Auch Nechludoff war frühzeitig aufgestanden. Als er seine Wohnung verließ, um sich nach dem Gefängnisse zu begeben, schien die ganze Stadt noch zu schlafen. Nur ein Bauer fuhr mit seinem Karren von Thür zu Thür und rief mit dumpfer Stimme: »Milch, Milch, Milch!«

Der erste warme Frühlingsregen war in der Nacht gefallen. Ueberall, wo das Pflaster es nicht erdrückte, wuchs das Gras. Die Birken hatten sich in den Gärten mit frischem Grün geschmückt, die Maulbeerbäume und Pappeln zeigten ihre langen, duftigen Blätter. Auf den Straßen wurden langsam die Thüren geöffnet; doch auf dem Trödelmarkt, über den Nechludoff gehen mußte, waren schon viele Menschen. Männer und Frauen drängten sich um die in Reihen aufgestellten Zelte, betasteten, maßen und feilschten um die Jacken, Westen und Hosen.

Auch in den Schenken waren schon Leute. Man sah hier Arbeiter in sauberen Jacken und leuchtenden Stiefeln, die hocherfreut schienen, den Anstrengungen der Fabrik für einen Tag entfliehen zu können; mehrere waren von ihren Frauen begleitet, die seidene Kopftücher in auffallenden Farben und mit Glasperlen garnierte Jackets trugen. Polizisten in großer Uniform, mit Pistolen im Gürtel, standen unbeweglich an den Straßenecken und warteten auf irgend einen Auflauf, der ihnen die Langeweile ein bißchen vertrieb. In den Alleen der Boulevards und auf dem noch feuchten Rasen der öffentlichen Plätze liefen Kinder und Hunde spielend umher, während die in Gruppen auf ihren Bänken sitzenden Ammen laut schwatzten. Ueberall in den Straßen erklang der Ton und das Echo der Glocken, das sich mit dem Lärm der über das Pflaster rollenden Wagen vermischte und die Menge zu einem ähnlichen Gottesdienst rief, wie der, der in der Kapelle abgehalten wurde. Einzelne Fußgänger schlugen, sonntäglich gekleidet, den Weg nach der nächsten Kirche ein.

Als Nechludoff nach dem Gefängnis kam, war dasselbe noch geschlossen.

Auf einem kleinen Platze, etwa hundert Schritt von der Thür, stand eine Gruppe von Männern und Frauen, von denen die meisten Pakete in der Hand hielten. Rechts von dem Platze erblickte man ein niedriges Holzgebäude, links zeigte sich ein zweistöckiges Haus mit einem Schilde. Im Hintergrunde sah man den ungeheuren steinernen Eingang des Gefängnisses, vor dem ein Soldat mit dem Gewehr auf der Schulter Wache hielt. Vor dem Schalter der Holzbaracke saß ein Aufseher, der eine gallonierte Uniform trug und ein Register auf den Knieen hielt. An ihn wandten sich die Besucher, um die Namen der Gefangenen, die sie zu sprechen wünschten, einschreiben zu lassen.

Nechludoff näherte sich ihm und sagte: »Die unverehelichte Katharina Maslow!« Dann fügte er fragend hinzu: »Warum läßt man die Leute denn nicht eintreten?«

»Die Messe wird gerade abgehalten,« versetzte der Aufseher, »sobald sie zu Ende ist, können Sie hinein!«

Nechludoff näherte sich der Gruppe der Besucher, aus der in demselben Augenblick ein in Lumpen gekleideter Mann mit nackten Füßen und einem von roten Furchen durchzogenen Gesicht trat, der sich bis zum Thor des Gefängnisses schlich.

»Höre mal, wo willst du denn hin?« rief ihm der Soldat zu und fuhr mit der Hand nach dem Gewehr.

»Na, was hast du denn so zu brüllen?« versetzte der Mann, indem er langsam umkehrte, ohne sich über das Geschrei des Soldaten weiter aufzuregen. »Du willst mich nicht ‚reinlassen? Nun gut; dann werde ich warten. Hat man je einen Menschen so brüllen hören? Als wenn der Herr ein General wäre!«

Ein zustimmendes Lachen begleitete diesen Scherz. Die Besucher waren meistenteils schlecht gekleidete arme Leute, andere waren sogar ganz zerlumpt; nur einige wenige Männer und Frauen waren elegant gekleidet. Neben Nechludoff stand ein sorgfältig rasierter dicker Mann mit rosigem Gesicht, im Gehrock, der ein schweres Paket in der Hand trug, das Wäsche zu enthalten schien. Nechludoff fragte ihn, ob er zum erstenmale nach dem Gefängnis käme. Nein, der Mann mit dem Paket war schon sehr oft gekommen und kam jeden Sonntag. Er erzählte Nechludoff seine ganze Geschichte. Er war Portier in einem Bankhause, und der Gefangene, den er besuchte, war sein Bruder, der wegen Fälschung verurteilt worden.

