrem Testament bestimmt hat …«

»O nein, nein, meinetwegen bin ich nicht in Sorge. Die Selige hat mich so mit ihren Wohlthaten überhäuft, daß ich nichts mehr brauche. Ich habe eine Verwandte, die mich eingeladen hat, bei ihr zu leben; und wenn ich genau weiß, daß ich Ihnen nicht mehr dienlich sein kann, so werde ich zu ihr gehen. Doch ich muß Ihnen sagen, Sie thun unrecht, sich diese Sache so zu Herzen zu nehmen. So etwas ist jedem schon passiert.«

»Ich denke eben darüber nicht wie Sie, und bitte Sie, alles zu meinem Umzuge vorzubereiten. Seien Sie nicht böse, Agrippina Petrowna, ich bin Ihnen auch für alles, was Sie für mich gethan haben, dankbar.«

Merkwürdigerweise hatte Nechludoff von dem Augenblicke an, da er eingesehen hatte, er wäre ein Dummkopf und ein Schuft, aufgehört, die andern zu hassen und zu verachten. Im Gegenteil, er empfand für Agrippina Petrowna und seinen Diener Kornej die freundschaftlichsten Gefühle, und es ergriff ihn ein lebhafter Wunsch, sich vor Kornej zu demütigen, wie er es eben vor der Wirtschafterin gethan; doch Kornej war von einer so platten Dienstbeflissenheit, daß Nechludoff nicht den Mut fühlte, sich vor ihm zu demütigen.

Um sich in das Gerichtsgebäude zu begeben, wo er von neuem als Geschworener zu fungieren hatte, nahm er denselben Wagen, den er am vorigen Tage genommen, und der Kutscher fuhr ihn durch dieselben Straßen; dabei wunderte er sich über die ungeheure Veränderung, die sich während dieser vierundzwanzig Stunden in ihm vollzogen hatte, und bemerkte, daß er wirklich ein anderer Mensch geworden war.

Seine Heirat mit Missy, die er am vorigen Tage so nahe geglaubt, erschien ihm jetzt vollständig unmöglich. Am vorigen Tage war er noch überzeugt, er würde das junge Mädchen glücklich machen, wenn er sie heiratete; doch jetzt hielt er sich nicht allein für unwürdig, sie zu heiraten, sondern auch, mit ihr zu verkehren.

»Wenn sie wüßte, wer ich bin, so würde sie mich um keinen Preis der Welt weiter empfangen. Und ich trieb die Sorglosigkeit so weit, ihr ihre Koketterie mit Romanoff zum Vorwurf zu machen! Könnte ich selbst, wenn ich mich mit ihr verheiratet hätte, auch nur einen Augenblick glücklich oder ruhig sein, wenn ich wüßte, daß die andere, die Unglückliche, sich im Gefängnis befindet und morgen in einzelnen Tagemärschen zur Zwangsarbeit abgeführt wird, während ich hier mit meiner jungen Frau Glückwünsche entgegennehme und Hochzeitsbesuche empfange! Nein, das alles ist jetzt nicht mehr möglich,« sagte sich Nechludoff und freute sich über die Veränderung, die sich in ihm vollzogen hatte.

»Vor allem,« sagte er sich dann, »muß ich den Advokaten aufsuchen und das Resultat seiner Bemühungen erfahren … dann … dann muß ich sie aufsuchen und ihr alles sagen.«

Und jedesmal, wenn er sich in seinem Geiste vorstellte, wie er sie ansprechen, ihr alles sagen, das Geständnis seiner Schuld vor ihr ablegen und ihr erklären wollte, daß er allein alles gethan, dann wurde er gerührt über seine heroische Güte, und Thränen stiegen ihm in die Augen.

Im Korridor des Justizgebäudes begegnete Nechludoff dem Nuntius des Schwurgerichts. Er fragte ihn, wohin man die Verurteilten brächte und auch, an wen man sich wegen der Erlaubnis, mit ihnen zu sprechen, wenden müßte. Der Nuntius erwiderte, die Verurteilten würden nach verschiedenen Orten gebracht und nur der Staatsanwalt könne diese Erlaubnis geben.

»Uebrigens,« fügte er hinzu, »werde ich Sie nach der Sitzung abholen und Sie selbst zum Staatsanwalt führen; jetzt aber bitte ich Sie, gehen Sie schnell in das Geschworenenzimmer, denn die Sitzung wird gleich beginnen.«

Nechludoff dankte dem Nuntius und eilte nach dem Geschworenenzimmer. Als er eintrat, wollten die Geschworenen eben in den Sitzungssaal gehen. Der Kaufmann war, wie am vorigen Tage, in fröhlicher Laune, und man sah, daß er wieder tüchtig gegessen und getrunken hatte.

Er empfing Nechludoff wie einen Freund, und selbst Peter Gerassimowitsch machte auf den jungen Mann nicht mehr den unangenehmen Eindruck, den er am vorigen Tage ihm gegenüber empfunden hatte.

Nechludoff fragte sich, ob er den Geschworenen die Beziehungen mitteilen sollte, die er mit dem Weibe, das sie am vorigen Tage verurteilt, unterhalten hatte. »Schon gestern,« dachte er, »hätte ich im Augenblick, da das Urteil gefällt wurde, aufstehen und öffentlich meine Schuld bekennen müssen.« Als er dann aber in den Sitzungssaal trat und die Prozedur vom vorigen Tage wiederholt wurde – der Aufmarsch der Richter in der Amtsrobe, die tiefe Stille, der Aufruf der Geschworenen, die Gensdarmen, das alte Bild, der Priester – da hatte er das Gefühl, daß er mit dem besten Willen von der Welt am vorigen Tage nicht die Kraft gefunden hätte, eine so feierliche Ceremonie zu stören.

Die Vorbereitungen des Urteils waren dieselben wie bei der letzten Sitzung, nur mit dem Unterschiede, daß man den Geschworenen nicht den Eid abnahm, und der Präsident ihnen seine kleine Ansprache ersparte.

Der Fall, der an diesem Tage zur Verhandlung gelangte, war ein Einbruchsdiebstahl. Der Angeklagte war ein engbrüstiger, magerer, zwanzigjähriger Bursche mit gelbem Gesicht, der einen grauen Kittel trug. Er blieb auf der Anklagebank zwischen zwei Gensdarmen sitzen und hustete ununterbrochen. Dieser Bursche hatte mit seinem Kameraden die Thür einer Scheune aufgebrochen und sich eines Pakets Besen bemächtigt, die zusammen einen Wert von drei und einem halben Rubel hatten. Die Anklageakte erzählte, daß die Angeklagten gerade in dem Augenblick, als sie mit den Besen auf dem Rücken entfliehen wollten, von einem Polizisten verhaftet wurden. Beide hatten das umfassendste Geständnis abgelegt, und man hatte beide im Gefängnis behalten. Der eine war dort gestorben, und darum erschien nur der andere vor Gericht. Die Besen lagen als Beweisstücke auf dem Tische.

Der Prozeß nahm denselben Verlauf wie der der Maslow, mit genau demselben Apparat von Verhören, Zeugen und Sachverständigen. Der Polizist, der den Angeklagten verhaftet, antwortete auf alle Fragen des Präsidenten, des Staatsanwalts und des Verteidigers: »Ganz recht,« oder »Ich weiß nicht«. Noch hinter diesen mechanischen Antworten und der Achtung vor der Disziplin merkte man, daß ihm der Angeklagte leid that und er auf seinen Fang nicht sehr stolz war.

Ein zweiter Zeuge, ein Greis mit leidendem Gesicht, war der Besitzer des Hauses, in welchem der Diebstahl begangen worden. Als man ihn fragte, ob er seine Besen wiedererkenne, that er das in auffällig schlechter Laune, und als der Staatsanwalt ihn fragte, ob ihm die Besen sehr nötig gewesen wären, versetzte er ärgerlich: »Der Teufel hole diese verdammten Besen, sie haben gar keinen Wert für mich. Ich würde gern das Doppelte ihres Wertes geben, um nicht den Aerger und die Sorgen zu haben, die diese Sache mir bereitet hat. Ich habe ja allein in Droschken schon das Doppelte ausgegeben! Und dabei bin ich krank, seit sieben Jahren habe ich die Gicht!«

So sprachen die Zeugen. Was den Angeklagten anbetraf, so gestand er alles, erzählte die Sache, wie sie vor sich gegangen war, sprach mit heiserer, unaufhörlich von Hustenanfällen unterbrochener Stimme und drehte wie ein in einer Schlinge gefangenes Tier mit blöden Blicken den Kopf nach allen Richtungen.

Doch ebenso wie am vorigen Tage bemühte sich der Staatsanwalt, ihm spitzfindige Fragen vorzulegen, die seiner angeblichen Verschlagenheit die Spitze abbrechen und ihn überführen sollten.

In seiner Rede behauptete er, der Diebstahl wäre mit Vorbedacht begangen, von Einbruch begleitet gewesen, und der Angeklagte müßte infolgedessen mit den strengsten Strafen belegt werden.

Dagegen erklärte der vom Gericht eingesetzte Officialverteidiger, der Diebstahl wäre ohne Vorbedacht begangen, nicht vom Einbruch begleitet gewesen, und der Angeklagte wäre trotz seines ernsten Verbrechens nicht so gefährlich für die Gesellschaft, als der Staatsanwalt es hingestellt hatte.

Schließlich erklärte der Präsident mit derselben Unparteilichkeit den Geschworenen wie am vorigen Tage, was sie von der Sache wissen müßten. Wie am vorigen Tage wurde die Sitzung aufgehoben, die Geschworenen rauchten Cigaretten, der Nuntius meldete: »Der Gerichtshof«, und wie am vorigen Tage bemühten sich die Gensdarmen, die den Angeklagten mit gezogenem Säbel bewachten, nicht einzuschlafen.

Aus der Verhandlung ging hervor, daß der Angeklagte mit fünfzehn Jahren von seinem Vater in eine Tabakfabrik gebracht worden, wo er fünf Jahre geblieben war; im Monat Januar war er infolge eines Streites, der sich zwischen dem Direktor der Fabrik und den Arbeitern entsponnen hatte, entlassen worden. Nun hatte er keine Arbeit gehabt, war aufs Geratewohl in den Straßen herumgeirrt und hatte mit einem Schlossergesellen Bekanntschaft geschlossen, der ebenfalls seine Stelle verloren hatte und trank. In einer Nacht, als sie beide betrunken waren, hatten sie zusammen die Thür einer Scheune erbrochen und den ersten Gegenstand, der ihnen in die Hände gefallen war, daraus entwendet. Der Schlossergeselle war im Gefängnis gestorben, und jetzt wurde sein Komplize den Geschworenen als ein gefährliches Wesen vorgeführt, dem man die Möglichkeit nehmen mußte, der Gesellschaft weiter zu schaden.

»Ein ebenso gefährliches Wesen, wie die Verurteilte von gestern,« dachte Nechludoff, als sich die Einzelheiten des Prozesses vor ihm entrollten. »Alle beide sind gefährliche Wesen! Zugegeben! Aber was sind wir, die wir über sie zu Gericht sitzen? Was bin ich zum Beispiel, ich, der Wüstling, der Lügner, der Betrüger? Sind wir denn nicht gefährlich? … Und selbst angenommen, dieses unglückliche Kind wäre das einzige gefährliche Wesen, das sich in diesem Saal befindet, was sollen wir jetzt, da er sich hat fassen lassen, mit ihm anfangen? – Es ist klar, daß dieser Bursche kein Verbrecher von Beruf, kein außergewöhnlicher Missethäter ist, sondern im Gegenteil der gewöhnlichsten Art angehört. Das weiß und fühlt jeder, ebenso daß er das, was er ist, nur darum geworden ist, weil er sich unter Verhältnissen befunden hat, die ihn notgedrungen dazu bringen mußten. Ebenso klar ist es in den Augen eines jeden verständigen Menschen, daß wir, um solche Wesen an ihrem eigenen Verderben zu hindern, uns vor allem bemühen müssen, die Bedingungen zu zerstören, die die unmittelbare Wirkung haben, sie ihrem Verderben entgegenzuführen. Was thun wir aber? Wir packen aufs Geratewohl einen dieser armen Teufel, obwohl wir ganz genau wissen, daß tausend andere derselben Art in Freiheit bleiben, werfen sie ins Gefängnis, verdammen sie zu völliger Unthätigkeit oder zu einer ungesunden und blöden Arbeit in Gesellschaft anderer armer Teufel ihrer Art, und lassen sie dann auf Staatskosten von dem Gouvernement A… nach dem Gouvernement Irkutsk transportieren, und zwar diesmal in Begleitung der schlimmsten Verbrecher. – Um aber die Bedingungen zu zerstören, die solche Wesen hervorbringen, dazu thun wir nichts. Was sage ich? Wir thun alles, um sie zu entwickeln, indem wir die Fabriken, die Werkstätten, die Schenken, die Bordelle vermehren. Wir zerstören diese Bedingungen nicht nur nicht, sondern wir halten sie für notwendig, ermutigen sie und verleihen ihnen den Schutz des Gesetzes! So bilden wir nicht einen, sondern Tausende von Missethätern, und reden uns ein, wenn wir zufällig einen fassen, die Gesellschaft gerettet und unsere Pflicht gethan zu haben, wenn wir es durchsetzen, daß der arme Teufel vom Gouvernement A… nach dem Gouvernement Irkutsk überführt wird.«

Das dachte Nechludoff, während er auf seinem Sessel mit der hohen Lehne neben dem Obmann der Geschworenen saß und auf die Stimmen des Staatsanwalts, des Verteidigers und des Präsidenten hörte.

»Und wenn ich denke,« fuhr er, das blasse Gesicht des Angeklagten betrachtend, fort, »daß nur jemand, als sein Vater ihn unter dem Drucke der Not in die Stadt schickte oder später, als der Unglückliche mit seinen Kameraden in den Schenken ein bißchen Zerstreuung suchte, mit ihm Mitleid hätte zu haben brauchen! Hätte damals jemand mit ihm Mitleid gehabt und zu ihm gesagt: »Gehe nicht hin, Wanja, das ist nicht recht!« so wäre das Kind nicht hingegangen, wäre nicht verdorben und hätte nicht das Uebel angerichtet, das es eben angerichtet hat! – Doch während dieser ganzen Zeit, da er wie ein kleines Tier in seiner Fabrik gelebt hat, hat niemand mit ihm Mitleid gehabt. Im Gegenteil, ein jeder, Werkmeister und Kameraden, hat ihn in diesen fünf Jahren gelehrt, daß die Klugheit für einen Jungen seines Alters im Lügen, Trinken, Schimpfen, Prügeln und den Weibern Nachlaufen besteht. Wenn er dann von einer ungesunden Arbeit, dem Trunke und von der gemeinen Ausschweifung erschöpft und verdorben, ziellos durch die Straßen irrt und sich hinreißen läßt, in eine Scheune einzubrechen und einige alte, längst nicht mehr gebrauchte Besen daraus zu stehlen, dann versammeln wir reichen und gebildeten Leute, denen es an nichts fehlt, uns in einem feierlichen Saale und sitzen zu Gericht über diesen Unglücklichen, den wir selbst zu Grunde gerichtet haben!«

So dachte Nechludoff, ohne auf das, was um ihn her vorging, weiter acht zu geben, und fragte sich, wie es nur kam, daß er und die andern das alles nicht schon früher bemerkt hatten.

Als die Geschworenen sich nach der Rede des Präsidenten in das Beratungszimmer zurückgezogen hatten, um die gestellten Fragen zu beantworten, trat Nechludoff, anstatt seinen Kollegen zu folgen, in den Korridor, da er plötzlich den Entschluß gefaßt, an den folgenden Verhandlungen nicht mehr teilzunehmen. »Mögen sie mit diesem Unglücklichen thun, was sie wollen,« sagte er sich, »ich kann mich nicht länger an einer solchen Komödie beteiligen!«

Er bat einen Aufseher, ihm das Zimmer des Staatsanwalts zu zeigen und begab sich sofort dorthin. Der Thürsteher wollte ihn zuerst nicht einlassen und behauptete, der Staatsanwalt wäre beschäftigt; doch Nechludoff öffnete, ohne auf ihn zu hören, die Vorzimmerthür, wandte sich an den dortsitzenden Beamten und bat ihn, dem Staatsanwalt zu sagen, ein Geschworener wünsche ihn in einer sehr dringenden Angelegenheit zu sprechen. Sein Titel Fürst und seine elegante Kleidung imponierten dem Beamten, der sofort den Staatsanwalt aufsuchte und es durchsetzte, daß Nechludoff sofort vorgelassen wurde.

Der Staatsanwalt empfing ihn stehend und war über sein Drängen augenscheinlich ärgerlich.

»Worin kann ich Ihnen dienen?« fragte er in strengem Tone.

»Ich bin Geschworener und heiße Nechludoff und muß dringend eine im Gefängnis sitzende Frauensperson, die unverehelichte Maslow, sprechen,« versetzte Nechludoff in einem Zuge unter heftigem Erröten.

Er fühlte, er thue da einen Schritt, der einen entscheidenden Einfluß auf sein ganzes Leben haben würde.

Der Staatsanwalt war ein kleiner, magerer und trockener Mann mit kurzen, grauen Haaren, sehr lebhaften Augen und einem spitzen, auf ein hervorstehendes Kinn auslaufenden Knebelbart.

»Die Maslow? Ja, die kenne ich. Des Giftmordes angeklagt, nicht wahr? Warum müssen Sie sie denn sprechen?«

Dann fuhr er in liebenswürdigem Tone fort: »Entschuldigen Sie meine Frage, aber ich kann die gewünschte Erlaubnis nicht bewilligen, ohne das Motiv derselben zu kennen.«

»Ich muß diese Frau sprechen; die Sache ist für mich von der größten Wichtigkeit!« sagte Nechludoff, von neuem errötend.

»So, wirklich?« versetzte der Staatsanwalt, erhob die Augen und heftete einen durchdringenden Blick auf Nechludoff, »Diese Frau ist gestern abgeurteilt worden, nicht wahr?«

»Sie ist zu vier Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden, und zwar ungerechterweise, denn sie ist unschuldig.«

»Gestern?« versetzte der Staatsanwalt, ohne Nechludoffs Bemerkungen über die Unschuld der Maslow die geringste Beachtung zu schenken. »Da sie erst gestern abgeurteilt worden ist, so muß sie sich noch im Untersuchungsgefängnis befinden. Man kann die Gefangenen dort nur an bestimmten Tagen sprechen, und Sie müssen sich schon dorthin wenden.«

»Ich muß sie aber sofort sprechen,« erklärte Nechludoff.

Seine Lippen zitterten, und er fühlte, daß die entscheidende Minute nahte.

»Aber weshalb müssen Sie sie denn sprechen?« fragte der Staatsanwalt und runzelte mit etwas unruhiger Miene die Stirn.

»Ich muß sie sprechen, weil sie unschuldig ist, und man sie zur Zwangsarbeit verurteilt hat. Ich bin schuldig und nicht sie!« fügte Nechludoff mit zitternder Stimme hinzu.

»Wieso?«

»Ich habe sie verführt und in den Zustand gebracht, in dem sie sich befindet. Hätte ich das nicht gethan, so wäre sie der gestern gegen sie erhobenen Anklage nicht ausgesetzt gewesen!«

»Daraus erfahre ich noch immer nicht, weshalb Sie sie zu sehen wünschen.«

»Ich will meinen Fehler gutmachen und sie heiraten,« erklärte Nechludoff, und Thränen der Rührung und Bewunderung über sich selbst benetzten seine Augen, wahrend er diese Worte sprach.

