Am Tage nach seinem Besuche bei Maslinnikoff kehrte Nechludoff ins Gefängnis zurück, um Katuscha wiederzusehen. Der Direktor gestattete ihm, sie zu sehen, aber im Frauensprechzimmer, nicht mehr im Bureau, und auch nicht in dem kleinen Advokatenzimmer, wo die letzte Zusammenkunft stattgefunden hatte.

»Ja, Sie können sie einen Augenblick sehen,« sagte der Direktor, »aber was das Geld betrifft, so werden Sie sich an meine Worte erinnern, nicht wahr? … Was ihre Versetzung zum Krankendienst anbelangt – Se. Excellenz der Vicegouverneur hat mir die Ehre erwiesen, mir darüber zu schreiben, so ist die Sache möglich, und der Arzt willigt ein. Doch sie selbst will es nicht! Sie sagt, »sie habe nicht nötig, den Aussätzigen die Nachttöpfe auszuleeren«. Ach, Fürst, man sieht, Sie kennen diese Sorte nicht!«

Nechludoff antwortete nicht und ging nach dem Frauensprechzimmer, Der Direktor gab einem Aufseher den Befehl, die Maslow zu holen. Das Sprechzimmer war leer, als Nechludoff dasselbe betrat; doch kaum befand er sich einige Minuten dort, als sich die Thür öffnete und die Maslow schüchtern und schweigsam auf ihn zutrat. Sie schüttelte ihm die Hand, setzte sich neben ihn und sagte, ohne ihn anzusehen, fast leise:

»Verzeihen Sie mir, Dimitri Iwanowitsch! Ich habe vor drei Tagen recht schlecht zu Ihnen gesprochen!«

»Nicht an mir ist es, zu verzeihen,« begann Nechludoff.

»Aber trotzdem müssen Sie mich verlassen,« fuhr sie fort.

»Weshalb soll ich Sie verlassen?«

»Es muß sein, das ist alles!«

»Wie, das ist alles?«

»Nun denn,« sagte sie endlich; »Sie müssen aufhören, sich um mich zu kümmern; ich sage es Ihnen, wie ich es denke! Ich kann es nicht ertragen! Sie werden aufhören, sich um mich zu kümmern,« fuhr sie mit bebenden Lippen fort. »Das ist die reine Wahrheit! Lieber hänge ich mich auf!«

»Katuscha,« versetzte er in ernstem und festem Tone; »was ich gesagt, erhalte ich aufrecht! Ich bitte dich, verheirate dich doch mit mir! Wenn du dich weigerst, so werde ich doch bei dir bleiben, dir folgen und mit dir gehen, wohin man dich führen wird!«

»Das ist Ihre Sache, ich sage Ihnen nichts weiter,« antwortete sie, und ihre Lippen zitterten von neuem. Auch er schwieg, denn er fühlte nicht mehr die Kraft zum Reden, doch endlich faßte er wieder Mut und sagte:

»Katuscha, ich gehe jetzt aufs Land, um einige Angelegenheiten zu regeln; dann gehe ich nach St. Petersburg, um mich mit deiner Berufung zu beschäftigen, und so Gott will, werde ich deine Verurteilung annullieren lassen.«

»Das ist mir gleich, ob man sie annulliert oder nicht! Ob mir eins passiert oder das andere; das Resultat bleibt stets dasselbe!«

Sie hielt inne, und Nechludoff glaubte zu sehen, daß sie mit Mühe ihre Thränen zurückhielt.

»Nun,« sagte sie nach ziemlich langer Pause, »nun, haben Sie Mentschoff gesprochen? Nicht wahr, die Leute sind unschuldig? Nicht wahr, das ist doch klar? Ich würde die Hand dafür ins Feuer legen!«

»Ja, ich glaube, daß sie unschuldig sind!«

»Wenn Sie wüßten, was für eine wunderbare alte Frau sie ist!«

Er erzählte ihr alles ausführlich, was er über Mentschoff erfahren, und fragte sie dann, ob sie nichts brauche.