Gerade, als der brave Portier, der über sich alles gesagt, Nechludoff ausfragen wollte, wurde ihre Aufmerksamkeit durch eine Mietskutsche abgelenkt, aus der ein junger Student und eine Dame in hellem Kleide stieg. Der Student hielt ein dickes Paket in der Hand, ging auf Nechludoff zu und fragte ihn, ob er wohl glaube, daß man ihm gestatten würde, den Gefangenen eine Ration Weißbrot zu geben, das sein Paket enthielte. »Meine Braut hat diese Idee gehabt; diese junge Dame dort ist meine Braut; ihre Eltern haben uns erlaubt, den Gefangenen dies hier herzubringen.«

»Ich komme selbst zum erstenmal her und kenne die Gebräuche des Ortes nicht, glaube aber, Sie thun gut, sich dorthin zu wenden,« versetzte Nechludoff und deutete mit dem Finger auf den galonnierten Aufseher, der vor seinem Register saß.

Plötzlich öffnete sich die äußere Thür des Gefängnisses, und man sah einen Offizier in Gala-Uniform, der von einem Aufseher begleitet wurde, der einige Worte leise mit seinem Vorgesetzten wechselte und dann erklärte, die Besucher könnten eintreten.

Die Schildwache trat zur Seite, und alle drängten sich dem Gefängnisthor zu, als fürchteten sie, zu spät zu kommen.

Hinter der Thür stand ein Aufseher, der die Besucher, die an ihm vorüberschritten, mit lauter Stimme zählte. Einige Schritte weiter im Hintergrunde des ersten Korridors stand wieder ein Aufseher, der alle Personen, die an ihm vorüberkamen, am Arm faßte, bevor er sie durch eine kleine Thür gehen ließ, und sie von neuem zählte, damit man sich beim Ausgang davon überzeugen konnte, daß kein einziger Besucher im Gefängnis geblieben und kein einziger Gefangener dasselbe verlassen hatte. Dieser Aufseher, der mit seiner Berechnung viel zu sehr beschäftigt war, um sich die Gesichter anzusehen, mit denen er zu thun hatte, schlug Nechludoff, als dieser vorüberkam, heftig auf die Schulter, worüber er sich trotz seiner vortrefflichen Absichten doch etwas ärgerte.

Die kleine Thür führte in ein großes gewölbtes Zimmer mit Eisenbeschlägen an den Fenstern. Nechludoff durchschritt es langsam und ließ die eilige Flut der Besucher an sich vorüber. Er empfand gleichsam ein Gefühl des Widerwillens gegen die in diesem Gefängnis eingesperrten Verbrecher, ein Gefühl des Mitleids für die Unschuldigen, die, wie Katuscha und der Angeklagte vom vorigen Tage, mit ihnen zusammen dort eingesperrt waren, und ein Gefühl des Stolzes und der Freude bei dem Gedanken an die Heldenthat, die er vollbringen wollte.

Am andern Ende des großen Saales sagte ein Aufseher etwas zu den Besuchern, die an ihm vorüberzogen. Doch Nechludoff, der in seine Gedanken versunken war, hörte nicht auf ihn und folgte weiter der vor ihm herschreitenden Gruppe. So kam er nach dem Männersprechzimmer, während er sich doch hatte nach dem Frauensprechzimmer begeben wollen.

Als er als letzter in das Sprechzimmer trat, war er zuerst von einem betäubenden Lärm betroffen, den eine große Reihe gleichzeitig sprechender Stimmen hervorbrachte. Die Ursache dieses Lärmes erkannte er erst, als er in die Mitte des Saales gelangte, wo die Menge der Besucher wie ein Schwarm Fliegen auf einem Stückchen Zucker sich vor einem Gitter zusammendrängte.

Der Saal war von einem Doppelgitter, das von der Erde bis zur Decke hinanstieg, in zwei Hälften geteilt. Zwischen den beiden Gittern lag ein Raum von ungefähr drei Arschin, in welchem Soldaten auf und ab gingen. Auf der einen Seite standen die Gefangenen, auf der andern Seite die Besucher. Sie waren durch zwei Gitter und einen leeren Raum von drei Arschin getrennt, so daß es dem Besucher nicht nur schwierig war, den Gefangenen etwas zu geben, sondern sogar sie zu sehen. Ebenso schwierig war es, von einer Gruppe zur andern zu sprechen. Man mußte, um sich verständlich zu machen, aus Leibeskräften schreien. Da sich aber jeder verständlich machen wollte und eine Stimme die andere übertönte, so war jeder gezwungen, noch lauter als die andern zu brüllen. Daher kam der merkwürdige Lärm, der Nechludoff beim Eintritt in den Saal aufgefallen war.

Die einzelnen Worte zu verstehen, daran war nicht zu denken. Nur an den Gesichtern konnte man die Gegenstände, von denen die Rede war, und die Beziehungen, die zwischen den Gefangenen und ihren Besuchern bestanden, erraten.