»So? Wirklich?« versetzte der Staatsanwalt. »Das ist in der That ein ziemlich merkwürdiger Fall. Nicht wahr, Sie sind Mitglied des Zemstpo von Krasnoversk gewesen?« setzte er hinzu, als erinnere er sich endlich, bei welcher Gelegenheit er schon früher von diesem Nechludoff gehört, der ihm einen so unerwarteten Entschluß mitgeteilt.

»Gewiß! Aber verzeihen Sie, ich glaube, das hat mit meiner Bitte nicht das geringste zu thun!« versetzte Nechludoff in verletztem Tone.

»Allerdings nicht,« entgegnete der Staatsanwalt mit etwas ironischem Lächeln; »doch der Plan, den Sie mir ankündigen, ist so seltsam und liegt den gewöhnlichen Formen so fern …«

»Aber kann ich die Erlaubnis bekommen?«

»Die Erlaubnis? Ja gewiß! Ich werde sie Ihnen sofort ausstellen. Setzen Sie sich gefälligst!«

Er ging zu seinem Schreibtisch und fing an zu schreiben.

»Setzen Sie sich, bitte!«

Nechludoff blieb stehen.

Als der Staatsanwalt zu Ende geschrieben hatte, erhob er sich und reichte Nechludoff, den er neugierig beobachtete, ein Papier.

»Ich muß Ihnen noch etwas sagen,« fuhr dieser fort; »es ist mir von jetzt ab unmöglich, an den Beratungen der Geschworenen teilzunehmen.«

»Wie Sie wissen, haben Sie dem Gericht Ihre Gründe darzulegen und sich von diesem dispensieren zu lassen.«

»Der Grund ist: ich halte alle diese Urteile für unnütz und unmoralisch.«

»Was Sie sagen!« rief der Staatsanwalt mit demselben ironischen Lächeln, aus dem hervorging, daß ihm solche Grundsätze nicht unbekannt waren und er sich nicht zum erstenmale darüber belustigte. »Sie werden sicher begreifen, daß ich in meiner Stellung als Staatsanwalt Ihre Ansicht in diesem Punkte nicht teilen kann. Aber erklären Sie das alles dem Gerichtshof; er wird Ihre Gründe würdigen, sie für annehmbar oder nicht annehmbar erklären und Ihnen im letzteren Falle eine Geldstrafe auferlegen. Wenden Sie sich an das Gericht!«

»Wie ich Ihnen bereits gesagt, bin ich entschlossen, nicht mehr dorthin zurückzukehren,« erklärte Nechludoff trocken.

»Ich empfehle mich Ihnen,« sagte der Beamte, der seinen seltsamen Besucher augenscheinlich loszuwerden suchte.

»Wen haben Sie denn da empfangen?« fragte den Staatsanwalt einige Augenblicke später ein Richter, der gerade, als Nechludoff hinausging, in das Zimmer trat.

»Nechludoff war das! Sie wissen doch, der sich schon früher im Zemstpo von Krasnoversk durch allerlei seltsame Vorschläge bemerkbar gemacht hat! Denken Sie sich, er hat als Geschworener auf der Anklagebank eine öffentliche Dirne gesehen, die er, wie er behauptet, verführt hat, und will sich jetzt mit ihr verheiraten!«

»Ist es möglich?«

»Er hat es mir eben gesagt! Und wenn Sie wüßten, mit welcher unglaublichen Aufgeregtheit!«

»Man möchte wahrhaftig annehmen, bei den heutigen jungen Leuten sei es im Oberstübchen nicht richtig!«

»Aber er sieht ja gar nicht mehr so jung aus! … Hören Sie mal, Ihr berühmter Iwanschenkow hat Sachen erzählt! Der Kerl hat geschworen, uns umzubringen! Er spricht und spricht bis ins Unendliche!«

»Man sollte ihm einfach das Wort entziehen! Das wird ja in diesem Grade die wahre Obstruktion!«

Als Nechludoff vom Staatsanwalt kam, begab er sich geradeswegs nach dem Untersuchungsgefängnis. Doch dort fand er die Maslow nicht. Infolge einer vor vier Monaten erfolgten politischen Bewegung hatte man die meisten der in diesem Gebäude eingesperrten Gefangenen nach andern Gefängnissen überführt, um hier an ihrer Stelle eine Reihe Studenten, Studentinnen, Commis und Handwerker unterzubringen. Die Maslow war in das alte Gouvernementsgefängnis gebracht worden, und Nechludoff ließ sich sofort dahin fahren.

Doch das alte Gefängnis lag am andern Ende der Stadt, so daß Nechludoff erst bei Anbruch der Dunkelheit hinkam. Vor der Thür hielt ihn, gerade als er eintreten wollte, eine Schildwache auf. Die Schildwache klingelte, die Thür öffnete sich, ein Aufseher kam Nechludoff entgegen, las das Papier, das dieser ihm reichte, sehr langsam von einem Ende zum andern und erklärte schließlich, ohne Erlaubnis des Direktors könne er nichts thun.

Nechludoff erhielt wenigstens die Erlaubnis, sich zum Direktor zu begeben. Auf der Treppe, die in die Wohnung dieses Beamten führte, hörte er die dumpfen Töne eines Musikstückes, das auf einem Piano gespielt wurde, und als ihm eine Magd mit brummiger Miene, mit einer Binde über dem einen Auge, die Thür der Wohnung öffnete, gellten ihm die Töne des Piano, die aus einem Nebenzimmer kamen, heftig in die Ohren. Es war die schwierigste Rhapsodie von Liszt, die sehr gut gespielt wurde, doch seltsamerweise kam die Spielerin immer nur bis zu einer bestimmten Stelle. An dieser Stelle brach sie ab und fing wieder von vorne an, um von neuem nur bis zu derselben Stelle zu spielen.

Nechludoff fragte die einäugige Magd, ob der Direktor zu Hause wäre.

»Nein, er ist nicht da!«

»Und wann wird er wiederkommen?«

»Ich werde nachfragen!«

Mit diesen Worten trat sie in die Wohnung und ließ Nechludoff im Vorzimmer stehen.

Einen Augenblick später hörte die »Rhapsodie« schon vor der bestimmten Stelle auf, und Nechludoff hörte im Nebenzimmer eine Frauenstimme sagen:

»Sagen Sie, Papa wäre ausgegangen und käme zum Essen nicht nach Hause! Es wäre unmöglich, ihn heute zu sprechen! Man soll ein andermal wiederkommen!«

Von neuem begann die Rhapsodie wieder, wurde aber nach einigen Takten unterbrochen, und Nechludoff hörte, wie ein Stuhl zurückgeschoben wurde. Die Pianistin hatte sich offenbar entschlossen, den unberufenen Störenfried, der sich sie zu unterbrechen erlaubte, selbst zu verabschieden.

»Papa ist ausgegangen,« erklärte sie in ärgerlichem Tone und öffnete die auf das Vorzimmer führende Thür. Es war ein blasses junges Mädchen mit wirren gelben Haaren und breiten, blauen Ringen unter den Augen.

Als sie einen elegant gekleideten jungen Mann erblickte, änderte sie den Ton.

»Treten Sie gefälligst ein! … Sie wünschen etwas von meinem Vater?«

»Ich möchte eine Frau sprechen, die hier untergebracht ist!«

»In der Abteilung für politische Gefangene jedenfalls?«

»Nein, nicht in dieser Abteilung. Ich habe eine schriftliche Erlaubnis des Staatsanwaltes.«

»Ich bin untröstlich, aber mein Vater ist ausgegangen und ich kann nichts ohne ihn thun. Aber treten Sie doch bitte ein, setzen Sie sich einen Augenblick,« fuhr sie fort.

Als Nechludoff Miene machte, fortzugehen, setzte sie hinzu:

»Sie können sich an den stellvertretenden Direktor wenden. Er muß im Bureau sein und wird Ihnen Auskunft geben … Wie heißen Sie?«

»Ich danke Ihnen sehr,« sagte Nechludoff, ohne auf diese Frage zu antworten, und ging die Treppe hinunter, während die rauschenden Töne der Rhapsodie wieder hinter ihm erklangen, die mit dem Orte, wo sie sich hören ließen, ebenso wenig im Einklange standen, wie mit dem jammervollen Aussehen der Person, die sie hervorbrachte.

Auf dem Hof begegnete Nechludoff einem jungen Offizier mit hochgebürstetem Schnurrbart, den er fragte, wo er den stellvertretenden Direktor treffen könnte. Dieser junge Offizier war zufällig gerade der stellvertretende Direktor. Er nahm den Erlaubnisschein, durchflog ihn und erklärte, da der Schein sich nur auf das Untersuchungsgefängnis bezog, so könnte er es nicht auf sich nehmen, ihn auch für das Regierungsgefängnis als gültig zu betrachten. Außerdem wäre auch die Stunde zu vorgerückt, der Abendappell hatte schon stattgefunden.

»Kommen Sie morgen wieder! Morgen ist Sonntag; um zehn Uhr wird jeder bei den Gefangenen zum Besuch zugelassen. Dann wird der Direktor da sein. Sie können die Maslow im Frauensprechzimmer oder vielleicht auch, wenn der Direktor es gestattet, im Bureau sprechen.«

So in seiner Hoffnung, Katuscha noch an diesem Tage zu sehen, enttäuscht, begab sich Nechludoff wieder nach Hause. Zitternd vor Aufregung lief er durch die Straßen, und unaufhörlich kamen ihm die einzelnen Erlebnisse des Tages in den Sinn, Er wiederholte sich, daß er Katuscha wiederzusehen versucht, in zwei Gefängnissen nach ihr geforscht und dem Staatsanwalt von seiner Absicht, sich vor ihr zu demütigen, erzählt, und das Gefühl, dies alles gethan zu haben, verstärkte seine Aufregung noch mehr.

Als er nach Hause kam, holte er sofort aus einer Schublade das Heft, in das er früher seine Handlungen und seine Gedanken einzeichnete. Er las einige Stellen durch und fügte mit fiebernder Hand folgende Zeilen hinzu:

»Schon seit zwei Jahren habe ich nichts mehr in dieses Heft geschrieben und glaubte, diese Kinderei nie wieder zu begehen. Doch in Wirklichkeit war es keine Kinderei. Es war im Gegenteil eine Unterredung mit mir selbst, mit meinem wahren und geheiligten »Ich«. Seit diesen zwei Jahren hatte dieses »Ich« in meinem Herzen geschlummert, so daß ich niemand hatte, mit dem ich mich aussprechen konnte. Doch gestern, am 28. April, ist es infolge eines außergewöhnlichen Ereignisses im Schwurgerichtshofe, wo ich Geschworener war, wieder erwacht. Auf der Anklagebank fand ich jene Katuscha wieder, die ich einst verführt und verlassen habe. Ein eigentümliches Mißverständnis, das zu verhindern ich die Pflicht gehabt, hatte die Verurteilung der Unglücklichen zur Zwangsarbeit zur Folge. Ich bin heute zum Staatsanwalt und in das Gefängnis gegangen, wo sie untergebracht ist. Ich wurde nicht zu ihr gelassen, habe aber den festen Entschluß gefaßt, alles zu thun, um sie zu sehen, sie um Verzeihung zu bitten und meine Schuld wieder gutzumachen, und müßte ich mich zu diesem Zweck auch mit ihr verheiraten. Herr mein Gott, verleihe mir deine Hilfe! Nie habe ich größere Ruhe oder Freude in meinem Herzen empfunden.«

Achtzehntes Kapitel

Am Tage nach seinem Besuche bei Maslinnikoff kehrte Nechludoff ins Gefängnis zurück, um Katuscha wiederzusehen. Der Direktor gestattete ihm, sie zu sehen, aber im Frauensprechzimmer, nicht mehr im Bureau, und auch nicht in dem kleinen Advokatenzimmer, wo die letzte Zusammenkunft stattgefunden hatte.

»Ja, Sie können sie einen Augenblick sehen,« sagte der Direktor, »aber was das Geld betrifft, so werden Sie sich an meine Worte erinnern, nicht wahr? … Was ihre Versetzung zum Krankendienst anbelangt – Se. Excellenz der Vicegouverneur hat mir die Ehre erwiesen, mir darüber zu schreiben, so ist die Sache möglich, und der Arzt willigt ein. Doch sie selbst will es nicht! Sie sagt, »sie habe nicht nötig, den Aussätzigen die Nachttöpfe auszuleeren«. Ach, Fürst, man sieht, Sie kennen diese Sorte nicht!«

Nechludoff antwortete nicht und ging nach dem Frauensprechzimmer, Der Direktor gab einem Aufseher den Befehl, die Maslow zu holen. Das Sprechzimmer war leer, als Nechludoff dasselbe betrat; doch kaum befand er sich einige Minuten dort, als sich die Thür öffnete und die Maslow schüchtern und schweigsam auf ihn zutrat. Sie schüttelte ihm die Hand, setzte sich neben ihn und sagte, ohne ihn anzusehen, fast leise:

»Verzeihen Sie mir, Dimitri Iwanowitsch! Ich habe vor drei Tagen recht schlecht zu Ihnen gesprochen!«

»Nicht an mir ist es, zu verzeihen,« begann Nechludoff.

»Aber trotzdem müssen Sie mich verlassen,« fuhr sie fort.

»Weshalb soll ich Sie verlassen?«

»Es muß sein, das ist alles!«

»Wie, das ist alles?«

»Nun denn,« sagte sie endlich; »Sie müssen aufhören, sich um mich zu kümmern; ich sage es Ihnen, wie ich es denke! Ich kann es nicht ertragen! Sie werden aufhören, sich um mich zu kümmern,« fuhr sie mit bebenden Lippen fort. »Das ist die reine Wahrheit! Lieber hänge ich mich auf!«

»Katuscha,« versetzte er in ernstem und festem Tone; »was ich gesagt, erhalte ich aufrecht! Ich bitte dich, verheirate dich doch mit mir! Wenn du dich weigerst, so werde ich doch bei dir bleiben, dir folgen und mit dir gehen, wohin man dich führen wird!«

»Das ist Ihre Sache, ich sage Ihnen nichts weiter,« antwortete sie, und ihre Lippen zitterten von neuem. Auch er schwieg, denn er fühlte nicht mehr die Kraft zum Reden, doch endlich faßte er wieder Mut und sagte:

»Katuscha, ich gehe jetzt aufs Land, um einige Angelegenheiten zu regeln; dann gehe ich nach St. Petersburg, um mich mit deiner Berufung zu beschäftigen, und so Gott will, werde ich deine Verurteilung annullieren lassen.«

»Das ist mir gleich, ob man sie annulliert oder nicht! Ob mir eins passiert oder das andere; das Resultat bleibt stets dasselbe!«

Sie hielt inne, und Nechludoff glaubte zu sehen, daß sie mit Mühe ihre Thränen zurückhielt.

»Nun,« sagte sie nach ziemlich langer Pause, »nun, haben Sie Mentschoff gesprochen? Nicht wahr, die Leute sind unschuldig? Nicht wahr, das ist doch klar? Ich würde die Hand dafür ins Feuer legen!«

»Ja, ich glaube, daß sie unschuldig sind!«

»Wenn Sie wüßten, was für eine wunderbare alte Frau sie ist!«

Er erzählte ihr alles ausführlich, was er über Mentschoff erfahren, und fragte sie dann, ob sie nichts brauche.

– »Nein, absolut nichts!« –

Von neuem trat eine Pause ein, dann fuhr sie fort:

»Ach, und was den Krankendienst betrifft, so werde ich es thun, wenn Sie’s wünschen! Und ich will auch versuchen, keinen Schnaps mehr zu trinken…«

Ohne etwas zu sagen, blickte ihr Nechludoff ins Auge. Er sah, daß ihre Augen lächelten.

»Das ist gut, das ist recht gut!«

Mehr zu sagen, fand er nicht die Kraft.

»Ja, ja, sie kann sich ändern,« dachte er. Nach den Zweifeln der vorhergegangenen Tage empfand er jetzt ein ihm ganz neues Gefühl, das Gefühl des Vertrauens auf die Allmacht der Liebe.

Als die Maslow in den stinkenden Saal zurückkehrte, zog sie ihre Jacke aus und setzte sich, die Hände auf die Kniee stützend, auf ihr Bett.

Der Saal war fast leer; nur die Schwindsüchtige, die Mutter mit dem Säugling, die Eisenbahnwärterin und die alte Mentschoff befanden sich darin. Die Tochter des Kirchendieners hatte man am vorigen Tage als irrsinnig ins Lazarett gebracht. Die übrigen Weiber waren im Waschhause.

Die Alte schlief auf ihrem Bett; die Kinder spielten im Korridor; die Eisenbahnwärterin trat ans die Maslow zu und fragte:

»Na, hast du ihn gesprochen?«

Die Maslow antwortete nicht.

»Nun, nun, weine nur nicht,« fuhr die Eisenbahnwärterin fort; »die Hauptsache ist, nicht den Mut zu verlieren. Also, Mut, Katjuschka, Mut!«

In demselben Augenblick hörte man im Korridor ein lautes Geräusch von Schritten und Stimmen, und die Insassinnen des Saales zeigten sich mit nackten Füßen auf der Schwelle; eine jede trug ein Brot unterm Arm. Fedossja lief zur Maslow und fragte:

»Nun, ist etwas Schlimmes passiert? Wart‘, ich werde dir deinen Thee bereiten!«

»Will er dich nicht mehr heiraten?« fragte die Korablewa.

»Nein, ich will nicht! ich habe ihm erklärt, ich wolle nicht!«

»Ist das eine Gans!« sagte die Korablewa mit ihrer Baßstimme.

»Nein, sie hat ganz recht,« erklärte Fedossja. »Wozu sich verheiraten, wenn man nicht zusammen leben kann?«

»Aber dein Mann geht doch auch mit dir ins Zuchthaus,« sagte die Eisenbahnwärterin.

»Bei meinem Mann ist das etwas anderes. Wir waren verheiratet, als man mich verhaftete; mich band das Gesetz. Aber wozu soll sie sich verheiraten, wenn er doch nicht mit ihr lebt?«

»Schweig, du Närrin! Wozu? Wenn er sie heiratet, würde er sie mit Gold überschütten!«

»Er hat mir gesagt: ›Wohin man dich auch schickt, ich gehe mit dir!‹« sagte die Maslow. »Er wird es auch sicher thun. Aber mich kümmert’s wenig, ob er kommt oder nicht! Ich habe ihn jedenfalls nicht darum gebeten. Jetzt reist er nach St. Petersburg und will sich mit meiner Angelegenheit beschäftigen. Er ist dort mit allen Ministern verwandt! Aber trotzdem brauche ich ihn nicht! Es wäre besser, er ließe mich in Ruhe!«

»Das ist eine merkwürdige Geschichte,« sagte die Korablewa in zerstreutem Tone. »Na, und wie ist es jetzt mit’n bißchen Schnaps?«

»Nein, ich danke,« versetzte die Maslow, »Aber trinkt ihr nur; ich werde ihn bezahlen!«

Erstes Kapitel

Als Nechludoff erfahren, die Berufung der Maslow würde wahrscheinlich in vierzehn Tagen vor den Senat gelangen, hatte er den Entschluß gefaßt, nach St. Petersburg zu fahren, um dort die nötigen Schritte zu thun, und auch, im Falle die Berufung verworfen werden sollte, das Gnadengesuch vorzulegen, wie es ihm der Advokat geraten hatte. Da Nechludoff noch immer auf seiner Absicht beharrte, ihr überallhin, selbst nach Sibirien zu folgen, so war er entschlossen, diese vierzehntägige Wartezeit zu benutzen, um seine verschiedenen Besitzungen eine nach der andern zu besuchen und ein für allemal Ordnung in seine Angelegenheiten zu bringen. Zuerst begab er sich nach Kuzminskoja. Das war von allen seinen Besitzungen die nächste und auch die bedeutendste, die ihm das größte Einkommen brachte. Hier hatte er in seiner Jugend gelebt und war später zu wiederholten Malen hierher zurückgekehrt.

