Als Nechludoff vom Land zurückkam, machte die Stadt einen ganz besonders unangenehmen Eindruck auf ihn. Er kam abends an und begab sich gleich in sein Haus. Alle Zimmer waren von einem starken Naphtalingeruch durchsetzt, und Agrippina Petrowna und Kornej schienen beide gleichzeitig unzufrieden und müde; sie hatten sich sogar am Nachmittag wegen ihrer Arbeit gezankt, die übrigens nur darin bestand, die Teppiche und Kleidungsstücke auszubreiten, trocknen zu lassen und wieder fortzuschließen.
Nechludoffs Schlafzimmer war verhältnismäßig nicht allzusehr in Unordnung; doch man hatte verabsäumt, es für die Nacht in Stand zu setzen, und so standen Koffer, die den Durchgang hinderten, vor der Thür. Offenbar hatte Nechludoff durch seine Rückkehr das große Unternehmen der Reinigung gestört, die schon seit Wochen mit außergewöhnlicher Langsamkeit im Hofe vorgenommen wurde. Das alles erschien Nechludoff, im Vergleich zu dem Elend, das er eben bei den Bauern gesehen, so blöd und lächerlich, daß er das Haus schon am nächsten Morgen zu verlassen beschloß, um sich im Hotel niederzulassen, wobei er Agrippina Petrowna ihre Bestimmungen nach ihrem eigenen Gutdünken treffen ließ. Thatsächlich ging er am nächsten Morgen frühzeitig aus, wählte zwei kleine möblierte Stuben von bescheidenstem Aussehen in dem ersten Wirtshause, das er auf dem Wege zum Gefängnis traf, ließ seinen Koffer, den er schon am vorigen Abend gepackt, hierherbringen und machte sich zu dem Advokaten auf den Weg.
Der Morgen war kalt. Auf die Stürme und Regengüsse war Frost gefolgt, wie er gewöhnlich zu Beginn des Frühlings eintritt. Die Temperatur war so frisch und der Wind so scharf, daß Nechludoff in seinem zu leichten Ueberzieher fröstelte und schneller ging, um sich zu erwärmen.
Seine Erinnerung wurde von dem, was er auf dem Dorfe gesehen, heimgesucht; er sah wieder diese Weiber, Kinder und Greise, dieses Elend und diese Abspannung, die er zum erstenmale entdeckt; er sah ganz besonders das arme, elende Kind, das ihm auf den Armen seiner Mutter so kläglich zugelächelt und unaufhörlich seine fleischlosen Beine bewegte; und unwillkürlich verglich er diese Erinnerungen mit dem, was er rings umher sah. Als er an den Läden der Gewürzkrämer, der Schlächter, der Fischhändler und der Konfektionsgeschäfte vorüberkam, fiel ihm das wohlgenährte Aussehen dieser Kleinbürger und der Unterschied dieses Aussehens mit dem der Bauern auf. Ebenso wohlgenährt erschienen ihm die Kutscher der herrschaftlichen Wagen mit ihren ungeheuren Schenkeln, auf denen sich riesige Goldknöpfe breit machten, die Portiers in galonnierter Livree, die Kammerzofen in weißen Schürzen mit den gebrannten Haaren, ja, sogar die Fiakerkutscher erster Klasse, die auf den Kissen ihrer Wagen lagen und zerstreut die Vorübergehenden anstarrten. Doch unter dieser wohlgenährten Miene erkannte Nechludoff jetzt in ihnen dieselbe Sorte Menschen, die er auf dem Lande gesehen. Durch den Mangel an Erde aus ihrem Dorfe verjagt, hatten sie es verstanden, sich den Bedingungen des Stadtlebens anzupassen, sie waren Bürger geworden, freuten sich dessen und waren stolz darauf; doch wie viele andere gab es, die der Mangel an Erde ebenfalls aus ihrem Dorfe gejagt, die weniger Glück gehabt, und die sich in viel erbärmlicherer Lage befanden, als wie sie sie bei sich zu Hause nicht zu ertragen vermocht! So z. B. die Schuhmacher, die an den