Ganz in Nechludoffs Nähe stand eine kleine alte Frau mit einem Taschentuch auf dem Kopf, die sich an das Gitter drängte und einem jungen Manne, einem Sträfling mit halbrasiertem Kopfe, etwas zurief; der junge Mann zog die Stirne kraus und schien mit größter Aufmerksamkeit zuzuhören. Dann kam der zerlumpte Mann, der vorhin die Menge vor der Thür so belustigt hatte; er sprach mit einem Freunde, machte heftige Bewegungen, schrie und lachte. Neben ihm sah Nechludoff eine saubergekleidete Frau auf der Erde sitzen, die ein Kind auf den Armen hielt und weinte und schluchzte, ohne auch nur die Kraft zu haben, die Augen auf den Sträfling zu richten, der mit halbrasiertem Kopfe und Eisen an den Füßen an der andern Seite des Gitters ihr gegenüberstand.

Als Nechludoff erkannte, er würde sich auch mit Katuscha unter denselben Bedingungen unterhalten müssen, wandelte ihn ein heftiger Haß gegen die Menschen an, die eine solche Qual hatten erfinden und gestatten können. Entsetzen packte ihn bei dem Gedanken, daß eine so gräßliche Einrichtung, ein so grausamer Schimpf den heiligsten Gefühlen gegenüber noch niemand vor ihm empört hatte. Mit Entrüstung sah er, daß die Soldaten und der Aufseher, ja, die Gefangenen selbst sich darin fügten, sich in dieser Weise zu unterhalten, als wäre das ganz natürlich und unvermeidlich.

Nechludoff blieb so einige Minuten im Banne einer tiefen Schwermut stehen, in die sich der Ekel vor allem Möglichen und das Gefühl seiner eigenen Schwäche mischten.

»Trotzdem muß ich das thun, weshalb ich hierhergekommen bin,« sagte sich Nechludoff, »doch an wen soll ich mich wenden?«

Er suchte mit den Augen den Aufseher des Saales und entdeckte ihn schließlich unter der Menge. Es war ein kleiner, magerer Mann mit Offiziersepauletten an seiner Uniform. Nechludoff trat auf ihn zu und sagte mit erzwungener Unterwürfigkeit:

»Verzeihung, mein Herr, können Sie mir nicht sagen, wo die Frauenabteilung ist und an wen ich mich wenden muß, um dort jemand zu sprechen?«

»Sie wollen nach dem Frauensprechzimmer?«

»Ja, ich möchte eine Frau sprechen!«

»Warum haben Sie das nicht gleich in dem ersten Saale gesagt, als man Sie danach fragte?«

Dann wurde er ruhiger:

»Wen wollen Sie denn sprechen?«

»Die unverehelichte Katharina Maslow!«

»Eine politische Gefangene?«

»Nein, sie ist nur …«

»Na, was denn? Eine Angeklagte oder eine Verurteilte?«

»Ja, seit vorgestern verurteilt,« versetzte Nechludoff in sanftem Tone, denn er fürchtete, durch eine zu heftige Bemerkung die gute Laune zu zerstören, die er bei dem Aufseher zu bemerken geglaubt, und thatsächlich schien seine Sanftmut den schrecklichen Menschen zu rühren.

»Ich werde Sie in das Frauensprechzimmer bringen lassen, obwohl es mir verboten ist, jemand vor dem Signal hier hinausgehen zu lassen. Aber ein andermal irren Sie sich gefälligst nicht wieder!«

»Sidoroff,« rief er einem ganz mit Medaillen behangenen Aufseher zu, »komm‘ mal hierher und führe den Herrn ins Frauensprechzimmer.«

Der Aufseher öffnete die Thür, die doppelt verschlossen war, ließ Nechludoff in den Korridor treten, führte ihn wieder in den großen gewölbten Saal und dann durch einen andern Korridor in das Frauensprecchzimmer.

Dieses Sprechzimmer war wie das andere durch zwei Gitter in drei Teile geteilt, und obwohl es bedeutend kleiner und die Zahl der Besucher geringer war, so war das Geschrei hier vielleicht noch betäubender. Auch hier stand die Behörde zwischen den beiden Gittern, doch diesmal wurde sie von einer Aufseherin verkörpert, ebenfalls in Uniform mit Galons auf den Aermeln, blauen Aufschlägen und einem Gürtel von derselben Farbe. Ganz wie in dem andern Sprechzimmer klammerten sich auf der einen Seite die in der verschiedensten Weise gekleideten freien Besucher an das Gitter; auf der andern standen die Gefangenen, meistens im weißen Kleide mit weißen Kopftüchern. Auf der ganzen Breitseite des Gitters war nicht ein freies Plätzchen, und auf der Seite der Besucher war das Gedränge so groß, daß sich mehrere Frauen auf die Fußspitzen stellen mußten, um über die Köpfe der vor ihnen stehenden Personen hinwegzuschreien.