Gegen Mittag kam er nach Kuzminskoja. Seine allgemeine Lebensauffassung hatte sich so sehr vereinfacht, daß er nicht einmal daran gedacht hatte, seinem Verwalter, einem Deutschen, zu telegraphieren, um ihm seinen Besuch anzukündigen. Als er aus dem Waggon stieg, hatte er einen Wagen genommen, um sich nach seiner Besitzung fahren zu lassen. Der Kutscher, ein junger Bauer, sprach frei von der Leber weg über den Verwalter von Kuzminskoja, ohne zu ahnen, daß er mit dem Gutsherrn zu thun hatte.

»Er pflegt sich gut, dieser verschlagene Deutsche!« sagte er, sich auf seinem Bocke umdrehend. »Er hat sich eine Troika mit prächtigen Pferden geleistet und fährt mit seiner Alten spazieren, wo es ihm gut dünkt! Im Winter hatte er zu Weihnachten einen schönen, aufgeputzten Baum, wie man im ganzen Gouvernement keinen zweiten findet. Ach, er hat Geld zusammengescharrt, der Kerl! Und warum auch nicht? Er kann ja alles thun! Man sagt, er habe sich eine Besitzung gekauft!«

Nechludoff war es gleichgültig, wie sein Verwalter sein Gut leitete; aber trotzdem machte, die Erzählung des Kutschers einen peinlichen Eindruck auf ihn, der erst verschwand, als er in Kuzminskoja ankam und sich mit der Regelung seiner Angelegenheiten zu befassen begann. Die Prüfung der Gutsregister und die Erklärungen eines Angestellten, der ihm naiverweise die Vorteile auseinandersetzte, die sich für die Besitzung daraus ergeben würden, wenn die Bauern sehr wenig eigenes Land besäßen, das alles bestärkte ihn in seinem Entschlusse, auf die Ausbeutung des Gutes für eigene Rechnung zu verzichten, und sein ganzes Land den Bauern abzutreten. Die Prüfung der Register und die Erklärungen des Kommis bewiesen ihm tatsächlich, daß genau so wie früher zwei Drittel seiner Felder von seinen Ackerknechten mit vorzüglichen Apparaten bebaut wurden, während ein Drittel die Bauern bewirtschafteten, denen man für den Morgen fünf Rubel gab. Mit anderen, Worten, gegen Bezahlung von fünf Rubeln verpflichtete sich der Bauer, einen Acker Land zu bebauen, zu säen, zu mähen, d, h. eine Arbeit zu verrichten, für die ein Ackerknecht wenigstens zehn Rubel pro Morgen verlangte. Außerdem ließ man die Bauern alles, was ihnen das Bureau lieferte, zu einem sehr teuren Preise bezahlen.

Das alles war nichts Neues für Nechludoff; aber es erschien ihm neu, und er wunderte sich, daß er so lange nicht verstanden hatte, wie unnatürlich ein solcher Zustand war. Deshalb bat er den Verwalter, schon am nächsten Morgen die Bauern von Kuzminskoja und den umliegenden Dörfern zusammenzuberufen, damit er ihnen selbst von seinem Entschlusse Mitteilung machen und sich über den Pachtzins mit ihnen verständigen konnte.

Entzückt von der Energie, mit der er den Beweisgründen des Verwalters widerstanden, verließ Nechludoff das Bureau und ging in der Nähe des Hauses spazieren. So vergingen die letzten Stunden des Tages. Als er den Plan der Rede entworfen, die er am Morgen an die Bauern halten wollte, kehrte er ins Haus zurück, nahm den Thee mit dem Verwalter ein und ging dann vollkommen ruhig, zufrieden und auf sich selbst stolz, für die Nacht in das Schlafzimmer hinauf, das man für ihn bestimmt hatte, und das stets für Logierbesuch bereit gehalten wurde.

Um den heftig auf ihn einstürmenden Gedanken zu entgehen, legte er sich in die frischen Betten und versuchte zu schlafen, indem er sich sagte, am nächsten Morgen würde er ruhigen Kopfes all die Probleme lösen, aus denen er jetzt keinen Ausweg fand. Doch der Schlaf wollte nicht kommen. Durch die halbgeöffneten Fenster drang mit der scharfen Nachtluft und den Strahlen des Mondes, das Quaken der Frösche zu ihm, in das sich im fernen Park der klagende Gesang der Nachtigall mischte; eine Nachtigall sang sogar ganz in seiner Nähe unter seinen Fenstern in einem Hollunderbusch. Der Gesang dieses Vogels lenkte seine Gedanken auf die Musik der Tochter des Direktors, und er dachte an den Direktor selbst und an die Maslow. Er sah wieder, wie ihre Lippen zitterten, während sie zu ihm sagte: »Sie müssen mich verlassen!« Plötzlich hatte er die Empfindung, der Deutsche, sein Verwalter, fiele in den Froschteich. Er fühlte, er hätte die Pflicht, ihn herauszufischen; doch statt dessen war er plötzlich die Maslow geworden und rief: »Ich bin eine Zuchthäuslerin, und du bist ein Fürst!«

Er schüttelte sich, erhob den Kopf und fragte sich: »Ist das, was ich thue, gut oder schlecht? Ah bah, das werde ich morgen früh erfahren!«

Dann schlief er endlich ein.

Am nächsten Morgen erwachte Nechludoff erst um neun Uhr.

Der junge Kommis brachte ihm seine Stiefel, stellte einen Krug frischen und klaren Quellwassers neben sein Bett und teilte ihm mit, daß die Bauern sich bereits versammelten. Nechludoff sprang aus dem Bett, und die Ereignisse des vorigen Tages kamen ihm wieder in den Sinn. Während er sich ankleidete, freute er sich der Handlung, die er vollführen wollte, und in seine Freude mischte sich unwillkürlich ein gewisser Stolz. Das Wetter hatte sich in der Nacht verändert, ein leiser, feiner und warmer Regen fiel seit dem Morgen und heftete seine Tropfen an die Blätter und Gräser. Nechludoff sah, wie sich die Bauern auf dem Rasen versammelten. Einer nach dem andern kamen sie, grüßten sich, stellten sich im Kreise auf und plauderten, sich auf ihre Stücke stützend.

Der Verwalter, ein dicker, vierschrötiger Mann, der einen kurzen Rock mit grünem Kragen und ungeheuren Knöpfen trug, trat in das Zimmer. Er sagte zu Nechludoff, es wären alle versammelt, doch man könne noch warten. Dann fragte er ihn, was er zum Frühstück lieber nehmen wolle, Kaffee oder Thee.

»Nein, ich danke, wir wollen lieber das Geschäft in Ordnung bringen,« versetzte Nechludoff. Er empfand ein ihm noch ungewohnteres Gefühl, als am vorigen Abend, ein Gemisch der Schüchternheit und Scham, wenn er an seine Unterredung mit den Bauern dachte.

Er schickte sich an, den innigsten Wunsch der Bauern zu erfüllen, einen Wunsch, dessen Verwirklichung sie nicht einmal zu träumen wagten. Er wollte ihnen alle Aecker des Dorfes zu niedrigen Preisen überlassen und ihnen diese kostbare Wohlthat anbieten. Trotzdem verspürte er, ohne daß er recht wußte, warum, eine gewisse Verlegenheit. Als er sich den Bauern genähert hatte und sah, wie sie alle vor ihm die Mützen abrissen, und ihre blonden, schwarzen, grauen, lockigen und kahlen Köpfe entblößten, wurde seine Verwirrung so groß, daß er längere Zeit nicht sprechen konnte. Das peinliche Schweigen wurde endlich von dem Verwalter unterbrochen, der zu den Bauern sagte:

»Hört, der Fürst will euch Gutes thun, er will euch die Aecker abtreten, obwohl ihr es nicht verdient,«

»Wie sollten wir es nicht verdienen, Basil Karlitsch? arbeiten wir nicht für dich?« versetzte ein kleiner rothaariger Bauer. »Wir waren mit der seligen Fürstin sehr zufrieden – der Herr schenke ihr die ewige Ruhe – und der junge Fürst hat, wie wir sehen, die Gnade, uns auch nicht zu verlassen.«

»Wir haben hohe Achtung vor der Herrschaft, aber das Leben ist hart,« versetzte ein anderer Bauer, ein Mann mit dickem Gesicht und langem Bart.

»Ich habe euch zusammenberufen, um euch mitzuteilen, daß ich euch, wenn ihr wollt, alle meine Aecker abtrete,« erklärte Nechludoff.

Die Bauern blieben stumm, als ob sie die Worte des »Barin« nicht verstanden hätten, bis sich einer von ihnen endlich zu der Frage erkühnte:

»Und in welcher Weise wollen Sie uns, bitte, die Aecker abtreten?«

»Ich möchte sie euch vermieten, damit ihr sie billig bekommt und daraus Nutzen ziehen könnt.«

»Ein gutes Geschäft!« sagte ein alter Mann.

»Wenn wir den Preis nur erschwingen können,« meinte ein anderer.

»Das ist leicht gesagt, aber zum Bezahlen braucht man Geld,« ließ sich eine andere Stimme vernehmen.

»Das ist eure Schuld, wenn ihr keins habt,« erklärte der Deutsche. »Ihr braucht nur zu arbeiten und euer Geld zu behalten.«

»Sie haben leicht reden, aber wir können nicht mehr thun, als wir thun.«

So ging ein unerwarteter und unnützer Schwall von Worten weiter, wobei jeder ohne Zweck und selbst ohne zu wissen, warum, sprach. Nechludoff versuchte ungeduldig die Unterredung auf den Gegenstand zurückzuführen, den er auf dem Herzen hatte, und fragte:

»Nun, was beschließt ihr hinsichtlich der Überlassung meiner Aecker, willigt ihr ein? und welchen Pachtpreis bietet ihr mir?«

»Sie sind der Händler, Sie müssen den Preis festsetzen.«

Nechludoff setzte einen Preis fest, der weit geringer war, als der, den man gewöhnlich zahlte; doch die Bauern fingen natürlich trotzdem zu feilschen an und fanden ihn zu hoch. Nechludoff hatte erwartet, sein Vorschlag würde mit Begeisterung aufgenommen werden, doch er hatte sich geirrt und von der Freude der Bauern war, wenn sie überhaupt vorhanden war, nichts zu merken. Endlich wurde mit Hilfe des Verwalters ein Preis festgesetzt, man kam über die Zahlungstermine überein, die Bauern zerstreuten sich unter lautem Geschrei und heftigen Bewegungen, und Nechludoff ging wieder ins Bureau, um den Pachtvertrag aufzusetzen. Am nächsten Morgen, als er alles mit dem Verwalter erledigt, fuhr er wieder nach dem Bahnhof. Die Bauern, denen er begegnete, zankten und stritten sich noch immer und schüttelten mit unzufriedener Miene den Kopf. Und auch er war mit sich selbst unzufrieden, ohne zu wissen, warum; unwillkürlich fühlte er sich traurig und schämte sich ein wenig.

Von Kuzminskoja begab sich Nechludoff nach der Besitzung, die er von seinen Tanten geerbt, und auf der er einst Katuscha kennen gelernt. Auch hier wollte er sich, wie in Kuzminskoja, mit den Bauern wegen Ueberlassung seiner Aecker verständigen und sich gleichzeitig möglichst genau nach Katuscha und ihrem Kinde erkundigen. War das letztere wirklich tot, oder hatte seine Mutter es nur im Stiche gelassen?

Er kam ziemlich früh in das Dorf, in welchem die Besitzung lag, und war zuerst, als er in den Hof trat, von dem Verfall aller Gebäude heftig betroffen. Nur der Garten war nicht nur nicht verfallen, sondern hatte sich frei und ungehindert entwickelt, alles stand in voller Blüte.

Der Inspektor, ein durchgefallener Seminarist, kam Nechludoff lächelnd entgegen; lächelnd forderte er ihn zum Eintritt auf, und lächelnd ließ er ihn im Bureau Platz nehmen, gerade, als wenn er durch sein Lächeln irgend etwas Besonderes ausdrücken wollte.

»Um wieviel Uhr befehlen Sie das Mittagessen?« fragte er den Gutsherrn lächelnd.

»Wann Sie wollen; ich habe keinen Hunger; jetzt will ich einen Rundgang durch das Dorf machen.«

»Möchten Sie nicht zunächst in mein Haus treten? es ist alles in Ordnung. Nicht wahr, Sie entschuldigen, wenn draußen …«

»Jetzt nicht, später! Aber sagen Sie mir, wissen Sie, ob hier eine Frau Namens Matrena Tscharina wohnt?«

So hieß Katuschas Tante, bei der sie niedergekommen war.

»Die Tscharina? ja, gewiß, die wohnt hier im Dorfe. Ach, was die mir für Sorgen macht! Sie besitzt nämlich die Dorfschenke. Ich schelte sie aus, und drohe ihr, sie fortzuschicken, wenn sie nicht bezahlt, aber im letzten Augenblick geht es doch über meine Kräfte, und ich habe Mitleid mit ihr. Die arme Alte! Dann hat sie auch Kinder bei sich,« fügte der Inspektor lächelnd hinzu.

»Und wo wohnt sie? ich möchte sie aufsuchen!«

»Am Ende des Dorfes, auf der andern Seite das drittletzte Haus. Zur linken Seite erblicken Sie ein Ziegelhaus, und gleich darauf kommt ihre Kneipe. Uebrigens werde ich Sie hinführen, wenn Sie wollen.«

»Nein, ich danke, ich werde schon finden. Inzwischen möchte ich Sie bitten, die Bauern vor dem Hause zusammenzurufen, weil ich mich mit ihnen wegen der Aecker zu verständigen habe.«

Der Tag war klar und warm, sogar zu warm für die Jahreszeit; die Wolken häuften sich zusammen und bedeckten zeitweise die Sonne. Die lange ansteigende Straße, die das Dorf bildete, war vollständig mit einem scharfen, beißenden, aber nicht unangenehmen Düngergeruch angefüllt, der gleichzeitig von den Wagen aufstieg, die die Straße entlang fuhren und außerdem den Misthaufen entströmten, die in den Höfen lagerten, deren Thüren weit offen standen. Die Bauern, die mit nackten Füßen und Mistflecken auf ihren Hemden und Hosen hinter den Wagen herschritten, betrachteten neugierigen Blickes den großen und kräftigen »Barin« in seinem mit Seide gefütterten grauen Tuchanzug, wie er mit seinem schönen Stock mit dem silbernen Knopf im Dorfe spazieren ging. Die Weiber verließen ihre Häuser, um ihm nachzusehen, folgten ihm mit den Augen, und eine zeigte ihn der andern. Vor einer der Thüren wurde Nechludoff beim Vorübergehen von einem großen Wagen aufgehalten, der, bis oben mit Dünger beladen, aus einem Hofe fuhr. Ein junger Bauer war damit beschäftigt, die Pferde auf die Straße zu ziehen. Ein graublaues Füllen passierte bereits das Thor, als es vor Nechludoff erschrak und sich wieder an seine Mutter drängte, die eine unruhige Bewegung machte und einen Augenblick wieherte. Das alles geschah unter den Augen eines alten, mageren und trockenen Bauern, der ebenfalls barfüßig war und eine gestreifte Hose und eine blaue Blouse trug.

Als sich der Wagen endlich auf der Straße befand, trat der Greis vor die Thür und verneigte sich vor Nechludoff.

»Sie sind wohl der Verwandte unserer beiden seligen Fräuleins?«

»Ja, ganz recht!« »Seien Sie willkommen,« fuhr der Bauer fort, der gern plauderte.

»Na, und wie lebt Ihr?« fragte Nechludoff, der nicht wußte, was er sagen sollte.

»Wie wir leben? ach, unser Leben ist leider recht elend,« entgegnete der Alte.

»Elend? weshalb?« fragte Nechludoff, sich der Thür nähernd.

»Ach, es ist ein trauriges Leben!«

Während des Sprechens drängte der Greis Nechludoff in das Innere des Hofes zurück.

»Siehst du, ich habe in meinem Hause zwölf Personen,« fuhr er fort und deutete mit dem Finger auf zwei Weiber, die mit aufgekrempelten Aermeln, die Röcke bis über die Kniee aufgeschürzt, mit Mistgabeln in der Hand, auf dem Rest des Düngerhaufens standen.

»Alle Monate muß ich sechs Pfund Mehl kaufen, und wo sie hernehmen?«

»Hast du denn kein eigenes Mehl?«

»Eigenes Mehl?« rief der Greis mit verächtlichem Lächeln. »Was ich an Land habe, genügt gerade für drei Personen; zu Weihnachten ist der ganze Vorrat erschöpft.«

»Aber was fangt Ihr denn dann an?«

»Man muß sich eben einrichten. Einer meiner Söhne ist im Dienst, und dann leihen wir auch bei Ew. Exzellenz. Wenn man wenigstens die Abgaben bezahlen könnte!«

»Wieviel betragen die Abgaben?«

»Siebzehn Rubel, nur für uns allein!«

»Könnte ich vielleicht in dein Haus eintreten?« fragte Nechludoff, indem er weiter auf dem Hofe vorschritt.

»Aber gewiß,« versetzte der Greis, ging Nechludoff mit seinen nackten Füßen schnell voran und öffnete ihm die Hausthür, während die Weiber mit einer gewissen Furcht diesen eleganten, saubern Herrn mit seinen goldenen Manschettenknöpfen betrachteten, der Miene machte, ihr Haus zu betreten.

Nechludoff durchschritt einen kleinen Gang und kam in die enge und dunkle Isba. Dort stand am Ofen ein altes Weib, deren aufgekrempte Aermel die mageren Arme und schwarzen Hände mit den hervortretenden Adern sehen ließen.

»Das ist unser »Barin«, der uns einen Besuch abstatten will,« sagte der Alte zu ihr.

»Meinen tiefsten Gruß,« versetzte die Alte, sich verneigend.

»Ich wollte einmal ein bißchen sehen, wie ihr lebt,« sagte Nechludoff.

»Das kannst du ja sehen, wie wir leben,« entgegnete keck die alte Frau und schüttelte mit bezeichnender Miene den Kopf. »Die Isba ist dem Einsturze nahe und wird sicherlich einen totschlagen, doch der Alte findet es gut so. Du siehst, ich bin gerade dabei, das Essen zu bereiten, ich ernähre das ganze Haus.«

»Na, und was habt Ihr heute zum Essen?«

»Was wir zum Essen haben? Erster Gang: Kwaß und Brot, zweiter Gang: Brot und Kwaß.«

Dabei fing die Alte laut an zu lachen und riß ihren großen zahnlosen Mund weit auf.

»Nein, nein, ohne Scherz, zeigt mir, was Ihr heute zum Essen habt.«

»Na, Mutter,« sagte der Alte, »zeige es ihm doch.«

Seine Frau schüttelte von neuem den Kopf.

