Adams Tagebuch

Adams Tagebuch

Vorbemerkung:
Ich habe einen Teil dieses Tagebuches bereits vor mehreren Jahren übersetzt, und ein Freund von mir hat ein paar Exemplare meiner Arbeit in unvollständigem Zustand gedruckt; doch ist nichts davon ins Publikum gedrungen. Seitdem habe ich noch etwas mehr von Adams Hieroglyphen entziffert, und ich glaube, daß er nachgerade als öffentlicher Charakter eine genügende Bedeutung besitzt, um die Herausgabe dieser Uebersetzung zu rechtfertigen.
Mark Twain.

Montag. Dieses neue Geschöpf mit dem langen Haar fängt an, mir sehr im Wege zu sein. Es ist immer hinter mir her und lungert beständig um mich herum. Ich mag das nicht; ich bin nicht an Gesellschaft gewöhnt. Ich wünschte, es bliebe bei den übrigen Tieren … Es ist heute umwölkt; denke, wir werden Regen haben. Wir? Wer ist wir? Woher habe ich das Wort? Ich erinnere mich jetzt, – das neue Geschöpf braucht es immer.

Dienstag. Habe den großen Wasserfall untersucht. Er ist das Beste auf dem ganzen Grundstück, sollt‘ ich meinen. Das neue Geschöpf nennt ihn den ›Niagara-Fall‹, – habe auch nicht die blasseste Ahnung, weswegen. Wenn es sagt, das Ding sehe aus wie ›Niagara‹, so hat das keinen Sinn. Es ist nur so ein Einfall, nur leeres Geschwätz. Ich selber komme gar nicht mehr dazu, irgend etwas zu benennen. Das neue Geschöpf tauft alles, was uns gerade in die Quere kommt, ehe ich auch nur den geringsten Einwand dagegen erheben kann. Und das immer unter einem und demselben Vorwand, daß es so ›aussehe‹.

Mittwoch. Habe mir einen Unterschlupf gegen den Regen gebaut. Aber ich konnte ihn nicht friedlich für mich behalten. Das neue Geschöpf war gleichfalls sofort drinnen. Als ich es hinauszudrängen versuchte, vergoß es Wasser aus den beiden Löchern, mit welchen es sieht, wischte es mit dem Rücken seiner Pfoten fort und gab dabei Töne von sich, wie verschiedene der andern Tiere, sobald ihnen etwas weh tut oder sie sich fürchten. Wenn es nur nicht sprechen wollte! Es schwatzt beständig. Das klingt fast wie Hohn und Spott, als wollte ich mich über das arme Geschöpf lustig machen. Aber die Absicht liegt mir fern. Ich habe die menschliche Stimme nie zuvor gehört, und jeder neue und fremde Laut, welcher das feierliche Schweigen in dieser träumerischen Einsamkeit unterbricht, beleidigt mein Ohr, wie eine falsche Note. Und obendrein ist dieser neue Laut immer so nahe bei mir, er ist dicht an meiner Schulter, dicht an meinem Ohr, erst auf dieser, dann auf der andern Seite; und ich war nur gewöhnt Laute zu hören, die mehr oder weniger entfernt von mir sind.

Freitag. Das Benennen geht unaufhaltsam weiter, ich mag dagegen tun was ich will. Ich hatte für das große Grundstück hier einen sehr guten Namen erfunden, der hübsch war und musikalisch zugleich – Garten von Eden. Ich gebrauche den Namen jetzt noch, aber nicht öffentlich, nur verstohlen. Das neue Geschöpf sagt, man sehe in der ganzen Landschaft nur Wald, Felsen und Wasser; sie erinnere nicht im mindesten an einen Garten, sondern sehe aus wie ein Park und wie nichts anderes. So hat es ihm denn, ohne mich weiter zu fragen, den Namen Niagarafall-Park gegeben. Das ist eigenmächtig genug, sollte ich meinen. Und schon kann man auf dem Grase eine Tafel mit der bekannten Warnung sehen: »Es ist verboten den Rasen zu betreten!«

Mein Leben ist nicht mehr so glücklich wie früher.

Samstag. Das neue Geschöpf ißt zu viel Früchte. Wir werden wahrscheinlich bald Mangel daran haben. Schon wieder ›Wir‹ – das ist sein Wort und meins jetzt auch bereits vom ewigen Hören … Ziemlich neblig heute früh. Ich selbst gehe nicht in den Nebel hinaus. Aber das neue Geschöpf tut es. Es geht in allen Wettern aus und kommt dann mit schmutzigen Füßen wieder hereingehopst. Dabei spricht es fortwährend, und früher war es hier so angenehm und ruhig.

Sonntag. Hab ihn glücklich hinter mir. Dieser Tag wird immer ermüdender. Der Sonntag wurde im letzten November zum Ruhetag gewählt und abgesondert. Früher hatte ich in jeder Woche schon sechs solche Tage. Und heute? Heute morgen fand ich das neue Geschöpf, wie es mit Erdklumpen nach dem verbotenen Baum warf, um die Äpfel herunterzuholen.

Montag. Das neue Geschöpf sagt: sein Name sei Eva. Das ist ganz recht, und ich will nichts dagegen einwenden. Es sagt, der Name sei dazu da, damit ich es rufen könne, wenn ich es bei mir zu haben wünsche. Darauf erwiderte ich, daß der Name dann überflüssig sei. Dies Wort hob mich augenscheinlich in der Achtung des neuen Geschöpfs. Und wirklich das Wort ›überflüssig‹ ist sehr gut und von allgemeiner Bedeutung; es verdient bei jeder Gelegenheit wiederholt zu werden. Darauf sagte mir das Geschöpf, daß es gar kein ›Es‹, sondern eine ›Sie‹ sei. Das ist zum mindesten zweifelhaft; aber mir ist’s einerlei; sie mag sein was sie will, wenn sie nur ihrer Wege gehen und nicht beständig reden wollte!

Dienstag. Sie sagt, dieser Park würde eine äußerst erquickende und reinliche Sommerfrische abgeben, für den Fall sich Gäste dafür finden ließen. Sommerfrische – was heißt das? Offenbar wieder so ’ne neue Erfindung ihres rastlosen Hirns und ihres noch ruheloseren Mundes – Worte ohne jeden Sinn. Was ist eine Sommerfrische? Aber besser, ich frage sie gar nicht erst danach – sie hat ohnehin eine wahre Sucht alles zu erklären.

Freitag. Sie hat es für gut befunden, mich zu bitten, nicht mehr über den Wasserfall zu gehen, wie ich es mir angewöhnt hatte. Wem geschieht denn damit etwas zuleide? Sie sagt, es mache sie schaudern. Ich möchte nur wissen warum? Ich habe es immer getan, seit ich hier bin. Das Hineinspringen, das Untertauchen und die Aufregung dabei macht mir den größten Spaß. Und dann die Kühle, wenn es sonst heiß ist! Ich habe auch immer gedacht, daß der Fall gerade deswegen da wäre. Wenigstens hat er – soweit ich sehen kann – sonst keinen Zweck, und irgend einen Zweck muß er doch haben. Und jetzt kommt sie und sagt, die ganze Geschichte wäre nur um der malerischen Szenerie willen da – wie das Rhinozeros und das Mastodon.

Bin darauf in einem Faß über den Fall hinuntergesegelt, – auch das war nicht nach ihrem Geschmack. Dann in einer Waschbutte, – sie war noch immer nicht zufrieden. Ich schwamm durch den Strudel unterhalb des Falls und durch die Stromschnellen oberhalb des Falls in einem nagelneuen Schwimmanzug von Feigenblättern, der dabei fast in Fetzen ging. Da bekam ich endlose Vorwürfe wegen meiner Verschwendungssucht. Ich fühle mich hier von allen Seiten eingeengt. Ein Ortswechsel wird mir gut tun.

Samstag. Am Abend des letzten Dienstag bin ich durchgebrannt und habe mir dann, nachdem ich zwei Tage drauflosgewandert war, einen neuen Unterschlupf gebaut, an einer ganz abgelegenen Stelle. Aber wie sehr ich auch bemüht gewesen war, meine Spuren zu verwischen und zu verbergen, – sie hat mich doch aufgespürt, mit Hilfe eines Tieres, welches sie gezähmt hat und ›Wolf‹ nennt: sie stürzte plötzlich zu mir herein, machte wieder das klägliche Geräusch, das ich nicht hören mag, und ließ das Wasser aus den beiden Löchern, mit denen sie sieht, hervorschießen. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mit ihr zurückzugehen, – aber ich werde sofort wieder ausreißen, wenn sich die Gelegenheit bietet. Sie gibt sich mit allerlei ganz überflüssigen Dingen ab. Unter anderm versucht sie, herauszubekommen, warum die Tiere, welche Löwen und Tiger heißen, auf diesem großen Grundstück von Gras und Blumen leben, während sie doch nach ihrer Meinung eine Art Zähne haben, die deutlich beweist, daß sie bestimmt sind einander aufzufressen. Das ist einfach Narrheit.

Sonntag. Habe ihn glücklich hinter mir.

Montag. Ich glaube jetzt dahintergekommen zu sein, wozu die Woche da ist: sie soll einem Zeit geben, um sich von der Ermüdung des Sonntags zu erholen. Das ist gar keine schlechte Idee … Ich habe Eva schon wieder an dem verbotenen Baum erwischt. Sie war hinaufgeklettert und ich warf mit Erdklumpen nach ihr, bis sie herunterkam und sagte, es hätt‘ es ja niemand gesehen. Ich glaube, sie hält das für eine genügende Rechtfertigung, um die gefährlichsten Dinge zu tun. Sagte ihr es auch ins Gesicht. Das Wort Rechtfertigung erregte ihre Bewunderung und zugleich, wie mir schien, ihren Neid, der immer sehr leicht erregt ist. Es ist aber auch ein sehr gutes Wort.

Dienstag. Das Neueste, was sie mir gesagt hat, ist, daß sie aus einer von meinem Körper genommenen Rippe gemacht sei. Das scheint mir eine gewagte Behauptung. Mir hat doch nie eine Rippe gefehlt! Besonderes Kopfzerbrechen macht ihr seit einiger Zeit der junge Habicht, mit dem sie sich so viel abgibt. Sie sagt, er könne kein Gras vertragen, und fürchtet daher, ihn nicht aufziehen zu können, weil er, wie sie sich einbildet, verwestes Fleisch zur Nahrung haben müsse. Ein Habicht sollte sich, meiner Meinung, mit dem begnügen was vorhanden ist. Man kann doch nicht bloß dem Habicht zuliebe die ganze Ordnung der Dinge umkehren.

Samstag. Gestern fiel sie in den Teich, als sie sich zu weit vorbog, um sich im Wasser zu betrachten. Sie tut das immer, sobald sie an einen Teich kommt, nur ist sie bis jetzt noch nicht hineingefallen. Sie hat so viel Wasser geschluckt, daß sie beinahe erstickte. Das sei ein höchst unbehagliches Gefühl, erklärte sie, als sie wieder draußen war. Es machte sie auch traurig wegen der Geschöpfe, welche im Wasser leben müssen, und die sie Fische nennt. Sie hat nämlich noch immer nicht aufgehört, allen möglichen Dingen ganz unnütze Namen anzuhängen. Sie kommen gar nicht, wenn sie den Namen ruft, aber das verschlägt ihr nicht das geringste; sie ist nun einmal solche Törin! Die Folge war, daß sie gestern abend eine ganze Menge Fische einfing, hereinbrachte und, damit sie warm werden möchten, in mein Bett tat. Aber ich habe sie seitdem beobachtet und die Wahrnehmung gemacht, daß sie durchaus nicht glücklicher schienen als vordem. Nur viel stiller sind sie den ganzen Tag gewesen. Und wenn es wieder Nacht wird, werde ich sie einfach vor die Türe werfen und nicht wieder mit ihnen schlafen, denn sie sind unangenehm schleimig und naßkalt, und das Liegen zwischen ihnen ist, namentlich wenn man nichts anhat, höchst unbehaglich.

Sonntag. Habe ihn glücklich hinter mir.

Dienstag. Jetzt hat sie sich mit einer Schlange eingelassen. Die andern Tiere sind froh, weil sie beständig an ihnen herumhantierte und sie nicht in Ruhe ließ – auch ich freue mich darüber, weil die Schlange gleichfalls spricht und ich mich etwas erholen kann.

Freitag. Sie sagt mir, die Schlange habe ihr geraten, die Frucht von dem Baum zu kosten, und ihr versprochen, daß das Ergebnis eine große, schöne und edle Fortentwicklung sein werde. Ich sagte ihr, es würde noch etwas anderes daraus entstehen – der Tod würde in die Welt kommen. Aber das war ein großer Mißgriff von mir, und ich hätte ungleich besser getan, die Bemerkung für mich zu behalten. Es brachte sie nur auf den Gedanken, daß sie dann den kranken Habicht gesund machen und den trübselig einherschleichenden Löwen und Tigern frisches Fleisch zur Nahrung verschaffen könnte. Ich riet ihr noch einmal aufs dringendste, von dem Baum fortzubleiben. Sie sagte, sie wollte es nicht. Ich sehe allerlei Unannehmlichkeiten voraus und denke wieder ans Auswandern.

Mittwoch. Ich habe eine bunte Zeit hinter mir. An jenem Abend bin ich ausgerissen und die ganze Nacht hindurch geritten so schnell mein Pferd nur laufen konnte, in der Hoffnung, aus dem Park herauszukommen und ein anderes Land zu erreichen, bevor die ganze Not hereinbrach. Aber das sollte mir nicht gelingen. Eine Stunde nach Sonnenaufgang hatte ich die Grenze noch immer nicht erreicht. Dafür befand ich mich auf einer grasigen, mit Blumen bedeckten Ebene, auf der Tausende von Tieren versammelt waren, teils schlafend, teils weidend, teils miteinander spielend, wie das bei den Tieren Brauch war. Aber plötzlich stießen sie allesamt ein entsetzliches Gebrüll und Geheul aus, und schon im nächsten Augenblick lief auf der ganzen Ebene alles wirr durcheinander. Wie rasend fielen die Tiere über einander her und zerfleischten sich gegenseitig. Ich hätte so etwas nie für möglich gehalten, doch wußte ich sofort, was es zu bedeuten hatte – Eva hatte von der verbotenen Frucht gegessen, und im selben Augenblick war auch der Tod in die Welt gekommen! Die Tiger stürzten sich auf mein Pferd und zerrissen es, ohne sich weder an meine Bitten noch an meine Befehle zu kehren. Ja, sie würden mich selber gefressen haben, hätte ich mich nicht schnell aus dem Staube gemacht. Jenseits der Grenze des Parks fand ich diesen Platz und hier habe ich mich seitdem auch ein paar Tage äußerst behaglich befunden, bis – sie mich auch hier entdeckt hatte und plötzlich vor mir stand. Das Merkwürdigste dabei war, daß mir das eigentlich gar nicht so unangenehm schien, wie ich es mir vorher vielleicht vorgestellt hatte. Auch sie fand den Platz gar nicht übel und hatte natürlich wieder sofort einen Namen für ihn, – weil er gerade so aussah. Schließlich war ich sogar ganz froh, daß sie mich gefunden hatte, da es hier herum weder Früchte noch Beeren gab, wie drüben im Park, und sie ein paar von den Äpfeln des verbotenen Baumes mitgebracht hatte. Ich war so hungrig, daß ich mich genötigt sah, sie zu verspeisen. Eigentlich ging es gegen meine Grundsätze – aber ich habe damals entdeckt, daß der Mensch seinen Grundsätzen nur treu zu bleiben pflegt, wenn er genug zu essen hat.

Auch etwas Neues habe ich an ihr entdeckt. Sie kam in einer Art Umhüllung von Zweigen und Laubgewinden, und als ich sie fragte, was dieser neue Unsinn bedeuten solle, ihr das ganze grüne Zeug herunterriß und es auf die Erde warf, – da zitterte sie an allen Gliedern, und wurde rot im Gesicht. Ich hatte noch nie jemanden zittern und rot werden sehen, es schien mir nicht nur unschön, sondern geradezu blödsinnig. Sie sagte aber auf meine Frage nur: ich würde das bald an mir selbst erfahren. Und darin hatte sie recht. Denn trotz meines Hungers legte ich den Apfel halb angebissen beiseite – es war obendrein der feinste, den ich je gekostet habe, noch dazu bei so vorgeschrittener Jahreszeit – und fing an, mich selber mit dem Grünzeug zu behängen, das ich ihr eben vom Leibe gerissen hatte. Dann sah ich sie an, wie sie so dastand und befahl ihr mit Entrüstung, noch mehr Zweige und Blätter zu holen, weil es sonst ein wahrer Skandal sei. Sie gehorchte mir mit Eifer und dann schlichen wir beide nach dem Platz zurück, wo die wilden Tiere vorher die Vernichtungsschlacht gekämpft hatten und sammelten einige von den Fellen. Ich befahl ihr, daraus für uns ein paar Anzüge zusammenzunähen, in denen wir uns öffentlich zeigen könnten. Sie sind hart und unbequem, aber jedenfalls nach der neuesten Mode, und das ist ja schließlich bei Kleidern die Hauptsache.

Ich finde neuerdings auch, daß sie eine ganz gute Gesellschafterin ist. Ohne sie würde ich jetzt recht einsam und traurig sein, nachdem ich meinen Grundbesitz verloren habe. Uberdies hat sie mir eben gesagt, daß wir nach der neuen Ordnung der Dinge fortan für unsern Lebensunterhalt arbeiten müssen. Da kann sie sich nützlich machen. Sie wird arbeiten und ich werde die Aufsicht führen.

Nächstes Jahr. Wir haben es Kain getauft, sie hat es eingefangen, während ich weiter draußen im Land war, um zu jagen und Fallen zu stellen. Sie fing es, wie sie mir bei meiner Rückkehr erzählte, im Tannengehölz, ein paar Meilen südlich von der Erdwohnung, die wir uns angelegt haben. Es sieht uns gewissermaßen ähnlich und ist vielleicht irgendwie mit uns verwandt. Wenigstens glaubt dies Eva, aber meiner Meinung nach ist es ein Irrtum. Der gewaltige Unterschied in der Größe allein rechtfertigt schon die Annahme, daß es nur eine andere, noch neue Art Tier ist, – vielleicht ein Fisch. Als ich es aber ins Wasser warf, um mir Gewißheit zu schaffen, sank es sofort unter, worauf sie ihm nachsprang und es herauszog, ohne mir die nötige Zeit zu lassen, die Sache durch meinen Versuch zu entscheiden. Ich bin aber noch immer der Überzeugung, daß es ein Fisch ist, während es ihr so gleichgültig zu sein scheint, was es ist, daß sie es mir um keinen Preis zu einem neuen Versuch überlassen will. Das verstehe ich nicht. Mir ist an ihr neuerdings überhaupt mancherlei unverständlich. Seit sie das Geschöpf im Hause hat, scheint ihre Natur verändert. Auf Versuche läßt sie sich schlechterdings nicht mehr ein. Sie hat auch noch nie auf ein Tier so große Stücke gehalten, wie auf dieses, doch weiß sie mir keinen Grund dafür anzugeben. Ich glaube wirklich sie hat ihre fünf Sinne nicht mehr beisammen. Bisweilen trägt sie den Fisch halbe Nächte lang in ihren Armen umher, wenn er jammert und winselt, weil er ins Wasser will, und wenn ich ihn dann nach dem nächsten Teich tragen und hineinwerfen möchte, so wehrt sie sich so sehr dagegen, wie nur je, als sie noch bei Verstande war. Bei solchen Gelegenheiten kommt ihr dann wieder das Wasser aus den Gucklöchern in ihrem Gesicht; sie drückt den Fisch an ihre Brust, klopft ihn leise auf den Rücken, macht mit ihrem Munde allerlei Töne, die ihn beruhigen sollen, und ist ganz närrisch vor Sorge und Angst um das Geschöpf. Ich habe sie früher dergleichen nie mit einem andern Fisch, oder sonst irgend einem Tiere tun sehen, und ich mache mir viel Kopfzerbrechens darüber. Ehe wir von unserem Grundstück vertrieben wurden, hat sie wohl auch von Zeit zu Zeit junge Tiger herumgetragen und ihr Spiel mit ihnen getrieben, aber doch nicht immerfort und niemals bei Nacht. Auch hat sie sich’s nie so zu Herzen genommen, wenn ihnen das Frühstück nicht gut bekam.

Sonntag. Am Sonntag scheint sie sich’s zur Regel zu machen, nicht zu arbeiten, sondern ganz erschöpft von der Wochenarbeit dazuliegen und den Fisch auf sich herumkriechen zu lassen. Dabei bringt sie allerlei Töne mit dem Munde hervor und behauptet, das belustige ihn; sie steckt sich auch seine kleinen Pfoten oder Vorderflossen in den Mund und er fängt an zu lachen. Mein Lebtag habe noch keinen Fisch lachen sehen, und dabei kommen mir allerlei Zweifel. Der Sonntag gefällt mir jetzt selber ganz gut. Es ermüdet ja Körper und Geist zugleich, wenn man die Woche über fortwährend die Arbeit anderer beaufsichtigen muß. Da sollte es noch mehr Sonntage geben. In den früheren Zeiten, auf dem großen Grundstück, waren die Sonntage kaum zum Aushalten, jetzt fangen sie an, mir ganz gelegen zu kommen.

Mittwoch. Es ist kein Fisch. Das weiß ich jetzt – aber darum kann ich noch lange nicht begreifen, was es eigentlich ist. Wenn es was haben will und bekommt es nicht gleich, macht es den tollsten und abscheulichsten Lärm. Wenn es aber hat, was es will, oder sonst zufrieden ist, sagt es ›Gugu‹ oder etwas der Art. Es ist kein Mensch, denn es kann nicht gehen; es ist kein Vogel, sonst könnte es fliegen; es ist kein Frosch, denn es hüpft nicht; und auch keine Schlange, weil es nicht kriechen kann. Daß es kein Fisch ist, weiß ich ebenfalls ganz bestimmt, obgleich ich nicht dazu kommen kann, es schwimmen zu lassen. Wenn Eva es nicht auf den Armen hat, liegt es meist am Boden auf dem Rücken und streckt die Füße in die Luft. Das habe ich noch bei keinem Tier gesehen. Ich glaube es muß ein Riesenkäfer sein. Wenn es stirbt will ich es auseinandernehmen, um seine innere Einrichtung zu untersuchen. Ich muh der Sache doch auf den Grund kommen.