Als Nechludoff sich ein wenig an den Lärm des Saales gewöhnt hatte, wurde seine Aufmerksamkeit von der langen und mageren Gestalt einer Zigeunerin erregt, die im Mittelpunkte des Gitters auf der Seite der Gefangenen mit hastigen Bewegungen und einer kreischenden Stimme einem Besucher in blauer Jacke, ebenfalls einem Zigeuner, der auf der andern Seite stand, etwas erklärte. Neben diesem Zigeuner stand ein junger Bauer mit blondem Knebelbart, der sich unter heftigem Erröten bemühte, seine Thränen zurückzuhalten; er lauschte auf die Worte, die eine ihm gegenüberstehende hübsche Gefangene zu ihm sprach, die ihn zärtlich mit ihren großen blauen Augen betrachtete. Das war Fenitschka mit ihrem Gatten.

Nechludoff betrachtete die Gesichter der Gefangenen, die sich gegen das Gitter lehnten; die Maslow war nicht darunter. Doch hinter der ersten Reihe verborgen, stand eine Frau, und Nechludoff sah, daß sie das war. Der Atem stockte ihm in der Brust und das Herz klopfte ihm stärker. Die entscheidende Minute nahte.

Er trat bis zum Gitter vor, bahnte sich mit Mühe einen Weg und heftete seinen Blick auf die Maslow.

Sie stand hinter der Bäuerin mit den blauen Augen und schien lächelnd auf ihre Unterhaltung mit ihrem Manne zu lauschen. Anstatt des grauen Kittels, den sie am vorigen Abend trug, war sie ganz weiß gekleidet. Unter ihrem Kopftuch erschienen die reizenden Locken ihrer schwarzen Haare.

»Ich muß einen Entschluß fassen,« dachte Nechludoff, »Aber wie soll ich sie anrufen? Wenn sie mich doch sehen und von selber kommen möchte!«

Sie kam aber nicht auf diesen Gedanken, denn sie glaubte stets, Bertha oder Klara auftauchen zu sehen, und vermutete nicht, daß dieser elegante Besucher ihretwegen gekommen war.

»Wen wünschen Sie zu sprechen?« fragte die Aufseherin Nechludoff und blieb bei ihm stehen.

»Katharina Maslow!« versetzte Nechludoff, der nur mit großer Mühe sprechen konnte.

»Heda, Maslow!« rief die Aufseherin, »da ist jemand für dich!«

Die Maslow drehte sich plötzlich um, erhob den Kopf, streckte die Brust vor und näherte sich mit jenem Ausdruck des Eifers, den Nechludoff früher an ihr gekannt, dem Gitter, nachdem sie zwischen zwei Gefangenen durchgeschlichen war. Dann begann sie Nechludoff mit einem Gemisch von Ueberraschung und Erstaunen zu betrachten, erkannte ihn aber noch immer nicht. Doch schnell erriet sie in ihm nach seiner Kleidung einen reichen Mann und lächelte ihm zu.

»Sie sind meinetwegen gekommen?« fragte sie und drückte ihre lächelnden, etwas schielenden Augen an das Gitter.

»Ja, ich wollte …«

Nechludoff hielt inne, denn er wußte nicht, ob er »Sie« oder »du« zu ihr sagen sollte. Endlich entschloß er sich zum »Sie« …

»Ich wollte Sie sehen … ich …«

»Du langweilst mich mit deinen Geschichten,« rief ein neben ihm stehender Besucher, »hast du’s genommen, ja oder nein?«

»Alle Tage kränker; sie stirbt,« rief man von der andern Seite.

Die Maslow konnte von dem, was ihr Nechludoff sagte, nichts verstehen. Doch am Ausdruck seines Gesichts erkannte sie ihn, während er sprach. Oder sie glaubte vielmehr ihn zu erkennen, denn einen Augenblick später sagte sie sich, sie hätte sich geirrt. Das Lächeln verschwand von ihren Lippen und in ihrer Stirn blieb eine Leidensfalte zurück.

»Man hört nicht, was Sie sprechen,« schrie sie augenblinzelnd, während sich ihre Stirn immer krauser zog.

»Ich kam …«

»Ja, ich thue meine Pflicht; ich büße!« dachte Nechludoff, und kaum war ihm dieser Gedanke gekommen, als ihm Thränen die Augen und die Kehle füllten. Er klammerte sich mit den Fingern an das Gitter und schwieg, denn er fühlte, beim ersten Wort würde er in Schluchzen ausbrechen.

»So wahr Gott mich hört, ich weiß nichts davon!« rief eine Gefangene im Hintergrunde des Saales.

Die Aufregung hatte Nechludoffs Gesicht einen Ausdruck verliehen, daß die Maslow ihn sofort erkannte. Alle ihre Zweifel schwanden, aber sie glaubte doch, während sie ihn anblickte, sprechen zu müssen.

»Ich bin nicht recht sicher, daß ich Sie erkenne.«

Dabei überströmte eine plötzliche Röte ihre Wangen, und der Ausdruck ihrer Züge ward noch düsterer.

»Ich bin gekommen, dich um Verzeihung zu bitten,« sagte Nechludoff jetzt.

Er sagte das, so laut er konnte, mit eintöniger Stimme, wie eine auswendig gelernte Lektion.