Fenstern eines Kellers auf das Leder schlugen; die mageren und blassen Wäscherinnen mit den wirren Haaren, die an den geöffneten Fenstern, denen ein erstickender Seifengeruch entströmte, Wäsche plätteten; ferner zwei Häuseranstreicher, an denen Nechludoff vorüberkam und die barfüßig und von Kopf bis Fuß mit Farbe bespritzt durch die Straße marschierten. Die Aermel bis über die Ellenbogen aufgekrempt, trugen sie einen großen Eimer voller Farbe und schrieen sich fortwährend Schimpfworte zu. Ihre Gesichter drückten ein Gemisch von Müdigkeit und schlechter Laune aus. Denselben Ausdruck las er auf den Gesichtern der Fiakerkutscher zweiter Klasse, die zitternd vor Kälte auf ihren Böcken saßen; denselben Ausdruck las man ferner auf den Gesichtern der zerlumpten Männer, Weiber und Kinder, die an den Straßenecken um Almosen bettelten. Doch nirgends fand Nechludoff diesen Ausdruck so auffallend, als auf den Gesichtern, die er an den Fenstern der Kneipen bemerkte, an denen er vorüberkam. An schmutzigen Tischen voller Flaschen und Gläser saßen Gruppen von Männern, die mit schweißgebadeten Gesichtern und flammenden Wangen schrieen oder sangen. An einem Fenster sah Nechludoff einen jener Unglücklichen, der mit hochgezogenen Augenbrauen und geöffnetem Munde gerade vor sich hinstarrte, als wenn er sich an etwas erinnern wollte.
»Aber warum haben sich denn alle in der Stadt versammelt?« fragte sich Nechludoff, während er unwillkürlich mit der Frische des Windes einen widrigen Oelgeruch einatmete, der den Neubauten entströmte.
In einer Straße stieß er auf Lastkutscher, die Eisenstangen fuhren und das Pflaster unter heftigem Eisengeklapper erbeben ließen. Dieser betäubende Lärm verursachte ihm Kopfschmerzen. Er lief, um die Lastfuhrwerke zu überholen, als er plötzlich mitten im Geklapper der Eisenstangen seinen Namen rufen hörte.
Er blieb stehen und bemerkte einen korpulenten, elegant gekleideten Mann mit rotem Gesicht und hochgedrehtem Schnurrbart, der in einem Fiaker erster Klasse saß, ihm freundschaftliche Zeichen mit der Hand machte, ihm zulächelte und dabei Zähne von ungewöhnlicher Weiße zeigte.
»Nechludoff? Du bist’s?«
Der erste Eindruck Nechludoffs war der des Vergnügens.
»Sieh da, Tschembok!« rief er fröhlich, erkannte aber schon im nächsten Augenblick, daß für ihn kein Grund zu solcher Freude vorlag.
Es war derselbe Tschembok, der ihn am Tage, nachdem er Katuscha verführt, von seinen Tanten abgeholt. Nechludoff hatte ihn seit langer Zeit aus dem Gesicht verloren; doch man hatte ihm gesagt, auch Tschembok habe das Regiment verlassen, lebe aber trotz seines Mangels an Vermögen und trotz seiner Schulden – man wußte nicht recht, wie – noch immer in der reichen Gesellschaft. Die Eleganz seiner Kleidung und der befriedigte Ausdruck seiner Züge bewiesen Nechludoff, daß man ihn nicht getäuscht hatte.
»Das ist aber ein Glück, daß ich dich treffe! Auf Ehrenwort, es ist niemand mehr in der Stadt. Ach, mein Lieber, du bist aber alt geworden,« sagte der ehemalige Offizier, aus dem Wagen steigend. »Denke dir, ich habe dich nur an deinem Gange erkannt! Wir speisen zusammen, nicht wahr? Wo kann man denn hier anständig essen?«
»Ich fürchte, ich kann deinen Vorschlag nicht annehmen,« versetzte Nechludoff, der nur nach einem Vorwand suchte, sich von seinem Kameraden zu verabschieden, ohne ihn zu verletzen. »Und du? was thust du hier?« fuhr er fort.