Drei Monate später. Die Geschichte wird immer rätselhafter. Ich kann kaum noch schlafen, weil sie mir so im Kopfe herumgeht. Das Geschöpf liegt nicht mehr am Boden, sondern kriecht nun auf seinen vier Füßen herum. Aber es unterscheidet sich wesentlich von den übrigen Vierfüßlern, denn seine Vorderbeine sind ungewöhnlich kurz. So ragt denn der Hauptteil seiner Person ganz unverhältnismäßig in die Höhe, was durchaus nichts Anziehendes hat. Im übrigen ist es ganz so gebaut wie wir, doch beweist schon die Art seiner Fortbewegung, daß es nicht zu unserer Gattung gehört. Die Kürze der Vorder- und die Länge der Hinterbeine deuten darauf hin, daß es aus der Känguruh-Familie stammt. Doch unterscheidet es sich auch hier wieder von dem wirklichen Känguruh, denn es kann nicht hüpfen wie dieses. Es muß eine seltsame und interessante Abart sein, die bisher noch nicht katalogisiert worden ist. Da ich dieselbe entdeckt habe, halte ich mich auch für berechtigt, mir den Ruhm dieser Entdeckung für alle Zeiten dadurch zu sichern, daß ich dem neuen Geschöpf meinen Namen beilege. Ich habe es Kaengurum Adamiensis getauft.

Es muß ein ganz junges Exemplar gewesen sein, als Eva es in dem Tannengehölz fing, denn es ist seitdem beständig gewachsen. Jetzt ist es wohl fünfmal so groß wie damals, und wenn es etwas haben will und es nicht gleich bekommt, macht es dreißigmal mehr Lärm als früher. Zwang und Gewalt vermögen nichts dagegen auszurichten, im Gegenteil, sie machen die Sache immer nur schlimmer. Darum habe ich das Zwangs-System, mit dem ich es eine Zeit lang versuchte, wieder aufgegeben, zumal ich ihr gegenüber ohnehin damit einen besonders schwierigen Stand hatte. Sie besänftigt es immer mit Zureden und Schöntun und meistens damit, daß sie ihm alles gibt, was sie ihm zuerst rundweg abgeschlagen hat.

Wie ich schon bemerkt habe, war ich nicht zu Hause, als sie es brachte. Sie sagte mir, sie habe es im Walde gefunden. Es ist unbegreiflich, daß es das einzige seiner Art sein sollte, aber ich habe mich die ganze Zeit über müde und lahm gesucht, um ein zweites Exemplar zu finden, teils um es unserer Sammlung hinzuzufügen, teils als Spielgefährten für unseres. Es würde dann gewiß stiller sein und sich leichter zähmen lassen. Aber ich kann keines entdecken; auch nicht die leiseste Spur habe ich aufgefunden. Merkwürdig! Es kann doch gar nicht anders leben als auf dem Erdboden und wenn es sich vorwärts bewegt, müßte es doch eine Fährte hinterlassen. Ich habe wohl ein Dutzend Fallen und Schlingen gelegt, aber nichts dadurch erreicht. Alle kleinen Tiere kann ich fangen, nur dieses nicht. Sie gehen meistens aus Neugierde in die Falle, nur um zu sehen, wozu die Milch eigentlich dort aufgestellt ist, glaube ich. Trinken tun sie die Milch nie, sie werfen sie höchstens um.

Drei Monate später. Unser adamitisches Känguruh wächst noch immer fort, was höchst seltsam und beunruhigend ist. Ich habe noch nie gesehen, daß ein Känguruh solange braucht, um seine volle Größe zu erreichen. Es hat jetzt einen Pelz auf dem Kopf; gar nicht wie ein Känguruhpelz, sondern viel eher wie unser eigenes Haar, nur daß es sich feiner und weicher anfühlt, und statt schwarz rot ist. Wenn das noch lang so fort geht, verliere ich nächstens den Verstand über die tollen und unberechenbaren Sprünge in der Entwicklung dieses unklassifizierten zoologischen Naturspiels. Könnte ich nur ein zweites fangen, – doch das ist eine ganz vergebliche Hoffnung. Es ist eine neue Art und von dieser das einzige Exemplar, – soviel steht jetzt fest. Seit vorgestern ist mir auch noch der letzte Zweifel geschwunden. Ich hatte ein wirkliches Känguruh gefangen und mit nach Hause gebracht, in dem Gedanken, daß das unserige in seiner Einsamkeit froh sein würde, wenigstens einem ihm einigermaßen verwandten Tier zu begegnen. Unter Wildfremden, die nichts von seiner Art und Weise und seinen Wünschen und Begierden verstehen, mußte es doch darin, wie ich glaubte, einen kleinen Trost finden. Aber welchen Mißgriff hatte ich begangen. Es fiel bei dem bloßen Anblick des eingefangenen Känguruhs in solche Krämpfe, daß ich sofort wußte, es habe noch kein derartiges Geschöpf gesehen. Mir tut das kleine Tier leid, denn es schreit bei der geringsten Gelegenheit und ich kann nichts tun, um es glücklich zu machen oder zu sorgen, daß es sich bei uns wie unter seinesgleichen fühlt – und doch möchte ich es selbst jetzt gar nicht mehr missen. Wenn ich es nur wenigstens zähmen könnte, – aber auch das ist ganz außer Frage. Und jemehr ich es versuche, um so schlimmer scheine ich es zu machen. Es schneidet mir geradezu ins Herz das kleine Ding bei seinen Anfällen von Kummer und stürmischer Leidenschaft zu sehen. Eigentlich möchte ich, wir wären es wieder los; doch wage ich gar nicht den Wunsch auszusprechen. Denn erstens ist es mir doch nicht ganz ernst damit und zweitens würde Eva von einem solchen Vorschlag kein Wort hören wollen. Das scheint sehr grausam und selbstsüchtig von ihr, – aber vielleicht hat sie doch recht. Es würde dann am Ende noch einsamer sein als vorher. Ist es mir nicht gelungen ein zweites Exemplar seiner Gattung zu finden, so müßte es selber gewiß auch vergebens danach suchen.

Fünf Monate später. Es ist kein Känguruh! Nein, es kann sich seit wenigen Tagen selbst auf den Hinterbeinen aufrecht erhalten, wenn es sich gleichzeitig mit einer seiner Vorderpfoten an ihrem hingestreckten Finger festhält. Über ein paar Schritte kommt es dabei freilich noch nicht hinaus, sondern fällt dabei jedesmal bald wieder auf alle Viere zurück. Aber das genügt, um uns die Gewißheit zu verschaffen, daß es kein Känguruh ist. Viel wahrscheinlicher, daß es eine Art Bär ist. Nur hat es keinen Schwanz und, – wenigstens bis jetzt, – kein haariges Fell, außer auf dem Kopf. Übrigens sind die Bären gefährlich – ich weiß das von jener Vernichtungsschlacht her. Ich werde diesem hier, so gerne ich ihn auch manchmal habe, nicht mehr lange erlauben, sich ohne Maulkorb herumzutreiben. Neulich habe ich wieder einen Versuch gemacht, Eva ein richtiges, ausgewachsenes Känguruh zu versprechen, für welches sie dann dieses laufen lassen könnte. Aber alles, was ich damit erreichte, war, daß es aus den Sehlöchern in ihrem Gesicht förmlich wie Feuer sprühte und sie seitdem den kleinen Bären noch weniger als je von der Hand läßt. Ich fürchte sie wird uns durch ihre Torheit in neue Gefahr bringen. Seit sie den Verstand verloren hat, ist sie wie umgewandelt.

Vierzehn Tage später. Ich habe seinen Mund untersucht. Noch ist es unschädlich; es hat erst einen Zahn. Auch einen Schwanz hat es noch immer nicht. Aber dafür macht es mehr Lärm als je zuvor. Und namentlich in der Nacht. In den letzten beiden Nächten war es so arg, daß ich ausgezogen bin. Aber morgen gehe ich zum Frühstück hinüber, und dann sehe ich nach, ob es noch mehr Zähne bekommen hat. Wenn es erst einmal den ganzen Mund voll Zähne hat, wird es die höchste Zeit sein, Maßregeln zu ergreifen, – Schwanz oder nicht Schwanz, denn ein Bär braucht keinen Schwanz, um gefährlich zu sein.

Vier Monate später. Ich bin wieder auf einem längeren Jagd- und Fischausflug fortgewesen. Etwa einen Monat lang. In der Zwischenzeit hatte der Bär gelernt, sich ohne Hilfe und auf den Hinterbeinen allein fortzuhelfen und etwas, das wie ›Poppa‹ und ›Momma‹ klang, zu sagen. Es ist sicherlich eine ganz neue Art. Diese Töne, die sich ganz wie Worte anhören, mögen etwas rein Zufälliges sein und an sich gar nichts zu bedeuten haben. Aber selbst dann ist die Sache noch immer merkwürdig genug, und jedenfalls etwas, was kein anderer Bär kann. Diese Ähnlichkeit mit menschlicher Rede, dazu das Fehlen des Pelzes und der vollständige Mangel eines Schwanzes, beweisen zur Genüge, daß es nicht nur eine besondere, sondern ganz neue Art Bär ist. Inzwischen beabsichtige ich, seinetwegen auf eine neue Forschungsexpedition auszugehen und die großen Wälder weiter im Norden nach einem zweiten Exemplar zu durchsuchen.

Drei Monate später. Es war ein langer und langweiliger Jagdausflug, von dem ich da eben zurückgekehrt bin. Aber er war ganz und gar erfolglos. Was hat sie aber in der Zwischenzeit getan? Ohne sich vom Platz zu rühren und sich im mindesten anzustrengen hat sie unterdessen gerade auf dem neuen Grundstück ein zweites Exemplar eingefangen! Hat man je von solchem Glück gehört?

Tags darauf. Ich habe das neue Geschöpf genau mit dem alten verglichen, und es ist gar kein Zweifel, daß sie vom gleichen Schlage sind. Ich äußerte den Wunsch, eines von ihnen für meine Sammlung auszustopfen. Aber sie ist gegen das Ausstopfen im allgemeinen eingenommen, und in diesem Falle wollte sie erst recht nichts davon wissen. So habe ich denn die Absicht wieder aufgeben müssen, obgleich ich denke, daß ich unter allen Umständen darauf hätte bestehen sollen. Man denke sich, daß sie plötzlich wieder abhanden kämen, und stelle sich den Verlust für die Wissenschaft vor, wenn nichts von ihnen zurückbliebe!

Das ältere von beiden ist auch das weitaus zahmere. Es kann sogar plappern und lachen, wie ein Papagei. Und da auch Papageien so viel um uns herum sind, bin ich überzeugt, daß es das alles, und die Gabe der Nachahmung überhaupt von ihnen gelernt hat. Na, wer weiß, – vielleicht kommt es zuletzt noch heraus, daß es selbst eine Art Papagei ist. Ich würde mich gar nicht darüber wundern, wenn ich bedenke, was es alles schon gewesen ist seit jenen ersten Tagen, als ich es für einen Fisch hielt. Das neue ist grade so häßlich wie das andere zuerst war; es hat gelblich-rote Fleischfarbe und auf dem Kopf nur hier und da einen ganz leisen Ansatz von Pelz. Sie hat ihm auch schon einen Namen gegeben – Abel nennt sie es.

Zehn Jahre später. Es sind Jungens! Wir wissen das jetzt seit geraumer Zeit. Nur ihre anfängliche Winzigkeit und Gestaltlosigkeit hat uns so lange irre geführt. Wir hatten es noch nicht erlebt, daher unsere lange Ungewißheit. Jetzt haben wir uns bereits daran gewöhnt – auch ein paar Mädel sind schon angekommen.

Abel ist ein guter Junge. Aber wenn Kain ein Bär geblieben wäre, so würde das besser für ihn gewesen sein.

Was mich anlangt, so sehe ich nach allen diesen Jahren ein, daß ich Eva im Anfang unrecht getan habe. Es ist besser, außerhalb des Gartens mit ihr zu leben, als im Garten ohne sie. Ich meinte zuerst, sie spräche zuviel. Aber jetzt würde es mich aufs tiefste betrüben, wenn diese Stimme verstummen und ich sie mein Lebtag nicht mehr hören sollte. Gesegnet sei der Apfelbiß, der uns zuerst einander so nahe gebracht hat, daß ich ihre Holdseligkeit und die Güte ihres Herzens erkennen lernte!

Der Roman einer Eskimo-Maid

Der Roman einer Eskimo-Maid

»Ja, Herr Twain, ich will Ihnen von meinem Leben alles erzählen, was Sie gerne hören möchten,« sagte sie mit ihrer sanften Stimme und dabei sah sie mir mit ihren unschuldigen Augen ruhig ins Gesicht; »denn es ist lieb und nett von Ihnen, daß Sie mich leiden mögen und etwas über mich wissen wollen.«

Sie hatte, in Gedanken versunken, mit einem beinernen Messerchen Walfischfett von ihren Wangen geschabt und es an ihrem Pelzärmel abgewischt und dabei auf das Nordlicht am Himmel geblickt, das seine flammenden Strahlen in reichen Regenbogenfarben über die einsame Schneeebene und die Dome der Eisberge ergoß – ein Schauspiel von fast unerträglich glänzender Schönheit. Aber jetzt schüttelte sie die träumerische Stimmung von sich ab und schickte sich an, mir die einfache kleine Geschichte zu erzählen, um die ich sie gebeten hatte. Sie setzte sich bequem auf dem Eisblock zurecht, der uns als Sofa diente, und ich nahm die Haltung eines aufmerksamen Zuhörers an.

Sie war ein schönes Geschöpf. Ich spreche vom Eskimostandpunkt. Andere hätten sie für ein bißchen reichlich fett halten mögen. Sie war gerade zwanzig Jahre alt und galt für das weitaus bezauberndste Mädchen ihres Stammes. Sogar hier in der freien Luft, in ihren schwerfälligen und unförmlichen Pelzröcken, Pelzhosen und Pelzstiefeln und unter der großen Kapuze war wenigstens die Schönheit ihres Gesichtes erkennbar; die Schönheit ihrer Gestalt mußte man allerdings auf Treu und Glauben annehmen. Unter allen aus- und eingehenden Gästen hatte ich an ihres Vaters gastlichem Eßtrog kein Mädchen gesehen, das man ihrer ebenbürtig hätte nennen können. Und dabei war sie unverdorben! Sie war lieblich und natürlich und aufrichtig, und wenn sie wußte, daß sie eine Schönheit war, so ließ doch nichts in ihrem Gehaben darauf schließen, daß sie diese Kenntnis besaß.

Sie war nun seit einer Woche meine tägliche Kameradin gewesen, und je besser ich sie kennen lernte, desto besser gefiel sie mir. Sie war zärtlich und sorgfältig aufgezogen worden, in einer Lebensluft, die in den Polargegenden als eine außerordentlich verfeinerte gelten konnte, denn ihr Vater war der einflußreichste Mann seines Stammes und stand auf der Höhe der Eskimokultur. Ich machte mit Lasca – so hieß sie – lange Spazierfahrten im Hundeschlitten über die mächtigen Eisfelder und fand ihre Gesellschaft stets liebenswürdig und ihre Unterhaltung angenehm. Ich ging mit ihr auf den Fischfang, aber nicht in ihrem lebensgefährlich schwachen Boot, sondern ich spazierte bloß am Eisrande entlang und sah zu, wie sie mit ihrem unfehlbar treffenden Speer ihr Wild erlegte. Wir segelten miteinander; mehreremale stand ich dabei, wenn sie und ihre Familie von einem gestrandeten Wal den Speck ernteten, und einmal begleitete ich sie ein Stück Weges auf die Bärenjagd; ich kehrte aber um, ehe es zum Schuß kam, denn im Grunde habe ich Angst vor Bären.

Nun, wie gesagt, sie wollte mir ihre Geschichte erzählen. Hier ist sie:

»Unser Stamm war nach uraltem Brauch wie die anderen Stämme über das gefrorene Meer von Ort zu Ort gewandert, aber vor zwei Jahren wurde mein Vater des Wanderns müde und baute sich dieses große Schloß aus Schneeblöcken – sehen Sie es nur an! Es ist sieben Fuß hoch und drei- oder viermal so lang als irgend ein andres Haus. Hier haben wir seither immer gewohnt. Er war sehr stolz auf sein Haus und das mit Recht; denn wenn Sie es sich aufmerksam ansahen, so müssen Sie bemerkt haben, wieviel schöner und vollständiger es ist als die üblichen Wohnungen. Haben Sie noch nicht darauf geachtet, so müssen Sie es unbedingt tun, denn Sie werden darin eine luxuriöse Ausstattung finden, die sich hoch über das Gewöhnliche erhebt. Zum Beispiel, an dem Ende, das Sie den ›Empfangssalon‹ genannt haben, da ist die erhöhte Plattform, woran meine Familie und ihre Gäste es sich beim Essen bequem machen. Diese Plattform ist die größte, die Sie je in einem Hause gesehen haben – nicht wahr?«

»Ja, Sie haben vollkommen recht, Lasca; es ist die größte. Wir haben selbst in den schönsten Häusern der Vereinigten Staaten nichts Ähnliches.«

Bei dieser Anerkennung funkelten ihre Augen voll Stolz. Ich bemerkte es und schrieb es mir hinter die Ohren.

»Ich dachte mir’s, daß die Plattform Sie überrascht hätte,« sagte sie. »Und noch eins: Der Boden ist viel dicker mit Pelzen belegt als sonst üblich ist. Alle Arten Pelzwerk – vom Seehund, Seeotter, Silberfuchs, Bär, Marder, Zobel – alle Arten Pelzwerk sind im Überfluß vorhanden. Dasselbe gilt von den Eisblockschlafbänken an der Wand, die Sie ›Betten‹ nennen. Sind bei Ihnen zu Hause Plattformen und Schlafbänke besser ausgestattet?«

»Das sind sie wirklich nicht, Lasca – man denkt noch gar nicht mal daran.« Das gefiel ihr wieder. Sie dachte bloß an die Zahl der Pelze, die ihr feinsinniger Vater sich die Mühe nahm aufzubewahren, nicht an deren Wert. Ich hätte ihr sagen können, daß diese Massen von kostbarem Pelzwerk ein Vermögen bedeuteten – oder wenigstens in meiner Heimat bedeuten würden – aber sie hätte das nicht verstanden; solche Sachen galten bei ihrem Volk nicht als Reichtümer. Ich hätte ihr sagen können, daß die Kleider, die sie anhatte, oder die Alltagskleider der gewöhnlichsten Person ihrer Umgebung, zwölf- oder fünfzehnhundert Dollars wert seien, und daß ich bei uns zu Hause keine Dame kenne, die in Zwölfhundert-Dollars-Toiletten fischen ginge. Aber auch dies hätte sie nicht verstanden. Deshalb sagte ich nichts. Sie fuhr fort:

»Und dann die Spülzuber! Wir haben zwei im Empfangssalon und außerdem noch zwei andere im Hause. Es kommt sehr selten vor, daß jemand zwei im Empfangssalon hat. Haben Sie zwei in Ihrem Salon daheim?«

Der bloße Gedanke an diese Spülzuber benahm mir den Atem; ich sammelte mich aber wieder, bevor sie etwas merkte, und sagte voll Wärme:

»Hören Sie, Lasca, es ist schlecht von mir, daß ich meine Heimat bloßstelle, und Sie dürfen es nicht weiter sagen, denn ich spreche zu Ihnen im Vertrauen – ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß nicht mal der reichste Mann in der Stadt New York zwei Spülzuber in seinem Salon hat.«

Sie schlug in unschuldigem Entzücken ihre pelzbekleideten Hände zusammen und rief:

»O, das kann doch nicht Ihr Ernst sein, das kann nicht Ihr Ernst sein!«

»Ja, es ist wirklich mein Ernst, Liebste! Da ist Vanderbilt. Vanderbilt ist ungefähr der reichste Mann auf der ganzen Welt. Nun, und wenn ich auf dem Totenbett läge, so könnte ich Ihnen sagen, daß nicht mal er zwei in seinem Salon hat. Ja, nicht mal einen hat er – ich will auf der Stelle sterben, wenn’s nicht wahr ist!«

Ihre lieblichen Augen standen vor Erstaunen weit aufgerissen, und sie sagte langsam, mit einem gewissen Beben in der Stimme: »Wie seltsam – wie unglaublich – man kann es sich gar nicht vorstellen. Ist er geizig?«

»Nein – das ist er nicht. Auf die Ausgabe kommt’s ihm nicht an, aber – hm – wissen Sie, es würde protzig aussehen. Ja, das ist es – so denkt er. Er ist ein einfacher Mann auf seine Art und hat eine Abneigung gegen Entfaltung von Pomp und Prunk.«

»Nun, solche Demut ist ja recht anerkennenswert,« sagte Lasca, »wenn man sie nicht zu weit treibt – aber wie sieht denn nun der Salon aus?«

»Na, natürlich ziemlich kahl und unvollständig, aber …«

»Das kann ich mir denken. So was habe ich noch nie gehört! Ist es ein schönes Haus – ich meine, abgesehen davon?«

»Ziemlich schön, ja. Man hat ’ne sehr gute Meinung davon.«

Das Mädchen saß eine Weile schweigend da und knabberte träumerisch an einem Lichtstumpf. Augenscheinlich versuchte sie sich auf das Gehörte einen Vers zu machen. Zuletzt schüttelte sie leise den Kopf und sprach frank und frei ihre Meinung aus:

»Nun, nach meiner Ansicht gibt es eine Art von Demut, die, wenn man ihr auf den Grund geht, doch nur eine Prahlerei ist. Und wenn ein Mann, der sich zwei Spülzuber in seinem Salon leisten kann, es nicht tut, so ist er vielleicht wirklich demütig, aber hundertmal wahrscheinlicher ist es, daß er gerade die Blicke der Welt dadurch auf sich lenken will. Nach meiner Meinung weiß Herr Vanderbilt genau, was er damit bezweckt.«

Ich versuchte diesen Urteilsspruch zu mildern, denn ich fühlte, daß der Besitz von zwei Spülzubern nicht für jedermann der richtige Prüfstein sei, obgleich man in der Eskimogegend nichts dagegen einwenden kann. Aber das Mädchen hatte seinen eigenen Kopf und ließ sich nichts einreden. Plötzlich fragte sie: »Haben die reichen Leute bei Ihnen auch so gute Schlafbänke wie wir, aus so hübschen breiten Eisblöcken gemacht?«

»Na, sie sind ziemlich gut – gut genug – aber aus Eisblöcken sind sie nicht gemacht.«

»Ach gar! Warum sind sie denn nicht aus Eisblöcken?«

Ich erklärte ihr die Schwierigkeiten und machte sie darauf aufmerksam, wie teuer das Eis in einem Lande ist, wo man auf seinen Eismann scharf aufpassen muß, damit die Eisrechnung nicht schwerer wird als das Eis selber. Da rief sie:

»Herrje! Kaufen Sie Ihr Eis?«

»Ganz gewiß, mein liebes Kind.«

Sie brach in ein stürmisches, harmloses Lachen aus und sagte: »O, so was Albernes habe ich noch nie gehört! Es ist ja doch massenhaft vorhanden, ist kein kleinstes bißchen wert! Ich gäbe keine Fischblase für das Ganze!«

»Nun, Sie wissen eben den Wert nicht zu beurteilen, Sie kleine Provinzpflanze Sie! Wenn Sie das Eis hier im Hochsommer in New York hätten, so könnten Sie alle Walfische dafür kaufen, die am Markt sind.«