Doch als er es gesagt, ergriff ihn eine heftige Scham, und er sah sich um. Doch er dachte, diese Scham wäre gut, und es wäre recht, sich so der Schande auszusetzen, und deshalb rief er, so laut er konnte:

»Verzeihe mir; ich habe schwer gesündigt gegen …«

Sie stand unbeweglich hinter dem Gitter und verließ ihn nicht mit den Augen.

Er hatte nicht die Kraft, den Satz zu vollenden, und entfernte sich von dem Gitter, indem er sich bemühte, die Thränen zurückzuhalten, die seine Brust erschütterten.

Der Aufseher, der ihn hergebracht, war im Saale geblieben und der Scene jedenfalls mit den Augen gefolgt. Als er Nechludoff vom Gitter forttreten sah, ging er auf ihn zu und fragte ihn, warum er sich nicht weiter mit der Frau unterhalte, die er zu sprechen gewünscht. Nechludoff schnäuzte sich, faßte sich nach Möglichkeit und erwiderte:

»Es ist nicht möglich, durch das Gitter zu sprechen! Man versteht ja sein eigenes Wort nicht!«

Der Aufseher überlegte einen Augenblick und sagte dann:

»Hören Sie! Ich glaube, ich könnte die Gefangene vielleicht hierherkommen lassen. Aber nur eine Minute!«

»Maria Karlowna,« rief er der Aufseherin zu, »lassen Sie die Maslow hierherkommen! Es handelt sich um eine sehr dringende Angelegenheit!«

Bald trat die Maslow durch eine Seitenthür ein. Sie näherte sich Nechludoff leise und betrachtete ihn von der Seite, ohne den Kopf zu erheben. Ihr krankhaftes, aufgedunsenes, blutleeres, aber immer noch angenehmes Gesicht war vollkommen ruhig; doch die schwarzen Augen glänzten unter den angeschwollenen Lidern in ungewöhnlichem Glanze.

»Sie können sich hier ein oder zwei Minuten unterhalten!« sagte der Aufseher und trat diskret zur Seite.

Nechludoff hatte sich auf eine in der Wand eingelassene Bank gesetzt; die Maslow blieb mit ehrerbietiger Miene vor dem Aufseher stehen, doch als er fortgetreten war, entschloß sie sich, zu Nechludoff heranzugehen und setzte sich, ihren Rock hochhebend, neben ihn auf die Bank.

»Ich weiß, es wird Ihnen schwer, mir zu verzeihen,« begann Nechludoff, hielt von neuem inne, als wolle er Mut schöpfen, und fuhr dann fort:

»Aber wenn es auch nicht mehr möglich ist, die Vergangenheit auszulöschen, so bin ich doch wenigstens jetzt entschlossen, alles zu thun, was in meinen Kräften steht. Sagen Sie mir …«

»Wie haben Sie mich denn nur aufgefunden?« unterbrach sie, ohne auf seine Fragen zu antworten, und richtete den Blick ihrer glänzenden Augen bald auf ihn, bald auf den Erdboden.

»Mein Gott! Komm‘ du mir zu Hilfe! Lehre mich, was ich thun soll,« sagte sich Nechludoff, von dem lasterhaften und gemeinen Ausdruck, den er auf diesem blassen Gesicht las, ganz entsetzt.

»Es war vorgestern, im Schwurgerichtssaal,« sagte er, »als man gegen Sie verhandelte. Ich war Geschworener … Sie haben mich nicht erkannt?«

»Nein, gar nicht! Wie hätte ich Sie erkennen sollen? Uebrigens habe ich auch niemand angesehen!« fügte sie hinzu.

»Es ist also ein Kind gekommen?« fragte Nechludoff und fühlte, wie er rot wurde.

»Gott sei Dank ist es gleich gestorben,« versetzte die Maslow mit kurzer, boshafter Stimme, indem sie die Augen abwandte.

»Woran und wie?«

»Ich war selbst krank und wäre fast gestorben!« fuhr sie fort, ohne die Augen zu erheben.

»Und meine Tanten haben Sie fortgeschickt?«

»Behält man eine Zofe, die ein Kind bekommt? Sobald sie bemerkten, daß ich in anderen Umständen war, haben sie mich abgelohnt … Aber wozu auch darüber sprechen? Ich erinnere mich an nichts mehr, ich habe alles vergessen … Das ist alles vorbei!«

»Nein, es ist nicht vorbei! Es darf nicht vorbei sein! Ich will meine Schuld jetzt gutmachen.«

»Es ist nichts gutzumachen! Was geschehen ist, ist geschehen und alles ist vorbei,« versetzte sie und richtete mit häßlichem, kläglichem und herausforderndem Lächeln ihre Blicke auf Nechludoff.