»Ich, mein Lieber, ich bin hier in Geschäften! In Sachen meines Mündels, Denn du weißt doch, ich bin Vormund! Ich verwalte Samanoffs Güter. Du kennst doch den reichen Samanoff? Denke dir, er ist gehirnweich! 54+000 Dessjatinen Land!« fügte Tschembok mit ganz eigentümlichem Lächeln hinzu. »Das Ganze war in einer jammervollen Unordnung! Die Bauern hatten sich die Aecker angeeignet; sie bezahlten nicht, und das Defizit war ungeheuer! In einem Jahre habe ich alles wieder in Stand gesetzt, und die Güter bringen jetzt 70 Prozent mehr. Na, was sagst du dazu?« fragte er mit noch stärker ausgeprägtem Stolze.
Nechludoff erinnerte sich, daß man ihm diese Geschichte allerdings erzählt. Gerade, weil er sein ganzes Vermögen vergeudet und bis an den Hals in Schulden steckte, war Tschembok gewählt worden, um das Vermögen eines alten kindisch gewordenen Millionärs zu verwalten.
»Wie kann ich ihn nur los werden, ohne ihn zu verletzen?« dachte Nechludoff und betrachtete dieses rote und aufgedunsene Gesicht, in welchem ein von Kosmetik glänzender Schnurrbart prangte.
»Na, wo wollen wir speisen?«
»Heut‘ ist es mir wirklich unmöglich,« sagte Nechludoff und zog seine Uhr.
»Wirklich? Na, dann höre! Heut‘ nachmittag findet ein Rennen statt. Du kommst doch?«
»Nein, unmöglich!«
»Aber doch, aber doch, du mußt kommen. Ich habe keine eigenen Pferde mehr, aber Grischin leiht mir eins von seinen. Weißt du, er hat einen prachtvollen Stall! Es ist also abgemacht, du kommst und wir soupieren zusammen!«
»Auch das kann ich dir nicht versprechen,« versetzte Nechludoff lächelnd.
»Dann also auf ein andermal! Und wo gehst du jetzt hin? Soll ich dich begleiten?«
»Danke! ich gehe zu meinem Advokaten, ganz hier in der Nähe.«
»Ach ja, du verbringst ja jetzt dein Leben in den Gefängnissen! Du besorgst Gänge für die Gefangenen! Ja, ich weiß, die Kortschagins haben es mir erzählt,« sagte Tschembok lachend. »Weißt du, daß sie schon abgereist sind? Na, erzähle mir die Sache doch!«
»Ja, ja, das ist alles wahr,« versetzte Nechludoff. – »Aber es ist eine ziemlich verwickelte Geschichte, die sich nicht so auf der Straße erzählen läßt!«
»Ach, alter Junge, du bleibst also immer noch ein Original? Aber gleichviel, ich erwarte dich heut‘ abend nach dem Rennen!«
»Unmöglich, wirklich unmöglich! Du bist mir doch nicht böse?«
»Keine Idee! Das Wetter wird jetzt kalt, nicht?«
»Ja, ja!«
»Na, denn auf das Vergnügen, dich wiederzusehen! Ich habe mich gefreut, dich zu treffen,« sagte Tschembok, schüttelte Nechludoff kräftig die Hände, und sprang in den Wagen, von dem aus er mit seiner weißbehandschuhten Rechten liebevoll winkte, während ein freundschaftliches Lächeln von neuem seine langen, zu weißen Zähne zeigte.
»So bin ich also gewesen?« fragte sich Nechludoff, während er seinen Weg zum Hause des Advokaten fortsetzte. »Ach, bei mir war es noch schlimmer, denn mir ist es nie gelungen, so zu sein, und doch habe ich gehofft, so zu werden und mir eingebildet, ich würde mein ganzes Leben in dieser Weise fortsetzen.«