Sie sah mich zweifelnd an und sagte:

»Sprechen Sie die Wahrheit?«

»Die reinste! Ich leiste meinen Eid darauf.«

Das machte sie nachdenklich. Auf einmal sagte sie mit einem kleinen Seufzer:

»Ich wollte, da könnte ich wohnen!«

Ich hatte ihr nur zum Vergleich Werte nennen wollen, von denen sie sich einen Begriff machen konnte; aber meine Meinung war mißgedeutet. Ich hatte ihr damit nur den Eindruck erweckt, daß in New York Walfische reichlich vorhanden und billig seien, und hatte ihr den Mund wässern gemacht. Es schien am besten zu sein, wenn ich den begangenen Fehler zu mildern versuchte; so sagte ich denn:

»Aber Sie würden sich aus Walfischfleisch nichts machen, wenn Sie in New York wohnten. Kein Mensch dort fragt etwas danach.«

»Was?!«

»Nein, wirklich nicht.«

»Aber warum denn nicht?«

»T–scha, das weiß ich nicht recht. Es ist ein Vorurteil, denke ich. Ja, das ist’s – einfach ein Vorurteil. Wahrscheinlich hat mal irgendwo und irgendwann irgend einer, der nichts Besseres zu tun hatte, ein Vorurteil dagegen aufgebracht, und Sie wissen ja, wenn so eine Einbildung mal eingewurzelt ist, so dauert es eine endlose Zeit, bis sie wieder ausgetrieben wird.«

»Das stimmt – das stimmt vollkommen!« sagte das Mädchen nachdenklich. »Gerade so war es hier mit unserem Vorurteil gegen Seife – wissen Sie, unsere Stämme hatten anfangs ein Vorurteil gegen Seife.«

Ich sah sie an. Sprach sie im Ernst? Augenscheinlich ja. Ich zögerte einen Augenblick, dann fragte ich vorsichtig, mit einer gewissen Betonung:

»Entschuldigen Sie: Sie hatten ein Vorurteil gegen Seife? Hatten?«

»Ja. Aber das war bloß im Anfang. Kein Mensch wollte sie essen.«

»Ach so, ich verstehe. Ich wußte nur nicht gleich, was Sie meinten.«

Sie fuhr fort: »Es war einfach ein Vorurteil. Als zum erstenmal Seife von den Fremdländischen hierhergebracht wurde, da mochte keiner sie. Sobald sie aber in Mode kam, hatte jeder sie gern und jetzt hat jeder welche, der es sich nur leisten kann. Lieben Sie Seife?«

»O ja, gewiß! Ich würde umkommen, wenn ich keine haben könnte – besonders hier. Haben Sie sie gerne?«

»Ich bete sie geradezu an. Mögen Sie Lichte?«

»Ich betrachte sie als unentbehrliche Notwendigkeit. Lieben Sie sie?«

Ihre Augen tanzten geradezu und sie rief:

»O, sprechen Sie nicht davon! … Lichte! … und Seife!«

»Und Fischeingeweide …!«

»Und Lebertran …!«

»Und Bratenfett …!«

»Und Walfischspeck …!«

»Und recht altes Fleisch von gestrandetem Wal! und Sauerkraut! und Bienenwachs! und Teer! und Terpentin! und Syrup! und …«

»O bitte, nicht mehr! Halten Sie ein! Mir bleibt die Luft weg vor Wonne …«

»Und dann alles zusammen in einer Trantonne angerichtet und die Nachbarn dazu eingeladen und dann …«

Aber dieses Zauberbild eines idealen Festes war zu viel für sie, und sie fiel in Ohnmacht, das arme Ding. Ich rieb ihr das Gesicht mit Schnee und brachte sie wieder zu sich, und nach einer Weile kühlte ihre Erregung sich ab. Allmählich kam sie wieder so weit, daß sie in ihrer Geschichte fortfahren konnte:

»So begannen wir also hier in dem schönen Hause zu wohnen. Aber ich war nicht glücklich. Der Grund war dieser: Ich war zur Liebe geschaffen; ohne Liebe konnte es für mich kein wahres Glück geben. Ich wollte um meiner selbst willen geliebt sein. Ich wollte anbeten und wollte von meinem Angebeteten angebetet werden; nichts Geringeres als gegenseitige Anbetung konnte meine glühende Natur befriedigen. Ich hatte Freier genug – ja übergenug – aber in allem und jedem Fall hatten sie einen verhängnisvollen Mangel; früher oder später entdeckte ich diesen Mangel – kein einziger von ihnen vermochte ihn vor mir zu verhehlen: sie wollten nicht mich, sondern meinen Reichtum!«

»Ihren Reichtum?«

»Ja; mein Vater ist der allerreichste Mann in unserem Stamm – und überhaupt unter allen Stämmen dieser Gegend.«

Ich fragte mich neugierig, worin wohl ihres Vaters Reichtum bestehen möchte. Das Haus konnte es nicht sein – ein jeder konnte sich so eins bauen. Die Pelze waren’s auch nicht – denn die waren hier nichts wert. Der Schlitten, die Hunde, die Harpunen, das Boot, die beinernen Fischhaken, Nadeln usw., das alles konnte es nicht sein – nein, das war alles kein Reichtum. Was konnte es denn also sein, das diesen Mann so reich machte und den Schwärm von habgierigen Freiern in sein Haus brachte? Schließlich dünkte mich, es wäre, um dies herauszufinden, das beste, wenn ich sie fragte. Ich tat es. Das Mädchen war durch diese Frage so augenscheinlich geschmeichelt, daß ich sah, sie hatte sich schmerzlich danach gesehnt. Ihr Mitteilungsbedürfnis brannte sie ebenso sehr wie mich meine Neugier. Sie schmiegte sich traulich an mich an und sagte:

»Raten Sie, wie schwerreich er ist – Sie kriegen es niemals heraus!«

Ich tat, als dächte ich tief über die Sache nach, und sie beobachtete den Ausdruck meiner Denkanstrengungen auf meinem Gesicht mit atemlosem und entzücktem Interesse. Und als ich es endlich aufgab und sie bat, meine Sehnsucht zu stillen und zu mir selbst zu sagen, wieviel dieser Vanderbilt des Nordpols wert sei, da legte sie ihren Mund dicht an mein Ohr und wisperte eindrucksvoll:

»Zweiundzwanzig Angelhaken – keine beinernen, sondern fremdländische – aus echtem Eisen!«

Dann sprang sie mit dramatischer Gebärde zurück, um die Wirkung zu beobachten. Ich gab mir die allergrößte Mühe, sie nicht zu enttäuschen. Ich erbleichte und murmelte:

»Gott Strambach!«

»Es ist so wahr, wie Sie leben, Herr Twain!«

»Lasca, Sie machen mir was weis – Sie können es nicht im Ernst meinen!«

Sie wurde furchtsam und verwirrt und rief aus:

»Herr Twain, jedes Wort davon ist wahr – jedes Wort. Sie glauben mir – Sie glauben mir doch, bitte, nicht wahr? Sagen Sie, daß Sie mir glauben – bitte, bitte, sagen Sie, daß Sie’s glauben.«

»Ich … hm … na ja, ich glaube – ich bemühe mich, es zu glauben. Aber es kam gar so plötzlich. So plötzlich und so verblüffend. Sie sollten so was nicht so mit einemmal machen. Es …«

»O, es tut mir so leid! Hätte ich nur gedacht …«

»Nun, es ist schon gut … und ich mache Ihnen keine Vorwürfe mehr, denn Sie sind jung und gedankenlos, und natürlich konnten Sie nicht voraussehen, was für ’ne Wirkung …«

»Ach ja. Bester, ich hätte ganz gewiß besser daran denken sollen. Aber wie …«

»Sehen Sie, Lasca, wenn Sie mit fünf oder sechs Angelhaken angefangen hätten und dann allmählich …«

»O, ich verstehe, ich verstehe … dann allmählich einen hinzufügen, und dann zwei und dann … Ach, warum habe ich denn auch nicht daran gedacht!«

»Nun, gleichviel, Kind; es ist schon recht. Ich fühle mich jetzt besser … binnen kurzem werde ich darüber weg sein. Aber … einem unvorbereiteten und gar nicht sehr kräftigen Menschen mit sämtlichen zweiundzwanzig auf einmal ins Gesicht springen …!«

»O … es war eine Sünde! Aber Sie verzeihen mir – sagen Sie, daß Sie mir verzeihen! Bitte!«

Nachdem ich ein gut Teil sehr niedlichen Streichelns und Hätschelns und Zuredens eingeheimst hatte, vergab ich ihr, und sie war wieder glücklich und kam nach und nach wieder in ihre Geschichte hinein. Auf einmal entdeckte ich, daß der Familienschatz noch irgend was anderes Ausgezeichnetes enthalten mußte – augenscheinlich irgend ein Kleinod – und daß sie versuchte in Andeutungen davon zu sprechen, damit es mich nicht abermals umwürfe. Doch ich wünschte auch von diesen Dingen genau Bescheid zu wissen und drang in sie, mir zu sagen, was es sei. Sie hatte Angst. Aber ich bestand darauf und sagte, diesmal würde ich mich zusammennehmen und den Stoß aushalten. Sie war voll böser Ahnungen, aber die Versuchung, mir das Wunder zu enthüllen und sich an meinem Erstaunen und meiner Bewunderung zu weiden, war zu stark für sie, und sie gestand mir, sie trüge es bei sich, und sagte, wenn sie sicher wäre, daß ich gefaßt sei – usw. usw. – und damit griff sie in ihren Busen und brachte ein verbeultes viereckiges Messingstück zum Vorschein, wobei ihr Blick erwartungsvoll an meinem Auge hing. Ich sank an ihren Busen in einer ganz vorzüglich gespielten Ohnmacht, die ihr Herz entzückte und zugleich in höchsten Schrecken versetzte. Als ich wieder zu mir kam, erkundigte sie sich begierig, was ich zu ihrem Kleinod sagte.

»Was ich dazu sage? Ich denke, es ist das köstlichste Ding, das ich jemals sah.«

»Denken Sie das wirklich? Wie nett von Ihnen, daß Sie das sagen. Aber es ist auch herzig – ist es nicht?«

»Gewiß, das will ich meinen! Ich wollte es lieber mein eigen nennen, als den ganzen Äquator!«

»Ich dachte mir’s, daß Sie’s bewundern würden,« sagte sie. »Ich meine, es ist so herzig! Und es gibt kein zweites in diesen ganzen Gegenden! – Es sind Leute ganz vom offenen Polarmeer hierher gereist, um sich’s anzusehen. Sahen Sie jemals früher so was?«

Ich sagte nein; es wäre das erste derartige Juwel, das ich je gesehen hätte. Es gab mir einen schmerzlichen Knax, diese großmütige Lüge zu sagen, denn ich hatte in meinem Leben eine Million solcher Dinger gesehen – da ihr Kleinod nichts anderes war, als eine verbogene alte New Yorker Bahnhofsgepäckmarke.

»Alle Wetter!« sagte ich. »Sie gehen doch nicht mit diesem Juwel auf Ihrem Leibe so allein und ohne Schutz herum, und ohne auch nur ’nen Hund mitzunehmen?«

»Pßt! Nicht so laut!« sagte sie. »Niemand weiß, daß ich’s bei mir habe. Sie denken, es liegt bei Papas Schatz. Und da liegt es auch für gewöhnlich.«

»Wo ist der Schatz?«

Das war eine plumpe Frage, und einen Augenblick lang sah sie verdutzt und ein wenig mißtrauisch drein; aber ich sagte:

»O, o! Haben Sie doch keine Angst vor mir. Zu Hause sind wir siebzig Millionen Menschen, und – ich sollte es eigentlich nicht selber von mir sagen, aber da ist kein einziger unter ihnen allen, der mir nicht unzählbare Angelhaken anvertrauen würde.«

Dies beruhigte sie wieder und sie erzählte mir, wo die Angelhaken im Hause versteckt lägen. Dann machte sie eine kleine Abschweifung, um ein bißchen mit der Größe der durchscheinenden Eisplatten zu renommieren, die die Fenster ihres Schlosses bildeten, und fragte mich, ob ich zu Hause je ihresgleichen gesehen, und ich bekannte frei und offen, das hätte ich nicht, und das machte ihr solche Freude, daß sie keine Worte finden konnte, ihre Dankbarkeit darin zu kleiden. Es war so leicht ihr Freude zu machen, und eine solche Freude, dies zu tun, daß ich fortfuhr und sagte:

»O, Lasca, Sie sind wirklich ein glückliches Mädchen! Dieses schöne Haus, dies köstliche Juwel, der reiche Schatz, all dieser elegante Schnee und die prachtvollen Eisberge und die grenzenlose Wüste, und die jagdfreien Bären und Walrosse, und edle Freiheit und weite Natur! Und jedermanns Augen ruhen bewundernd auf Ihnen, und jedermanns Ehrfurcht steht Ihnen ungesucht zu Gebote! Jung, reich, schön, umworben, gefeiert, beneidet – von jedem Luxus sind Sie umgeben, jeder Wunsch wird Ihnen erfüllt, ja es gibt nicht einmal etwas, was Sie wünschen könnten – was für ein unermeßliches Glück! Ich habe Myriaden von Mädchen gesehen, aber keine, der man alle diese außerordentlichen Dinge mit Recht nachsagen konnte, außer Ihnen. Und Sie sind ihrer würdig, – sind ihrer aller würdig, Lasca – das glaube ich in meines Herzens Grunde!«

Es machte sie unendlich stolz und glücklich, mich dies sagen zu hören und sie dankte mir immer und immer wieder für die Schlußbemerkung, und an ihrer Stimme und ihren Augen merkte ich, daß sie wirklich gerührt war. Aber plötzlich sagte sie:

»Und doch, es ist nicht alles Sonnenschein – es sind auch düstere Wolken vorhanden. Die Bürde des Reichtums ist schwer zu tragen. Oftmals habe ich zweifelnd bei mir gedacht, ob es nicht besser wäre, arm zu sein – oder wenigstens nicht so über alle Maßen reich. Es schmerzt mich, wenn Leute von Nachbarstämmen mich anstarren, wenn sie bei mir vorüber kommen, und wenn ich sie ehrfurchtsvoll zu einander sagen höre: ›Da! Das ist sie – die Millionärstochter!‹ Und manchmal sagt einer kummervoll: ›Sie wälzt sich in Angelhaken, und ich – ich habe nichts!‹ Das bricht mir das Herz. Als ich ein Kind war und wir arm waren, da schliefen wir bei offener Tür, wenn wir wollten, aber jetzt – jetzt müssen wir einen Nachtwächter haben. Früher war mein Vater freundlich und höflich zu allen; aber jetzt ist er streng und hochfahrend und kann’s nicht leiden, wenn ihm einer vertraulich kommt. Einst war seine Familie sein einziger Gedanke, aber jetzt denkt er, wo er geht und steht, an seine Angelhaken. Und sein Reichtum macht, daß ein jeder untertänigst vor ihm katzbuckelt. Früher lachte niemand über seine Spaße, denn sie sind immer fade und weithergeholt und armselig und mangeln des einzigen Elements, das wirklich einen Spaß rechtfertigen kann – des Humors. Aber nun lacht und kichert ein jeder über diese greulichen Dinger, und wenn’s einer ‚mal nicht tut, so ärgert mein Vater sich tief und läßt es sich merken. Früher fragte kein Mensch nach seiner Meinung, und sie taugte auch wirklich nichts, wenn er sie ‚mal ungefragt abgab; diesen Fehler haben seine Meinungen auch jetzt noch, trotzdem wollen alle sie hören und geben ihren Beifall dazu – und er selbst stimmt in den Beifall ein, denn echtes Zartgefühl hat er gar nicht, dafür aber eine große Masse Taktlosigkeit. Er hat den Ton unseres ganzen Stammes heruntergebracht. Einst war’s ein freimütiges, mannhaftes Geschlecht, jetzt sind sie jämmerliche Heuchler und aufgedunsene Liebediener. Von ganzem Herzensgrunde hasse ich all dies Millionärsgetue. Unsere Stammesgenossen waren einst schlichtes, einfaches Volk, zufrieden mit den beinernen Angelhaken ihrer Väter; jetzt sind sie von Habsucht zerfressen und würden jedes Gefühl von Ehre und Würde opfern, um des Fremdlings entwürdigende eiserne Angelhaken zu erlangen. Aber ich darf bei diesen traurigen Geschichten nicht verweilen … Wie ich gesagt, es war mein Traum, um meiner selbst willen geliebt zu werden.

Endlich schien dieser Traum in Erfüllung gehen zu sollen. Eines Tages kam ein Fremder durch, der sagte, sein Name sei Kalula. Ich nannte ihm meinen Namen, und er sagte, er liebe mich. Mein Herz hüpfte hoch vor Dankbarkeit und Glück, denn ich hatte ihn auf den ersten Blick geliebt, und nun sagte ich ihm das. Er zog mich an seine Brust und sagte, er wünschte niemals glücklicher zu sein, als in dem Augenblick. Wir lustwandelten miteinander weit über die Eisfelder, sprachen immerfort von uns selber und planten, ach, die lieblichste Zukunft. Als wir endlich müde wurden, setzten wir uns nieder und aßen, denn er hatte Seife und Lichte bei sich, und ich hatte ein bißchen Walfischtran mitgenommen. Wir waren hungrig und niemals schmeckte uns etwas so gut.

Er gehörte zu einem Stamm, dessen Jagdgründe fern im Norden lagen, und ich fand heraus, daß er niemals was von meinem Vater gehört hatte, und das machte mich über alle Maßen froh. Das heißt, er hatte wohl von dem Millionär gehört, kannte aber dessen Namen nicht – so konnte er also, verstehen Sie, nicht wissen, daß ich die Erbin war. Sie können sich denken, daß ich ihm nichts davon sagte. Endlich war ich um meiner selbst willen geliebt, und wie zufrieden machte mich das! Ich war so glücklich – o, glücklicher, als Sie sich vorstellen können.

Allmählich wurde es Zeit zum Abendessen, und ich führte ihn nach unserm Hause. Als wir in dessen Nähe kamen, war er erstaunt und rief:

›Wie prachtvoll! Ist das deines Vaters Haus?‹

Es gab mir einen Stich durchs Herz, als ich diesen Ton hörte und den bewundernden Glanz in seinem Auge sah, aber dies Gefühl schwand bald hinweg, denn ich liebte ihn so sehr, und er sah so schmuck und vornehm aus. Meiner ganzen Familie, Tanten, Onkeln, Vettern und Cousinen gefiel er gut, viele Gäste wurden eingeladen, das Haus wurde dicht verschlossen, die Tranlampen angezündet, und als alles heiß und recht zum Ersticken gemütlich war, da begannen wir ein fröhliches Festmahl zur Feier meiner Verlobung.

Als der Schmaus vorüber war, da erlag mein Vater seiner Eitelkeit und konnte der Versuchung nicht widerstehen, mit seinen Reichtümern zu protzen und Kalula sehen zu lassen, in was für ein großes Glück er hineingetappt wäre – und vor allem natürlich wollte er sich an des armen Mannes Erstaunen weiden. Ich hätte weinen mögen – aber es hätte nichts genützt, wenn ich versucht hätte, meinem Vater abzureden; so sagte ich denn nichts, sondern saß nur da und litt schweigend.

Mein Vater ging im Angesicht aller Leute geradeswegs auf das Versteck los und holte die Angelhaken hervor und brachte sie herbei und warf sie streuend über meinen Kopf weg, so daß sie in glitzerndem Durcheinander vor meines Liebsten Knieen auf die Plattform niederfielen. Natürlich stand bei dem erstaunlichen Schauspiel dem armen Burschen der Atem still. Er konnte nur in stumpfsinniger Verblüfftheit auf die Angelhaken starren und sich wundern, wie ein einzelner Mensch so unglaubliche Reichtümer besitzen könne. Dann auf einmal leuchtete sein Antlitz auf und er rief aus:

›Ah, so bist du der berühmte Millionär!‹

Mein Vater und alle übrigen brachen lärmend in ein glückliches Gelächter aus, und als mein Vater nachlässig den Schatz zusammenkehrte, als wäre es ein gewöhnlicher Plunder ohne alle Bedeutung, und ihn wieder an seinen Platz trug, da war Kalulas Überraschung zum Malen. Er sagte:

›Ist es möglich, daß du solche Sachen forträumst ohne sie zu zählen?‹

Mein Vater ließ ein prahlerisch wieherndes Lachen erschallen und sagte:

›Gewiß und wahrhaftig, da kann ein Toter sehen, daß du niemals reich gewesen bist, wenn eine Lapalie von einem oder zwei Angelhaken in deinen Augen ein so mächtiges Ding ist!‹

Kalula war verwirrt und senkte den Kopf; dann sagte er:

›Ach, in der Tat, Herr, ich besaß niemals auch nur soviel, wie der Widerhaken an einer solchen kostbaren Angel wert ist, und ich habe niemals einen Mann gesehen, der so reich war, daß es sich verlohnt hätte, seinen Hort zu zählen, denn der Wohlhabendste, den ich bis jetzt gekannt, besaß nur drei.‹

Mein törichter Vater brüllte wieder in albernem Entzücken und mußte dadurch den Eindruck noch vertiefen, daß er nicht gewöhnt sei, seine Angelhaken zu zählen und scharf zu bewachen. Sehen Sie, das war Renommisterei. Ob er sie zählte? Ei ja, er zählte sie jeden Tag!

Ich hatte meinen Liebling in der ersten Morgendämmerung getroffen und kennengelernt; nach unserem Hause gebracht hatte ich ihn genau drei Stunden später, bei Einbruch der Nacht – denn die Tage waren kurz, da wir uns damals der sechsmonatlichen Nacht näherten. Viele Stunden dauerte unser festliches Gelage; endlich gingen die Gäste fort, und wir Zurückbleibenden verteilten uns die Wände entlang auf die Schlafbänke und bald waren alle in Träume versunken – außer mir. Ich war zu glücklich, zu erregt, um schlafen zu können. Nachdem ich lange, lange Zeit still dagelegen hatte, kam bei mir eine undeutliche Gestalt vorbei, die in dem Dunst am anderen Ende des Raumes verschwand. Ich konnte nicht unterscheiden wer es war und ob es ein Mann oder eine Frau sein mochte. Plötzlich kam dieselbe Figur oder eine andere in der entgegengesetzten Richtung an mir vorüber. Ich grübelte in mir darüber nach, was wohl dies alles bedeuten könnte; aber das Grübeln half mir nichts, und während ich noch grübelte, schlief ich ein.