»Haha, du bist aber ein merkwürdiger »Barin«; so einen wie du habe ich noch nie gesehen. Alles will er wissen. Na, wir haben Brot und Kwaß, und dann noch Kohlsuppe und Kartoffeln.«

»Ist das alles?«

»Na, was soll denn noch sein?« versetzte die Alte mit pfiffigem Lächeln.

Durch die offen gebliebene Thür sah Nechludoff, daß der ganze Korridor mit Leuten angefüllt war. Da standen Kinder, junge Mädchen, Weiber mit Säuglingen auf den Armen, und diese ganze Schar drängte sich vor die Thür und betrachtete den seltsamen Gutsherrn, der sich nach der Nahrung von Muschiks erkundigte.

»Ja, unser Leben ist recht traurig; das kann man wohl sagen,« fuhr der Alte fort. »Na, hört mal, was wollt Ihr denn hier?« rief er, sich den Neugierigen zuwendend, die Miene machten, einzutreten.

»Na, jetzt Adieu, ich danke Euch,« sagte Nechludoff, der ein Gemisch von Unbehagen und Scham empfand.

»Herzlichen Dank, daß Sie uns besucht haben,« versetzte der Alte.

Im Korridor trat die Menge schnell vor Nechludoff zur Seite und ließ ihn mit aufgesperrten Mäulern vorüber. Doch auf der Straße bemerkte er zwei barfüßige kleine Jungen, die hinter ihm herliefen. Der eine, der ältere, trug ein schmutziges Hemd. Nechludoff wandte sich nach ihnen um, und der Kleine mit dem weißen Hemd fragte ihn:

»Wo gehst du denn jetzt hin?«

»Ich gehe zu Matrena Tscharina,« antwortete Nechludoff; »kennt ihr sie?«

Der kleinste der beiden Jungen fing an zu lachen, doch der andere erwiderte sehr ernsthaft:

»Was für eine Matrena; ist sie alt?«

»Ja, eine Alte!«

»Dann wird es sicher die Semenitscha sein. Das ist am andern Ende des Dorfes, wir werden dich hinführen, nicht wahr, Fedka, wir werden ihn hinführen?«

»Und die Pferde?«

»Ah bah, das thut nichts!«

Fedka willigte ein, und alle drei gingen die lange Dorfstraße hinauf.

Nechludoff fühlte sich sehr behaglich bei den beiden Jungen, die ihn übrigens den ganzen Weg mit ihrem Geschwätz erheiterten. Der kleinere, das Kind im rosa Hemde, lachte nicht mehr und sprach ebenso ernst und verständig, wie sein Gefährte.

»Na, wer ist denn der Aermste im Dorfe?« fragte Nechludoff.

»Wer Aermste? Michael ist arm, und Semen Makaroff ist arm, aber Martha ist doch noch ärmer.«

»Aber Anissja ist doch noch ärmer; Anissja hat nicht einmal eine Kuh, sie bettelt.«

»Das ist wahr, daß sie keine Kuh hat, aber bei ihr sind nur drei, und bei Martha sind fünf.«

»Ja, aber Anissja ist Witwe!«

»Du sagst, Anissja ist Witwe; aber Martha ist doch eben so gut wie Witwe, sie hat doch auch keinen Mann.«

»Wo ist denn ihr Mann?« fragte Nechludoff.

»Der pflegt seine Läuse im Gefängnis,« versetzte das ältere Kind.

»Im vorigen Jahr,« unterbrach der Kleine, »hat er zwei Birken gefällt, da haben sie ihn ins Gefängnis gesteckt. Seit sechs Monaten sitzt er nun, sie hat drei Kinder, und die ernährt die Mutter.«

»Und wo wohnt sie?«

»Das ist gerade ihr Haus,« sagte der Bursche und zeigte mit dem Finger auf ein Haus, vor welchem ein ganz kleiner Junge mit weißem Kopfe auf krummen Beinen mühselig auf- und abging.

»Wanja, du Taugenichts, willst du wohl schnell hereinkommen?« rief vom Hause her eine noch junge Frau, die einen so schmutzigen Rock und ein eben solches Hemd trug, daß man hätte glauben können, beides wäre mit Asche überschüttet. Sie stürzte ängstlich nach der Straße, ergriff ihr Kind und trug es ins Haus.

»Na, und Matrena? ist die auch arm?« fragte Nechludoff.

»Wie soll die denn arm sein? die verkauft ja Schnaps,« versetzte der kleine Junge in dem rosa Hemd in entschiedenem Tone.

Vor Matrenas Thür nahm Nechludoff von seinen beiden Begleitern Abschied. Das Haus der alten Frau war klein, und enthielt nur ein einziges Zimmer. Als Nechludoff eintrat, war Matrena eben im Begriff, mit Hilfe ihrer ältesten Enkelin alles in Ordnung zu bringen. Zwei andere Kinder kamen, als sie den Fremden bemerkten, aus dem Winkel hervor und stellten sich vor die Thür.

»›Was wollen Sie?« fragte das alte Weib mit scharfer Stimme.

»Ich bin … aus der Stadt und habe … mit Ihnen zu sprechen.«

Ohne zu antworten, betrachtete ihn die Alte mit ihren kleinen Augen. Plötzlich aber veränderte sich ihr Gesichtsausdruck.

»Ach, du bist’s, mein Lämmchen! Und ich, altes Tier, erkannte dich nicht und sagte mir, das ist sicher ein Wanderer, der mich um etwas bitten will! Verzeihung, im Namen Christi!«

Sie sprach mit einschmeichelnder Flötenstimme.

»Könnte ich nicht ein paar Worte mit Ihnen allein sprechen?« fragte Nechludoff und deutete mit den Augen auf die offen gebliebene Thür, in der die Kinder standen, und in der eben ein mageres junges Weib erschienen war, das auf ihren Armen ein in alte Lumpen gekleidetes Kind von wahrhaft furchtbarem Aussehen trug.

»Was habt ihr hier zu glotzen? Wartet, ich werde gleich meinen Stock holen!« rief Matrena, sich zur Thür wendend. »Verschwindet schleunigst und macht die Thür zu!«

Die drei Kinder entflohen. Auch die junge Frau entfernte sich und schloß die Thür.

»Und ich fragte mich, wer da wäre! Es war mein junger »Barin« selbst, mein Goldvogel, mein Juwel! Setz‘ dich, Exzellenz, setz‘ dich da auf die Bank,« fuhr sie fort, nachdem sie die bezeichnete Bank sorgfältig abgewischt. »Und ich dachte, der Teufel wolle mich quälen, und nun ist es mein »Barin«, mein Wohlthäter, mein Ernährer! Verzeihe mir, das Alter macht mich blind!«

Nechludoff setzte sich, während die Alte vor ihm stehen blieb und mit ihrer flötenden Stimme fortfuhr:

»Die Jahre vergehen, Exzellenz! Aber schön warst du und bist noch schöner geworden!«

»Also! ich wollte Sie um eine Auskunft bitten. Sie erinnern sich noch der Katuscha?«

»Der Katharina, die im Schloß war? Wie sollte ich mich ihrer nicht erinnern? Sie war ja meine Nichte! Ach, über die habe ich viele Thränen vergossen! Ich weiß ja alles, was vorgefallen ist! He, Väterchen, wer hat denn nicht gegen Gott und den Zaren gesündigt? Die Jugend ist an allem schuld! Und andere hätten sie an deiner Stelle verlassen, während du sie noch beschenkt hast! Hundert Rubel hast du ihr gegeben! Ach! hätte sie auf mich gehört, dann wäre sie glücklich! Man hat sie fortgeschickt, und auf einer andern Stelle, die sie nachher bei einem Förster hatte, hat sie auch nicht bleiben wollen.«

»Ich wollte Sie fragen, ob Sie von ihrem Kinde etwas gehört haben?«

»Ob ich davon etwas gehört habe? Aber es ist ja hier geboren! Es war ein schöner, kleiner Junge! Aber quengelig! Keinen Augenblick ließ er seine Mutter in Ruhe! Da habe ich ihn denn taufen lassen, wie es recht ist, und ihn in ein Asyl geschickt. Was wäre wohl aus dem kleinen Engel geworden, wenn die Mutter gestorben wäre? Andere handeln anders; sie behalten das Kind, nähren es nicht, und Gott nimmt es wieder zu sich. Ich aber habe mir gesagt, nein, es ist besser, wenn er lebt!«

»Und wissen Sie, unter welcher Nummer er eingetragen worden ist?«

»Ja, eine Nummer war auch dabei. Doch der kleine Engel ist gleich gestorben, als er hinkam. Sie hat es mir gesagt: ›Ich war kaum ins Asyl gekommen, da starb er!‹«

»Was für ein ›sie‹?«

»Na, die Frau, die das Kind fortgebracht hat. Sie wohnte in Skorodno. Es war eine Frau, die allerlei solche Besorgungen machte. Sie hieß Melanja und ist jetzt tot. Wenn man ihr ein Kind brachte, dann behielt sie es bei sich, anstatt es gleich ins Asyl zu bringen. Dann nährte sie es, und wenn man ihr ein anderes brachte, behielt sie es auch. Sie wartete, bis sie drei oder vier zusammen hatte und brachte sie dann zusammen ins Asyl. Doch Katharinas Kind hat sie nicht länger als acht Tage behalten.«

»Und wie sah es aus? War es ein schönes Kind?« fragte Nechludoff mit zitternder Stimme.

»O, ein zu schönes Kind! es konnte nicht leben. Es war ganz dein Ebenbild,« fügte die Alte augenblinzelnd hinzu.

»Und woran ist es gestorben? Jedenfalls hat man es schlecht genährt?«

»He, Väterchen, wie hätte man’s denn gut nähren sollen? Aber sie hat den Totenschein mitgebracht! ’s ist alles in Ordnung!«

Das war alles, was Nechludoff über sein Kind erfahren konnte.

Als Nechludoff der alten Matrena Lebewohl gesagt und sie verließ, bemerkte er die beiden Jungen, die auf ihn warteten. Andere Kinder hatten sich ihnen angeschlossen, und auch einige Weiber, unter denen er das unglückliche Geschöpf bemerkte, das den kleinen, blassen, in Lumpen gekleideten Jungen auf dem Arme trug.

Nechludoff fragte, wer dieses Weib wäre.

»Das ist die Anissja, von der ich dir erzählt habe,« sagte einer der Jungen. »Ich habe sie geholt, damit du sie dir ansiehst!«

Nechludoff wandte sich zu Anissja.

»Wie lebt Ihr und wovon?« fragte er.

»Wovon ich lebe? Von dem, was man mir giebt!« versetzte Anissja und begann zu weinen.

Nechludoff zog seine Brieftasche heraus und gab der armen Mutter zehn Rubel. Er war noch keine zehn Schritt gegangen, als ihn ein anderes Weib mit einem Kind an der Brust ansprach, dann eine alte Frau, und dann wieder eine.

Alle sprachen von ihrem Elend und baten um eine Unterstützung. Nechludoff verteilte fünfzig Rubel, die er bei sich hatte, unter sie, und kehrte mit einem Gefühl tiefer Traurigkeit in das Bureau des Verwalters zurück. Dieser kam ihm mit seinem ewigen Lächeln entgegen und teilte ihm mit, die Bauern würden sich gegen Abend versammeln. Nechludoff ging inzwischen im Garten auf den Fußwegen spazieren, die das Gras überwuchert hatte und die die weißen und roten Blüten der Apfelbäume bedeckten. Er ging auf und nieder, und immer wieder trat ihm die Erinnerung an das Geschehene vor’s Auge. Traurig dachte er bei sich: »Diese Unglücklichen kommen um, weil sie kein Land haben, das sie ernähren kann; weil ihnen die Erde fehlt, die sie selbst für andere bebauen, damit andere den Ertrag ins Ausland verkaufen und sich dafür Pelze, Stöcke, Kaleschen, Bronzen u. s. w. kaufen. Und wir, die Urheber dieses Uebels, betrachten das als natürlich und notwendig; in unsern Universitäten, unsern Verwaltungen, unsern Zeitungen streiten wir über die Ursachen des Bauernelends und die verschiedenen Mittel zur Abhilfe, lassen aber die einzige Ursache dieses Elends bestehen, ohne sie auch nur zu erwähnen, und berauben die Bauern weiter der Erde, deren sie doch so sehr bedürfen.«

Was alles war Nechludoff jetzt so klar, daß er sich immer mehr wunderte, es so lange Zeit nicht begriffen zu haben. Er erkannte mit vollkommener Klarheit, daß das einzige Mittel gegen das Elend der Bauern darin bestand, ihnen die Erde wiederzugeben, damit sie sich davon ernähren konnten. Er begriff, daß besonders die Kinder starben, weil es ihnen an Milch fehlte, und zwar fehlte es ihnen an Milch, weil ihre Eltern keine Wiesen hatten, auf denen sie ihre Kühe konnten weiden lassen.

Und Nechludoff faßte sogleich den Entschluß, den Bauern seine Aecker zu verpachten, aber derart, daß der von ihnen zu zahlende Pachtzins nicht ihm, sondern ihnen zu gute kommen sollte, damit sie ihre Steuern bezahlen und auch andere allgemein nützliche Ausgaben bestreiten konnten.

Als er in die Wohnung des Inspektors zurückkehrte, teilte ihm dieser mit ganz besonders freundlichem Lächeln mit, das Essen wäre bereit; er fügte hinzu, er fürchte nur, es wäre ein bißchen angebrannt, trotz aller Mühe, die sich seine Frau mit Hilfe eines jungen Mädchens, das ihr die Wirtschaft befolgte, mit der Zubereitung gegeben.

Nach dem Essen nötigte Nechludoff den Inspektor, sich an den Tisch zu setzen. Er empfand das Bedürfnis, zu sprechen, und jemandem, gleichviel wem, die großen Gedanken mitzuteilen, die sein Herz bewegten. Er setzte dem Inspektor seinen Plan auseinander, seine Güter den Bauern abzutreten, und fragte ihn dann, was er davon denke. Der Inspektor lächelte, als wenn er das alles schon lange dächte, und sich freue, daß man diesen Gedanken aussprach; dabei hatte er aber eigentlich gar nicht verstanden; trotzdem antwortete er:

»Das ist ausgezeichnet! – Sie wollen also Ihre Aecker verpachten und die Rente erheben?«

»Aber nein! Verstehen Sie doch recht! Ich will ihnen meine Aecker vollständig schenken!«

»Dann« – rief der Inspektor und hörte zu lachen auf; »dann erheben Sie also keine Rente?«

»Nein, ich verzichte darauf!«

Der Inspektor stieß einen leisen Seufzer aus, fing aber gleich darauf wieder zu lächeln an. Jetzt hatte er verstanden. Er hatte erkannt, daß Nechludoff ein bißchen verrückt war; sein Projekt war in seinen Augen eine Excentricität, über die er sich nicht einmal mehr wunderte; er dachte nur darüber nach, welchen Nutzen er selbst daraus ziehen könnte. Doch als er kurz darauf merkte, Nechludoffs Absicht könne ihm persönlich nichts nützen, fühlte er sich wieder unangenehm berührt, fuhr aber, um Nechludoff, der sein Herr war, gefällig zu sein, zu lächeln fort.

Als Nechludoff sah, daß der Inspektor ihn doch nicht verstand, ging er in das Bureau und schrieb auf einem alten Tisch den Entwurf seines Projektes nieder.

Inzwischen war die Sonne untergegangen, während der Mond aufging. Schnell schrieb er seinen Plan zu Ende, rief den Inspektor und erklärte ihm, er wünsche nicht, daß die Bauern ins Bureau kämen; er wolle lieber im Dorfe an dem und dem Orte, den sie bestimmen sollten, mit ihnen sprechen; darauf goß er schnell das Glas Thee hinunter, das der Inspektor ihm auftrug, und schlug wieder den Weg nach dem Dorfe ein.

Die Bauern, die sich ziemlich zahlreich im Hofe des Starosten versammelt hatten, unterhielten sich geräuschvoll; doch als sie Nechludoff bemerkten, schwiegen sie und nahmen wie die in Kuzminskoja ihre Mützen ab.

Nechludoff teilte ihnen gleich zu Beginn seiner Rede mit, er hätte den Entschluß gefaßt, ihnen seine Aecker abzutreten. Die Bauern hörten stillschweigend zu, ohne daß ihr Gesicht irgend welche Aufregung verriet.

»Ich bin der Ansicht,« fuhr Nechludoff errötend fort, »daß jedermann das Recht hat, aus der Erde Nutzen zu ziehen.«

»Das ist wahr! Das ist vollständig richtig!« riefen mehrere Stimmen.

Nechludoff setzte seine Rede fort, sagte ihnen, der Ertrag der Erde müsse unter alle geteilt werden und schlug ihnen infolgedessen vor, ihnen gegen eine Rente, die sie selbst bestimmen sollten, und die ein zum gemeinschaftlichen Gebrauch bestimmtes Gesellschaftskapital bilden sollte, seine Aecker abzutreten.

Von neuem ließen sich einige zustimmende Rufe vernehmen, doch die ernsthaften Gesichter der Bauern wurden immer finsterer, und ihre zuerst auf den »Barin« gerichteten Blicke hefteten sich auf den Erdboden, als wenn sie sich gefürchtet hätten, Nechludoff zu beschämen, indem sie ihm zeigten, daß sie seine List durchschaut, und daß sich keiner von ihnen dadurch beschwindeln lassen würde.

»Nun, welchen Preis bietet ihr mir für das Land?« fragte Nechludoff zuletzt.

»Wie kämen wir dazu, einen Preis zu bieten? Das ist unmöglich! Das Land gehört ja Ihnen,« riefen Stimmen aus der Menge.

»Aber ich sage euch doch, ihr sollt von diesem Gelde für eure gemeinsamen Bedürfnisse den Genuß haben!«

»Das können wir nicht thun!«

»So begreift doch!« rief der Inspektor, der hinter Nechludoff hergekommen war und eingreifen zu müssen glaubte. »Ihr versteht also nicht, daß der Fürst euch den Vorschlag macht, er wolle euch das Land für Geld verpachten, doch dieses Geld soll euch gehören und ein Kapital bilden, aus dem ihr alle Nutzen zieht!«

»Wir verstehen den Fürsten vollkommen,« sagte ein alter, zahnloser, kleiner Mann mit brummiger Miene. »Das ist ebenso, als wenn das Geld in eine Bank gelegt würde! Aber inzwischen müßten wir am Verfalltag bezahlen! Und das wollen wir nicht! Es wird uns so schwer genug, durchzukommen! Das wäre unser vollkommener Ruin!«

»Er hat recht! Das ist sicher! Wir wollen lieber wie früher bleiben!« riefen unzufriedene, ja sogar zornige Stimmen.

Doch die Unzufriedenheit wuchs noch, als Nechludoff erzählte, er würde im Bureau des Inspektors einen unterzeichneten Vertrag zurücklassen, den auch die Bauern unterzeichnen sollten.

»Unterzeichnen! Warum sollten wir unterzeichnen? Wie wir jetzt arbeiten, so werden wir auch weiter arbeiten! Wozu soll das alles?«

»Wir können darauf nicht eingehen, weil wir mit solchen Geschäften nicht vertraut sind! Die Dinge mögen so bleiben, wie sie sind! Das verlangen wir, nichts weiter!« riefen einzelne Stimmen.

»So lehnt ihr meinen Vorschlag also ab? Ihr wollt nicht, daß ich euch meine Aecker abtrete?« sagte Nechludoff, und wandte sich an einen Bauern mit leuchtendem Gesicht, der einen geflickten Kaftan trug, barfüßig ging und mit militärischer Haltung seine zerrissene Mütze in der Hand hielt.