Die Maslow hatte nicht erwartet, Nechludoff je wiederzusehen, vor allem nicht in diesem Augenblick und an diesem Orte. Deshalb hatte sie sein Anblick zuerst verletzt und ihr Dinge ins Gedächtnis zurückgerufen, an die sie nie mehr hatte denken wollen. Als sie Nechludoff wiedersah, hatte sie sich zunächst an die wunderbare Welt von Gefühlen und Träumen erinnert, die ihr ihre erste Liebe einst vorgezaubert; sie hatte sich erinnert, wie sie diesen Mann und wie er sie geliebt, doch auch an die Grausamkeit seines Treubruchs, die lange Reihe von Leiden und Demütigungen aller Art hatte sie gedacht, die diesen kurzen Augenblicken des Glückes gefolgt waren, und alle diese Erinnerungen thaten ihr weh. Doch da sie nicht die Kraft hatte, sich damit abzufinden, so nahm sie wieder einmal zu ihrem gewöhnlichen Mittel ihre Zuflucht, sie drängte diese schmerzlichen Erinnerungen in die tiefsten Tiefen ihrer Seele zurück.

Als sie Nechludoff wiedersah, hatte sie ihn zuerst mit dem Jüngling verglichen, den sie einst geliebt; doch schon im nächsten Augenblick verzichtete sie darauf, da ihr das zu peinlich war. Jetzt war dieser elegant gekleidete Herr mit dem schönen, feingeschnittenen Bart für sie nur noch einer ihrer »Kunden«, die sich solcher Geschöpfe, wie sie eins war, bedienten, wenn sie sie brauchten, und deren sich Geschöpfe wie sie bedienen konnten, soweit ihnen das möglich war. Deshalb sah sie ihn jetzt so einschmeichelnd lächelnd an.

Sie schwieg und überlegte, wie sie sich seiner am besten bedienen könnte.

»Ja,« sagte sie, »alles ist aus! Und jetzt hat man mich zur Zwangsarbeit verurteilt!«

Ihre Lippen zitterten, als sie diese schrecklichen Worte aussprach.

»Ich wußte, ich war überzeugt. Sie wären nicht schuldig!«

»Gewiß war ich nicht schuldig! Bin ich eine Diebin oder eine Giftmischerin?«

Wieder schwieg sie einen Augenblick und fuhr dann fort:

»Man sagt hier, der Verteidiger sei schuld, und ich solle eine Berufung einlegen. Doch man sagt, das sei sehr teuer … wegen der Kosten … und der Verteidiger …«

»Ja, gewiß,« versetzte Nechludoff; »ich habe mich schon an einen Advocaten gewendet …«

»Aber man muß auch einen guten nehmen … einen teuren …«

»Ich werde alles Mögliche thun.«

Wieder trat eine Pause ein. Das Lächeln der Maslow wurde immer freundlicher.

»Ich möchte Sie – wenn es Ihnen nicht unangenehm ist – um ein bißchen Geld bitten. Nicht viel … zehn Rubel – Aber nur, wenn es Ihnen keine Umstände macht … Ich habe weiter nichts nötig!«

»Gewiß, gewiß!« versetzte Nechludoff verwirrt und zog seine Brieftasche hervor.

Die Maslow warf einen schnellen Blick auf den Aufseher, der im Hintergründe des Saales auf- und abspazierte.

»Warten Sie, bis er den Rücken gedreht hat, sonst würde man mir das Geld fortnehmen!«

Nechludoff nahm einen Zehnrubelschein aus seiner Brieftasche, doch gerade, als er ihn ihr geben wollte, drehte sich der Aufseher um. Er versteckte den Schein in der Handfläche und dachte, während er dieses blasse und aufgedunsene Geschöpf beobachtete, das mit seinen zu glänzenden Augen abwechselnd die Bewegungen des Aufsehers und die Gesten der die zehn Rubel haltenden Hand beobachtete:

»Aber das ist ja ein totes Geschöpf!«

Einen Augenblick war der Unglückliche ganz mutlos. Der Versucher, der in der vorvorigen Nacht zu ihm gesprochen, erhob von neuem in seinem Innern die Stimme, um seine Gedanken von dem, was er thun mußte, abzulenken und sie vielmehr auf die Folgen dessen, was er thun wollte, hinzulenken.

»Nie wirst du aus diesem Weibe etwas machen,« sagte der Versucher, »du wirst dir nur einen Stein um den Hals legen, der dich ersäufen und dich hindern wird, andern nützlich zu werden! Ihr Geld geben, das ist recht! Alles Geld, das du in deiner Brieftasche hast! Dann aber sag‘ ihr Lebewohl und mach‘ ein Ende!«

Doch sofort fühlte Nechludoff, daß sich in dieser nämlichen Minute eine entscheidende Krisis in ihm vollzog, daß seine Seele sich am Trennpunkte zweier Wege befand, und er, wenn er den einen gewählt, nie mehr auf den andern zurückkehren konnte. Er fühlte, daß er in diesem Augenblick an einem Wendepunkt seines ganzen Lebens angelangt war, und diesen Wendepunkt überschritt er, nachdem er den Gott zu Hilfe gerufen, dessen Anwesenheit er in seinem Herzen am vorvorigen Tage so klar und deutlich wahrgenommen hatte.