Ich weiß nicht wie lange ich schlief – aber plötzlich war ich hell wach und hörte meinen Vater mit schrecklicher Stimme rufen: ›Beim großen Schneegott! Es fehlt ein Angelhaken!‹ Eine innere Stimme sagte mir, dies bedeute Kummer und Sorge für mich – und das Blut in meinen Adern erstarrte vor Kälte. Mein Vorgefühl fand sich im selben Augenblick bestätigt; mein Vater schrie: ›Auf, ihr alle miteinander und packt mir den Fremden!‹ Dann ein Ausbruch von Geschrei und Flüchen auf allen Seiten und ein wildes Rennen schattenhafter Gestalten durch die Dunkelheit. Ich eilte meinem Geliebten zu Hilfe, aber was konnte ich anders tun als warten und die Hände ringen?

Er war bereits durch einen lebenden Wall von mir getrennt, und man war dabei, ihm Hände und Füße zu binden. Erst als sie sich seiner versichert hatten, ließen sie mich zu ihm. Ich warf mich auf seine arme mißhandelte Gestalt und weinte meinen Schmerz an seiner Brust aus, während mein Vater und meine ganze Familie auf mich schalten und ihn mit Drohungen und schmählichen Schimpfworten überhäuften. Er ertrug diese schnöde Behandlung mit einer ruhigen Würde, die ihn mir teurer denn je machte und mich mit glücklichem Stolz erfüllte, daß ich mit ihm und für ihn leiden durfte. Ich hörte, wie mein Vater befahl, die Ältesten des Stammes sollten zusammengerufen werden, um über Kalula auf Leben und Tod zu richten.

›Was?!‹ rief ich. ›Bevor überhaupt nach dem verlorenen Haken gesucht worden ist?‹

›Nach dem verlorenen Haken!‹ riefen sie alle höhnisch, und mein Vater fügte spöttisch hinzu: ›Tretet alle beiseite und seid recht ernst, wie sich’s gehört – sie geht auf die Jagd nach dem ›verlorenen‹ Haken! O, ohne Zweifel wird sie ihn finden!‹ – worauf sie wieder alle lachten.

Auf mich machte dies keinen Eindruck – ich hatte keine Befürchtungen, keine Zweifel. Ich sagte:

›Jetzt seid ihr daran zu lachen; aber wir kommen auch noch an die Reihe. Wartet ab und seht!‹

Ich ergriff eine Tranlampe. Ich dachte, ich würde das elende kleine Ding in einem Augenblick finden; und ich begab mich mit solcher Zuversicht auf die Suche, daß meine Leute ernst wurden. Es dämmerte ihnen der Gedanke, sie wären doch vielleicht zu voreilig gewesen. Aber ach und je! O, wie bitter war dieses Suchen. Eine Zeitlang, während welcher man zehn- oder zwölfmal seine Finger hätte zählen können, herrschte tiefes Schweigen, dann begann mir das Herz zu sinken, und um mich herum fingen wieder die Spottreden an und wurden immer lauter, bis zuletzt, als ich es aufgab, Salve auf Salve von grausamem Gelächter erscholl.

Kein Mensch kann jemals ahnen, was ich da litt. Aber meine Liebe war mir Stütze und gab mir Kraft, ich stellte mich auf den mir zukommenden Platz an meines Kalula Seite, schlang meinen Arm um seinen Nacken und flüsterte ihm ins Ohr:

›Du bist unschuldig, mein Herzlieb – das weiß ich. Aber sage es selber mir zum Trost. Dann kann ich alles tragen, was immer uns beschieden sein mag.‹

Er antwortete:

›So gewiß ich in diesem Augenblick auf der Schwelle des Todes stehe: ich bin unschuldig. Tröste dich also, o zertretenes Herz. Sei im Frieden, o du Atemzug meiner Nüstern, Leben meines Lebens!‹

›Nun, so laßt die Ältesten kommen!‹ Und als ich diese Worte sprach, da kam von draußen ein verworrenes Geräusch von knirschendem Schnee, und dann huschten wie Geister gebeugte Gestalten zur Tür herein – die Ältesten!

Mein Vater klagte den Fremden in aller Form an und schilderte die Vorgänge der Nacht in allen ihren Einzelheiten. Er sagte, der Nachtwächter habe vor der Tür gestanden und drinnen sei kein Mensch gewesen außer der Familie und dem Fremden. ›Würde die Familie ihr eigenes Eigentum stehlen?‹ Er hielt inne. Die Ältesten sahen viele Minuten lang schweigend da; zuletzt sagte einer nach dem andern zu seinem Nachbarn: ›Das sieht schlimm aus für den Fremden.‹ Kummer bringende Worte für mich zu hören! Dann setzte mein Vater sich hin. O, ich Elende – Elende ich! In demselben Augenblick hätte ich meines Lieblings Unschuld beweisen können – aber ich wußte es nicht!

Der Vorsitzende des Gerichtes fragte:

›Ist hier jemand, der den Angeklagten verteidigen will?‹

Ich stand auf und sagte:

›Warum sollte er denn den Haken stehlen – einen einzelnen oder sie alle zusammen? Einen Tag darauf wäre er ja der Erbe des ganzen Schatzes gewesen!‹

Ich stand und wartete. Es trat ein langes Schweigen ein; der Atemdampf von den vielen Menschen umwallte mich wie ein Nebel. Endlich nickte ein Ältester nach dem anderen mehreremale langsam mit dem Kopf und murmelte: ›Es liegt Beweiskraft in dem, was das Kind gesagt hat.‹ O was für eine Herzerleichterung lag in diesen Worten! Wenn auch flüchtig – wie köstlich war sie doch. Ich setzte mich.

›Wenn einer noch etwas zu sagen wünscht, so möge er jetzt sprechen – später aber schweige er,‹ sagte der Vorsitzende.

Mein Vater stand auf und sprach:

›Während der Nacht kam in dem trüben Dämmer eine Gestalt bei mir vorüber, ging zum Schatz und kam plötzlich wieder zurück. Ich glaube jetzt, es war der Fremde.‹

O, ich war einer Ohnmacht nahe! Ich hatte gedacht, es sei mein Geheimnis; nicht der große Eisgott selber hätte es mir aus dem Herzen reißen sollen. Der Vorsitzende Richter sagte ernst zu meinem armen Kalula:

›Sprich!‹

Kalula zauderte, dann antwortete er:

›Ich war’s! Die Gedanken an die schönen Angelhaken ließen mich nicht schlafen. Ich ging hin und küßte sie und streichelte sie, um meinen Geist zu beruhigen und mit einer harmlosen Freude einzulullen. Dann legte ich mich wieder hin. Ich habe vielleicht einen fallen lassen, aber gestohlen habe ich keinen!‹

O, was für ein verhängnisvolles Eingeständnis an solchem Ort! Schauerliches Schweigen herrschte! Ich wußte, er hatte sein eigenes Urteil gesprochen, und es war alles vorüber. Auf jedem Antlitz konnte man die Worte eingegraben lesen: ›Es ist ein Geständnis – und ein armseliges, schwächliches!‹

Ich sah und hielt meine schwachen Atemzüge an – und wartete. Auf einmal hörte ich die feierlichen Worte, die, wie ich wußte, kommen mußten. Und jedes Wort, wie es ertönte, fuhr mir wie ein Messer ins Herz:

›Es ist der Befehl des Gerichtshofes, daß der Angeklagte der ›Wasserprobe‹ unterworfen werde.‹

O, Fluch auf das Haupt des Menschen, der die Wasserprobe in unser Land brachte! Sie kam vor Menschenaltern aus irgend einem fernen Lande – wo es liegt, weiß keine Seele. Vorher benutzten unsere Väter Zeichendeutung und andere unsichere Beweismittel, und ohne Zweifel kam dann und wann ein armes Geschöpf trotz seiner Schuld mit dem Leben davon. Nicht so ist es mit der Wasserprobe; denn diese ist von weiseren Männern erfunden worden, als wir armen unwissenden Wilden sind. Durch sie werden die Unschuldigen zweifellos und fraglos für unschuldig befunden, denn sie ertrinken; die Schuldigen aber werden mit derselben Sicherheit als schuldig erkannt, denn sie gehen nicht unter. Das Herz brach mir im Busen, denn ich sagte mir: ›Er ist unschuldig und er wird in die Wogen versinken und ich werde ihn niemals wiedersehen.‹

Von diesem Augenblick an wich ich nicht mehr von seiner Seite. Ich trauerte in seinen Armen all die kostbaren Stunden lang, und er übergoß mich mit dem tiefen Strom seiner Liebe. Zuletzt rissen sie ihn von mir und ich folgte ihnen schluchzend und sah sie ihn in die See schleudern – dann verhüllte ich mein Antlitz mit den Händen. Todesqual? O, ich kenne die tiefsten Tiefen dieses Wortes!

Im nächsten Augenblick brachen die Leute in ein hämisches Freudengeschrei aus; vor Schreck zusammenfahrend nahm ich meine Hände vom Gesicht. O bitterer Anblick: er schwamm! Augenblicklich wurde mein Herz zu Stein, zu Eis. Ich sagte:›Er war schuldig – und er log mir!‹ Voll Verachtung wandte ich meinen Rücken und ging meines Weges – nach Hause.

Sie fuhren mit ihm weit hinaus in die See und setzten ihn auf einen Eisberg, der nach Süden trieb – nach Süden zu den großen Gewässern. Dann kam meine Familie heim und mein Vater sprach zu mir:

›Dein Dieb sendet dir seine Todesbotschaft. Er sagt: »Sage ihr, ich bin unschuldig und alle Tage und alle Stunden und alle Minuten, während ich verhungere und verkomme, werde ich sie lieben und an sie denken und den Tag segnen, da ich ihr süßes Antlitz zuerst erblickte.« – Ganz reizend, geradezu poetisch!‹

Ich sagte: ›Pfui, wie schmutzig – laßt mich niemals wieder ihn nennen hören.‹

Und ach – denken zu müssen: Er war unschuldig!

Neun Monate – neun öde traurige Monate gingen dahin und endlich kam der Tag des großen Jahresopfers, wo alle Jungfrauen des Stammes ihr Antlitz waschen und ihr Haar kämmen. Mit dem ersten Strich meines Kammes kam zum Vorschein der verhängnisvolle Angelhaken, kam heraus aus seinem Versteck, wo er diese ganzen neun Monate genistet hatte – und ich fiel ohnmächtig in die Arme meines von Reue gequälten Vaters! Stöhnend sagte er: ›Wir mordeten ihn, und ich werde niemals wieder lächeln.‹ Er hat sein Wort gehalten … Höre: von diesem Tage bis heute verging kein Monat, daß ich nicht mein Haar kämmte! Aber ach, was nützt das alles jetzt! …«

 

So endete der armen Jungfrau bescheidene kleine Geschichte – und wir lernen daraus: Sintemalen hundert Millionen Dollars in New York und zweiundzwanzig Angelhaken am Rande der arktischen Zone dieselbe finanzielle Übermacht darstellen, so ist ein Mann in bedrängten Verhältnissen ein Narr, wenn er in New York bleibt, da er doch nur für zehn Cents Angelhaken zu kaufen und auszuwandern braucht.

Tom Sawyer als Detektiv

Tom Sawyer als Detektiv

Von Huck Finn erzählt

Erstes Kapitel

Ein Jahr war herum, seitdem Tom Sawyer und ich unsern alten Neger Jim befreit hatten, der auf der Farm von Toms Onkel Silas in Arkansas als fortgelaufener Sklave in Ketten gelegt worden war. Nun wurde es Frühling; der gefrorene Boden taute auf und mildere Lüfte wehten. Immer näher winkte die Zeit, wo man wieder barfuß gehen konnte; dann kam das Murmelspiel an die Reihe, später Kreisel und Reifen oder man ließ den Drachen steigen, und wenn es endlich Sommer geworden war ging’s zum Schwimmen. Doch das lag unabsehbar fern, und der Gedanke, wie lange es noch dauern muß, bis der Sommer kommt, macht unsereinen ganz schwermütig. Dann schleicht so ein armer Junge trübselig umher; er seufzt und stöhnt und weiß nicht was ihm fehlt. Er sucht sich ein einsames Fleckchen hoch oben am Berghang, wo er weit hinausschauen kann, wie der große Mississippi sich um eine Landzunge nach der andern windet, bis er mit der dämmerigen Ferne verschwimmt. Alles ist so still und feierlich wie beim Begräbnis, und man wünscht, man wäre selber tot und begraben, damit das Erdenleid ein Ende hätte.

Wißt ihr, wie die Krankheit heißt? Man nennt sie Frühlingsfieber. Und wenn sie einen befällt, hat man immerzu Herzweh, man weiß nicht wonach. Man möchte weit weg von dem ewigen Einerlei der alltäglichen Dinge, die einem zum Überdruß sind. Etwas Neues sehen und als Wanderer in fremde Länder ziehen, wo alles wunderschön, geheimnisvoll und noch nie dagewesen ist – ja, danach sehnt man sich. Doch nimmt man allenfalls auch mit einer kleinen Wanderschaft fürlieb und ist froh, wenn man überhaupt fort kann.

Also, wir beide litten stark am Frühlingsfieber, Tom Sawyer und ich. Aber es war gar keine Aussicht vorhanden, daß Tom etwa die Schule versäumen und über Land gehen durfte; seine Tante Polly hielt das für Zeitverschwendung und hätte es nie zugegeben. Recht mutlos und niedergeschlagen saßen wir eines Tages gegen Sonnenuntergang draußen auf den Steinstufen und bliesen Trübsal; da kam Tante Dolly mit einem Brief in der Hand gegangen.

»Tom,« sagte sie, »du wirst wohl dein Bündel schnüren müssen, um dich nach Arkansas auf den Weg zu machen – Tante Sally verlangt nach dir.«

Ich hätte vor Freude aus der Haut springen mögen und glaubte nicht anders, als daß Tom seiner Tante um den Hals fallen und sie halbtot herzen würde; aber er saß stockstill da und tat keinen Mucks. Warum er nur solch ein Narr war, die herrliche Gelegenheit, die sich ihm bot, nicht beim Schopf zu fassen? Sie konnte ihm leicht entgehen, wenn er jetzt nicht bald den Mund auftat und sagte, wie froh und dankbar er wäre. Ich war ganz außer mir und dem Weinen nahe, als er immer weiter lernte und lernte und zuletzt ganz gelassen sagte:

»Es tut mir sehr leid, Tante, aber davon kann wirklich jetzt keine Rede sein!« – Da hält‘ ich ihn totschießen können.

Tante Polly war wie vor den Kopf geschlagen und so voll Zorn über die freche Antwort, daß sie eine ganze Minute lang sprachlos dastand und mir Zeit ließ, Tom einen Puff zu geben und ihm zuzuflüstern:

»Bist du denn übergeschnappt? Wie kannst du ein solches Glück wegwerfen und mit Füßen treten?«

Aber das machte ihm keinen Eindruck. »Schweig still, Huck Finn,« brummte er, »soll sie’s etwa merken, daß ich für mein Leben gern hin möchte? Gleich würden ihr tausend Zweifel kommen – lauter eingebildete Krankheiten, Gefahren und Hindernisse. Im Handumkehren hätte sie die Erlaubnis zurückgenommen. Laß mich nur machen, ich weiß schon, wie man sie behandeln muß.«

Na, so was wäre mir nie eingefallen; aber Tom hatte recht, wie immer. Ein Schlaukopf erster Sorte und nie unbesonnen – der läßt sich nicht verblüffen. Jetzt hatte Tante Polly sich vom Schreck erholt, und nun ging’s los:

»So – davon kann nicht die Rede sein? Hat man je so was gehört! Und das sagst du mir ins Gesicht? – Auf der Stelle gehst du hinauf und packst deine Siebensachen. Kein Wort mehr, das bitt‘ ich mir aus – sonst setzt’s Hiebe.«

Sie gab ihm noch eine Kopfnuß mit dem Fingerhut als wir uns duckten und rasch an ihr vorbeiliefen. Tom fing an zu flennen und wir sprangen die Treppe hinauf. Oben in seinem Zimmer fiel er mir um den Hals und war wie wahnsinnig vor Freude, weil’s nun auf die Reise ging.

»Sie wird’s bald bereuen, daß sie mich fortgelassen hat,« sagte er. »Aber nun weiß sie keinen Ausweg und kann’s nicht wieder rückgängig machen, dazu ist sie viel zu stolz.«

In zehn Minuten war Tom mit Packen fertig, bis auf das, was seine Tante und Mary an Sachen dazu tun würden; dann wartete er noch zehn Minuten, damit sich ihr Zorn abkühlen und sie wieder sanft und freundlich werden sollte. »Wenn sie nur halb aus dem Häuschen ist,« sagte er, »braucht sie zehn Minuten sich zu erholen: habe ich sie aber ganz wild gemacht, dann dauert es zwanzig Minuten, und das ist jetzt so ein Fall.« Nun gingen wir rasch hinunter, weil wir vor Neugierde brannten zu hören, was Tante Sally eigentlich geschrieben hatte.

Der Brief lag auf Tante Pollys Schoß und sie saß ganz in Gedanken versunken da. Als wir Platz genommen hatten, sagte sie:

»Unsere Leute dort unten sind in großer Trübsal; sie hoffen, ihr werdet sie zerstreuen, du und Huck Finn, und ein rechter Trost für sie sein. Na, ihr beide seid mir ein paar nette Tröster! – Die Sache ist nämlich so: Ein Nachbar von ihnen, Brace Dunlap, hat vor drei Monaten um die Hand ihrer Benny angehalten. Sie haben lange mit der Antwort gezögert und ihm endlich geradeheraus erklärt, daß aus der Heirat nichts werden könnte. Das hat er ihnen sehr übel genommen, und nun machen sie sich Kummer darüber. Mir scheint, sie wollen es nicht ganz mit dem Nachbar verderben, denn um ihn zu versöhnen haben sie seinen nichtsnutzigen Bruder als Gehilfen auf der Farm in Dienst genommen, obgleich ihre Mittel das kaum erlauben und der Mensch ihnen sowieso nur im Wege ist. Wer sind denn diese Dunlaps?«

»Sie wohnen etwa eine Meile von Onkel Silas‘ Besitzung, Tante – alle Farmen dort in der Gegend sind gleich weit von einander entfernt. Brace Dunlap ist viel reicher als die andern Nachbarn und hat einen ganzen Haufen Neger. Er ist ein kinderloser Witwer, sechsunddreißig Jahre alt, dabei sehr stolz und hochfahrend, so daß alle Welt vor ihm zu Kreuze kriecht. Vermutlich hat er gedacht, er brauchte nur bei irgend einem Mädchen anzuklopfen, das er zur Frau wollte; es wird ihn nicht wenig gewundert haben, daß er Benny nicht bekommen kann. Sie ist nur halb so alt wie er und das süßeste, reizendste – – na, du kennst Benny ja selbst. Mir tut nur der arme alte Onkel Silas leid, der sich aufs äußerste einschränken muß und einen Tunichtgut wie den Jupiter Dunlap in Dienst nimmt, bloß um seinem hochnasigen Bruder einen Gefallen zu tun.«

»Ist das ein Name – Jupiter! Wo hat er den her?«

»Es ist nur ein Spitzname; wie er eigentlich heißt, weiß wohl kein Mensch mehr. Man nennt ihn schon siebenundzwanzig Jahre lang so, seit er zum erstenmal baden ging. Da steht der Schulmeister, daß er am linken Bein über dem Knie ein rundes braunes Mal hat, so groß wie ein Centsstück und vier kleinere Maler drum herum und sagt, es erinnere ihn an Jupiter und seine Monde. Den Kindern kam das komisch vor, sie fingen an ihn Jupiter zu nennen, und der Name ist ihm geblieben bis auf den heutigen Tag. Er ist groß und faul, verschmitzt, hinterhältig und feige, dabei aber doch wieder gutmütig. Keinen roten Heller nennt er sein eigen; Brace gibt ihm das Gnadenbrot und seine abgelegten Kleider, auch seine Verachtung obendrein. Jupiter trägt langes Haar, aber keinen Bart; er ist ein Zwilling.«

»So? Wie sieht denn der andere Zwillingsbruder aus?«

»Man sagt, er gleicht Jupiter auf ein Haar; wenigstens früher – jetzt hat man ihn seit sieben Jahren nicht gesehen. Als er neunzehn oder zwanzig Jahre alt war, wurde er bei einem Einbruchsdiebstahl ertappt und ins Gefängnis gesteckt. Aber er entkam nach dem Norden und beging bald hier bald dort Raub oder Diebstahl; doch das ist lange her. Jetzt ist er tot; das heißt, die Leute behaupten es – man hört eben nichts mehr von ihm.«

»Wie heißt denn der?«

»Jack.«

Es entstand eine Pause; die alte Dame war offenbar mit ihren Gedanken beschäftigt. Endlich sagte sie:

»Am meisten macht sich Tante Sally Sorge darüber, daß der Onkel immer in so furchtbaren Zorn gerät über diesen Jupiter.«

»Was,« rief Tom verwundert, »Onkel Silas! Das ist wohl nur ein Scherz – der kann ja gar nicht zornig werden!«

»Die Tante schreibt, er wird oft so wütend, daß sie immer fürchtet, er könnte sich tätlich an dem Mann vergreifen.«

»Da hört aber alles auf! – Onkel ist ja so sanft wie ein Lamm.«

»Er soll wie ausgewechselt sein durch das ewige Zanken und Streiten. Die Nachbarn reden schon darüber und schieben alle Schuld auf den Onkel, weil er ein Prediger ist und Frieden halten müßte. Tante Sally sagt, er schämt sich ordentlich, auf die Kanzel zu steigen; auch hat die Gemeinde das Vertrauen zu ihm verloren und er ist gar nicht mehr so beliebt wie früher.«

»Wie sonderbar! Onkel war doch immer so sanft und freundlich, so zerstreut, so träumerisch, so voller Einfalt und Herzensgüte, kurz ein wahrer Engel. Wie kann das nur zugegangen sein?«

Zweites Kapitel

Wir hatten riesiges Glück. Auf einem Raddampfer, der vom Norden her gerade nach der Sumpfgegend von Louisiana steuerte, kamen wir den ganzen Mississippi bis zur Farm in Arkansas hinunter und brauchten nicht einmal in St. Louis das Boot zu wechseln. Eine Fahrt von fast tausend Meilen in einem Zug.

Man fühlte sich recht einsam auf dem Dampfer, denn die wenigen Passagiere waren alte Männer, die weit von einander auf Deck saßen und schliefen oder sich still verhielten. Vier Tage dauerte die Fahrt auf dem Oberen Mississippi, weil wir so oft auf den Grund gerieten, aber langweilig fanden wir Jungen es gar nicht – wie kann man sich langweilen, wenn man auf Reisen ist! –

Gleich nach der Abfahrt hatten Tom und ich herausgebracht, daß in der Kajüte neben unserer jemand krank liegen müsse, weil das Essen immer hineingetragen wurde. Wir erkundigten uns danach, und der Kellner sagte, der Mann da drinnen sähe gar nicht krank aus.