»Allerdings, Exzellenz!« versetzte der Bauer.

»So habt ihr also genug Land?« fuhr Nechludoff fort.

»Was für Land? Wir haben gar kein Land«, versetzte der frühere Soldat mit erzwungener Liebenswürdigkeit.

»Thut nichts! Ihr werdet euch das, was ich euch gesagt, überlegen!« erklärte Nechludoff bestürzt und wiederholte ihnen seinen Vorschlag noch einmal.

»Es ist alles überlegt! Es wird alles geschehen, wie wir gesagt haben,« versetzte der zahnlose Greis mit brummiger Miene.

»Ich werde bis morgen hier bleiben! Wenn ihr eure Meinung ändert, sagt es mir!«

Die Bauern antworteten kein Wort, und Nechludoff kehrte traurig ins Schloß zurück.

»Sehen Sie, Fürst,« sagte der Inspektor mit seinem freundlichen Lächeln, »nie werden Sie sich mit ihnen verständigen; diese Sorte ist eigensinnig wie die Maulesel. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt haben, wird sie nichts auf der Welt davon abbringen. Und dann haben sie stets vor allem Furcht. Dabei sind sie aber gar nicht dumm! – Es sind einige darunter, die für Muschiks sehr schlau sind, z. B. dieser Alte, der so laut schrie und Ihr Anerbieten am schroffsten zurückwies! Wenn er ins Bureau kommt, und ich ihn zum Thee einlade, begreift er alles und spricht von allem; es ist ein Vergnügen, sich mit ihm zu unterhalten. Doch in der Versammlung – das haben Sie ja jetzt gesehen – wird er ein ganz anderer Mensch; es ist unmöglich, ihm eine Idee begreiflich zu machen.«

»Aber könnte man denn nicht einige von ihnen, die intelligentesten, hierherkommen lassen?« fragte Nechludoff, »ich würde ihnen die Sache genau auseinandersetzen.«

»Ja, das ginge schon!« erwiderte der Inspektor.

»Nun gut, dann lassen Sie sie gefälligst morgen früh kommen!«

»Nichts leichter als das; morgen früh werden sie hier sein!«

Nechludoff verließ das Bureau und begab sich in das Zimmer, das man ihm für die Nacht hergerichtet hatte.

Die Zurückweisung, die ihm von seiten der Bauern zu teil geworden, betrübte ihn nicht mehr. Im Gegenteil, er fühlte sich seltsam ruhig und fröhlich, obwohl die Bauern ihm hier Unzufriedenheit und sogar Feindseligkeit bezeigt hatten, während sie ihm in Kuzminskoja schließlich noch gedankt.

Da er die Luft im Zimmer erstickend fand, so ging er, in der Absicht, sich in den Garten zu begeben, nach dem Hofe; doch er erinnerte sich der schrecklichen Nacht, des beleuchteten Küchenfensters, des Hinterbalkons im Hause, und fühlte nicht den Mut, die Orte wiederzusehen, die zu viel solcher Erinnerungen für ihn aufwiesen. Er setzte sich auf den Vorderbalkon, betrachtete längere Zeit die dunkeln Flecke der Bäume und lauschte auf das Klappern der Mühle und den Gesang eines Vogels, der ganz in der Nähe in einem Busche pfiff.

Ein Sprichwort sagt, daß die Hähne in fröhlichen Nächten frühzeitig krähen, und diese Nacht war für Nechludoff thatsächlich fröhlich; oder vielmehr sie war mehr als fröhlich, sie war voller Glück und Entzücken. Seine Phantasie ließ die einst in diesem wunderbaren Sommer empfundenen Gefühle wieder aufleben, den er jung und unschuldig an demselben Orte verlebt, und er fühlte sich wieder so werden, wie er früher gewesen war. Er fühlte sich wieder so werden, wie er in dem ganzen glücklichen und schönen Teile seines Lebens gewesen war, als er zu 14 Jahren Gott bat, er möge ihm die Wahrheit enthüllen oder wenn er auf dem Schoße seiner Mutter weinte und ihr zuschwor, er wolle immer gut sein und ihr nie wehe thun. Er fühlte sich wieder so werden, wie er es gewesen war, als er mit seinem Freunde Nikolaus Irteneff beschlossen hatte, sich stets auf dem Wege des Guten gegenseitig Beistand zu leisten und ihr ganzes Leben dem Glück der Menschen zu weihen.

Er erinnerte sich dann, wie ihn in Kuzminskoja eine Versuchung angewandelt hatte, und er sich fast nach seinem Haus, seinen Wäldern, seinem Pachthof und seinen Aeckern zurückgesehnt hatte. Er fragte sich, ob er sich im tiefsten Herzen immer noch danach sehnte. Er sehnte sich jetzt nicht nur nicht mehr danach, sondern begriff auch nicht, wie er dazu hatte imstande sein können. Dann sah er das wieder vor sich, was er im Dorfe gesehen, als er zur Matrena kam. Er sah die junge Mutter, der man den Mann ins Gefängnis geworfen, weil er in seinem Walde einen Baum gefällt; er sah die gräßliche Matrena wieder, die ihm sogar gesagt hatte, es wäre die Pflicht der jungen Mädchen ihrer Klasse, ihrer Herrschaft zu Diensten zu sein. Er erinnerte sich, was ihm die Alte über die Art gesagt, wie die Kinder ins Asyl gebracht würden, und wieder erschien das kränkliche Kind vor seinen Augen. Und von diesem Kinde wandten sich seine Gedanken wieder dem Gefängnis, den rasierten Köpfen, den stinkenden Korridoren und den Zellen zu, und er verglich mit all diesem Elend den blöden Luxus seines eigenen Lebens. Nechludoff erinnerte sich, wie er in Kuzminskoja angefangen, über sich und sein Leben nachzudenken, wie er daran gedacht hatte, was er thun würde und was er anfangen sollte. Er hatte sich Fragen vorgelegt, die er nicht lösen konnte, so viel Gründe waren für und wider vorhanden, so verwickelt und schwierig erschien ihm das Leben. Von neuem legte er sich dieselben Fragen vor, und wunderte sich, daß er sie so einfach fand. Sie waren jetzt einfach für ihn, weil er nicht mehr dachte, was ihm passieren würde, und nur noch daran dachte, was er thun müßte. Und merkwürdigerweise, – so viel Mühe es ihm gemacht hatte, zu bestimmen, was er für sich selbst thun müßte, so klar sah er, was er für die andern thun mußte. Er sah klar, er mußte den Bauern seine Aecker geben, weil die Bauern sie brauchten, und er selbst kein Recht hatte, sie zu besitzen. Er sah klar, daß er Katuscha nicht verlassen durfte, sondern ihr im Gegenteil behilflich sein mußte, auf den Absichten zu verharren, die er beim letzten Male an ihr entdeckt; denn er hatte eine Schuld gegen sie begangen, die er wieder gut machen mußte. Was aus alledem entstehen würde, das wußte er nicht; doch er wußte, daß er die absolute Pflicht hatte, so zu handeln, und diese innige Ueberzeugung erfüllte ihn mit hoher Freude.

Fröhlichen Herzens kehrte er ins Haus zurück und dachte. »Ja, ja! so ist es! der Nutzen meines Lebens, die tiefe Bedeutung dieses Lebens, das höhere Ziel, zu dem wir auf dieser Welt sind, begreife ich nicht und kann es nicht begreifen. Warum haben meine Tanten gelebt? Warum ist Nikolaus Irteneff tot, und warum bin ich am Leben? Warum bin ich Katuscha begegnet? Warum bin ich so lange blind und toll gewesen? Was alles weiß ich nicht; das Werk des Herrn zu begreifen, steht nicht in meiner Macht. Doch seinen Willen zu vollführen, wie er in meinem Herzen geschrieben steht, das liegt in meiner Macht und ich weiß, daß ich das thun muß. Und ehe ich es nicht vollbracht, werde ich keine Ruhe finden!«

Nechludoff kehrte in sein Zimmer zurück, entkleidete sich und legte sich ins Bett; er fühlte einige Unruhe wegen der Wanzen, denn die schmutzige und zerrissene Wandtapete hatte ihm auf den ersten Blick das Vorhandensein derselben verraten.

»Ja, ich muß mich als Diener, nicht als Herr fühlen!« dachte er, und dieser Gedanke erfüllte ihn mit Freude.

Seine Befürchtung war nicht unbegründet; kaum hatte er die Kerze ausgelöscht, als die Tiere ihm schon über den Körper liefen.

»Meine Aecker fortgeben, nach Sibirien gehen; die Flöhe, den Schmutz, die Wanzen, alles werde ich ertragen, da ich es eben ertragen muß!«

Doch trotz seiner schönen Entschlüsse ertrug er sie in dieser Nacht noch nicht. Er stand auf, setzte sich ans offene Fenster und betrachtete lange die schwarzen Wolken, die sich zerstreuten, und den Halbmond, der am Himmel aufstieg.

Nechludoff schlief erst gegen Morgen ein, so daß er am nächsten Tage sehr spät erwachte. Gegen Mittag erschienen die sieben von dem Inspektor ausgewählten Bauern in dem Obstgarten, wo unter den Apfelbäumen zwei aus Brettern gebildete Bänke und ein Tisch standen. Nechludoff hatte große Mühe, die sieben Abgesandten zu veranlassen, ihre Mützen aufzusetzen und sich auf die Bänke zu setzen. Erst als der älteste der Schar, ein breitschultriger Greis von ehrwürdigem Aussehen mit langem, grauem Bart, nach Art des Moses von Michel Angelo mit dichten, grauen Haaren seine große Mütze aufsetzte, seinen neuen Kaftan zuknöpfte und sich setzte, zögerte niemand mehr, seinem Beispiel zu folgen. Als diese Formalität erledigt war, nahm Nechludoff den Bauern gegenüber auf der andern Bank Platz, ergriff das Papier, auf dem er sein Projekt niedergeschrieben und fing an, es vorzulesen und zu erklären. Diesmal empfand er keine Verlegenheit mehr. Unwillkürlich wandte er sich hauptsächlich an den Greis mit dem langen Barte, als wenn er von diesem, mehr als von den andern, Zustimmung oder Tadel erwartet hätte. Doch die hohe Meinung, die er sich von ihm gebildet, war leider eine Täuschung. Der ehrwürdige Greis senkte bald seinen schönen Patriarchenkopf, bald schüttelte er ihn mißtrauisch, wenn er seine Gefährten dasselbe thun sah; im Grunde wurde es ihm ungeheuer schwer, nicht nur Nechludoffs Gedanken, sondern sogar die Bedeutung seiner Worte zu erfassen.

Sein Nachbar verstand Nechludoffs Gedanken weit besser. Er war ein kleiner einäugiger und lahmer Greis, der eine geplättete Nankingjacke, und alte Stiefel an den Füßen trug. Er war seines Standes ein Töpfer, wie er Nechludoff im Laufe der Unterhaltung mitteilte. Neben ihm saß ein anderer, muskulöser und untersetzter kleiner Greis, mit weißem Bart und glänzenden Augen, der jede Gelegenheit benutzte, um ironische und spaßhafte Bemerkungen zu machen; das war augenscheinlich der Schöngeist des Dorfes. Auch der frühere Soldat schien zu verstehen, um was es sich handelte, doch seine Bemerkungen beschränkten sich auf einige alltägliche Formeln. Der ernsthafteste Zuhörer der Gruppe war ein großer Bauer mit langer Nase und kleinem Bart; er verstand alles und sprach nur, wenn er wirklich etwas zu sagen hatte. Von den beiden anderen Anwesenden war der eine der zahnlose Alte, der Nechludoffs Vorschlägen am vorigen Tage am meisten widersprochen hatte; der andere war ein weißhaariger, hochgewachsener Mann mit gutmütigen Augen. Alle beide schwiegen an diesem Tage und begnügten sich, mit großer Aufmerksamkeit zuzuhören. Nechludoff setzte zunächst seine Ideen über das Grundeigentum auseinander und sagte:

»Ich bin der Ansicht, daß man weder das Recht hat, Land zu kaufen, noch zu verkaufen; denn hätte man das Recht, so würden die, die Geld haben, alle Aecker aufkaufen und den andern die Möglichkeit rauben, daraus Nutzen zu ziehen.«

»Das ist wahr!« sagte der Mann mit der langen Nase in tiefem Baßtone.

»Gewiß!« erklärte der frühere Soldat.

»Meine Alte hat für unsere Kühe ein bißchen Gras gepflückt, man hat sie gefaßt und ins Gefängnis gesteckt,« sagte der Schöngeist mit dem weißen Barte.

»Das Land, das man besitzt, ist so groß, wie dieser Garten und anderes zu pachten ist unmöglich,« fuhr er fort. »Man hat die Preise so hoch geschraubt, daß man nicht daran denken darf, wieder zu seinem Gelde zu kommen.«

»Ja,« rief ein anderer, »man schindet uns, wie man will. Das ist schlimmer, als zur Zeit der verstorbenen Fräuleins!«

»Ich denke darüber wie ihr!« sagte Nechludoff, »und betrachte es als eine Sünde, Erde zu besitzen. Darum habe ich mich entschlossen, mich aller meiner Aecker zu entäußern.«

»Wenn die Sache möglich ist, so sagen wir nicht nein,« sagte der Greis mit dem langen Bart, der augenscheinlich verstanden hatte, daß Nechludoff ihnen seine Aecker verpachten wollte.

»Ja, deshalb bin ich hergekommen. Ich will von meinen Aeckern keinen Nutzen mehr ziehen. Doch wir müssen uns noch verständigen, wie ihr davon Nutzen haben könnt.«

»Du brauchst die Aecker ja nur den Bauern zu schenken!« rief der zahnlose Greis plötzlich.

Als Nechludoff das hörte, geriet er einen Augenblick in Verwirrung, denn er fühlte in diesen Worten einen Argwohn hinsichtlich der Ehrlichkeit seiner Absichten. Doch er beherrschte sich gleich wieder und erinnerte sich an seinen Entschluß, alles auszusprechen, was er zu sagen hatte.

»Ich würde gern meine Aecker fortgeben,« fuhr er fort; »aber wem und wie?«

Niemand antwortete, und Nechludoff fuhr fort:

»Hört mich an! Wenn ihr an meiner Stelle wäret, wie würdet ihr es anfangen?«

»Wie wir es anfangen würden? Das ist ganz einfach: Wir würden alles unter die Bauern verteilen,« fuhr der weißbärtige Greis fort, und alle billigten, einer nach dem andern, diese Antwort, die ihnen vollauf befriedigend erschien.

»Doch wie soll man diese Teilung vornehmen?« fragte Nechludoff. »Soll man den Knechten, die nicht bebauen, auch Land geben?«

»Nein, gewiß nicht!« erklärte der Schöngeist, doch der große Bauer mit der langen Nase war nicht seiner Meinung, sondern erklärte nach kurzer Ueberlegung:

»Man muß alles gleichmäßig unter alle verteilen!«

»Nein, das ist nicht möglich,« fuhr Nechludoff fort. »Wenn ich gleichmäßig unter alle teilte, so würden die, die nicht für sich selbst arbeiten, nicht selbst bebauen, ihren Anteil nehmen, ihn den Reichen verkaufen, und das Land würde sich wieder bei den Reichen ansammeln. Was die betrifft, die wirklich bebauen, so würde ihre Familie sich vermehren und die Aecker zerstückelt werden. Weiter würden die Reichen ihre Macht auf diejenigen ausüben, die der Erde zum Lebensunterhalt bedürfen.«

»Man muß eben verbieten, daß jemand Erde verkauft und jeden zwingen, selbst zu bebauen!« rief der Töpfer mit gierigem Blick.

Doch Nechludoff hatte diesen Einwurf vorausgesehen und erklärte, es wäre unmöglich, zu untersuchen, ob einer für eigene Rechnung oder für die eines anderen bebaue; außerdem wäre die gleiche Teilung unmöglich.

»Einer von euch würde gute Erde, der andere Lehm oder Sand bekommen, und ihr möchtet doch alle gute Erde haben.«

Nun machte der große Muschik mit der langen Nase, der klügste der sieben, den Vorschlag, alle sollten gemeinsam bebauen.

»Wer bebaut, soll seinen Anteil haben, und wer nicht bebaut, soll nichts haben«, erklärte er mit seiner klaren und entschlossenen Baßstimme.

Nechludoff erwiderte, er hätte auch daran gedacht, doch um dieses Projekt auszuführen, müßten alle dieselben Pflüge und dieselben Ackergeräte haben, und zwar müßte alles allen gemeinsam gehören; dazu müßten aber alle einig sein.

»Nie werden unsere Leute darüber einig werden,« erklärte der kleine Alte mit der brummigen Miene.

»Das würde gleich eine Prügelei geben,« sagte der weißbärtige Greis mit lachenden Augen. »Selbst die Weiber würden sich schlagen.«

»Ihr seht, die Sache ist nicht so einfach, wie sie zuerst schien!« sagte Nechludoff, »und wir sind nicht die einzigen, die darüber grübeln. Da ist ein Amerikaner, ein gewisser George. Hört, was er erfunden hat; ich denke darüber genau wie er.«

»Du bist der Herr, du kannst nach deinem Belieben schalten! Wir werden wohl auf deine Vorschläge eingehen müssen,« sagte der zahnlose Greis.

Diese Unterbrechung that Nechludoff weh, doch zu seiner großen Befriedigung entdeckte er, daß er sich nicht allein darüber kränkte.

»Verzeihung, Onkel Semen, laß ihn zuerst seine Ideen auseinandersetzen,« sagte der langnasige Bauer, der offenbar der weise Mann der Schar war, mit seiner Baßstimme.

Beruhigt begann Nechludoff, ihnen die Lehre Henry Georges zu erklären und sagte:

»Die Erde gehört niemandem; sie gehört nur Gott!«

»Ganz recht! So ist’s! Das ist recht gesprochen!« riefen mehrere Stimmen.

»Die ganze Erde muß gemeinsam besessen werden! Alle haben darauf ein gleiches Anrecht, doch es giebt gute Erde und weniger gute. Jeder aber möchte gute Erde haben. Wie es nun anfangen, um die Teile gleich zu gestalten? Wer eine gute Erde ausbeutet, muß seinen Ueberschuß mit dem teilen, der eine weniger gute ausbeutet. Da es nun schwer ist, die zu bestimmen, die bezahlen sollen, und wem sie bezahlen sollen und das Geld in unserm jetzigen Leben unerläßlich ist, so ist das Klügste, jeder, der ein Stück Land ausbeutet, zahlt der Gemeinde für die gemeinsamen Bedürfnisse im Verhältnis zu dem, was sein Stück Land wert ist. Auf diese Weise wird Gleichmäßigkeit erzielt werden. Will jemand ein Stück Land ausbeuten, so wird er für eine gute Erde mehr und für eine weniger gute weniger bezahlen. Will er die Erde nicht ausbeuten, so soll er nichts bezahlen, und die, die die Erde ausbeuten, werden für sie die zum gemeinsamen Bedürfnis notwendige Steuer bezahlen.«

»Das ist ein tüchtiger Kopf, dieser Georgy«, rief der Bauer mit dem langen Barte.

»Das ist gerecht,« erklärte der Töpfer, »wer die beste Erde hat, bezahlt am meisten.«

»Wenn wir nur den Preis erschwingen können!« sagte der Langnasige.