Er beschloß, der Maslow alles zu sagen, und zwar sofort:

»Katuscha! Ich bin hergekommen, um dich um Verzeihung zu bitten! Doch du, du hast mir nicht geantwortet, du hast mir nicht gesagt, ob du mir verzeihst, ob du mir je verzeihen würdest!«

Doch sie hörte nicht einmal auf ihn und betrachtete abwechselnd die zehn Rubel und den Aufseher. Als dieser sich umdrehte, streckte sie schnell die Hand aus, ergriff den Schein und versteckte ihn in ihrem Gürtel.

»Was Sie mir da sagen, klingt recht seltsam,« fuhr sie dann mit einem Lächeln fort, von dem sich Rechludoff angewidert fühlte.

Er hatte den Eindruck, es schlummere in ihr hinter diesem Lächeln etwas wie Haß gegen ihn, das ihn stets hindern würde, tiefer in ihre Seele einzudringen.

Doch diese Empfindung lenkte ihn, ohne daß er wußte, wie es geschah, nicht nur nicht mehr von der Maslow ab, nein, sie verband ihn nur noch inniger mit ihr. Er fühlte, er hatte die Pflicht, diese Seele, trotz allem, aufzuwecken; diese Aufgabe war furchtbar schwierig, aber diese Schwierigkeit lockte ihn sogar noch mehr. Er empfand der Maslow gegenüber ein Gefühl, das er bis dahin bei niemandem empfunden, er wünschte an ihr für sich nichts; er wünschte nur, sie möge aufhören, so zu sein, wie sie jetzt war, und wieder so werden, wie sie einst gewesen.

»Katuscha, warum sprichst du so zu mir? Du weißt doch, ich kenne dich; ich weiß, wie du früher in Panofko warst …«

»Das Alte verschwindet,« versetzte sie trocken.

»Ich erinnere mich an alles, um meine Schuld gutzumachen und zu sühnen,« erklärte Rechludoff.

Er wollte ihr sagen, er sei bereit, sie zu heiraten; doch er richtete die Augen auf sie und las in ihnen etwas so Gemeines und Abstoßendes, daß er nicht die Kraft fand, sein Geständnis weiter fortzusetzen.

In diesem Augenblick wurde das Zeichen gegeben, daß die Besuchsstunde zu Ende war. Der Aufseher näherte sich Nechludoff und sagte ihm, der Moment, die Unterredung zu beenden, wäre gekommen. Die Maslow erhob sich und betrachtete Nechludoff mit freundlichem Blick, doch im Grunde war sie hocherfreut, ihn loszuwerden.

»Auf Wiedersehen; ich habe Ihnen noch viel zu sagen,« sagte Nechludoff und reichte ihr die Hand.

Die Maslow berührte die Hand, drückte sie ihm aber nicht.

»Ich werde Sie wieder besuchen und Ihnen dann sehr wichtige Dinge sagen, die ich Ihnen sagen muß!« fügte Nechludoff hinzu.

»Es ist gut! Kommen Sie! Es wird mich freuen,« versetzte sie, und fand für ihn das Lächeln wieder, das sie bei solcher Gelegenheit ihren »Kunden« zu teil werden ließ.

»Sie stehen mir näher als eine Schwester!« sagte Nechludoff noch.

»Was sagen Sie da?« fragte sie, ohne sich darüber weiter zu wundern, und lief mit einem letzten Lächeln zur Thür.

Nechludoff hatte sich eingebildet, Katuscha würde sich freuen, wenn sie ihn wiedersah und wenn er ihr seine Reue und seine Absicht, ihr zu Hilfe zu kommen, entdecken würde, Rührung empfinden und gleich wieder die alte Katuscha werden. Doch er mußte sich sagen, daß Katuscha nicht mehr existierte und nur noch die Maslow vorhanden war, und dieser Gedanke setzte ihn in Erstaunen.

Vor allem aber wunderte er sich, daß Katuscha sich ihres Standes als Prostituierte nicht nur nicht schämte, sondern darüber sogar glücklich und fast stolz war, während sie sich ihres Standes als Gefangene sehr schämte.

Das war aber im Grunde gar nicht so verwunderlich. Wir alle müssen, um wirken zu können, unsere Art der Betätigung als bedeutend und schön betrachten; daher kommt es, daß jedes menschliche Wesen, seine Stellung mag sein, welche sie wolle, sich vom Leben eine Auffassung zurechtmacht, in der ihm seine besondere Bethätigungsart als richtig und schön erscheint.

Man redet sich gern ein, der Mörder, der Verräter, der Dieb, die Dirne erröten über ihr Handwerk oder halten es doch wenigstens für schlecht. In Wirklichkeit geschieht nichts dergleichen. Die Menschen, die ihr Geschick und ihre Fehler in eine bestimmte Lage gebracht haben, bilden sich, so unmoralisch dieselbe auch sein mag, immer eine allgemeine Lebensauffassung, in der ihre besondere Lage ihnen als berechtigt und bedeutend erscheinen kann. Um diese Ausnahme zu bekräftigen, stützen sie sich instinktiv auf andere Menschen, die sich in derselben Lage wie sie befinden, und das Leben im allgemeinen und ihren Platz in diesem Leben im besonderen in derselben Weise auffassen.