»Aber, er muß doch krank sein.«

»Wohl möglich – ich weiß nicht – mir scheint, er stellt sich nur an.«

»Woher glaubt Ihr das?«

»Na, wenn er krank wäre, würde er sich doch mal ausziehen, aber das tut er nicht. Wenigstens seine Stiefel behält er immer an.«

»Ist das möglich? Auch wenn er zu Bett geht?«

»Auch dann.«

Ein Geheimnis! Das war Wasser auf Toms Mühle.

»Wie heißt denn der Mann?«

»Phillips; in Alexandria ist er an Bord gekommen.«

»Und hat er noch andere Eigenheiten?«

»Nein – nur schrecklich ängstlich ist er. Tag und Nacht hält er seine Tür verschlossen, und wenn man klopft macht er nur ein Ritzchen auf und guckt erst wer da ist.«

»Wahrhaftig, den möchte ich gern zu sehen bekommen. Sagt mal – könntet Ihr nicht die Tür weit aufmachen, wenn Ihr wieder hineingeht, so daß – –«

»Bewahre. Das würde auch wenig nützen. Er stellt sich immer hinter die Tür.«

Tom dachte eine Weile nach.

»Wißt Ihr was? Gebt mir Eure Schürze und laßt mich morgen das Frühstück hineintragen. Ihr bekommt auch einen Vierteldollar.«

Der Kellner war es zufrieden, wenn der Oberkellner nichts dagegen hätte.

»Mit dem will ich’s schon abmachen,« sagte Tom. Und richtig, am nächsten Morgen hatten wir jeder eine Schürze um und trugen die Speisen hinein. Tom hatte die ganze Nacht wach gelegen und sich den Kopf zerbrochen über Phillips und sein Geheimnis. Das war verlorene Müh nach meiner Ansicht; viel besser, wir kamen selbst dahinter wie die Sachen wirklich standen, statt uns erst allerlei Falsches auszudenken. »Ich kann’s ja abwarten,« dachte ich und ließ mich im Schlaf nicht stören.

Als Tom morgens an die Tür klopfte, guckte der Mann durch die Spalte, ließ uns herein und schloß rasch hinter uns zu. Aber, Donnerwetter – als wir ihn ansahen, hätten wir vor Schreck fast die Kaffeebretter fallen lassen.

»Du meine Güte – Jupiter Dunlap – wo kommt Ihr denn her?« rief Tom.

Natürlich war der Mann überrascht und zuerst sah er aus als ob er nicht wüßte, sollte er sich fürchten oder freuen. Er war ganz bleich geworden, doch bald bekam er wieder Farbe im Gesicht und fing an mit uns zu plaudern, während er sein Frühstück aß.

Nach einer Weile sagte er: »Ich bin gar nicht Jupiter Dunlap; doch heiß‘ ich auch nicht Phillips. Wenn ihr schwören wollt reinen Mund zu halten, will ich euch offenbaren wer ich bin.«

»Wir verraten nichts,« rief Tom; »aber wenn Ihr nicht Jupiter Dunlap seid, braucht Ihr mir Euren Namen nicht erst zu sagen.«

»Wieso?«

»Weil Ihr ihm gleicht wie ein Ei dem andern. Ihr seid sein Zwillingsbruder Jack.«

»Da kannst du recht haben. Aber, sag‘ mal, Junge, woher kennst du uns denn alle beide?«

Nun erzählte ihm Tom, was wir im vergangenen Sommer für Abenteuer auf Onkel Silas‘ Farm erlebt hatten. Als er hörte, daß wir alle seine Familienverhältnisse und seine eigene Lebensgeschichte kannten, wurde er ganz offenherzig und mitteilsam. Er sagte, er wäre von jeher ein Tunichtgut gewesen, auch jetzt sei er ein schlechter Kerl und würde wohl sein Lebtag ein Taugenichts bleiben. Freilich sei es ein gefährliches Ding und – –

Er brach plötzlich ab und hielt die Hand ans Ohr um zu lauschen. Wir sprachen kein Wort; ein paar Sekunden blieb alles mäuschenstill. Man hörte nichts als das Knarren des Holzwerks und das Bumbum der Maschine im Schiffsraum.

Um ihn zu beruhigen fingen wir an, ihm allerlei von seiner Familie zu berichten: daß Brace seine Frau vor drei Jahren verloren hätte und als er Benny heiraten wollte von ihr einen Korb bekommen habe, daß Jupiter bei Onkel Silas in Arbeit stehe, der immer in Streit mit ihm sei, und dergleichen mehr. Auf einmal lachte er laut auf.

»Jungens,« rief er, »euer Geplapper versetzt mich ganz in alte Zeiten zurück; mir wird ordentlich wohl dabei. Seit länger als sieben Jahren hab‘ ich so was nicht mit angehört. Was spricht man denn aber von mir in der Nachbarschaft?«

»Von Euch spricht man schon lange nicht mehr; höchstens alle Jubeljahr wird Euer Name einmal erwähnt.«

»Ist’s möglich! Und wie kommt denn das?«

»Weil man Euch für längst gestorben hält.«

»Wirklich? Sprichst du auch die Wahrheit?« Er war in großer Erregung aufgesprungen.

»Mein Wort zum Pfande. Kein Mensch glaubt, daß Ihr noch am Leben seid.«

»Hurra, dann bin ich gerettet! Ich kann mich nach Hause wagen. Gewiß werden mir meine Verwandten beistehen und mich verbergen. Nicht wahr, ihr haltet reinen Mund! Schwört mir’s noch einmal. Schwört, daß ihr mich nun und nimmermehr verraten werdet. Jungens, habt Erbarmen mit mir armem Teufel, der Tag und Nacht keine Ruhe findet und sich nirgends sehen lassen darf. Ich hab‘ euch nie etwas zuleide getan und meine es nur gut mit euch, so wahr Gott im Himmel ist. Schwört, daß ihr schweigen wollt, und rettet mir das Leben.«

Natürlich taten wir ihm den Willen und leisteten den Schwur. Er dankte uns von ganzem Herzen, der arme Kerl, ich glaube, er hätte uns am liebsten umarmt und geküßt.

Wir plauderten noch lange zusammen; dann holte er einen kleinen Reisesack herbei, öffnete ihn und bat, wir möchten nicht hinsehen. Wir drehten ihm den Rücken zu, und als wir uns wieder umwenden durften, war er ganz und gar verändert. Er hatte eine blaue Brille auf und einen langen braunen Knebel- und Schnauzbart, der ihm sehr natürlich zu Gesicht stand. Seine eigene Mutter hätte ihn nicht wiedererkannt. »Sehe ich jetzt noch meinem Bruder Jupiter ähnlich?« fragte er.

»Nein,« sagte Tom, »nichts erinnert mehr an ihn, außer Euer langes Haar.«

»Das lasse ich mir kurz scheren, ehe ich nach Hause komme. Er und Brace werden mein Geheimnis bewahren und ich kann als Fremder bei ihnen wohnen, ohne daß die Nachbarn Argwohn schöpfen. Wie gefällt euch mein Plan?«

Tom dachte eine Weile nach, dann sagte er:

»Huck und ich, wir werden natürlich kein Wort verraten, aber wenn Ihr nicht selber schweigt, so lauft Ihr doch Gefahr, erkannt zu werden. Es würde den Leuten auffallen, daß Eure Stimme genau so klingt, wie die von Jupiter, und dann erinnern sie sich vielleicht an den Zwillingsbruder, den sie für tot gehalten haben und der sich die ganze Zeit unter einem falschen Namen verborgen haben kann.«

»Alle Wetter, bist du klug!« rief er; »aber recht hast du. Ich muß mich taubstumm stellen, sobald ein Nachbar in meine Nähe kommt. Es hätte eine schöne Geschichte gegeben, wäre mir das nicht eingefallen. Aber ich wollte ja eigentlich gar nicht nach Hause, sondern nur an irgend einen Ort, wo ich vor den Burschen sicher bin, die mich verfolgen. Dann dachte ich den Bart und die Brille anzulegen, auch andere Kleider und – –«

Mit einmal lief er nach der Tür, hielt das Ohr daran und horchte. Er war bleich geworden und sein Atem flog.

»Es klang ganz als würde der Hahn einer Flinte gespannt,« flüsterte er. »Herr des Himmels, ist das ein erbärmliches Leben!« Matt und kraftlos sank er auf einen Stuhl und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Drittes Kapitel

Von da ab waren wir fast immer bei ihm; meist schlief einer von uns in seiner obern Koje. Er hatte sich so schrecklich einsam gefühlt und es war ihm ein Trost in seiner Not, jemand um sich zu haben, mit dem er reden konnte. Wir brannten natürlich vor Neugier, hinter das Geheimnis zu kommen; aber Tom sagte, wir sollten uns ja nichts merken lassen, dann würde er einmal ganz von selbst anfangen davon zu sprechen. Wollten wir ihn ausfragen, so würde er gleich Argwohn schöpfen und verschwiegen sein wie eine Auster. Es traf auch genau so ein. Daß er uns alles gern erzählt hätte, merkte man ihm leicht an, aber jedesmal wenn wir dachten: jetzt kommt’s, überfiel ihn die Angst und er lenkte das Gespräch auf etwas anderes. Wir erfuhren’s aber doch noch und das ging so zu: Er hatte angefangen, uns in scheinbar gleichgültigem Ton nach den Passagieren im Zwischendeck zu fragen, die heraufkamen, um sich am Schenktisch Branntwein zu kaufen; wir versuchten sie zu beschreiben, aber das genügte ihm nicht, er wollte alle Einzelheiten wissen. Tom gab sich die größte Mühe und als er bei der Schilderung eines der rohesten und zerlumptesten Kerle angekommen war, fuhr Jack Dunlap schaudernd zusammen.

»O Jemine, das ist einer von ihnen! Sie sind wahrhaftig an Bord – dachte ich mir’s doch! Ich hoffte, ich wäre ihnen entwischt, aber zweifelhaft war mir’s immer. Nur weiter!«

Als Tom nun noch einen andern groben und schäbigen Zwischendecks-Passagier beschrieb, ward Dunlap schreckensbleich. »O weh, das ist der zweite, was fang‘ ich nur an? Hätten wir doch eine stürmische pechfinstere Nacht und ich könnte das Ufer erreichen. Aber sie haben gewiß jemand bestochen, den Stiefelputzer oder den Kofferträger, um mich zu bewachen. Gelänge es mir auch unbemerkt fortzukommen, so würde keine Stunde vergehen, bis sie es wüßten.«

Unruhig ging er auf und ab. Es dauerte gar nicht lange, da fing er an zu erzählen, wie es ihm bald gut bald schlecht ergangen sei, und ehe wir’s uns versahen, kam er ins rechte Fahrwasser.

»Wir hatten alles genau verabredet,« sagte er. »Es handelte sich um zwei wunderschone Diamanten, so groß wie Haselnüsse, in einem Juwelierladen zu St. Louis, die von jedermann bewundert wurden. Wir zogen seine Kleider an und spielten den Streich bei hellem Tage. Die Diamanten ließen wir uns ins Hotel kommen, als ob wir sie kaufen wollten, wenn sie uns gefielen, und schickten dem Juwelier statt dessen zwei Glaspasten, die wir in Bereitschaft gehalten hatten, mit dem Bescheid zurück, die Diamanten seien nicht vom reinsten Wasser und wir fänden den Preis von zwölftausend Dollars zu hoch.«

»Zwölf – tausend – Dollars!« rief Tom. »Waren sie denn wirklich so viel Geld wert?«

»Keinen Cent weniger.«

»Und ihr habt euch damit aus dem Staube gemacht?«

»Ohne alles weitere. Der Juwelier weiß vielleicht heutigen Tages noch nicht, daß er bestohlen worden ist. Aber wir hielten es doch für unklug, in St. Louis zu bleiben. Wir überlegten hin und her und beschlossen nach dem Obern Mississippi zu reisen. Vorher aber wickelten wir die Diamanten in ein Papier, schrieben unsere Namen darauf und übergaben das Päckchen dem Hoteldiener mit der Anweisung, es keinem von uns wieder einzuhändigen, wenn nicht die beiden andern als Zeugen zugegen wären. Dann machten wir einen Gang in die Stadt, aber jeder für sich allein; ich glaube, wir hatten alle den gleichen Plan, obgleich ich es nicht gewiß behaupten will.«

»Welchen Plan?« fragte Tom.

»Die andern zu berauben.«

»Was – einer sollte alles nehmen, nachdem er es erst mit Hilfe der andern bekommen hatte?«

»So meine ich’s.«

Tom war ganz empört darüber; er sagte, es wäre der schändlichste, niederträchtigste Streich, von dem er je gehört hätte. Aber Jack Dunlap versicherte ihm, daß es in seiner Zunft nichts Ungewöhnliches sei. Wer sich einmal diesem Beruf gewidmet hätte, mußte selber auf seinen Vorteil bedacht sein, weil kein anderer Mensch das für ihn besorgen würde. Dann fuhr er in seinem Bericht fort:

»Es war natürlich schwierig, zwei Diamanten unter drei Leute zu teilen, das werdet ihr wohl einsehen. Hätten wir drei Diamanten gehabt, ja dann – – Aber, wozu noch weiter darüber reden; mehr als zwei waren es nun einmal nicht. So trieb ich mich denn in den Hintergassen umher und dachte nach, wie ich es wohl anstellen könnte, der Diamanten habhaft zu werden. War mir dies geglückt, dann wollte ich mich so verkleiden, daß mich niemand erkennen sollte, und auf und davon gehen. Ich kaufte mir zu diesem Zweck den falschen Bart, die blaue Brille und den bäuerischen Anzug, in dem ihr mich hier seht, und tat alles in einen Reisesack, den ich mitgenommen hatte. Als ich vor einem Laden vorbeikam, in dem allerlei Waren feilgeboten wurden, sah ich durchs Fenster. Drinnen stand Bud Dixon, einer von meinen Spießgesellen. ›Ich will doch mal sehen, was der kauft‹ dachte ich bei mir und verbarg mich, beobachtete aber alles genau. Na, was glaubt ihr wohl, daß er gekauft hat? – Doch das ratet ihr euer Lebtag nicht, Jungens. Nichts als einen winzig kleinen Schraubenzieher.«

»Wie sonderbar. Was wollte er denn damit?«

»Das fragte ich mich auch. Ich zerbrach mir den Kopf, konnte aber nicht ins reine kommen. Bei einem Trödler erstand er nun noch ein rotes Flanellhemd und zerlumpte Kleider; dieselben, die er jetzt anhat nach eurer Beschreibung. Nachdem ich das gesehen hatte, ging ich nach der Werft und versteckte meine Sachen auf dem Flußboot, mit dem wir fahren wollten. Als ich dann abermals durch die Straßen schlenderte, sah ich auch meinen andern Kameraden seine Einkäufe machen. Gegen Abend holten wir uns die Diamanten aus dem Hotel und gingen an Bord.

Jetzt waren wir alle übel daran, denn wir durften uns nicht zu Bette legen; wie hätten wir sonst ein wachsames Auge aufeinander haben können. Es war nämlich schon seit ein paar Wochen böses Blut zwischen uns, und wir hielten nur zusammen, solange es das Geschäft erforderte. Zwei Diamanten für drei Personen, das war eben die Verlegenheit. Erst aßen wir zu Abend, dann rauchten wir und schlenderten dabei auf dem Deck umher bis gegen Mitternacht. Endlich gingen wir in meine Kajüte, schlossen die Tür zu, überzeugten uns, ob die Diamanten wirklich noch im Papier waren und legten sie auf die untere Koje, wo wir sie alle drei im Auge behalten konnten. Nun saßen wir stockstill und wurden immer schläfriger. Bud Dixon ließ sich endlich von der Müdigkeit übermannen; der Kopf sank ihm auf die Brust und er schnarchte, daß es eine Art hatte. Da deutete Hal Clayton zuerst auf die Diamanten und dann nach der Tür. Ich verstand ihn, streckte die Hand nach dem Papier aus und nahm es an mich. Wir warteten nun eine Weile, aber Bud schlief fort und regte sich nicht. Leise drehte ich den Schlüssel um und drückte auf die Klinke, dann schlichen wir auf den Zehen hinaus und machten die Tür geräuschlos hinter uns zu.

Das Boot glitt ruhig durch die Flut, Wolken verbargen den Mond und wir wurden von niemand bemerkt. Ohne ein Wort zu reden schritten wir geradeswegs hinauf nach dem Sturmdeck und setzten uns am äußersten Ende neben das Deckfenster. Was das zu bedeuten hatte, wußten wir beide; es bedurfte keiner Erklärung. Wenn Bud Dixon aufwachte und sah, daß die Diamanten fort waren, würde er gleich hinter uns dreinkommen, denn er kannte keine Furcht. Dann wollten wir ihn über Bord werfen, oder bei dem Versuch unser Leben lassen. Mir schauderte, wenn ich nur daran dachte, denn ich bin nicht so mutig wie mancher andere; doch durfte ich meine Angst nicht zeigen, das wäre mir schlecht bekommen. Ich hoffte immer noch, das Boot würde irgendwo anlegen, so daß wir ans Land springen und allen Skandal vermeiden könnten, denn mit Bud Dixon war nicht zu spaßen.

Aber eine Stunde nach der andern verging, wir schifften immer weiter und der Mensch kam nicht auf Deck. Als der Morgen zu dämmern anfing und Bud sich noch nicht sehen ließ, erwachte unser Argwohn: ›Er hält uns vielleicht zum Narren, meinte Hal, mach‘ das Papier auf!‹ Das tat ich und meiner Seel‘, es war nichts darin, als ein paar Zuckerkrümel. Deshalb also hatte er die ganze Nacht so ruhig schnarchen können. Ein schlauer Kerl, so wahr ich lebe. Er muß zwei ganz gleiche Papiere bereitgehalten und sie vor unserer Nase vertauscht haben.

Wir waren nicht wenig verblüfft, doch hatten wir bald einen neuen Plan fertig. Es schien uns am klügsten, leise in die Kajüte zurückzuschleichen, das Papier wieder an Ort und Stelle zu legen und zu tun, als hätten wir nicht gemerkt, daß er uns mit seinem verstellten Schnarchen nur zum Besten hielt. Wir wollten ihm nicht von der Seite gehen und ihn am ersten Abend nach der Landung betrunken machen, seine Kleider durchsuchen, die Diamanten nehmen und ihm womöglich den Garaus machen; denn er würde uns immer auf den Fersen sein, um uns die Beute wieder abzujagen, und wir wären keinen Augenblick unseres Lebens sicher. Das Gelingen des Plans war mir jedoch sehr zweifelhaft. Bud betrunken zu machen, hatte keine Schwierigkeit, aber was nützte es, wenn wir hernach suchten und suchten und doch nichts fanden.

Plötzlich fuhr mir ein Gedanke durch den Kopf, der mir fast den Atem benahm; doch dann wurde mir auf einmal ganz froh und leicht zu Mute. Ich hatte nämlich gerade meinen Stiefel in der Hand, um ihn anzuziehen, und als ich einen Blick auf die Sohle warf, mußte ich an den rätselhaften kleinen Schraubenzieher denken. Erinnert ihr euch noch daran?«

»Das will ich meinen,« rief Tom ganz aufgeregt.

»Na, wie ich den Absatz ansah, wußte ich auf einmal, wo Bud die Diamanten versteckt hatte. Schaut her – das Stahlplättchen hier ist mit kleinen Schrauben festgemacht; die einzigen Schrauben, die der Mensch an sich trug, waren an seinem Stiefelabsatz, und wenn er einen Schraubenzieher brauchte, so wußte ich wohl wozu.«

»Ist das nicht famos, Huck?« rief Tom dazwischen.

»Als wir in die Kajüte kamen, schnarchte Bud Dixon noch immer, und auch Hal Clayton schlief bald ein, aber ich nicht – in meinem Leben war ich noch nicht so wach gewesen; ich spähte auf dem Boden umher nach einem Stückchen Leder. Lange konnte ich nichts entdecken, aber endlich fand ich’s. Es war ein rundes, kleines Pflöckchen, fast von der Farbe des Teppichs und etwa so dick wie die Spitze meines kleinen Fingers. ›Aha,‹ dachte ich, ›in dem Nest, wo das herausgekommen ist, liegt jetzt ein Diamant.‹ Auch das zweite Pflöckchen fand ich nach einigem Suchen.

Nun stellt euch einmal diese Unverschämtheit vor! Der Kerl hatte sich ganz genau überlegt, was wir tun würden und wir Dummköpfe waren blindlings in die Falle gerannt. Während wir ihn oben auf dem Sturmdeck erwarteten, um ihn ins Wasser zu werfen, saß er unten, schraubte sich in aller Gemütsruhe die Stahlplättchen ab, schnitt Löcher in seine Absätze, steckte die Diamanten hinein und schraubte die Plättchen wieder fest. Ein Schlaufuchs erster Sorte, nicht wahr?«

»Nein, so was ist mir noch nicht vorgekommen!« rief Tom.

Viertes Kapitel

»Es war ein saueres Stück Arbeit, den ganzen Tag über noch zu tun, als ob wir einander beobachteten, das versichere ich euch. Gegen Abend landeten wir bei einem Städtchen in Missouri, kehrten in einer Schenke ein und ließen uns nach dem Nachtessen ein Schlafzimmer zu dreien im obern Stock geben. Der Wirt ging mit dem Licht voran und wir im Gänsemarsch hinterdrein, die Treppe hinauf. Ich kam zuletzt und schob meinen Reisesack unter den tannenen Tisch auf dem dunkeln Vorplatz. Wir ließen uns eine tüchtige Portion Whisky bringen und spielten Karten um Fünfcentstücke. Als wir die Wirkung des Whisky spürten, hörten wir beide auf zu trinken, schenkten aber Bud immer wieder ein, bis er toll und voll war. Er fiel vom Stuhl, lag am Boden und schnarchte.

Nun ging es ans Geschäft. Ich schlug vor, wir wollten ihm die Stiefel ausziehen und unsere auch, damit es keinen Lärm machte, wenn wir ihn um und um kehrten und ihn durchsuchten. Das geschah, und ich stellte meine Stiefel neben Buds, damit ich sie bei der Hand hätte. Wir zogen ihn aus, befühlten alle Nähte seiner Kleider, suchten in seinen Taschen und Socken, auch inwendig in seinen Stiefeln, kurz überall; auch sein Bündel machten wir auf, fanden aber keine Diamanten. Als der Schraubenzieher zum Vorschein kam, fragte Hal: ›Was kann er wohl damit wollen?‹ Ich sagte, das wüßte ich nicht, aber sobald er sich abwandte steckte ich ihn ein. Endlich sah Hal ganz niedergeschlagen aus und meinte, wir müßten es aufgeben. Darauf hatte ich nur gewartet.

›Etwas haben wir noch nicht durchsucht.‹

›Was denn?‹ fragte er.