»Der Preis muß so berechnet werden, daß er weder zu hoch, noch zu niedrig ist. Ist er zu hoch, so bezahlt man ihn nicht und es entstehen Verlegenheiten; ist er zu niedrig, so kauft jeder dem andern Land ab, und der Schacher beginnt von neue. Das sagt George; und nach seinen Grundsätzen möchte ich mich mit euch verständigen.«

»Ganz recht! Das ist gerecht! Das wollen wir auch!« riefen die Bauern.

»Das ist ein Kopf!« wiederholte der Greis, der dem »Moses« ähnlich sah. »Dieser Georgy! Denkt nur, das hat er alles ersonnen!«

»Und wenn ich nun auch Land haben will?« fragte der Inspektor lächelnd.

»Die Beteiligung steht jedem frei; nehmt und arbeitet!« versetzte Nechludoff.

»Was brauchst du Land? Du bist schon fett genug!« rief der Schöngeist.

So endete die Besprechung. Nechludoff wiederholte noch einmal seinen Plan und fügte hinzu, er verlange keine sofortige Antwort, riet aber den Abgeordneten, sich mit den andern Bauern zu verständigen und ihm dann die Antwort zu überbringen.

Am nächsten Tage feierten die Bauern, und man beriet über den Vorschlag des »Barin«, Doch die Beratungen blieben resultatlos, denn die Gemeinde war in zwei Lager geteilt; die einen hielten die Vorschläge des »Barin« für vorteilhaft und gefahrlos; die anderen sahen darin noch immer eine List, deren Zweck sie nicht zu ergründen vermochten, die ihnen aber darum nur noch gefährlicher erschien.

Trotzdem einigten sie sich aber doch am nächsten Tage dahin, daß sie Nechludoffs Bedingungen annahmen, und die sieben Abgeordneten teilten diesem den Beschluß der Gemeinde mit.

Am letzten Tage seines Aufenthaltes ging Nechludoff in die Gemächer seiner verstorbenen Tanten hinauf, um dort die noch vorhandenen Gegenstände durchzusehen. In der inneren Schublade eines Schränkchens aus Rosenholz entdeckte er ein Päckchen alter Briefe und darunter eine Photographie, auf der eine vor dem Hause stehende Gruppe dargestellt war; Marie Iwanowna, Sophie Iwanowna, Nechludoff im Studentenanzug, und Katuscha waren darauf abgebildet. Von all den Gegenständen, die das Haus enthielt, nahm Nechludoff nur die Briefe und diese Photographie. Den Rest, Möbel, Bilder, Teppiche und Behänge überließ er dem Müller, der dem Inspektor eine große Provision versprochen hatte, wenn er das alles billig bekommen würde.

Wieder erinnerte sich Nechludoff an das Gefühl des Bedauerns, daß er in Kuzminskoja bei dem Gedanken empfunden, auf seine Besitzungen verzichten zu müssen, und fragte sich wieder bestürzt, wie er ein solches Gefühl hatte empfinden können. Jetzt empfand er nur noch ein köstliches Gefühl der Befreiung, in das sich für ihn der Reiz der Neuheit mischte; ein Gefühl, wie es der Entdecker empfinden muß, wenn er nach grausamen Prüfungen endlich ein neues Land erblickt!

Auferstehung – Band 2

Die Maslow blieb einige Augenblicke unbeweglich sitzen, dann erhob sie sich, legte das Brot, das ihr noch geblieben, auf den Wandsims, nahm das Tuch ab, das ihre schwarzen Lockenhaare bedeckte, und ließ sich wieder auf das Bett zurückfallen.

Die alte Bucklige, die mit dem kleinen Jungen am anderen Ende des Saales spielte, trat ebenfalls näher und sagte, mit kläglicher Miene den Kopf schüttelnd:

»Mein Gott! mein Gott!«

Der kleine Junge kam hinter ihr dreingelaufen. Mit offenem Munde und aufgerissenen Augen blieb er vor dem Brote stehen, das die Maslow mitgebracht hatte.

Als diese alle diese besorgten Gesichter sah, wandelte sie gleich die Lust an, zu weinen. Trotzdem hatte sie sich bis zu dem Augenblick bezwungen, da die Alte und der kleine Junge zu ihr getreten waren. Als sie aber den verzweifelten Schrei der Alten vernahm, vor allem aber, als ihre Blicke denen des Kindes begegneten, dessen Augen sich ernsthaft auf die ihrigen richteten, da konnte sie nicht länger an sich halten. Alle ihre Züge zitterten, und sie brach in Thränen aus.

»Ich hatte es dir immer gesagt, wähle dir einen geschickten Verteidiger!« fuhr die Korablewa fort.

»Na, was hast du denn gekriegt? Sibirien?« fügte sie hinzu.

Die Maslow wollte antworten, doch ihre Thränen ließen es nicht zu. Sie holte unter ihrem Hemde ein kleines Päckchen Zigaretten hervor, auf dessen Deckel eine rosige Dame mit hohem Chignon und entblößten Brüsten abgebildet war, und hielt es der Korablewa hin. Diese betrachtete das Bild und schüttelte mißbilligend den Kopf, als wolle sie der Maslow Vorwürfe machen, ihr Geld in so dummer Weise ausgegeben zu haben; dann nahm sie eine Zigarette aus dem Päckchen, zündete sie an der Kerze des Heiligenbildes an, that einen Zug daraus und gab sie der Maslow zurück, die, ohne im Weinen aufzuhören, gierig zu rauchen begann.

»Zwangsarbeit!« sagte sie endlich schluchzend.

»Sie fürchten also nicht mehr Gott, diese verdammten Henkersknechte!« rief die Korablewa. »Sie hatte doch nichts verbrochen! Warum verurteilt man sie denn?«

In demselben Augenblick brachen die vier Weiber, die am Fenster standen, in lautes Lachen aus. Auch das kleine Mädchen lachte; man hörte ihr leises, frisches Lachen, das sich in die schrillen Töne ihrer Gefährtinnen mischte. Jedenfalls hatte einer der Gefangenen eben eine Bewegung gemacht, die diesen geräuschvollen Heiterkeitsausbruch hervorgerufen hatte.

»Na! habt ihr den rasierten Hund gesehen? Habt ihr gesehen, was er gemacht hat?« sagte die Rothaarige, während ihr ganzer dicker, welker Körper zitterte.

»Das hat ein hartes Fell! ’s ist gerade Gelegenheit zum Lachen!« sagte die Korablewa und deutete auf die Rothaarige, dann wandte sie sich wieder zur Maslow:

»Und auf wie lange?«

»Auf vier Jahre,« versetzte die Maslow mit so heftigem Thränenerguß, daß die Eisenbahnwärterin sich verpflichtet glaubte, sie zu trösten.

»So wahr ich es euch sage, es sind Banditen! Und wir waren fest überzeugt, man würde sie freilassen! Tantchen sagte: Man wird sie freilassen! – Nein, Tantchen, sagte ich, glaube mir, sie werden sie fassen! Und ich hatte wirklich recht!« fuhr sie mit ihrer singenden Stimme fort, denn sie hörte sich gern reden.

Während sie ihr Wehklagen fortsetzte, hatten die Gefangenen den Hof passiert. Sobald sie fort waren, traten die vier Frauen, die grobe Worte mit ihnen gewechselt hatten, vom Fenster zurück und näherten sich der Maslow ebenfalls.

»Nun! sie haben dich also verurteilt?« fragte die Frau mit dem Kinde auf dem Arm.

»Sie haben sie verurteilt, weil sie kein Geld hatte!« versetzte die Korablewa. »Hätte sie Geld gehabt, so hätte sie sich einen geschickten Verteidiger genommen, einen Pfiffikus, der sie freigekriegt hätte. Es ist da einer – ich weiß nicht mehr, wie er heißt –, ein Fuchs, der nicht seinesgleichen hat; der hätte dich, das ist so wahr, wie ich es sage – aus dem tiefsten Wasser gezogen, ohne dich naß zu machen! Den hättest du nehmen müssen!«

»Das Schicksal hat es jedenfalls so gewollt,« sagte die gute Alte, die wegen Beihilfe zur Brandstiftung verurteilt worden war. »Glaubt ihr etwa, es sei nicht schrecklich, einen Greis von seiner Frau und seinem Sohne zu trennen und ihm niemand dazulassen, der ihn säubern kann; und mich hat man in meinen alten Tagen hier eingesperrt!«

Zum hundertsten Male erzählte sie, was ihr passiert wäre, und erklärte kopfnickend:

»Seinem Schicksal entgeht niemand!«

Das Weib mit den Kindern hatte sich der Maslow gegenüber auf ihr Bett gesetzt; sie hatte ihren kleinen Jungen auf den Schoß genommen und sagte, während sie ihm die Läuse ablas:

»So geht es immer bei diesen verdammten Richtern. Warum hast du Schnaps verkauft? haben sie mich gefragt. Womit hätte ich mein Kind sonst ernähren sollen?«

Diese Worte erinnerten die Maslow wieder an die Wirklichkeit, und sie sagte, während sie ihre Thränen mit ihrem Hemdärmel trocknete:

»Ich möchte gern ein Glas trinken!«

Ihre große Aufregung hatte sich beruhigt, und man hörte sie nur noch von Zeit zu Zeit schluchzen.

»Du willst Schnaps?« versetzte die Korablewa. »Na, gieb Geld, dann kannst du dich stärken!«

Die Maslow holte aus ihrer Kitteltasche den Schein heraus, den ihr Frau Kitajeff hatte zustecken lassen, und reichte ihn der Korablewa. Diese erkannte, obwohl sie nicht lesen konnte, doch an dem Bilde, daß es ein zwei und ein halber Rubelschein war; doch zur größeren Sicherheit zeigte sie ihn der »Schönheit«, die im Rufe stand, sie wisse alles; dann schleppte sie sich zum Ofen, öffnete die Wärmröhre und holte eine darin versteckte Flasche hervor. Die Maslow erhob sich, klopfte den Staub von ihrem Kittel und ihrem Tuch und fing an, ihr Brot zu verspeisen.

»Ich hatte dir Thee bereitet, doch jetzt ist er kalt,« sagte die Fenitschka und holte von einem über ihrem Bett genagelten Brett eine Theekanne und ein Töpfchen aus Weißblech, die sie in ein Paar Strümpfe gewickelt hatte.

Der Thee war vollständig kalt und schmeckte mehr nach Weißblech, als nach Thee, doch die Maslow trank ihn trotzdem aus und tunkte ihr Brot hinein.

»Da, Fedja, das ist für dich!« rief sie dem kleinen Jungen zu, brach ihr Brot entzwei und gab ihm die Hälfte.

Währenddessen hatten sich die Weiber, deren Betten auf der andern Seite des Saales standen, entfernt. Die Maslow goß sich, sobald sie die Flasche in Händen hatte, einen tüchtigen Schluck ein, trank ihn und bot dann der Korablewa und der »Schönheit« zu trinken an, die mit ihr die Aristokratie des Ortes bildeten, denn sie waren die einzigen, die manchmal Geld hatten.

Einige Minuten später war die Maslow schon wieder ganz lustig und erzählte ihren beiden Gefährtinnen mit großem Schneid, was ihr seit dem Morgen alles passiert war; dabei kopierte sie abwechselnd die Stimme und Gesten des Präsidenten, des Staatsanwaltes und der Verteidiger. Sie sagte, wie sehr es ihr aufgefallen war, daß die Männer ihr den ganzen Tag über nachgelaufen wären. Im Gerichtssaal hatten sie alle lorgnettiert, und nach der Urteilsfällung hätte man sie in der Zelle, in der sie eingesperrt gewesen, angestarrt.

Sie erzählte das lächelnd, mit einem Gemisch von Verwunderung und Eitelkeit.

»Ja, das ist mal so!« erklärte die Eisenbahnwärterin mit ihrer singenden Stimme. Die Männer drängten sich ihrer Meinung nach um die Weiber wie die Fliegen um den Zucker.

»Selbst hier noch,« unterbrach die Maslow lächelnd, »selbst hier ist mir dasselbe passiert. Als ich ins Gefängnis kam, versperrte mir ein Trupp Gefangener, der vom Bahnhof kam, den Weg. Sie verfolgten mich mit solcher Heftigkeit, daß ich nicht weiß, was ich anfangen soll. Zum Glück hat mich ein Aufseher befreit. Namentlich einer war wie toll; ich habe ihn schlagen müssen, um mich von ihm zu befreien!«

»Wie sah er denn aus?« fragte die Schönheit.

»Ganz schwarz, mit rasiertem Kopf und langem Schnurrbart!«

»Das war er sicher!«

»Wer denn?«

»Na, Tschegloff! Er ist eben in den Hof getreten.«

»Was denn für’n Tschegloff?«

»Was? Du kennst Tschegloff nicht? Er ist schon zweimal von der Zwangsarbeit entflohen. Man hat ihn wieder gefaßt, aber er wird doch wieder ausrücken. Selbst die Aufseher haben vor ihm Angst,« fügte die Schönheit hinzu, die oft Schreibereien für das Bureau anzufertigen hatte und mit den geringsten Ereignissen des Gefängnisses Bescheid wußte. »Sicherlich wird der wieder ausrücken!«

»Er wird vielleicht ausrücken, uns wird er aber gewiß nicht mitnehmen,« sagte die Korablewa. »Höre,« fuhr sie dann, sich zu der Maslow wendend, fort, »erzähle uns lieber, was dein Verteidiger dir wegen deiner Berufung gesagt hat. Die mußt du jetzt unterzeichnen.«

Die Maslow erwiderte, davon habe sie im Gerichtsgebäude nichts gehört. In diesem Augenblick näherte sich die Rothaarige, indem sie mit ihren, ganz mit Sommersprossen bedeckten Armen durch ihr dichtes Haar fuhr und sich heftig mit den Nägeln den Kopf kratzte, den drei Frauen, die weiter ihren Branntwein tranken, und sagte zur Maslow:

»Ich werde dir sagen, was du thun mußt, Katharina. Vor allem mußt du eine Bittschrift bei den Richtern und dann beim Staatsanwalt einreichen.«

»Was erzählst du uns da?« fragte die Korablewa mit zorniger Stimme. »Seht doch das Geschmeiß! Sie hat den Schnaps gewittert und will uns Dinge lehren, die sie selbst nicht versteht! Man weiß besser, als du, was man zu thun hat; geh‘ weg; man braucht dich hier nicht!«

»Man spricht nicht mit dir! Worin mischst du dich?«

»Der Schnaps lockt dich wohl, was? Aber für deinen schönen Mund ist er nicht!«

»Na, gieß ihr doch ein Glas ein,« sagte die Maslow, die stets gern verschenkte, was sie hatte.

»Warte nur; du wirst gleich sehen, was ich ihr eingießen werde, wenn sie uns nicht in Ruhe läßt!«

»Was denn! was denn? ich fürchte mich vor dir nicht,« versetzte die Rothaarige und ging auf die Koralewa zu.

»Seht doch diese Lumpenliese!«

»Ich eine Lumpenliese? Du hast die Stirn, mich zu schimpfen, du dreckige Zuchthausbrut!« schrie die Rothaarige.

»Na, du, geh‘, sag‘ ich dir!« versetzte die Korablewa, und schlug der Rothaarigen, als sie im Gegenteil noch einen Schritt vortrat, mit der Faust auf die nackte Brust.

Als hätte sie nur auf diese Herausforderung gewartet, schlug die Rothaarige ihrer Gegnerin mit der Faust heftig auf die Brust, während sie sie mit der andern ins Gesicht zu schlagen versuchte. Die Maslow und die Schönheit bemühten sich, sie festzuhalten, doch sie hatte die Alte so kräftig bei den Haaren gefaßt, daß man sie nicht losreißen konnte. Die Korablewa schlug blindlings auf ihre Feindin los und versuchte, sie in den Arm zu beißen. Alle anderen Weiber des Saales, die sich um sie gesammelt hatten, schrieen und lärmten. Sogar die Schwindsüchtige hatte sich aufgerichtet, um die Prügelei mitanzusehen, und vermischte das Gebell ihres Hustens mit dem Geschrei ihrer Gefährtinnen. Die Kinder weinten, indem sie sich aneinander schmiegten, und der Lärm war so stark, daß die Aufseherin der Frauenabteilung bald herbeigelaufen kam.

Man trennte die beiden Weiber. Die Korablewa lockerte ihre graue Flechte, um die Haare abzuschütteln, die ihr ihre Gegnerin ausgerissen hatte, während diese die Stücke ihres zerrissenen Hemdes auf der gelben Brust zurechtzupfte. Dabei schrieen alle beide und brüllten um die Wette.

»Ja, ja, ich weiß,« sagte die Aufseherin, »an alledem ist der Schnaps schuld. Morgen früh werde ich es dem Direktor sagen; dann werdet ihr ja sehen, was er mit euch machen wird. Na, legt euch mal gleich schlafen, sonst wehe euch! Alles an die Plätze, und Ruhe!«

Doch die Ruhe war nicht so leicht zu erzielen. Noch lange zankten sich die Weiber untereinander, und jede erzählte in ihrer Weise, wie die Sache angefangen hatte. Endlich ging die Aufseherin hinaus, und die Frauen gingen zu Bette. Die alte Bucklige stellte sich vor das Heiligenbild und fing an, Gebete zu murmeln.

»Na, wollt ihr’s glauben, diese beiden Galgenvögel möchten uns gute Lehren geben,« sagte die Rothaarige plötzlich, und erhob die Stimme, um von der Maslow und der Korablewa gehört zu werden, deren Betten am anderen Ende des Saales standen.

»Du, nimm dich in acht, daß ich dir nicht heut‘ abend noch ein Auge ausschlage,« versetzte die Korablewa.

Wieder schwiegen beide, doch von Zeit zu Zeit unterbrach ein kurzer Austausch von Drohungen und Beleidigungen das Schweigen des schlafenden Saales.

Alle Gefangenen lagen im Bette, einige schnarchten schon. Nur die alte Bucklige und die Tochter des Kirchendieners blieben auf. Die Alte, die immer sehr lange betete, verneigte sich noch immer vor dem Heiligenbild; die Tochter des Kirchendieners hatte sich gleich nach dem Verschwinden der Aufseherin wieder aus ihrem Bett erhoben und ging im Zimmer auf und ab.

Die Maslow konnte nicht einschlafen. Sie dachte unaufhörlich daran, daß sie jetzt ein »Galgenvogel« war. Schon zweimal hatte man sie seit einigen Tagen so genannt; die Botschkoff im Gerichtsgebäude und eben die Rothaarige! Sie konnte sich nicht an diesen Gedanken gewöhnen!

Die Korablewa, die sich zuerst zum Schlafen zurechtgelegt, drehte sich plötzlich um.

»Und dabei habe ich nichts gethan!« sagte die Maslow ganz leise. »Die andern thun das Böse, und man sagt ihnen nichts, und ich, ich bin verloren, ohne etwas gethan zu haben!«

»Quäle dich nicht, mein Töchterchen! Man lebt auch in Sibirien! Du wirst dort nicht umkommen!« erwiderte ihr die Korablewa, um sie zu trösten.

»Ich weiß, daß ich nicht umkommen werde; aber die Schande! Ein solches Schicksal hatte ich nicht erwartet! Und dabei bin ich gewöhnt, im Luxus zu leben!«

»Gegen Gott kann niemand,« fuhr die Korablewa seufzend fort. »Gegen ihn kann niemand.«

»Das weiß ich, Tantchen, aber es ist doch trotzdem hart!«

Sie schwiegen.

Auch die Rothaarige konnte nicht schlafen.

»Hör‘ nur, das ist die Lumpenliese!« fuhr die Korablewa nach kurzer Pause fort und machte ihre Nachbarin auf ein seltsames Geräusch aufmerksam, das vom anderen Ende des Saales bis zu ihnen drang.