– »Nein, absolut nichts!« –

Von neuem trat eine Pause ein, dann fuhr sie fort:

»Ach, und was den Krankendienst betrifft, so werde ich es thun, wenn Sie’s wünschen! Und ich will auch versuchen, keinen Schnaps mehr zu trinken…«

Ohne etwas zu sagen, blickte ihr Nechludoff ins Auge. Er sah, daß ihre Augen lächelten.

»Das ist gut, das ist recht gut!«

Mehr zu sagen, fand er nicht die Kraft.

»Ja, ja, sie kann sich ändern,« dachte er. Nach den Zweifeln der vorhergegangenen Tage empfand er jetzt ein ihm ganz neues Gefühl, das Gefühl des Vertrauens auf die Allmacht der Liebe.

Als die Maslow in den stinkenden Saal zurückkehrte, zog sie ihre Jacke aus und setzte sich, die Hände auf die Kniee stützend, auf ihr Bett.

Der Saal war fast leer; nur die Schwindsüchtige, die Mutter mit dem Säugling, die Eisenbahnwärterin und die alte Mentschoff befanden sich darin. Die Tochter des Kirchendieners hatte man am vorigen Tage als irrsinnig ins Lazarett gebracht. Die übrigen Weiber waren im Waschhause.

Die Alte schlief auf ihrem Bett; die Kinder spielten im Korridor; die Eisenbahnwärterin trat ans die Maslow zu und fragte:

»Na, hast du ihn gesprochen?«

Die Maslow antwortete nicht.

»Nun, nun, weine nur nicht,« fuhr die Eisenbahnwärterin fort; »die Hauptsache ist, nicht den Mut zu verlieren. Also, Mut, Katjuschka, Mut!«

In demselben Augenblick hörte man im Korridor ein lautes Geräusch von Schritten und Stimmen, und die Insassinnen des Saales zeigten sich mit nackten Füßen auf der Schwelle; eine jede trug ein Brot unterm Arm. Fedossja lief zur Maslow und fragte:

»Nun, ist etwas Schlimmes passiert? Wart‘, ich werde dir deinen Thee bereiten!«

»Will er dich nicht mehr heiraten?« fragte die Korablewa.

»Nein, ich will nicht! ich habe ihm erklärt, ich wolle nicht!«

»Ist das eine Gans!« sagte die Korablewa mit ihrer Baßstimme.

»Nein, sie hat ganz recht,« erklärte Fedossja. »Wozu sich verheiraten, wenn man nicht zusammen leben kann?«

»Aber dein Mann geht doch auch mit dir ins Zuchthaus,« sagte die Eisenbahnwärterin.

»Bei meinem Mann ist das etwas anderes. Wir waren verheiratet, als man mich verhaftete; mich band das Gesetz. Aber wozu soll sie sich verheiraten, wenn er doch nicht mit ihr lebt?«

»Schweig, du Närrin! Wozu? Wenn er sie heiratet, würde er sie mit Gold überschütten!«

»Er hat mir gesagt: ›Wohin man dich auch schickt, ich gehe mit dir!‹« sagte die Maslow. »Er wird es auch sicher thun. Aber mich kümmert’s wenig, ob er kommt oder nicht! Ich habe ihn jedenfalls nicht darum gebeten. Jetzt reist er nach St. Petersburg und will sich mit meiner Angelegenheit beschäftigen. Er ist dort mit allen Ministern verwandt! Aber trotzdem brauche ich ihn nicht! Es wäre besser, er ließe mich in Ruhe!«

»Das ist eine merkwürdige Geschichte,« sagte die Korablewa in zerstreutem Tone. »Na, und wie ist es jetzt mit’n bißchen Schnaps?«

»Nein, ich danke,« versetzte die Maslow, »Aber trinkt ihr nur; ich werde ihn bezahlen!«