›Seinen Magen.‹

›Wahrhaftig, daran habe ich nicht gedacht. Das ist die Lösung des Rätsels, so wahr ich lebe. Wie wollen wir’s anfangen?‹

›Na,‹ sagte ich, ›bleib‘ du hier bei ihm, und ich will in die Apotheke gehen und ein Mittel holen, das die Diamanten rasch ans Tageslicht fördern soll.‹

Er war’s zufrieden, und ich zog vor seiner Nase Buds Stiefel an statt meiner eigenen, ohne daß er’s merkte. Ein wenig zu groß waren sie mir freilich, aber das schadete nicht so viel, als wenn sie zu klein gewesen wären. Ich tappte im Dunkeln durch den Vorplatz, nahm den Reisesack mit und war in der nächsten Minute zur Hintertür hinaus.

Mit Siebenmeilenschritten ging’s nun am Fluß entlang; mir war dabei gar nicht schlecht zu Mut, ich marschierte ja auf Diamanten. Nach der ersten Viertelstunde hatte ich schon eine große Strecke zurückgelegt. Alle fünf Minuten dachte ich daran, wie Hal Clayton auf meine Rückkehr wartete und immer unruhiger wurde. ›Jetzt fängt er an zu fluchen,‹ sagte ich zu mir, ›und allmählich geht ihm ein Licht auf. Er bildet sich ein, ich hätte die Diamanten gefunden, als wir Bud durchsuchten, sie heimlich in die Tasche geschoben und mir nichts merken lassen. Natürlich wird er gleich meiner Spur folgen, aber ich habe doch wenigstens einen guten Vorsprung.‹

Indem kam ein Mann auf einem Maultier dahergeritten, und ohne zu überlegen sprang ich ins nächste Gebüsch. Das war dumm! Eine Weile hielt der Mann still, um zu sehen, ob ich wieder herauskäme, dann ritt er weiter. Das konnte mir sehr zum Nachteil gereichen, wenn er etwa auf Hal Clayton stieß und der ihn ausfragte.

Um drei Uhr morgens kam ich nach Alexandria und als ich den Raddampfer vor Anker liegen sah, war ich heilfroh und glaubte, jetzt sei ich gerettet. Es dämmerte bereits und ich ging an Bord, ließ mir die Kajüte hier geben, zog diese Kleider an und setzte mich neben das Ruderhaus, damit mir nichts entgehen könne. Ich wartete mit großer Ungeduld auf die Abfahrt des Bootes, aber es rührte sich nicht. Die Maschine wurde erst ausgebessert, doch davon hatte ich keine Ahnung.

Es wurde Mittag bis wir absegelten und ich hatte mich längst in der Kajüte eingeschlossen. Schon vor dem Frühstück sah ich nämlich von fern einen Mann herankommen, dessen Gang mich an Hal Clayton erinnerte und mir wurde übel und weh. Wenn er mich hier auf dem Boot ausfindig machte, so saß ich wie eine Ratte in der Falle. Er brauchte nur zu warten bis ich ans Land ging und mir zu folgen. An einem abgelegenen Ort würde er mich zwingen die Diamanten herauszugeben und dann – ja dann war’s um mich geschehen. O, es ist gräßlich – entsetzlich! Und wenn ich mir nun vorstelle, daß der andere auch an Bord ist! Sagt selbst, Jungens, ist das nicht ein schreckliches Mißgeschick? – Aber, nicht wahr, ihr verlaßt mich nicht! Ihr helft einem armen Teufel durch, den man zu Tode hetzen will. Auf den Knien will ich euch verehren, wenn ihr mir beisteht und mich rettet.«

Wir taten was wir konnten, um ihn zu beruhigen: wir versprachen ihm unsere Hilfe, machten allerlei Pläne und redeten ihm seine übergroße Furcht aus. Da wurde er bald wieder zuversichtlicher und zuletzt schraubte er gar die Plättchen von seinen Absätzen und hielt die Diamanten bald so bald so gegen das Licht. Nein, wie sie funkelten und glitzerten und ihr Feuer nach allen Seiten ausstrahlten! Es war schön, das muß ich sagen. Aber er kam mir doch vor wie ein rechter Narr. Ich an seiner Stelle hätte den beiden Spießgesellen die Diamanten ausgeliefert und ihnen gesagt, nun sollten sie ans Land gehen und mich in Ruhe lassen. Doch das fiel ihm gar nicht ein. Er meinte, es wäre ein ganzes Vermögen; der Gedanke es zu verlieren schien ihm unerträglich.

Zweimal mußten wir anlegen, um die Maschine in Ordnung zu bringen, was eine ganze Weile dauerte. Die Nacht war aber nicht dunkel genug; er hätte sich schwerlich unbemerkt aus dem Staube machen können. Gegen ein Uhr nachts kamen schwarze Wolken am Himmel herauf, ein Gewitter war im Anzug. Wir hatten an einem Holzhof angelegt, noch etwa vierzig Meilen von Onkel Silas‘ Farm, und Jack hielt die Gelegenheit für günstig. Es regnete stark, der Sturm brach los, und die Leute, die das Holz einluden, zogen sich zum Schutz grobe Säcke über den Kopf. Auch Jack verschafften wir einen. Er nahm seine Reisetasche, lief aufs Hinterdeck, kam dann wie die andern Matrosen nach vorn marschiert und ging mit ihnen ans Land. Als er aus dem Bereich der Fackeln war und in der Finsternis verschwand, holten wir tief Atem und waren voller Dank und Freude. Allein das Vergnügen dauerte nicht lange. Kaum zehn Minuten vergingen, da stürmten die beiden schlimmen Gesellen auf Deck; sie sprangen ans Ufer und wir sahen sie nicht wieder. Bis zum Morgengrauen warteten wir und hofften sie würden zurückkommen, allein vergebens. Vielleicht hatten sie aber doch Jack nicht mehr einholen können und seine Spur verloren; darauf setzten wir unser ganzes Vertrauen.

Er wollte am Fluß entlang gehen und sich in dem Ahornwäldchen hinter Onkel Silas‘ Tabakfeld verbergen. Dort hatten wir versprochen ihn zu treffen, sobald es dämmerig würde und ihm Nachricht zu bringen, ob seine Brüder Brace und Jupiter zu Hause wären und keinen Besuch hätten.

Tom und ich sprachen lange darüber, wie es ihm wohl ergehen würde. Rannten seine Verfolger flußaufwärts statt abwärts, dann war er gerettet. Aber das ließ sich kaum erwarten. Wahrscheinlich, meinte Tom, würden sie ihm tagsüber auf den Fersen bleiben, ohne daß er Argwohn schöpfte, und sobald es dunkelte ihn umbringen und ihm die Stiefel fortnehmen. – Das betrübte uns sehr.

Fünftes Kapitel

Erst spät am Nachmittag war die Maschine fertig ausgebessert. Als wir nicht weit von Onkel Silas‘ Farm anlegten, ging die Sonne bereits unter. So liefen wir denn zuerst spornstreichs nach dem Ahornwäldchen, um Jack den Grund der Verzögerung mitzuteilen, damit er auf uns wartete, bis wir bei Brace gewesen wären und wüßten, wie die Sachen standen. Gerade als wir keuchend um die Ecke bogen und die Ahornbäume schon von fern sahen, kamen zwei Männer quer über den Weg in das Wäldchen gesprungen und wir hörten einen gräßlichen Hilfeschrei, der sich mehrmals wiederholte. »Jetzt haben sie den armen Jack umgebracht,« sagten wir und flohen voll Todesangst nach dem Tabakfeld. Kaum hatten wir uns dort versteckt und zitterten noch wie Espenlaub, als wir abermals zwei Männer an uns vorbeilaufen und in dem Wäldchen verschwinden sahen. Schon im nächsten Augenblick kamen ihrer vier wieder heraus: zwei hatten die Flucht ergriffen und zwei verfolgten sie.

Kalter Angstschweiß perlte uns auf der Stirn, während wir auf dem Boden lagen und horchten; doch vernahmen wir keinen anderen Laut als das Pochen unserer Herzen. Immer mußten wir an den Ermordeten drüben im Wäldchen denken und uns gruselte als wäre uns ein Gespenst in nächster Nähe. Plötzlich kam der Mond hinter den Baumwipfeln hervor, groß, rund und glänzend, wie ein Gesicht, das durch die Eisenstäbe der Gefängniszelle guckt. Schwarze Schatten und weiße Flecken huschten hierhin und dorthin; es war unheimlich still ringsum, nur der Nachtwind stöhnte in den Zweigen. Da flüsterte Tom auf einmal: »Sieh! – was ist das?«

»Du brauchst mich nicht noch unnötig zu erschrecken; ich bin sowieso schon halb tot,« rief ich.

»Aber, so sieh doch, was da aus dem Ahornwäldchen herauskommt!«

»Hör‘ auf, Tom!«

»Eine riesige Gestalt; sie kommt auf uns zu!«

Er hatte vor Erregung kaum Atem genug zum Flüstern. Ich wollte nicht hinsehen und doch tat ich’s. Wir knieten jetzt beide auf der Erde, stützten das Kinn auf den Lattenzaun und starrten in Schweiß gebadet die Straße ‚runter. Die Gestalt ging im Schatten der Bäume, man konnte sie erst ordentlich sehen, als sie dicht in unserer Nähe war und ins helle Mondlicht hinaustrat. Da fielen wir um wie vom Donner gerührt – kein Zweifel, es war Jack Dunlaps Geist! –

Ein paar Minuten lagen wir regungslos da; als wir wieder aufsahen, war das Gespenst verschwunden.

»Du,« flüsterte Tom, »Gespenster sehen doch immer grau und neblig aus, als ob sie lauter Dunst wären; aber dieses gar nicht.«

»Nein; ich hab‘ seine Brille und den Schnurrbart ganz deutlich erkannt.«

»Ja, und den Anzug – die grün und schwarz gewürfelten Hosen –«

»Die feuerrote Weste von Baumwollsammet mit den gelben Punkten –«

»Die ledernen Stege unten am Hosenbein – einer war nicht angeknüpft –«

»Ja, und der Hut – eine richtige hohe Angströhre mit breiter Krempe.«

»Glaubst du, Huck, daß es ebensolches Haar hatte wie er?«

»Ja – doch bin ich nicht ganz sicher.«

»Ich auch nicht; aber den Reisesack hab‘ ich in seiner Hand gesehen.«

»Haben denn Gespenster einen Reisesack, Tom?«

»Warum nicht, Huck? Aber natürlich aus Gespensterstoff, wie die Kleider und alles. Stell‘ dich doch nicht so dumm an!«

Jetzt kamen Bill Withers und sein Bruder Hans an uns vorüber. Sie waren in ihr Gespräch vertieft, wir verstanden aber alles, was sie sagten:

»Es sah aus als konnte er es kaum mehr schleppen,« meinte Bill.

»Jawohl, schwer schien es zu sein. Es war gewiß ein Neger, der dem alten Pfarrer Silas Korn gestohlen hat,« sagte Hans.

»Das dachte ich gleich und tat, als bemerkte ich ihn nicht.«

»So hab‘ ich’s auch gemacht. Hahaha!«

Also, Onkel Silas war so unbeliebt geworden, daß die Leute lachten, wenn ihm ein Dieb sein Korn stahl! Wie war das nur möglich?

Bald hörten wir wieder Stimmen; je näher sie kamen, um so lauter wurde das Gespräch. Es waren zwei Nachbarn, Lem Beebe und Jim Lane.

»Wer?« fragte Jim, – »Jupiter Dunlap?«

»Ja, ganz gewiß,« entgegnete Lem.

»Hm. Vor etwa einer Stunde, eben als die Sonne unterging, hab‘ ich ihn mit dem Spaten gesehen; sie gruben ein Stück Land um, er und der Pfarrer. Seinen Hund wollte er uns leihen, sagte er, aber er selber käme heute abend wahrscheinlich nicht.«

»Er wird wohl zu müde sein von der schweren Arbeit.«

»Verlaß dich drauf. Haha!«

Sie gingen lachend weiter; Tom sprang auf und wir folgten ihnen von fern. Dem Gespenst ganz allein zu begegnen, wäre doch gar zu unbehaglich gewesen.

Dies alles geschah am 2. September, einem Sonnabend. Den Tag werde ich nie vergessen; man wird bald erfahren weshalb.

Sechstes Kapitel

Schon sahen wir die Lichter vom Hause zu uns herüberscheinen, und die Hunde kamen alle herbeigelaufen, uns zu begrüßen. Da sagte Tom:

»Warte noch ’nen Augenblick. Wenn wir jetzt ‚reinkommen, meinst du wohl, ich müßte gleich unser ganzes Abenteuer erzählen, daß alle Mund und Nase aufsperren vor Verwunderung?«

»Versteht sich, solche Gelegenheit wirst du dir doch nicht entgehen lassen, Tom.«

»Na, da irrst du dich gewaltig. Kein Sterbenswörtchen verraten wir davon und zwar aus sehr naheliegenden Gründen. Sag ‚mal Huck – ging das Gespenst barfuß?«

»Bewahre, es hatte ja Stiefel an.«

»Hast du das wirklich gesehen? Kannst du ’nen Eid darauf leisten?«

»Jawohl, das kann ich.«

»Ich auch. Und das ist der beste Beweis dafür, daß die Diebe die Diamanten nicht gefunden haben. Natürlich nicht – die zwei andern Männer haben sie ja vertrieben, ehe sie der Leiche die Stiefel ausziehen konnten; deshalb trug sie das Gespenst auch noch.«

»Stiefel aus dem Geisterstoff wie die andern Kleider, nicht wahr, Tom?«

»Freilich. Und weißt du, Huck, was nun geschieht? Die zwei Männer erzählen, sie hätten das Geschrei gehört, die Mörder verjagt, aber den Fremden nicht retten können. Nun kommt die Totenschau, besichtigt alles an Ort und Stelle, und ehe man die Leiche begräbt, werden ihre Sachen versteigert, um die Kosten herauszuschlagen. Dann ist unser Glück gemacht.«

»Wieso?«

»Na, das ist doch klar: Wir kaufen die Stiefel für zwei Dollars.«

»Und kriegen die Diamanten?«

»Versteht sich. Eines schönen Tages wird man eine hohe Belohnung dafür bieten – wenigstens tausend Dollars. Und das ist unser Geld. – Jetzt komm ins Haus; aber von den Räubern, den Diamanten und dem Mord weißt du keine Silbe – das merke dir.«

»Wie sollen wir es aber Tante Sally erklären, wenn sie fragt, wo wir so lange geblieben sind?«

»Das überlasse ich dir; du wirst schon eine Ausrede finden.«

Das sah Tom ganz gleich. Er war viel zu wahrheitsliebend um selbst eine Lüge zu sagen.

Wir gingen nun quer über den Hof, wo wir zu unserer Freude alles unverändert fanden, und kamen in den bedeckten Gang zwischen dem Holzschuppen und der Küche. Da hingen noch mancherlei Gegenstände, die wir kannten, unter anderm auch Onkel Silas‘ grüner Arbeitskittel mit der Kaputze und dem weißen Flicken zwischen den Schultern, der immer aussah, als hätte ihn jemand mit ’nem Schneeball geworfen. Rasch drückten wir auf die Klinke der Stubentür und traten ein.

Tante Sally wirtschaftete im Zimmer herum; in einer Ecke saßen die Kinder auf einem Häufchen, in der andern las der Onkel im Gebetbuch. Tante fiel uns gleich vor Freuden um den Hals, dann zauste sie uns bald an den Haaren, bald drückte sie uns ans Herz, während ihr helle Tränen über die Backen liefen, so froh war sie, uns wiederzusehen.

»Wo habt ihr Taugenichtse euch denn so lange herumgetrieben?« rief sie. »Ich hab‘ mir um euch schier die Seele aus dem Leib geängstigt. Eure Siebensachen sind schon vor ’ner Ewigkeit angekommen, und viermal hab‘ ich das Essen wieder aufgewärmt, damit ihr nicht zu warten braucht. Die Haut sollte man euch über die Ohren ziehen. Aber nun setzt euch nur, ihr müßt ja halb verhungert sein; setzt euch, ihr armen Jungen, und laßt’s euch schmecken.«

O, wie behaglich saß sich’s dort an der reich besetzten Tafel! Onkel Silas sprach sein längstes Tischgebet und bald stand ein aufgehäufter Teller an meinem Platz. Als ich gerade im besten Schmausen war, fragte die Tante plötzlich, wo wir denn gewesen wären.

Ich hatte mir’s schon zum voraus überlegt:

»Wir sind zu Fuß durch den Wald gegangen,« sagte ich, »da sind uns Lem Beebe und Jim Lane begegnet und haben uns aufgefordert mit ihnen Heidelbeeren zu suchen; Jupiter Dunlap wollte ihnen seinen Hund dazu leihen, das hatte er ihnen gerade versprochen – –«

»Wo haben sie ihn gesehen?« fiel mir der alte Silas auf einmal so hastig in die Rede, daß ich verwundert dreinschaute und ganz verwirrt wurde, weil er mich mit durchbohrenden Blicken ansah. Aber ich nahm mich zusammen und antwortete: »Als Ihr mit ihm das Stück Land umgrubet, bei Sonnenuntergang.«

»Hm,« sagte er mit enttäuschter Miene und nahm weiter keine Notiz von mir, während ich fortfuhr: »Wir gingen mit, und – –«

»Schweig still mit deinem Unsinn, Huck Finn,« rief jetzt Tante Sally entrüstet; »wer hat je davon gehört, daß man bei uns im September Heidelbeeren pflückt und obendrein zur Nachtzeit? Was soll der Hund dabei – vielleicht die Heidelbeeren aufspüren?« –

»Sie sagten – sie hätten eine Laterne – –« stammelte ich.

»An dem allen ist kein wahres Wort. Ich weiß, ihr habt irgend einen dummen Streich gemacht, da müßte ich euch beide nicht kennen. Na, Tom, heraus mit der Sprache, nicht erst lange gefackelt.«

Tom nahm eine gekränkte Miene an. »Wie kannst du nur den armen Huck schelten, Tante, bloß weil er sich versprochen hat. Er meint natürlich Erdbeeren, wenn er Heidelbeeren sagt. Das weiß doch jedes Kind, daß man in der ganzen Welt – nur nicht hier in Arkansas – einen Hund und eine Laterne mitnimmt, wenn man Erdbeeren suchen geht.«

Nun riß aber Tante Sally der Geduldsfaden; sie wurde ernstlich böse und schüttete einen ganzen Schwall von Worten, die sie gar nicht schnell genug heraussprudeln konnte, über unsere schuldigen Häupter aus. Darauf hatte Tom aber wie gewöhnlich gerechnet. Er ließ sie sich immer in Zorn reden und schwieg mäuschenstill, bis ihre Hitze verflogen war; dann wollte sie meist vor Ärger keine Silbe mehr über die ganze Angelegenheit hören. So kam es auch diesmal. Als sie sich heiser gesprochen hatte und einen Augenblick Atem schöpfen mußte, sagte Tom in aller Seelenruhe:

»Und trotzdem weiß ich doch, Tante –«

»Schweig’« still,« rief sie; »du tust den Mund nicht mehr auf, das sage ich dir!«

So kamen wir aus aller Verlegenheit und von der Verzögerung unserer Ankunft war nicht mehr die Rede. Das hatte Tom wirklich schlau eingerichtet.

Siebentes Kapitel

Benny machte ein sehr ernstes Gesicht und seufzte auch hin und wieder; aber bald fing sie an sich nach Toms Geschwistern Mary und Sid zu erkundigen und besonders nach Tante Polly. Allmählich erheiterte sich auch Tante Sallys Miene, ihre gute Laune kehrte zurück, sie fragte uns dieses und jenes und war wieder so gut und lieb wie immer, so daß unser Abendessen noch einen ganz lustigen Verlauf nahm. Nur der alte Silas beteiligte sich nicht an der Unterhaltung; er war unruhig und zerstreut, auch stieß er oft so tiefe Seufzer aus, daß es einem in der Seele weh tat, ihn so verstört und bekümmert zu sehen.

Eine Weile nach dem Abendessen klopfte es an die Tür; ein Neger steckte den Kopf herein, er trug seinen alten Strohhut in der Hand und sagte unter vielen Bücklingen und Kratzfüßen, sein Herr, Massa Brace, warte draußen am Zaun und lasse den Massa Silas fragen, wo sein Bruder wäre, der zum Essen nicht nach Hause gekommen sei.

Da fuhr Onkel Silas so heftig auf, wie ich es noch nie von ihm gehört hatte: »Bin ich etwa seines Bruders Hüter?« Gleich nachher war es ihm aber wieder leid, er sank in sich zusammen und sprach im sanftesten Ton:

»Du brauchst ihm das nicht zu wiederholen, Billy, ich bin seit einigen Tagen gar nicht wohl und so reizbar, daß ich meine Worte nicht wägen kann. Er ist nicht hier, sage ihm das.«

Als der Neger fort war, ging der alte Mann ruhelos in der Stube auf und ab, wobei er fortwährend unverständliche Worte murmelte und sich mit den Händen ins Haar fuhr. Es war recht jämmerlich anzusehen; doch Tante Sally flüsterte uns zu, nicht acht auf ihn zu geben. Sie sagte, seit so viel Mißgeschick über ihn gekommen sei, gerate er oft tief in Gedanken und wisse kaum mehr, was er tue und treibe. Auch bei Nacht wandle er viel häufiger als früher im Schlaf, entweder nur im Hause oder auch draußen im Freien. Wenn wir ihn einmal dabei beträfen, sollten wir ihn ruhig gehen lassen und ihn ja nicht aufwecken. Es könne ihm niemand helfen, außer Benny, die ihn am besten zu behandeln verstehe.

Auch diesmal schlich sie sich an seine Seite, als er anfing müde zu werden von dem ewigen Hin- und Herwandern. Sie schlang ihren Arm um ihn und ging mit, bis er lächelnd auf sie herabschaute und sich niederbeugte um sie zu küssen. Allmählich wich der gequälte Ausdruck aus seinem Gesicht und er ließ sich von ihr auf sein Zimmer geleiten. Es war eine Freude, den liebevollen Verkehr von Vater und Tochter zu sehen.

Tante Sally mußte nun die Kinder zu Bett bringen und da Tom und ich anfingen uns zu langweilen, machten wir noch einen Gang bei Mondschein in das Feld, wo die reifen Wassermelonen standen. Wir aßen nach Herzenslust und besprachen dabei mancherlei. Tom meinte, er hege nicht den geringsten Zweifel, daß Jupiter ganz allein an dem Streit schuld sei. Bei erster Gelegenheit werde er sich Gewißheit darüber verschaffen und dann Onkel Silas nach Kräften bereden ihn fortzuschicken.

Wohl zwei Stunden lang schwatzten, rauchten und schmausten wir dort. Als wir ins Haus zurückkehrten war es ganz still und dunkel; alle hatten sich zur Ruhe begeben.

Tom, dem nichts entging, bemerkte jetzt, daß der alte grüne Arbeitskittel seltsamerweise von dem Nagel verschwunden war, wo er ihn noch vorhin hatte hängen sehen. Dann suchten wir unsere Schlafkammer auf.