Das war die Rothaarige, die in ihrem Bette weinte. Sie weinte, weil man sie geschimpft, geschlagen und ihr den Branntwein verweigert hatte, den sie so sehnlichst zu haben wünschte. Sie weinte auch bei dem Gedanken, daß sie ihr ganzes Leben lang nur Schimpfworte, Spott, Demütigungen und Schläge bekommen hatte. Um sich zu trösten, wollte sie an ihre erste Liebe, an das Verhältnis denken, das sie einst mit einem jungen Arbeiter unterhalten; doch gleichzeitig, da sie an den Anfang dieser Liebe dachte, erinnerte sie sich auch, wie sie zu Ende gegangen war. Wieder sah sie die schreckliche Nacht vor sich, da ihr Geliebter ihr im Rausche aus Spaß Vitriol ins Gesicht geschleudert und ihr dann mit seinen Kameraden zugeschaut hatte, wie sie sich vor Schmerzen wand. Eine tiefe Traurigkeit hatte sich ihrer bemächtigt; und da sie glaubte, es höre sie niemand, so hatte sie zu weinen angefangen. Sie weinte, wie die Kinder, indem sie ihre salzigen Thränen hinunterschluckte.

»Sie leidet!« sagte die Maslow.

»Jeder hat sein Leid zu tragen,« versetzte die Alte und drehte sich von neuem um, um zu schlafen.

Neuntes Kapitel

Der Zug der Gefangenen sollte am nächsten Tage um drei Uhr vom Bahnhof abfahren, und Nechludoff nahm sich vor, schon gegen Mittag am Gefängnisthor zu sein, um ihn herauskommen zu sehen und bis zur Eisenbahn zu begleiten. Als er vor dem Schlafengehen seine Papiere ordnete, fiel ihm sein Tagebuch in die Hände, und er konnte sich nicht enthalten, die letzten Sätze noch einmal durchzulesen. Als er nach Petersburg abreiste, hatte er geschrieben: »Katuscha will mein Opfer nicht und beharrt auf dem ihrigen. Sie entzückt mich durch diese innere Veränderung, die sich – ich fürchte mich, es zu glauben – in ihr zu vollziehen scheint. Ich fürchte mich, es zu glauben, doch habe ich die Empfindung ihrer Auferstehung.« Darunter hatte Nechludoff das nächste Mal geschrieben: »Heut‘ habe ich einen großen Schlag zu erleiden gehabt; ich habe erfahren, Katuscha habe sich im Hospital schlecht betragen. Auf der Stelle empfand ich einen furchtbaren Schmerz; nie hätte ich gedacht, die Sache würde mich so tief schmerzen. Ich habe die Unglückliche mit Haß und Ekel behandelt, doch dann habe ich mich erinnert, wie oft ich selbst, wenn auch nur in Gedanken, die Sünde begangen, deretwegen ich sie haßte, und von diesem Augenblick an habe ich mich selbst gehaßt; sie hat mir leid gethan, und ich habe ein wohliges Gefühl empfunden.« Nechludoff ergriff die Feder und fügte bei dem Datum des Tages hinzu: »Ich habe Katuscha heut‘ morgen gesehen, und wieder war ich aus Selbstsucht hart und boshaft gegen sie. Auch zu Natascha war ich boshaft und habe zu ihrem Manne gesprochen, wie ich in keinem Falle hätte sprechen sollen. Das alles lastet mir wie ein Centnergewicht auf der Seele. Doch was thun? Morgen beginnt für mich ein neues Leben. Leb‘ wohl, mein altes Leben, für immer!«

Als er am nächsten Morgen erwachte, war sein erstes Gefühl ein lebhaftes Bedauern über sein Benehmen seinem Schwager gegenüber. »Ich kann die Dinge unmöglich so belassen,« sagte er sich; »ich will zu ihm gehen und ihn um Entschuldigung bitten.« Doch bald bemerkte er, daß er dazu keine Zeit haben würde, wenn er dem Abmarsch des Zuges beiwohnen wollte. Nachdem er schleunigst seine Sachen gepackt und sie von dem Hotelhausknecht nach dem Bahnhof hatte bringen lassen, sprang er in einen Fiaker, um nach dem Gefängnis zu fahren.

Man befand sich in der stärkster Julihitze. Das Pflaster, die Steine der Häuser, das Eisen auf den Dächern, die während der glühenden Nacht nicht hatten erkalten können, vermischten ihre Strahlen mit dem Glanz der Sonne und machten die Luft zum Atmen fast gänzlich ungeeignet. Kein Windhauch, nur auf Augenblicke plötzliche Stöße, die den Leuten Staubwolken in die Augen bliesen. Die meisten Straßen waren leer, hier und da streiften einzelne Passanten an den Häusern entlang und suchten hier ein bißchen Schatten. Trotzdem sah Nechludoff in einer Straße eine Gruppe von Steinpflasterern mitten in der Sonne auf dem Damme sitzen und Pflastersteine in den warmen Sand einlegen.

Als Nechludoff am Gefängnis anlangte, fand er das Thor noch geschlossen. Im Innern war man seit vier Uhr morgens damit beschäftigt, die zur Abreise bestimmten Verschickten zu ordnen und Revue passieren zu lassen. Es waren sechshundertdreiundzwanzig Männer und vierundsechzig Weiber, die, zu zwei und zwei geordnet, nicht im Schatten, sondern gerade in der Sonne standen. Vor der Thür stand wie immer eine Schildwache mit dem Gewehr im Arm. Auf dem kleinen Platze sah Nechludoff zwanzig Wagen, die die Sachen der Gefangenen fortschaffen und auch einige unpäßliche oder kranke Gefangene zum Bahnhof bringen sollten. Er sah ferner noch in einem Winkel eine Gruppe armer Leute, Verwandte und Freunde, die auf den Abmarsch der Gefangenen warteten, um sie noch ein letztes Mal zu sehen und ihnen, wenn möglich, Lebensmittel oder Geld zu verabreichen.

Nechludoff gesellte sich dieser Gruppe zu und blieb fast eine Stunde vor der Thür stehen. Endlich hörte er im Innern des Gefängnisses das Gerassel von Ketten, mit lauter Stimme erteilte Befehle, Husten und das verworrene Gemurmel einer auf dem Platze stampfenden Menschenmenge. Das dauerte fünf Minuten, in denen sich die Aufseher fortwährend an der Thür zeigten, um dann wieder hineinzugehen. Dann öffneten sich plötzlich die beiden Thorflügel, das Klirren der Ketten wurde stärker und ein Detachement von Soldaten in blauen Uniformen bildete einen breiten Halbkreis auf den beiden Seiten des Thores. Dann kamen die Verschickten auf einen neuen Befehl zu zwei und zwei heraus. Zuerst kamen die zur Zwangsarbeit Verurteilten, die alle einförmig in graue Blusen gekleidet waren, flache Mützen auf ihren rasierten Köpfen und jeder einen Sack auf dem Rücken trugen; sie schleppten ihre mit Ketten beschwerten Füße nach und hielten mit der einen freien Hand das äußerste Ende des Sackes, der auf ihrem Rücken hing. Sie kamen mit festem und entschlossenem Schritte, den Arm bewegend, heraus, als wenn sie sich zu einem langen Marsche aufrafften; dann blieben sie, nachdem sie zehn Schritt gegangen waren, stehen und lockerten ihre Reihen. Nach ihnen kamen andere, in gleiche Blusen gekleidete und ebenfalls rasierte Männer, die aber keine Eisen an den Füßen hatten und nur an den Händen gefesselt waren. Das waren die zur Verschickung Verurteilten. Dann kamen in derselben Ordnung die Weiber; zuerst die zur Zwangsarbeit Verurteilten, in grauen Blusen und Kopftüchern; zweitens die Verschickten, und endlich die Weiber, die aus freien Stücken mitreisten, um ihren Männern zu folgen; diese trugen Bauernkleider. Mehrere von den Frauen hatten Kinder auf den Armen. Andere Kinder gingen zu Fuß, zwischen den Reihen zerstreut, wie junge Füllen in einer Pferdeherde. Die Männer rückten schweigend vorwärts und wechselten nur hier und da ein Wort. Dagegen erhob sich aus den Reihen der Weiber ein ununterbrochenes Stimmengewirr.

Nechludoff glaubte die Maslow in dem Augenblick zu erkennen, als sie herauskam, doch bald verlor er sie wieder aus dem Gesicht; er sah nichts weiter als eine verworrene Menge grau gekleideter, gleich erscheinender Geschöpfe, denen man in gleicher Weise ihr menschliches Aussehen geraubt hatte.

Man hatte die Verschickten bereits im Gefängnishofe gezählt, zählte sie aber, als sie herauskamen, zum zweitenmale. Als die Zählung vollendet war, rief der Offizier, der den Zug anführte, einen Befehl aus, und es erhob sich ein gewisser Tumult in der Menge. Die Kranken, Männer wie Frauen, verließen die Reihen und stürzten nach den Wagen, wo sie sich neben ihren Sachen niederließen. Nechludoff bemerkte in diesen Wagen in wirrem Durcheinander Mütter, die ihre Kinder stillten, kleine Jungen und kleine Mädchen und einige kranke Gefangene mit brummiger und düsterer Miene. Andere Gefangene mit unbedecktem Haupte baten den Offizier des Zuges um die Erlaubnis, in die Wagen steigen zu dürfen. Der Offizier that zuerst, als höre er nicht, wandte sich ab und wickelte sich eine Cigarette; doch plötzlich sah Nechludoff, wie er sich mit erhobener Hand zu einem der Gefangenen umwandte, die sich ihm näherten.

»Ich werde dir Wagen geben; du wirst den Weg zu Fuß machen!« schrie der Offizier.

Nur ein langer, am ganzen Leibe zitternder Greis, ein Zuchthäusler, bekam die Erlaubnis, in den Wagen zu steigen. Er nahm seine Mütze ab, schlug das Kreuz und versuchte längere Zeit, selbst hinaufzuklettern, doch es gelang ihm nicht, seine langen, mit Eisen beladenen Beine hoch genug zu heben, bis ein altes Weib ihm von dem Wagen aus heraufsteigen half, indem es ihn beim Arm nahm.

Als die Wagen alle voll waren, nahm der Offizier die Mütze ab, trocknete sich mit dem Taschentuch die Stirn, den kahlen Schädel, seinen dicken roten Hals, schlug das Kreuz und kommandierte:

»Vorwärts, marsch!«

Die Soldaten schulterten das Gewehr, die Gefangenen nahmen ihre Mützen ab und bekreuzigten sich, ein Schrei erhob sich aus den Reihen der Frauen, und der Zug setzte sich, von den Soldaten eingeschlossen, in Bewegung, wobei sich bei jeder Bewegung der gefesselten Linie der Staub erhob. An der Spitze hinter den Soldaten schritten die zur Zwangsarbeit Verurteilten, dann kamen die Verschickten und darauf die Weiber. Hinter dem Zuge der zu vier und vier geordneten Gefangenen kamen langsam die Wagen; auf einem derselben sah Nechludoff eine dicht eingehüllte Frau sitzen, die unaufhörlich schluchzte und heulte. Der Zug war so lang, daß die ersten Reihen schon um die Ecke verschwunden waren, als die Wagen sich in Bewegung setzten.

Nechludoff wartete noch einige Augenblicke, stieg dann wieder in seinen Wagen und befahl dem Kutscher, langsam zu fahren, um die Maslow wiederzufinden und sie fragen zu können, ob sie die Sachen erhalten, die er ihr geschickt hatte. Die Hitze war noch stärker geworden. Die Verschickten gingen sehr schnell und wirbelten dabei eine Staubwolke auf, die um sie herschwebte. Als Nechludoff sich den Frauenreihen gegenüber befand, erkannte er die Maslow sofort. Sie befand sich in der zweiten Reihe in der Nähe der »Schönheit«, Fedoffjas und eines Weibes in anderen Umständen, das nur mit großer Mühe vorwärts kam. Die Maslow ging schnell, sie trug ihre Reisetasche auf dem Rücken und blickte gleichzeitig ruhig und entschlossen vor sich hin. Nechludoff stieg aus dem Fiaker und näherte sich ihr, um mit ihr zu sprechen; doch ein Unteroffizier, der an der Spitze des Zuges marschierte, lief auf ihn zu und rief:

»Es ist verboten, sich den Gefangenen zu nähern!«

Als er dann Nechludoff erkannte, den im Gefängnis jeder kannte, fuhr er mit der Hand nach der Mütze und sagte in ehrerbietigem Tone:

»Excellenz, es ist uns wirklich ausdrücklich verboten! Auf dem Bahnhof können Sie mit ihnen sprechen, aber hier ist es unmöglich!«

Nechludoff trat zur Seite, befahl dem Kutscher, ihm zu folgen und begann neben dem Zuge auf dem Trottoir einherzugehen. Dieser war überall der Gegenstand einer lebhaften Aufmerksamkeit, die sich aus Furcht und Sympathie zusammensetzte. Aus den Wagen beugten sich Köpfe hervor und betrachteten eifrig das schreckliche Schauspiel. Einige traten näher und gaben Almosen, die die Aufseher des Zuges entgegennahmen. Andere folgten den Gefangenen wie hypnotisiert, so weit sie konnten.

Nechludoff ging ebenso schnell, wie die Gefangenen, und obwohl er leicht gekleidet war, wurde ihm die Hitze doch fortwährend qualvoller. Endlich hielt er es nicht mehr aus; nach viertelstündiger Wanderung ging er wieder zu seinem Wagen, stieg hinein und befahl dem Kutscher, vorzufahren. Doch im Wagen erschien ihm die Hitze noch unerträglicher. Er bemühte sich, an seine Unterredung vom vorigen Tage mit seinem Schwager zu denken, doch diese Erinnerung, die ihn noch vor wenig Stunden so heftig aufgeregt, vermochte ihn jetzt nicht mehr zu interessieren. Seine ganzen Gedanken waren dem schrecklichen Schauspiel zugewendet, dem er eben beigewohnt. Vor allem aber erstickte er vor Hitze.

Auf einem kleinen Platze sah er im Schatten der Bäume zwei Gymnasiasten, die neben einem herumziehenden Eisverkäufer standen; der eine, der sein Glas bereits geleert, leckte gierig den kleinen Hornlöffel ab; der andere beobachtete die Bewegungen des Verkäufers, der eben das Glas, das er in der Hand hielt, mit gelbem Eis füllte.

»Wissen Sie, wo man hier in der Nähe etwas trinken könnte?« fragte Nechludoff den Kutscher, denn er verspürte plötzlich einen gräßlichen Durst.

»Zwei Schritt von hier ist ein Wirtshaus, ein sehr schönes Wirtshaus,« sagte der Kutscher, lenkte um eine Straßenecke und fuhr Nechludoff nach einem Hause, an dem ein großes Schild hing. Der Wirt, der in Hemdärmeln am Schenktisch stand, und zwei Kellner in schmutzigen Blusen betrachteten neugierig diesen unbekannten Gast und boten ihm dann ihre Dienste an. Nechludoff bat um Selterswasser und setzte sich in den Hintergrund der Gaststube an einen kleinen, mit einem fettigen Tischtuch belegten Tisch.

Zwei Männer saßen an einem Nebentische und tranken Thee. Der eine war brünett und untersetzt, mit einem dicken, ganz mit schwarzen Haaren bedeckten Nacken, und sah Ignaz Nikophorowitsch ähnlich. Diese Aehnlichkeit erweckte in Nechludoff wieder die Erinnerung an die Unterredung vom vorigen Tage und an seinen Wunsch, seinen Schwager und seine Schwester noch einmal wiederzusehen. »Wie wär’s, wenn ich hinginge?« sagte er sich. »Doch nein, ich würde den Zug verpassen. Es ist besser, ich schreibe einen Brief.« Er bat um eine Feder, Tinte und Papier und dachte, während er das frische und prickelnde Wasser in kleinen Schlucken trank, was er schreiben sollte. Doch seine Ideen verwirrten sich, ohne daß er einen Satz zu finden vermochte.

»Liebe Natascha, ich kann dich nicht unter dem peinlichen Eindruck meiner gestrigen Unterredung mit Ignaz Nikophorowitsch verlassen,« begann er. Doch was sollte er dann weiter sagen? Sollte er für seine Worte vom vorigen Tage um Verzeihung bitten? Doch diese Worte waren der Ausdruck seines Denkens, und sein Schwager konnte glauben, er widerrufe. Und auch diese Manier, sich in seine Angelegenheiten zu mischen! Nein, es war ihm unmöglich, zu schreiben, und er fühlte wieder einmal, wie sein Haß gegen diesen Fremden neu erwachte, der außer stande war, ihn zu begreifen. Nechludoff steckte den angefangenen Brief in die Tasche, bezahlte und stieg wieder in den Fiaker, um sich dem Zuge anzuschließen.

Die Hitze war so gräßlich, daß die Pflastersteine und die Mauern der Häuser einen glühenden Hauch auszuströmen schienen. Als Nechludoff die Hand auf den lackierten Schlag des Wagens legte, hatte er die Empfindung einer richtigen Brandwunde.

Das Pferd schleppte sich schwerfällig über das staubige Pflaster, der Kutscher schlummerte, und auch Nechludoff starrte, von der Hitze betäubt, ohne an etwas zu denken, vor sich hin. An einer Straßenecke bemerkte er plötzlich vor einem Thorweg eine Gruppe von Männern, unter denen ein Soldat des Zuges mit dem Gewehr im Arm stand. Er gab dem Kutscher ein Zeichen, anzuhalten und fragte den Portier des Hauses:

»Was giebt’s?«

»Es ist einer der Gefangenen!«

Nechludoff stieg vom Wagen und näherte sich der Gruppe. Auf den ungleichen Pflastersteinen, hart am Trottoir, lag, mit dem Kopf nach unten, ein Gefangener, ein kleiner Mann mit rotem Gesicht und rotem Bart. Auf den Rücken ausgestreckt, die Daumen weit ausgespreizt, hob sich ruckweise seine breite Brust; er seufzte und schien mit seinen unbeweglichen, blutunterlaufenen Augen den Himmel zu betrachten. Um ihn herum standen ein Polizist mit sorgenvoller Miene, ein Hausierer, ein Postillon, ein Ladenkommis, ein altes Weib mit einem Sonnenschirm und ein kleiner Junge mit einem leeren Korb.

»Erst haben sie sie durch die Einsperrung schwach gemacht, und dann lassen sie sie in der Hitze marschieren,« sagte der Ladenkommis, sich zu Nechludoff wendend.

»Er wird sicher sterben!« sagte das alte Weib mit klagender Stimme.

»Schnell! Macht ihm die Brust frei!« schrie der Postillon.

Mit seinen dicken, zitternden Fingern begann der Polizist, das Band abzuknöpfen, das das Hemd verschloß, so daß der adrige und rote Hals des Gefangenen freilag. Er war anscheinend bewegt und traurig, hielt es aber trotzdem für unbedingt erforderlich, die Anwesenden auszuschelten.

»Vorwärts, weitergehen! Was macht ihr da? Ihr hindert ja, daß die Luft zu ihm kommt!«

»Der Arzt ist verpflichtet, alle vor dem Abmarsch aus dem Gefängnis zu untersuchen, und die kranken Gefangenen müssen in die Wagen gesetzt werden, und nun zwingen sie sie, die Reise zu Fuß zu machen,« fuhr der Kommis fort, der sich freute, seine Kenntnis der Gefängnisordnung zeigen zu können.