Wir sehen mit Erstaunen, wie Diebe sich ihrer Gewandtheit, Dirnen ihrer Sittenlosigkeit, Mörder ihrer Fühllosigkeit rühmen. Doch wir wundern uns darüber nur, weil die Zahl dieser Personen sehr beschränkt ist und ihr Kreis, ihre Atmosphäre sich außerhalb der unsrigen befinden. Doch wir sind z.B. nicht überrascht, daß reiche Leute auf ihren Reichtum, d.h. auf ihren Diebstahl, oder Mächtige auf ihre Macht, d.h. auf ihre Gewalttätigkeit und Grausamkeit stolz sind. Wir bemerken nicht, wie diese Leute ihre natürliche Lebensauffassung und ihre ursprüngliche Bedeutung von Gut und Böse umgestalten und vernichten, um ihre Lage in ihren eigenen Augen zu rechtfertigen. Wir wundern uns darüber nicht und denken gar nicht daran, uns darüber zu wundern; und zwar einzig und allein darum, weil der Kreis der Personen, der diese verrohte Auffassung hat, groß ist und wir selbst dazu gehören.

Eine Auffassung dieser Art hatte sich die Maslow vom Leben im allgemeinen und von ihrer eigenen Rolle im besonderen gebildet. Obwohl eine Dirne niedrigen Grades und zur Zwangsarbeit verurteilt, machte sie sich trotzdem eine Lebensauffassung zurecht, die ihr gestattete, ihr Benehmen zu rechtfertigen und sogar vor andern ihrer Art darauf stolz zu sein.

Diese Auffassung beruhte auf dem Gedanken, daß das hauptsächliche Glück aller Männer – aller, ohne Ausnahme, alter und junger, reicher und armer, gebildeter und ungebildeter – im körperlichen Besitz des Weibes bestände. Die Maslow nahm es als feststehend an, daß alle Männer, trotz der andern Gedanken, die sie angeblich im Kopfe hatten, in Wirklichkeit nur daran dachten; und da sie ein angenehmes Weib war, das diesen Wunsch der Männer nach ihrem Belieben befriedigen oder nicht befriedigen konnte, so hielt sie sich gleichzeitig für eine unendlich wichtige und notwendige Persönlichkeit.

Das war ihre Lebensauffassung, und thatsächlich wurde dieselbe durch ihre ganze persönliche, augenblickliche wie frühere Erfahrung vollauf bestätigt.

Seit zehn Jahren hatte sie überall, wo sie gewesen war, bei allen Männern den Wunsch wahrgenommen, sie zu besitzen. Vielleicht war sie auch mit Männern zusammengekommen, die dieses Verlangen nicht empfunden hatten, doch diese waren ihr nie aufgefallen. So war ihr die ganze Welt als eine Vereinigung von Männern erschienen, die in ihren Körper verliebt waren, sie unermüdlich zu besitzen wünschten und sich durch gleichviel welche Mittel, durch Verführung, Gewalt, List oder Geld bemühten, ihren Körper zu genießen.

An diese Lebensauffassung hatte sich die Maslow um so fester angeklammert, als sie fühlte, daß sie, wenn sie sie verlor, in ihren eigenen Augen auch die Bedeutung verlor, die sie sich beigelegt, und um diese Bedeutung nicht einzubüßen, schloß sie sich instinktiv an den Kreis der Personen, die das Leben in derselben Weise auffaßten. Darum war sie auch so eifrig bemüht, die Erinnerungen an ihre erste Kindheit aus ihrem Herzen zu verjagen, denn diese paßten nicht zu ihrer augenblicklichen Lebensauffassung; in den tiefsten Winkel ihres Herzens hatte sie sie zurückgedrängt, eingesargt und, so gut es ging, vermauert, wie die Bienen den Eingang zu den Nestern bestimmter Insekten verstopfen, die im stande sind, ihren Stock zu zerstören. Darum hatte sie in Nechludoff, als sie ihn wiedersah, nicht mehr den Mann sehen wollen, den sie früher keusch und unschuldig geliebt: darum wollte sie nur einen reichen Kunden in ihm sehen, einen Menschen, aus dem Nutzen zu ziehen sie das Recht und die Pflicht hatte, und mit dem sie Beziehungen unterhalten konnte wie mit den anderen Männern ihrer Kundschaft.

»Nein, das Wichtigste, was ich ihr zu sagen hatte, konnte ich ihr heute nicht sagen, ich konnte es nicht,« dachte Nechludoff, als er das Sprechzimmer mit der Schar der Besucher verließ. »Doch das nächste Mal werde ich ihr alles sagen!«

In dem großen Saale zählten die beiden Aufseher von neuem die Vorübergehenden, damit kein Gefangener hinauskam und kein Besucher im Gefängnis blieb. Und von neuem stieß man Nechludoff und schlug ihn auf die Schulter. Doch er bemerkte es jetzt nicht einmal.