Im Nebenzimmer hörten wir Benny noch lange herumhantieren; sie sorgte sich gewiß um ihren Vater und fand keinen Schlaf. Auch wir waren viel zu aufgeregt, um zu Bette zu gehen; so blieben wir denn wach, unterhielten uns im Flüsterton und waren in recht trübseliger Stimmung. Wir sprachen immer wieder von dem Ermordeten und dem Gespenst, bis uns so unheimlich und gruselig zu Mute wurde, daß von Einschlafen keine Rede sein konnte.

Es war schon spät in der Nacht, als mich Tom plötzlich mit dem Ellenbogen stieß und nach dem Fenster deutete. Ich sah hin; drunten im Hof trieb sich ein Mann hemm, doch konnte ich ihn bei der Dunkelheit nicht erkennen. Jetzt kletterte er über den Zaun und da kam gerade der Mond heraus und schien auf den weißen Flicken des alten Arbeitskittels.

»Siehst du den Nachtwandler,« sagte Tom. »Ich wollte wir dürften ihm folgen und sehen, wo er hingeht mit der langen Schaufel, die er über der Schulter trägt. Er biegt nach dem Tabakfeld ein – nun ist er verschwunden. Der arme Onkel, – es tut mir so leid, daß er gar keine Ruhe findet.«

Wir warteten lange, aber er kam nicht zurück; vermutlich hatte er einen anderen Heimweg eingeschlagen. So legten wir uns denn endlich nieder und verfielen in einen unruhigen Schlaf, der uns mit tausenderlei Beängstigungen quälte. Im Morgengrauen waren wir schon wieder wach; ein Gewitter war heraufgezogen, Blitze zuckten, der Donner krachte, der Wind schüttelte die Bäume, der Regen fuhr in Strömen nieder und die Rinnsteine wurden zu rauschenden Bächen.

»Höre mal, Huck,« sagte Tom, »mir kommt’s sehr seltsam vor, daß man noch gar nichts von Jack Dunlaps Ermordung gehört hat. Die Männer, von denen Hal Clayton und Bud Dixon verjagt wurden, haben die Sache doch in der nächsten halben Stunde sicherlich überall erzählt und sie muß sich wie ein Lauffeuer von Farm zu Farm verbreitet haben. Solche große Neuigkeit kommt doch alle dreißig Jahr höchstens zweimal vor. Es ist wirklich merkwürdig, Huck, ich kann es nicht begreifen. Wäre nur erst das Gewitter vorüber, damit wir hinauskönnten um zu sehen, ob nicht irgend jemand auf der Straße davon anfängt. Wir müssen dann natürlich sehr überrascht und entsetzt sein.«

Es war schon heller lichter Tag, als der Regen aufhörte. Wir schlenderten die Straße hinunter, begrüßten jeden, der uns begegnete, sagten wann wir angekommen wären, wie wir die unsrigen verlassen hätten, wie lange wir zu bleiben gedächten, und dergleichen mehr; aber kein Mensch äußerte eine Silbe über den Mord, was uns höchlich wundernahm. Tom meinte, wenn wir in das Ahornwäldchen gingen, würde die Leiche ganz einsam und verlassen daliegen und keine Menschenseele weit und breit zu sehen sein. Wahrscheinlich hätten die Verfolger die Mörder tief in den Wald hinein gejagt, diese hätten sich endlich umgewendet und sich auf sie geworfen. Nachdem sie einander alle umgebracht, wäre natürlich niemand mehr am Leben gewesen, um die Nachricht zu verbreiten.

Während dieser Reden waren wir unversehens nach dem Ahornwäldchen gekommen. Mir lief der kalte Schweiß den Rücken hinunter und ich wäre um nichts in der Welt auch nur einen Schritt weiter gegangen. Doch Tom ließ es keine Ruhe – er mußte wissen, ob der Ermordete die Stiefel noch anhatte. So kroch er denn ins Dickicht, kam aber schon im nächsten Augenblick in größter Erregung wieder heraus.

»Huck, er ist fort,« rief er.

»Im Ernst, Tom?« fragte ich starr vor Staunen.

»Jawohl, er ist wirklich fort; es ist nichts mehr von ihm zu sehen. Der Boden ist nur etwas zertrampelt und wenn blutige Spuren da waren, hat sie der Regen verwaschen; es ist lauter Schmutz und Morast da drinnen.«

Nun faßte ich mir ein Herz und überzeugte mich mit eigenen Augen, daß kein Leichnam mehr da war.

»Verwünscht,« rief ich, »die Diamanten sind weg!«

»Glaubst du nicht, daß die Mörder zurückgekommen sind und ihn fortgeschleppt haben?«

»Höchst wahrscheinlich. Wo meinst du wohl, daß sie ihn versteckt haben können?«

»Wie soll ich das wissen?« sagte er ärgerlich. »Es ist mir auch einerlei. Mir war nur an den Stiefeln etwas gelegen. Nach der Leiche werde ich den Wald nicht durchsuchen; meinetwegen mag sie sein wo sie will. Die Hunde werden sie sowieso bald aufspüren.«

Wir schlichen betrübt und enttäuscht nach Hause zurück. Mein Lebtag hatte mich noch keine Leiche so geärgert und betrogen wie diese.

Achtes Kapitel

Beim Frühstück ging es nicht sehr munter zu. Tante Sally sah alt und müde aus; sie ließ die Kinder untereinander zanken und streiten ohne ihnen zu wehren, wie sie es sonst immer tat. Tom und ich waren so voller Gedanken, daß wir gar nicht sprachen, und Benny mochte wohl die ganze Nacht kein Auge zugetan haben. So oft sie den Kopf ein wenig hob und nach ihrem Vater hinschaute, mußte sie mit den Tränen kämpfen. Der Alte ließ das Essen auf seinem Teller kalt werden, er rührte keinen Bissen an, redete kein Wort, sondern sann und sann nur immer vor sich hin.

Als die Stille am allerdrückendsten war, steckte der Neger wieder den Kopf durch die Tür und sagte, Massa Brace hätte schrecklich Angst um seinen Bruder Jupiter, der noch immer nicht heimgekommen wäre. Massa Silas sollte doch so gut sein und – –

Das Wort erstarb ihm auf den Lippen, denn Onkel Silas hatte sich plötzlich aufgerichtet. Er sah den Neger an und zitterte dabei so, daß er sich am Tisch festhalten mußte. Die Kehle war ihm wie zugeschnürt; erst nach einer Weile stammelte er mühsam:

»Er glaubt wohl – er glaubt wohl – was denkt er sich eigentlich? – Sag‘ ihm – sag‘ ihm –« kraftlos sank er wieder in seinen Stuhl zurück. »Geh fort – geh fort!« murmelte er so leise, daß man es kaum verstehen konnte.

Der Neger machte sich erschrocken aus dem Staube, während Onkel Silas die Hände rang und seine Augen verdrehte, als läge er im Sterben; es war ein schrecklicher Anblick. Wir sahen alle da, wie festgebannt, nur Benny erhob sich leise, Tränen liefen ihr die Wangen herunter, sie trat neben den Stuhl ihres Vaters, bettete sein graues Haupt an ihrer Brust und streichelte ihn sanft und liebevoll. Dann winkte sie uns, wir sollten fortgehen, und wir verließen das Zimmer so still, als läge ein Toter darin.

In furchtbar ernster Stimmung schlugen Tom und ich den Weg nach dem Walde ein. Wie ganz anders war es doch hier bei unserm Besuch letzten Sommer gewesen: alles so glücklich und friedevoll, Onkel Silas so heiter, so wunderlich und voll kindlicher Einfalt und dabei so hochgeachtet von jedermann. Jetzt hat er entweder den Verstand schon verloren, oder man mußte doch jeden Augenblick fürchten, daß er von Sinnen käme.

Es war ein sonniger, herrlicher Tag; weiter und weiter gingen wir über die Hügel nach der Ebene zu und konnten uns nicht satt sehen an den Bäumen und Blumen ringsum. Daß es in dieser schönen Welt auch Unglück gab, schien uns unbegreiflich. Traurig zu sein, kam uns wie ein Unrecht vor.

Auf einmal fühlte ich, daß mir der Atem stockte; ich hielt Tom am Arm fest und mein Herz pochte wie ein Schmiedehammer.

»Da ist es!« rief ich; wir sprangen hinter einen Busch und Tom flüsterte:

»St! – Mach‘ keinen Lärm.«

Es saß gerade am Ende der kleinen Waldwiese auf einem Holzblock und stützte den Kopf in die Hand. Vergebens bemühte ich mich, Tom zur Flucht zu überreden; er rührte sich nicht vom Fleck, denn er meinte, vielleicht würde er sein Lebtag keine so günstige Gelegenheit mehr haben, ein Gespenst zu sehen, deshalb wollte er dieses nach Herzenslust betrachten und wenn es sein Tod wäre. So blieb ich denn auch da und riß die Augen auf, obgleich mir’s gar nicht wohl dabei zu Mute war.

»Der arme Jack,« raunte mir Tom zu, denn schweigen konnte er nicht; »alle seine Sachen hat er an, wie er’s uns vorausgesagt hat. Auch das Haar hat er sich kurz geschoren. Daß ein Gespenst so natürlich aussehen könnte, hätte ich nie gedacht.«

»Ich auch nicht; man würde es überall wiedererkennen.«

»Ganz wie bei Lebzeiten. Und am meisten wundert mich noch, daß es bei Tage umgeht. Die andern kommen immer erst nach Mitternacht zum Vorschein. Du, Huck, mit dem ist’s nicht ganz richtig; es hat kein Recht, sich jetzt hier herumzutreiben, das kannst du mir glauben. Jack wollte sich taubstumm stellen, weil ihn die Nachbarn sonst an der Stimme erkannt hätten. Meinst du, das Gespenst würde das auch tun, wenn ich’s jetzt anriefe?«

»Tom, ums Himmels willen, du wirst doch so was nicht wagen!«

»Sei nur ganz ruhig, ich denke nicht dran. Aber, was ist das – jetzt kratzt es sich am Kopf – ein Gespenst kann’s doch nicht jucken, das ist ja aus lauter Dunst! Wahrhaftig, Huck, ich glaube, es ist gar kein wirkliches Gespenst, es müßte doch sonst –«

»Was denn, Tom?«

» Durchsichtig sein, so daß man die Büsche dahinter sehen könnte.«

»Du hast recht, sein Körper ist so fest wie der einer Kuh. Weißt du, ich fange an zu glauben –«

»Jetzt nimmt es den Mund voll Tabak und fängt an zu kauen, – das ist ja unmöglich, es hat doch keine Zähne. Höre, Huck!«

»So sprich doch!«

»Es ist gar kein Gespenst, sondern Jack Dunlap, wie er leibt und lebt! – Haben wir etwa eine Leiche im Ahornwäldchen gefunden?«

»Nein, keine Spur.«

»Weißt du auch warum? – Weil nie eine da war.«

»Aber Tom, wir haben doch das Geschrei gehört!«

»Ist das etwa ein Beweis, daß jemand umgebracht worden ist? – Erst sahen wir vier Männer laufen und dann kam dieser aus dem Wald gegangen. Mir hielten ihn für einen Geist, aber es war so wenig ein Geist wie du einer bist. Es war Jack Dunlap selbst und der sitzt jetzt dort drüben und spielt den Fremden und Taubstummen, ganz wie er’s mit uns verabredet hatte. Der – ein Gespenst! Nein, Fleisch und Bein ist er, da wett‘ ich alles drauf.«

Ich sah nun auch unsern Irrtum ein, und wir waren beide herzlich froh, daß Jack nicht umgebracht worden war. Was sollten wir aber jetzt tun? Ihn anreden oder vorgeben, ihn nicht zu kennen? Tom hielt es für das beste, ihn selber zu fragen, wie er es haben wolle. Also ging er geradenwegs auf ihn zu, während ich mich etwas im Hintergrund hielt, für den Fall, daß es doch ein Gespenst wäre.

Als Tom ganz nahe bei ihm war, sagte er: »Guten Tag! Wir freuen uns sehr, Euch wiederzusehen, Huck und ich. – Fürchtet nur nicht, daß wir Euch verraten. Wenn Ihr es für besser haltet, wollen wir tun, als hätten wir Euch nie gekannt. Sagt nur, ob Euch das recht ist. Ihr könnt Euch dann fest auf uns verlassen; wir würden uns eher die Hand abhacken als Euch Schaden tun.«

Zuerst zeigte er sich sehr überrascht uns zu sehen und keineswegs erfreut; aber bei Toms Rede erhellte sich sein Gesicht und zuletzt lächelte er, nickte mehrmals mit dem Kopf, machte allerlei Zeichen mit den Händen und sagte: »Goo – goo – goo – goo,« ganz wie ein Taubstummer.

Indessen sahen wir ein paar von Steffen Nickersons Angehörigen, die jenseits der Wiese wohnten, daherkommen. »Ihr macht Eure Sache ganz ausgezeichnet,« sagte Tom, »natürlich müßt Ihr Euch üben so viel Ihr könnt, an uns so gut wie an den andern, damit Ihr auf Eurer Hut seid und niemals aus der Rolle fallt. Wir wollen Euch auch so wenig wie möglich in den Weg kommen und keiner Seele verraten, daß wir Euch kennen. Laßt es uns aber ja wissen, wenn Ihr einmal Hilfe braucht.«

Als wir den Nickersons begegneten, hielten sie uns natürlich an und wollten wissen, wer der Fremde dort drüben sei, wie er heiße, woher er komme, ob er Baptist oder Methodist, liberal oder konservativ wäre und was dergleichen Fragen mehr sind, die wir Amerikaner bei jeder neuen Erscheinung gleich auf der Zunge haben. Tom erwiderte jedoch, er hätte aus den Zeichen des Taubstummen und seinen Naturlauten nicht klug werden können. Mit großer Spannung beobachteten wir nun von ferne, wie sie Jack auszuforschen begannen. Erst als wir ihn seine Zeichen machen sahen und wußten, daß alles gut ablaufen würde, beruhigten wir uns wieder und machten, daß wir weiter kamen, weil wir gern während der Zwischenstunde beim Schulhaus sein wollten.

Es war recht ärgerlich, daß uns Jack nicht erzählen konnte, was sich in dem Ahornwäldchen zugetragen hatte und ob er fast umgebracht worden wäre; aber Tom bemerkte ganz richtig, daß ein Mensch in Jacks Lage nicht vorsichtig genug sein könne und am besten täte still zu schweigen, um sich keiner Gefahr auszusetzen.

In der Zwischenstunde ging es sehr lustig zu, alle Knaben und Mädchen freuten sich, uns wiederzusehen. Die beiden Hendersons waren auf ihrem Schulweg dem Taubstummen begegnet und wurden deshalb von den übrigen sehr beneidet, da alle vor Neugier brannten, ihn zu sehen, und von gar nichts anderm reden mochten.

Es kostete Tom keine kleine Überwindung, nichts zu verraten. Hätten wir alles erzählen dürfen, wie würde man uns bewundert haben! Aber viel heldenhafter war es doch noch, Stillschweigen zu bewahren. Unter Millionen Jungen hätte man nicht zwei finden können, die das fertig brachten. Davon war Tom wenigstens überzeugt und schließlich mußte er es doch am besten wissen.

Neuntes Kapitel

In den nächsten zwei oder drei Tagen ging der Taubstumme bei den Nachbarn aus und ein und war bald allgemein

beliebt. Jeder war stolz, mit einer so merkwürdigen Persönlichkeit zu verkehren; man lud ihn zum Frühstück, zu Mittag und zum Abendessen ein, bewirtete ihn aufs beste und wurde nicht müde, ihn anzustarren. Gern hätten die Leute mehr über ihn erfahren, aber seine Zeichen verstanden sie nicht – er wußte wohl selbst nicht, was sie bedeuteten. Seine Naturlaute bewunderten sie dagegen sehr und freuten sich, so oft er sie hören ließ. Auch reichte er eine Tafel herum nebst Schieferstift, damit man Fragen an ihn stellen könne; die Antworten, die er aufschrieb, konnte aber niemand lesen, außer Brace Dunlap, dem es freilich auch Mühe machte; doch fand er häufig wenigstens den Sinn heraus. Er sagte, der Taubstumme käme von weit her und habe früher im Wohlstand gelebt, dann sei er Schwindlern in die Hände gefallen, die sein Vertrauen mißbraucht hätten. Jetzt sei er arm und wüßte nicht, wie er sein Brot erwerben solle.

Man lobte Brace allgemein, daß er sich des Fremden so hilfreich annahm. Er hatte ihm ein kleines Blockhaus zur Wohnung angewiesen, seine Neger mußten es in Ordnung halten und ihm zu essen bringen so viel er wollte.

Auch in unser Haus kam der Taubstumme öfters, weil es Onkel Silas Trost gewährte, einen Menschen zu sehen, der auch von Trübsal heimgesucht war wie er. Tom und ich taten, als hätten wir ihn noch nie erblickt, und auch er stellte sich uns gegenüber ganz fremd. Der Familienkummer wurde in seiner Gegenwart ohne Scheu besprochen, was ja im Grunde nichts schadete. Gewöhnlich schien er gar nicht acht darauf zu geben, aber manchmal tat er es doch.

Als drei Tage vergangen waren, fingen die Nachbarn an, sich über Jupiter Dunlaps Ausbleiben zu beunruhigen. Einer fragte den andern, wo er wohl hingeraten sein könne; man schüttelte den Kopf und fand es höchst seltsam und unerklärlich. Abermals verstrichen ein paar Tage; da entstand ein Gerücht, daß er vielleicht ermordet wäre. Das machte natürlich großes Aufsehen und ein endloses Gerede. Am Samstag zogen die Leute truppweise in den Wald, um die Leiche aufzustöbern. Tom und ich gingen auch mit und halfen suchen. Tom konnte vor Aufregung tagelang weder essen noch schlafen und glühte vor Eifer, weil er meinte, wenn wir den Leichnam fänden, würden wir berühmt werden und unser Name in aller Munde sein.

Die andern bekamen es zuletzt satt und gaben das Suchen auf. Aber Tom Sawyer dachte nicht daran, er war unermüdlich. Die ganze Nacht schloß er kein Auge, er sann über einen Plan nach und als der Morgen dämmerte, war ihm ein Licht aufgegangen. In größter Hast kam er und holte mich aus dem Bette.

»Rasch Huck, wirf deine Kleider über,« rief er, »ich hab’s! Wir brauchen einen Schweißhund.«

Zwei Minuten später liefen wir im Dunkeln am Fluß entlang nach dem Dorfe zu. Der alte Schmied Jeff Hooker hatte einen Hund, den wollte sich Tom von ihm borgen.

»Die Spur ist zu alt,« sagte ich, »und geregnet hat es auch.«

»Das schadet nichts, Huck. Wenn der Leichnam irgendwo im Walde steckt, findet ihn der Hund gewiß. Er wird es schon wittern, an welcher Stelle man den Ermordeten verscharrt hat. Auch auf die Spur des Mörders wird er uns helfen, und wenn wir die erst haben, verfolgen wir sie ohne Unterlaß, bis wir den Kerl fangen. Dann werden wir berühmt, so wahr ich lebe.«

»Na, laß uns nur erst die Leiche finden,« sagte ich, um sein Feuer etwas zu dämpfen, »daran werden wir wohl für heute genug haben. Wer weiß, ob überhaupt eine da ist; vielleicht ist der faule Jupiter einfach durchgebrannt und gar nicht ermordet worden.«

Doch davon wollte Tom nichts hören. »Wie kannst du nur so reden, Huck, das ist ganz abscheulich. Schämst du dich nicht, ein solcher Spielverderber zu sein, wenn wir gerade die beste Gelegenheit haben uns auszuzeichnen und unsern Ruhm zu begründen.«

»Ach was, ich nehme alles zurück; mache es nur ganz wie du willst, Tom. Ob Jupiter tot ist oder lebendig, kümmert mich im Grunde wenig.«

Bald war Tom wieder Feuer und Flamme für das Unternehmen, bis wir vor die Schmiede des alten Jeff Hooker kamen, der seine Begeisterung gewaltig abkühlte.

»Den Hund könnt ihr haben,« sagte er, »aber ihr werdet keinen Leichnam finden, weil keiner da ist. Die Leute haben ganz recht, daß sie nicht weiter suchen. Sobald sie anfingen nachzudenken, mußte sich eben jeder sagen, daß von einem Mord gar keine Rede sein kann. Ich will euch auch sagen weshalb: Wenn jemand einen Menschen umbringt, tut er es doch nicht ganz ohne Grund, das werdet ihr mir zugeben. Na, und warum sollte man wohl dem Jupiter Dunlap, diesem Schafskopf, nach dem Leben trachten? Etwa aus Rache? Meint ihr, daß irgend jemand einen Groll gegen solchen Menschen hat?«

Tom fand kein Wort der Erwiderung; von diesem Gesichtspunkt aus hatte er sich die Sache noch nicht überlegt.

»Oder glaubt ihr, man hätte ihn berauben wollen? Haha! Das wird’s wohl sein. Die Hosenschnallen hat man ihm gestohlen und deshalb – –«

Der Alte wollte sich vor Lachen ausschütten; er mußte sich die Seiten halten, um nicht zu bersten. Tom machte ein ganz verblüfftes Gesicht; ich sah’s ihm an, daß er sich meilenweit weg wünschte, während Jeff Hooker von neuem anhub: »Wer irgend Grütze im Kopf hat, mußte sich’s ja gleich sagen, daß der Faulpelz nur ausgekniffen ist, weil er nach seiner schweren Arbeit eine Weile herumbummeln wollte. Paßt auf, nach ein paar Wochen kommt er wieder und lacht sich ins Fäustchen. – Wenn du aber nach seinem Leichnam suchen willst, Tom, so nimm den Hund und tu’s, ich werd‘ dich nicht hindern.«

Tom war zu weit gegangen, er konnte nicht mehr zurück. »Na, also, macht ihn nur von der Kette los,« sagte er. Der Alte tat es und sah uns lachend nach, während wir beschämt abzogen.

Der Hund kannte uns, wedelte mit dem Schwanz und sprang mit lustigen Sätzen vor uns her, im Genuß seiner Freiheit. Aber Tom verzog keine Miene, er war tief gekränkt, daß der alte Hooker ihn lächerlich gemacht hatte, und verwünschte das ganze Abenteuer.

In düsterm Schweigen schlichen wir durch die Hintergassen heim. Als wir eben um die Ecke unseres Tabakfeldes bogen, stieß der Hund ein klägliches Geheul aus. Wir eilten herzu und sahen, wie er mit aller Macht die Erde aufwühlte und dann und wann den Kopf laut heulend zur Seite wandte.

In dem vom Regen durchweichten Boden ließ sich deutlich ein eingesunkenes längliches Viereck erkennen, das aussah wie ein Grab. Stumm standen wir da und sahen einander an. Der Hund hatte kaum ein paar Zoll tief gegraben, als er einen Gegenstand zu packen bekam und ihn herauszerrte; es war ein Männerarm, der im Ärmel steckte.