Nachdem der Polizist dem Gefangenen die Brust entblößt, richtete er sich wieder auf und ließ die Augen umherschweifen.

»Weitergehen, sage ich euch! Das ist nicht eure Sache, ihr könnt nichts dazu thun,« sagte er, sich an den Soldaten wendend, als wenn er an dessen Zustimmung appellieren wollte; doch dieser blieb, seine Stiefel betrachtend, abseits stehen, und die Aufregung des Polizisten schien ihn vollständig kühl zu lassen.

»Die, deren Sache es ist, thun ihre Pflicht nicht; steht es etwa im Gesetz, daß man Leute umkommen lassen soll?«

»Jawohl, auch ein Gefangener ist ein Mensch,« sagten Stimmen in der immer zahlreicher werdenden Gruppe.

»Richten Sie ihm den Kopf auf und geben Sie ihm Wasser,« sagte Nechludoff.

»Ich habe schon Wasser holen lassen,« versetzte der Polizist, hob den Gefangenen am Arm hoch, und es gelang ihm mit Anstrengung, ihm den Kopf auf die Bordschwelle zu legen.

»Was soll das heißen?« rief plötzlich eine gebieterische, rauhe Stimme, und man sah mit zorniger Miene einen Polizeileutnant in glänzender Uniform und hohen, noch glänzenderen Stiefeln herangestürmt kommen. »Weitergehen, aber schnell!« fuhr er, sich an die Menge wendend, fort, ehe er überhaupt noch sah, was eigentlich vorging.

Als er den unglücklichen Gefangenen auf den Steinen liegen sah, machte er ein Zeichen mit dem Kopfe, als wollte er andeuten, er habe noch ganz andere Dinge gesehen, wandte sich dann an den Polizisten und fragte ihn, wie der Unfall passiert wäre.

Der Polizist erzählte ihm, der Gefangene wäre beim Vorüberziehen des Trupps niedergestürzt, und der Offizier hätte den Befehl gegeben, ihn liegen zu lassen.

»Na, dann muß man ihn zur Wache bringen! Man hole einen Fiaker!«

»Sofort, sobald der Portier zurück ist,« sagte der Polizist und fuhr mit der Hand nach der Mütze.

Inzwischen hatte der Kommis wieder von der Hitze zu sprechen angefangen.

»Ist das deine Sache? Geh‘ deines Weges!« erklärte der Polizeileutnant und warf ihm einen so strengen Blick zu, daß der Kommis sofort schwieg.

»Man muß ihm Wasser zu trinken geben,« wiederholte Nechludoff.

Auch auf ihn warf der Polizeileutnant einen strengen Blick, doch da er einen gutgekleideten Mann erkannte, so wagte er nichts zu sagen. Als der Portier mit einem Eimer Wasser zurückkam, befahl der Polizeileutnant dem Wachmann, dem Gefangenen zu trinken zu geben. Der Polizist hob dem Unglücklichen von neuem den Kopf und bemühte sich, ihm das Wasser in den Mund zu gießen, doch der Sterbende weigerte sich, das Wasser zu trinken, und dieses floß über seinen Bart und machte ihm die Jacke und sein staubiges Hemd naß.

»Gieße ihm den Eimer über den Kopf!« befahl der Polizeileutnant.

Der Polizist nahm dem Gefangenen die Mütze ab und goß das Wasser auf seinen kahlen Schädel mit den spärlichen roten Haaren. Der Unglückliche riß entsetzt die Äugen auf, doch sein Körper blieb unbeweglich. Das mit Staub vermischte Wasser floß sein Gesicht hinunter; doch sein Mund stieß noch immer qualvolle Seufzer aus, und plötzlich schüttelte ihn ein heftiges Zittern vom Kopf bis zu den Füßen.

»Da ist gerade ein Fiaker! Setzt ihn hinein!« rief der Polizeileutnant und deutete auf Nechludoffs Wagen, »Heda! Du! Komm‘ mal näher!«

»Ich bin nicht frei,« versetzte der Kutscher.

»Es ist mein Fiaker,« erklärte Nechludoff; »doch Sie können ihn nehmen. Ich bezahle alles!« fügte er, zu dem Kutscher gewendet, hinzu.

»Na, dann los, aber fix!«

Der Polizist, der Portier und der Soldat hoben den Sterbenden hoch, trugen ihn in den Fiaker und setzten ihn auf die Kissen. Doch er war außer stande, sitzen zu bleiben; sein Kopf fiel nach hinten über und sein ganzer Körper rollte auf die Bank.

»Man lege ihn hin!« befahl der Polizeileutnant.

»Seien Ew. Gnaden nur unbesorgt; ich werde ihn schon so hinbringen,« erklärte der Polizist, setzte sich in den Wagen und packte den Gefangenen beim Arm, während der Soldat ihm die Beine ausstreckte. Der Polizeileutnant bemerkte auf dem Pflaster die Mütze des Gefangenen, hob sie auf und setzte sie ihm auf den nassen Kopf, der fortwährend von einer Schulter auf die andere fiel.

»Marsch!« kommandierte er.

Der Kutscher peitschte auf sein Pferd los und fuhr in Begleitung des Soldaten nach der Polizeiwache. Der Polizist versuchte im Wagen vergeblich, dem Gefangenen den Kopf aufzurichten, der stets wieder auf eine Schulter zurückfiel. Nechludoff folgte dem Wagen zu Fuß.

Sobald der Wagen vor der Thür der Polizeiwache hielt, umringten mehrere Polizisten den Gefangenen, der während der Fahrt gestorben war, und packten ihn bei den Armen und Beinen. Zehn Minuten später, als Nechludoff erschien, war man im Begriff, den Leichnam ins Lazarett zu schaffen. Das Lazarett war ein kleines, unsauberes Zimmer mit vier Betten; in zweien derselben lagen Kranke, ein Schwindsüchtiger und ein Mann mit verbundenem Kopf und Hals. Auf eins der beiden andern Betten legte man den Toten. Ein kleiner Mann mit glänzenden Augen und unaufhörlich beweglichen Brauen trat schnellen Schrittes an des Bett, betrachtete erst den Toten und dann Nechludoff und brach in lautes Lachen aus. Es war ein Wahnsinniger, den man bis zur Ueberführung in ein Irrenhaus hier untergebracht hatte.

»Sie wollen mir Furcht einjagen,« sagte er. »Aber nein, es wird ihnen nicht gelingen.«

Gleich darauf sah Nechludoff einen Polizeileutnant und einen Lazarettgehilfen eintreten. Der letztere näherte sich ebenfalls dem Bett, ergriff die gelbe, noch warme und weiche Hand des Toten, hob sie hoch und ließ sie wieder fallen.

»Der hat sein Teil,« erklärte er kopfschüttelnd, was ihn aber nicht hinderte, dem Reglement entsprechend, dem Toten die noch nasse Brust zu entblößen und aufmerksam das Ohr daran zu drücken. Alle schwiegen. Der Lazarettgehilfe richtete sich wieder auf, schüttelte wieder den Kopf und schloß die weit offenstehenden blauen Augen des Toten.

»Sie jagen mir keine Angst ein, nein, Sie jagen mir keine Angst ein,« wiederholte der Wahnsinnige während dieser ganzen Zeit, indem er an die Erde spuckte.

»Nun?« sagte der Polizeileutnant.

»Na, man muß ihn in die Totenkammer bringen,« erklärte der Lazarettgehilfe.

»Man bringe ihn in die Totenkammer!« befahl der Leutnant. »Und du komm‘ ins Bureau, um deinen Bericht abzustatten,« sagte er zu dem Soldaten, der bei dem seiner Obhut anvertrauten Gefangenen stehengeblieben war.

Vier Polizisten ergriffen den Toten und trugen ihn ins Erdgeschoß. Nechludoff wollte ihnen eben folgen, als der Irrsinnige ihn aufhielt.

»Nicht wahr, Sie sind nicht mit ihnen im Einverständnis? Na, dann geben Sie mir eine Cigarette!«

Nechludoff gab ihm eine Cigarette, und der Wahnsinnige begann, ihm alle Verfolgungen zu erzählen, die man ihn erdulden ließ.

»Sie sind alle gegen mich und quälen mich Tag und Nacht!«

»Entschuldigen Sie mich,« sagte Nechludoff und verließ, ohne das Ende der Erzählung abzuwarten, das Zimmer, denn er wollte sehen, was man mit dem Toten anfing. Die Polizisten hatten schon den ganzen Hof durchschritten und waren vor einer Kellerthür stehengeblieben. Nechludoff wollte sich ihnen anschließen, doch der Polizeileutnant hinderte ihn daran.

»Was wünschen Sie?«

»Nichts,« versetzte Nechludoff.

»Sie wünschen nichts? Nun, dann gehen Sie Ihrer Wege!«

Nechludoff drehte sich um und ging zu seinem Fiaker zurück. Der Kutscher schlief auf dem Bock, Nechludoff weckte ihn und sagte ihm, er solle nach dem Bahnhof fahren. Doch noch hatte er keine hundert Schritt zurückgelegt, als er, wieder von einem Soldaten des Zuges begleitet, einer Telega begegnete, auf der ein anderer, bereits toter Gefangener lag. Der Gefangene lag auf dem Rücken; Nechludoff konnte ihn in aller Ruhe betrachten. Ein so nichtssagendes Gesicht der erste Tote gehabt, so schön war dieser an Körper und Gesicht. Es war ein Mann in der Blüte der Jahre. Unter seinem halbrasierten Schädel bemerkte man eine energische, an der Nasenwurzel sich wölbende Stirn. Seine bereits blauen Lippen lächelten unter einem feinen Schnurrbart, und auf der rasierten Seite des Kopfes erschien ein Ohr von sehr reiner Zeichnung. Der Ausdruck des Gesichts war gleichzeitig ruhig, streng und gütig. Und nicht allein das Gesicht bewies, daß möglicherweise moralisches Leben in diesem Manne verloren gegangen war, sondern auch die feinen Knöchel seiner gefesselten Hände und Beine, die allgemeine Harmonie und Kraft der Glieder, alles deutete darauf hin, welch schönes, starkes und kostbares menschliches Geschöpf er gewesen war. Und jetzt hatte man ihn getötet, und es beweinte ihn nicht nur niemand als Menschen, nein, man beweinte auch nicht einmal ein so wunderbares, umsonst zu Grunde gerichtetes Arbeitsinstrument in ihm! Denn Nechludoff sah wohl in den Augen der begleitenden Polizisten, daß das einzige Gefühl, das dieser Tote in ihnen wachrief, der Aerger über die Anstrengung und Plackereien war, die derselbe im Gefolge hatte.

Er stieß einen tiefen Seufzer aus und setzte traurig seine Fahrt zum Bahnhof fort.

Als Nechludoff zum Bahnhof kam, waren sämtliche Gefangene schon in den Waggons mit den vergitterten Fenstern untergebracht. Auf dem Perron standen etwa zwanzig Personen, die Verwandten oder Freunden Lebewohl sagen wollten; sie warteten darauf, daß man ihnen erlaubte, sich den Waggons zu nähern. Die Aufseher des Zuges liefen mit zerstreuter Miene hin und her. Auf dem Wege durch die Stadt waren fünf Gefangene vor Hitze gestorben; drei waren unterwegs verschieden und die beiden andern auf dem Bahnhof. 1 Daß die fünf Männer, die ihrer Obhut anvertraut gewesen, gestorben waren, das kümmerte sie wenig, obwohl die geringste Vorsicht genügt hätte, sie am Leben zu erhalten. Darum kümmerten sie sich wenig, sie kümmerten sich nur darum, daß sie auch alle vom Reglement in solchem Falle vorgeschriebenen Formalitäten erfüllten, die Toten in die Hände der kompetenten Behörden ablieferten, alle ihnen gehörigen Gegenstände beiseite legten und die Namen auf der Liste der nach Nowgorod gebrachten Gefangenen ausstrichen; das alles verursachte ihnen große Verlegenheit, die die erdrückende Hitze noch qualvoller gestaltete.

Sie liefen also aufgeregt nach rechts und links und hatten beschlossen, niemand an die Waggons heranzulassen, bevor nicht alles in Ordnung gebracht war. Trotzdem erhielt Nechludoff die Erlaubnis, näherzutreten; er erhielt dieselbe dadurch, daß er einem der Unteroffiziere des Zuges einen Rubel gab, und dieser bat ihn nur, nicht allzu lange zu bleiben, so daß er von dem Offizier nicht gesehen wurde.

Der Zug bestand aus achtzehn Waggons, die sämtlich, mit Ausnahme des für die Offiziere bestimmten Waggons, mit Gefangenen buchstäblich voll gestopft waren. Als er an den Waggonfenstern vorüberkam, hörte Nechludoff überall Kettengerassel, Gezänk und mit Schimpfworten vermischte Worte; doch nirgends sprach man von den Gefährten, die auf dem Wege umgefallen waren. Die Unterhaltung und das Gezanke betraf hauptsächlich das Gepäck der Gefangenen, die Wahl der Plätze und die Möglichkeit, etwas zum Trinken zu bekommen.

Nechludoff war neugierig genug, einen Blick in einen der Waggons zu werfen. Er sah im Mittelgange zwei Gensdarmen stehen, die den Gefangenen die Handfesseln abnahmen. Abwechselnd hielten die Gefangenen die Hände hin; einer der Aufseher öffnete mit einem Schlüssel den Riegel, der die Handfesseln festhielt, während der andere sie abzog und forttrug.

Nach den für die Männer reservierten Waggons kam Nechludoff zu denen, wo die Weiber eingesperrt waren. In dem ersten dieser Waggons hörte er eine heisere Stimme, die in eintönigem Rhythmus stöhnte: »Ach, Väterchen, ach Väterchen!«

Der Unteroffizier hatte gesagt, die Maslow müsse sich im dritten Waggon befinden. Kaum hatte sich Nechludoff dem Fenster dieses Waggons genähert, als er einen dicken Schweißgeruch verspürte, der ihn einen Augenblick zwang, den Kopf abzuwenden. Im Waggon summte es förmlich von kreischenden und gellenden Stimmen. Auf allen Bänken saßen Weiber in bloßen Haaren, mit aufgeknöpften Jacken und rotem, schweißgebadetem Gesicht; sie schwatzten und keiften unter lebhaften Bewegungen. Nechludoffs Erscheinen hatte bald ihre Aufmerksamkeit erregt. Die, die dem Fenster zunächst saßen, schwiegen plötzlich und riefen dann die Maslow, die auf der andern Seite des Waggons saß und die blonde und lächelnde Fedossja neben sich hatte. Sobald sie Nechludoff bemerkte, stand sie auf, zog das Tuch, das sie eben abgenommen, wieder über ihre schwarzen Haare und lief, mit ihrem ganzen roten und belebten Gesicht lächelnd, zum Fenster, dessen dicke Eisenstäbe sie mit den Händen ergriff.

»Ist das eine Hitze!« sagte sie mit fröhlicher Miene.

»Haben Sie die Sachen bekommen?«

»Ja, ich danke Ihnen!«

»Sie brauchen nichts weiter?« fragte Nechludoff, von der entsetzlichen Hitze, die aus dem Waggon kam, halb betäubt.

»Nein, ich danke, ich brauche nichts!«

»Frage, ob man nichts zu trinken bekommen könnte,« sagte Fedossja schüchtern.

»Ach ja, wir möchten gern etwas trinken,« wiederholte die Maslow.

»Hat man Ihnen kein Wasser gegeben?«

»Doch, einen vollen Krug; aber wir haben nicht alle getrunken!«

»Ich werde darüber gleich mit dem Aufseher sprechen,« sagte Nechludoff. »Jetzt werden wir uns erst in Nischni-Nowgorod wiedersehen!«

»Fahren Sie denn auch dahin?« rief die Maslow und that, als wüßte sie das nicht. Dabei richteten sich ihre Augen mit tiefer Freude auf Nechludoff.

»Ja, ich fahre mit dem nächsten Zuge!«

Die Maslow antwortete kein Wort, seufzte und schlug die Augen zu Boden.

»Ist es wahr, Barin, daß zwölf Gefangene unterwegs gestorben sind?« fragte eine der Gefangenen, eine alte Bäuerin mit scharfgeschnittenen Zügen.

»Ich habe nicht gehört, daß es zwölf sind, doch zwei habe ich selbst fortbringen sehen,« versetzte Nechludoff.

»Ja, man sagt, es wären zwölf. Wird man diesen Henkern denn gar nichts thun?«

»Und bei den Frauen ist nichts vorgekommen?« fragte Nechludoff.

»Wir Frauen haben ein zäheres Leben,« versetzte eine andere Gefangene lachend, »Doch eine Frau hat sich’s einfallen lassen, Geburtswehen zu bekommen, als sie hierherkam. Da, hören Sie sie stöhnen?« fügte sie hinzu und deutete mit dem Finger auf den nächsten Waggon.

»Sie haben mich gefragt, ob ich nichts brauche,« sagte die Maslow und bemühte sich, ihr fröhliches Lächeln beizubehalten. – »Nun denn, kümmern Sie sich nicht darum, uns zu trinken zu verschaffen; doch vielleicht könnten Sie den Führern dieses Zuges sagen, man solle diese Unglückliche ins Hospital transportieren, denn sie stirbt sicher, wenn man sie zwingt, die Reise fortzusetzen!«

»Ja, ich werde darüber sprechen!«

Nechludoff entfernte sich, um Fedossjas Gatten, den man endlich an den Waggon herangelassen, den Platz abzutreten. Doch lange mußte er auf dem Perron hin und her laufen, ohne jemand zu finden, an den er sich wenden konnte. Die Aufseher des Zuges schienen jeden Augenblick mehr zu thun zu haben. Die einen beschäftigten sich damit, Gefangene unterzubringen, andere kauften Lebensmittel für die Reise oder brachten ihre Sachen in den Waggons unter; andere drängten sich wieder um eine Dame, die Frau eines Offiziers, die ihrem Manne folgen wollte. Kein einziger hatte Zeit, auf Nechludoff zu hören.

Der zweite Glockenschlag war bereits erklungen, als Nechludoff endlich den Führer des Zuges bemerkte. Der dicke Offizier trocknete sich gerade den Schweiß von der Stirn und gab einem Adjutanten Befehle.

»Wünschen Sie etwas?« fragte er Nechludoff.

»In einem der Waggons kommt eine Frau nieder, und ich habe gedacht …«

»Sie kommt nieder? Nun gut, lassen Sie sie doch!« sagte der Offizier und lief mit seinen kurzen, dicken Beinen nach seinem Waggon.

In demselben Augenblick setzte der Zugführer die Pfeife an den Mund. Ein letztes Glockenläuten folgte dem Pfiff, und man hörte, wie sich lautes Abschiedsgeschrei gleichzeitig aus den Waggons und auf dem Perron erhob. Nechludoff, der auf dem Perron stand, sah, wie die schweren Waggons, an deren Fenstern zwischen den Gitterstäben die rasierten Schädel der Gefangenen erschienen, einer nach dem andern an ihm vorüberzogen. Dann kam der erste Frauenwaggon, dann ein anderer, dann der Waggon, in welchem die Maslow saß. Das junge Weib stand noch am Fenster und warf Nechludoff einen letzten Blick zu, zugleich mit einem traurigen Lächeln, das ihn tief rührte.

  1. In Moskau starben vor einigen Jahren fünf Gefangene auf der Fahrt von ihrem Gefängnis bis zum Bahnhof von Nischni-Nowgorod infolge übermäßiger Hitze.