»Komm fort, Huck,« stieß Tom keuchend heraus, »die Leiche ist gefunden.«

Mich durchrieselte es kalt. Rasch liefen wir nach der Landstraße und holten die ersten besten Leute, die uns begegneten. Sie nahmen einen Spaten mit und gruben den Leichnam aus. Nein, war das eine Aufregung! Sein Gesicht konnte man nicht mehr erkennen, aber das war auch nicht nötig. Alle riefen:

»Der arme Jupiter; das sind die Kleider, die er zuletzt getragen hat.«

Ein paar Männer eilten ins Dorf, um die Nachricht zu verbreiten und dem Friedensrichter Anzeige zu machen, damit die Totenschau gehalten werden könnte. Auch Tom und ich liefen spornstreichs nach Hause; ganz atemlos kamen wir zu Onkel Silas, Tante Sally und Benny hereingestürzt und Tom rief:

»Wir zwei, ich und Huck, haben ganz allein mit einem Schweißhund Jupiter Dunlaps Leiche gefunden. Alle hatten es aufgegeben; ohne uns hätte man sie niemals entdeckt. Er ist doch ermordet worden, mit einem Knüttel hat man ihn totgeschlagen; aber ich will den Mörder schon finden, er soll mir nicht entgehen, so wahr ich Tom heiße.«

Tante Sally und Benny sprangen bleich und erschrocken auf, aber Onkel Silas fiel vorn über vom Stuhl auf den Boden und rief ächzend: »Gott erbarme sich meiner – du hast ihn schon gefunden!« –

Zehntes Kapitel

Bei diesen gräßlichen Worten standen wir wie zu Stein erstarrt und konnten wohl eine Minute lang kein Glied rühren. Sobald wir uns etwas von dem Schreck erholt hatten, hoben wir den alten Mann auf und setzten ihn wieder in seinen Stuhl; er ließ sich von Benny streicheln und küssen, auch die arme Tante versuchte ihn zu beruhigen. Doch waren sie beide so verwirrt und außer sich, daß sie kaum wußten, was sie taten. Am allerunglücklichsten war aber Tom selbst. Daß er seinen Onkel vielleicht ins Verderben gestürzt hatte, war ihm fürchterlich. Hätte er nicht solchen Ehrgeiz gehabt, berühmt zu werden und hätte das Suchen nach der Leiche aufgegeben, wie die andern Leute, so wäre es ja am Ende nie herausgekommen. Doch nicht lange, da besann er sich und änderte seine Gedanken:

»Sag‘ das nicht noch einmal, Onkel Silas; solche Reden sind gefährlich und es ist auch kein Körnchen Wahrheit daran,« versicherte er mit Bestimmtheit.

Tante Sally und Benny atmeten erleichtert auf bei diesen Worten; aber der Onkel schüttelte traurig den Kopf.

»Nein, nein – ich hab’s getan – der arme Jupiter – ich hab’s getan!« sagte er im Ton der Verzweiflung, während ihm die Tränen über die Backen liefen. Es war schrecklich mit anzuhören.

Dann erzählte er weiter, es sei an dem Tage geschehen, als Tom und ich ankamen, bei Sonnenuntergang. Jupiter hatte ihn gequält und geärgert, bis ihn der Zorn übermannte und er ihm mit seinem Stock über den Kopf schlug, daß er zu Boden stürzte. Sofort bereute er seine Hitze; er kniete neben Jupiter hin, hob ihm den Kopf auf und bat, er solle doch sprechen und sagen, daß er nicht tot sei. Der kam auch bald wieder zu sich; doch als er sah, wer ihm den Kopf hielt, sprang er, wie zu Tode erschrocken, auf, war mit einem Satz über den Zaun, lief nach dem Walde zu und verschwand. Da hoffte Onkel natürlich, er hätte ihm keinen Schaden getan.

»Aber ach,« fuhr er fort, »nur die Furcht hatte ihm dies letzte Fünkchen Lebenskraft eingeflößt, das rasch erlosch; im Gebüsch ist er dann zusammengebrochen, wo ihm niemand beistehen konnte, und ist gestorben.«

Der alte Mann jammerte und weinte, er sagte, er sei ein Mörder, er trüge das Kainszeichen und brächte seine Familie in Schande und Schmach. Seine Missetat würde entdeckt werden und ihn an den Galgen bringen.

»Davon ist gar keine Rede,« sagte Tom. »Du hast ihn gar nicht umgebracht. Ein einziger Schlag ist nicht gleich tödlich. Den Mord hat ein anderer begangen.«

»Nein, ich habe es getan, sonst niemand. Wer hätte auch außer mir etwas gegen ihn haben sollen?«

Er sah uns an als hoffte er, wir würden jemand nennen können, der dem harmlosen Menschen grollte; allein das war vergebens, wir mußten alle verstummen. Als er das sah, überfiel ihn die Trauer von neuem; seine jammervolle Miene war zum Erbarmen.

»Aber halt,« rief Tom plötzlich, »jemand muß ihn doch begraben haben. Wer kann das denn –«

Weiter kam er nicht. Ich wußte wohl warum, und es überlief mich kalt. Hatten wir doch beide Onkel Silas in jener Nacht mit der langen Schaufel über der Schulter gesehen. Auch Benny mußte ihn bemerkt haben; sie hatte einmal etwas davon erwähnt. Tom war nun eifrig bemüht, Onkel zu überreden, daß er sich nicht verraten solle; wir andern stimmten ihm bei und sagten, wenn Onkel schwiege, würde man es nie erfahren und er dürfe sich nicht selbst anklagen, weil es uns allen das Herz brechen würde, wenn ihm ein Leid geschähe. Es würde niemand Nutzen bringen und die Seinigen nur unglücklich machen. Zuletzt versprach er es denn auch und wir suchten ihn nun nach Kräften zu trösten und aufzuheitern. Über der ganzen Sache würde bald Gras wachsen, sagten wir, und kein Mensch würde mehr daran denken. Gegen Onkel Silas Verdacht zu schöpfen, könne niemand auch nur im Traum einfallen; er stehe in viel zu gutem Ruf und sei so lieb und freundlich gegen jedermann.

»Überlegt es doch nur,« sagte Tom mit großem Nachdruck, »es liegt ja auf der Hand: Seit so und so vielen Jahren ist Onkel Silas hier Prediger gewesen ohne einen Pfennig Gehalt; alles mögliche Gute hat er getan, von alt und jung wird er geliebt und geachtet. Wie sollte er, der friedliebendste Mensch von der Welt, der sich nie in fremde Angelegenheiten gemischt hat, dazu kommen, sich tätlich an jemand zu vergreifen? Es kann gar kein Argwohn gegen ihn entstehen; das ist ebenso gut ein Ding der Unmöglichkeit wie – –«

»Im Namen und Auftrag des Staates Arkansas verhafte ich Euch als den Mörder des Jupiter Dunlap,« rief in diesem Augenblick der Sheriff an der Tür.

Es war furchtbar. Tante Sally und Benny klammerten sich weinend und schreiend an Onkel Silas und wollten ihn nicht fortlassen; auch die Neger liefen heulend herbei, es war ein herzzerreißender Auftritt und ich verschwand.

Als er nach dem kleinen Dorfgefängnis geführt wurde, begleiteten wir ihn alle, um ihm Lebewohl zu sagen. Tom hatte schon einen Plan fix und fertig im Kopf, wie wir ihn in einer dunklen Nacht heldenmütig befreien wollten. Aber als er gegen Onkel etwas davon verlauten ließ, kam er übel an. Der arme Alte meinte, es sei seine Pflicht, zu dulden, was das Gesetz über ihn verhänge; selbst wenn die Tür des Gefängnisses offen stünde, würde er von dort nicht wanken und weichen. Natürlich war Tom sehr enttäuscht, doch mußte er sich drein ergeben. Den Gedanken, seinen Onkel zu befreien, gab er aber deshalb noch lange nicht auf; er betrachtete das als seine Schuldigkeit, denn er fühlte sich gewissermaßen verantwortlich für ihn.

Er versprach auch Tante Sally, daß er Tag und Nacht nicht ruhen würde, bis er Onkels Unschuld ans Licht gebracht hätte, sie solle sich nur keinen Kummer machen. Tante umarmte ihn zärtlich, dankte ihm und sagte, sie sei überzeugt, er werde alles tun, was in seinen Kräften stehe. Dann bat sie uns noch, wir möchten Benny helfen das Haus und die Kinder zu versorgen, und nachdem wir mit Tränen von ihr Abschied genommen hatten, kehrten wir nach der Farm zurück. Tante wollte bei der Frau des Gefängniswärters bleiben, bis im Oktober die Gerichtsverhandlung stattfand.

Elftes Kapitel

Der nächste Monat war für uns alle sehr traurig. Die arme Benny nahm sich zusammen, so gut sie konnte; auch Tom und ich trugen unser möglichstes zur allgemeinen Aufheiterung bei, aber das half wenig. Wir besuchten die alten Leute jeden Tag, was furchtbar trübselig war. Onkel Silas hatte meist schlaflose Nächte oder er wandelte im Schlaf; sein Aussehen war erbärmlich, auch nahm er körperlich und geistig so sehr ab, daß wir alle fürchteten, er würde vor Kummer krank werden und sterben.

Wenn wir ihm Mut zusprachen, schüttelte er nur den Kopf und meinte, wir wüßten nicht, welche Last es wäre, einen Mord auf der Seele zu tragen, sonst würden wir anders reden. Wie oft wir ihm auch wiederholten, daß es kein Mord, sondern fahrlässiger Todschlag wäre, er ließ sich nicht davon abbringen. Ja, als der Tag der Verhandlung näher rückte, war er ganz bereit einzugestehen, er habe den Mann mit Vorbedacht getötet. Das verschlimmerte die Sache natürlich hundertfach; Tante Sally und Benny verzehrten sich fast vor Angst. Doch nahmen wir Onkel das Versprechen ab, daß er im Beisein anderer keine Silbe von dem Mord sagen wolle und das war wenigstens ein Trost.

Den ganzen Monat über zerbrach sich Tom den Kopf, um einen Ausweg zu finden. Viele Nächte mußte ich mit ihm aufbleiben und Pläne schmieden, aber wir arbeiteten uns nur unnütz ab, es führte alles zu nichts. Ich war zuletzt so mutlos und niedergeschlagen, daß ich Tom riet es aufzugeben; doch er war anderer Meinung und ließ nicht nach, sich mit immer neuen Entwürfen das Hirn zu zermartern.

So kam Mitte Oktober der Tag der Gerichtsverhandlung. Wir waren alle da und der Saal natürlich gedrängt voll. Der arme alte Onkel Silas sah selbst fast aus wie ein Toter, so hohläugig, abgezehrt und jämmerlich. Benny und Tante Sally saßen ihm rechts und links zur Seite, tief verschleiert und gramerfüllt. Aber Tom saß bei unserm Verteidiger und redete in alles mit herein; der Anwalt ließ ihn gewähren und der Richter auch. Manchmal hielt er’s für besser, dem Verteidiger die Sache ganz aus der Hand zu nehmen, denn der war nur ein Winkeladvokat und verstand so gut wie gar nichts.

Die Vereidigung der Geschworenen war vorüber und der öffentliche Ankläger hielt seine Rede. Er sagte so schreckliche Dinge von Onkel Silas, daß Tante Sally und Benny zu weinen anfingen. Was er über den Mord berichtete, nahm uns fast den Atem, es war so ganz anders als Onkels Erzählung. Er sagte, er werde beweisen, daß zwei zuverlässige Zeugen gesehen hätten, wie Onkel Silas den Jupiter Dunlap umgebracht habe. Es sei mit Vorbedacht geschehen, denn er habe gerufen, er wolle ihn kalt machen, während er mit dem Knüttel zuschlug, dann habe er Jupiter ins Gebüsch geschleppt, der sei aber schon ganz tot gewesen. Später sei Onkel Silas wiedergekommen und habe die Leiche ins Tabakfeld geschafft, was zwei Männer bezeugen könnten. In der Nacht habe er sie dann begraben und sei auch dabei von jemand beobachtet worden.

Ich sagte mir, der arme alte Onkel müsse uns belogen haben, weil er sich darauf verließ, daß ihn niemand gesehen hätte und er Tante Sally und Benny nicht das Herz brechen wollte. Daran hatte er ganz recht getan; jeder, der nur das geringste Gefühl im Leibe hatte, würde auch gelogen haben, um den beiden, die doch gar nichts dafür konnten, Kummer und Herzeleid zu ersparen. Unser Verteidiger machte ein bedenkliches Gesicht und auch Tom war einen Augenblick wie auf den Mund geschlagen, doch nahm er sich rasch wieder zusammen und tat ganz zuversichtlich – aber es war ihm schlecht dabei zu Mute, das weiß ich. Unter den Zuhörern entstand eine furchtbare Aufregung während der Rede.

Als der Ankläger fertig war, setzte er sich und die Zeugen wurden aufgerufen. Zuerst kamen mehrere um zu beweisen, daß Onkel Silas dem Ermordeten feindlich gesinnt gewesen war. Sie sagten, sie hätten ihn öfters Drohungen gegen Jupiter ausstoßen hören; es sei zuletzt so schlimm geworden, daß alle Welt darüber gesprochen habe. Der Ermordete, dem um sein Leben bangte, habe mehrmals geäußert, Onkel Silas würde ihn gewiß noch einmal umbringen.

Das Kreuzverhör, das Tom und unser Verteidiger mit diesen Zeugen anstellten, nützte nichts; sie beharrten bei ihrer Aussage.

Zunächst betrat Lem Beebe den Zeugenstand. Das rief mir den Tag unserer Ankunft ins Gedächtnis, wie Lem mit Jim Lane an uns vorbeigegangen war und gesagt hatte, er wollte sich einen Hund von Jupiter Dunlap borgen. Alles zog wieder an meiner Erinnerung vorüber: Bill und Hans Withers, die von einem Neger redeten, der Onkel Silas Korn gestohlen hatte, und unser Geist, der aus dem Ahornwäldchen kam und uns so erschreckte. Der saß jetzt leibhaftig vor mir und nahm als Taubstummer und Fremder obendrein einen besonderen Stuhl innerhalb der Schranken ein; da konnte er gemütlich die Beine übereinander schlagen, während die übrigen Zuhörer so zusammengepfercht waren, daß sie kaum Platz zum Atemholen hatten.

Lem Beebe leistete den Eid und begann: »Am zweiten September gegen Sonnenuntergang ging ich mit Jim Lane am Zaun des Angeklagten vorbei. Da hörten wir lautes Reden und Schreien, ganz in unserer Nähe, nur das Haselgebüsch war dazwischen. Wir erkannten die Stimme des Angeklagten, welche rief: ›Ich hab‘ dir’s oft gesagt, ich bringe dich noch um!‹ dann sahen wir einen Knüttel, der hoch emporgehoben wurde und wieder hinter dem Gebüsch verschwand; wir hörten einen dumpfen Schlag und gleich darauf ein Ächzen. Nun krochen wir leise näher und als wir durch den Zaun guckten, sahen wir Jupiter Dunlap tot am Boden liegen und neben ihm stand der Angeklagte mit dem Knüttel in der Hand. Er schleppte die Leiche fort, um sie zu verbergen; wir aber duckten uns, damit wir nicht gesehen würden und machten, daß wir wegkamen.«

Es war schrecklich. Den Zuhörern erstarrte fast das Blut in den Adern und im ganzen Saal herrschte lautlose Stille. Erst als der Zeuge fertig war, hörte man die Leute seufzen und stöhnen und sie sahen einander mit entsetzten Mienen an.

Am meisten mußte ich mich aber über Tom verwundern. Bei den ersten Zeugen hatte er aufgepaßt wie ein Schweißhund und sobald einer mit seiner Aussage zu Ende war, fuhr er drauflos und tat alles, was er konnte, um ihn auf Unwahrheiten zu ertappen und sein Zeugnis zu entkräftigen. Auch jetzt, als Lem anfing und nichts davon sagte, daß er mit Jupiter gesprochen hatte und sich seinen Hund borgen wollte, glühte Tom vor Eifer und ich merkte, wie er nur darauf lauerte, Lem ins Kreuzverhör zu nehmen. Dann dachte ich, würden wir beide als Zeugen auftreten und erzählen, was wir aus Lems eigenem Munde gehört hatten. Ich sah wieder zu Tom hin, aber der war auf einmal wie ausgewechselt. Er hörte gar nicht mehr auf das, was Lem sagte, sondern saß ganz in sich versunken da, als schweiften seine Gedanken in weiter, weiter Ferne. Als Lem fertig war, stieß unser Verteidiger Tom mit dem Ellenbogen an; einen Augenblick sah er verwirrt auf und meinte: »Nehmen Sie den Zeugen ins Verhör, wenn Sie wollen; aber mich lassen Sie in Ruhe – ich muß nachdenken.«

Na, da hörte doch alles auf; es ging über meine Begriffe. Ich sah auch wie Benny und ihre Mutter den Schleier zurückschoben und mit angstvoller Miene nach Tom hinschauten, um seinem Blick zu begegnen, aber sie bemühten sich vergebens, er starrte immer nur auf einen Fleck. Der Winkeladvokat nahm zwar den Zeugen vor, brachte aber nichts heraus und verdarb die Geschichte noch vollends.

Dann wurde Jim Lane aufgerufen; er erzählte den Vorgang genau ebenso. Tom aber gab gar nicht acht; er saß noch immer in tiefen Gedanken da und merkte nicht, was um ihn her vorging. Der Verteidiger mußte wieder ganz allein fragen, und auch das Ergebnis war das gleiche. Nun schaute der öffentliche Ankläger sehr befriedigt drein, aber der Richter machte ein verdrießliches Gesicht, denn Tom versah fast die Stelle eines richtigen Advokaten. In Arkansas durfte der Angeklagte nämlich nach dem Gesetz wen er wollte, zum Beistand seines Verteidigers wählen. Tom hatte Onkel Silas überredet, ihm den Fall anzuvertrauen, und nun tat er nichts zur Sache, was dem Richter natürlich unangenehm war.

Schließlich fragte der Verteidiger Lem und Jim: »Warum habt ihr nicht gleich angezeigt, was ihr gesehen hattet?«

»Wir fürchteten, selbst in die Sache verwickelt zu werden,« lautete die Antwort. »Als wir aber hörten, daß nach dem Leichnam gesucht wurde, sind wir gleich zu Brace Dunlap gegangen und haben ihm alles erzählt.«

»Wann war das?«

»Samstag abend, den 9. September.«

Hier ließ sich der Richter vernehmen:

»Sheriff,« sagte er, »verhaften Sie diese beiden Zeugen als Hehler des Mordes.«

»Herr Richter,« rief der Ankläger in großer Erregung, »ich erhebe Einspruch gegen dieses außergewöhnliche – –«

»Setzen Sie sich,« erwiderte der Richter und legte sein Dolchmesser vor sich auf den Tisch. »Ich bitte, daß Sie dem Gerichtshof die schuldige Achtung erweisen.«

Der nächste Zeuge war Bill Withers.

Nach seiner Vereidigung sagte er aus: »Ich kam am Samstag, den 2. September gegen Sonnenuntergang mit meinem Bruder Hans am Feld des Gefangenen vorbei, da sahen wir einen Mann, der eine schwere Last auf dem Rücken trug. Wir konnten ihn nur undeutlich sehen, aber es schien, als schleppe er einen Menschen, dessen Glieder so schlaff herabhingen, daß wir meinten, er müsse wohl betrunken sein. Nach dem Gang des Mannes zu urteilen, war es Pastor Silas und wir dachten, er hätte vielleicht den Trunkenbold Sam Cooper, den er schon lange zu bessern versucht, im Straßengraben gefunden und schaffte ihn nun nach Hause.«

Den Leuten grauste, als sie sich vorstellten, wie der alte Onkel Silas den Ermordeten in seine Tabakpflanzung geschleppt hatte, wo der Hund hernach die Leiche aufwühlte. Viel Mitgefühl war aber nicht in den Gesichtern zu lesen, und einer sagte zu seinem Nachbar: »Schauderhaft, den Toten so herumzutragen und dann im Boden zu verscharren, wie das erste beste Tier – und so was kann ein Pastor tun!«

Auch diesen Zeugen mußte der Verteidiger allein vornehmen; Tom war wie blind und taub, er rührte sich nicht.

Nach Bill kam Hans Withers und wiederholte alles, was sein Bruder gesagt hatte.

Dann wurde Brace Dunlap aufgerufen. Der sah so kummervoll aus, als ob ihm das Weinen nahe wäre. Im Saal entstand eine große Bewegung; alle horchten auf, um ja kein Wort zu verlieren; die Weiber flüsterten: »Der arme Mensch!« und viele sah man sich die Augen trocknen.

Brace Dunlap leistete den Eid, dann sagte er:

»Ich war schon lange in Sorge um meinen armen Bruder, doch hoffte ich immer noch, die Sachen stünden nicht so schlimm wie er sie schilderte. Wie hätte ich auch denken sollen, daß es irgend jemand übers Herz bringen würde, einem so harmlosen Geschöpf ein Leid anzutun. Und daß gar der Pastor ihm nach dem Leben trachtete, konnte mir gar nicht in den Sinn kommen. Aber nie, nie werde ich mir vergeben, daß ich der Sache nicht gleich ein Ende gemacht habe; hätte ich das getan, so wäre mein armer unschuldiger Bruder heute noch am Leben, und nun liegt er dort drüben – grausam ermordet.« Die Rührung übermannte ihn; er mußte eine Weile warten, weil ihm die Stimme versagte. Von allen Seiten wurden teilnahmvolle Worte laut und die Weiber weinten. Dann entstand eine feierliche Stille; nur der arme alte Onkel Silas stöhnte aus tiefster Brust, so daß es jedermann hörte.

Brace fuhr fort: »Samstag, den 2. September kam er nicht zum Nachtessen heim. Als es spät wurde, schickte ich einen meiner Neger nach der Wohnung des Angeklagten; aber dort war mein Bruder nicht. Meine Unruhe wuchs; zwar legte ich mich zu Bette, aber an Schlaf war nicht zu denken. In der Nacht stand ich noch einmal auf, ging nach dem Hause des Angeklagten und irrte da lange umher in der Hoffnung, meinen armen Bruder zu treffen. Ach, ich wußte ja nicht, daß er schon aus aller Not in ein besseres Jenseits entrückt war.« Wieder versagte ihm die Stimme und man hörte die Weiber schluchzen. Bald nahm Brace einen neuen Anlauf: »Das Warten war vergebens. Ich ging heim und legte mich nieder. Ein paar Tage später gerieten die Nachbarn auch in Sorge und fingen an, von den Drohungen zu reden, die der Angeklagte ausgestoßen hatte. Ihre Ansicht, daß mein Bruder ermordet sei, teilte ich nicht; aber das Gerücht verbreitete sich, man fing an, nach der Leiche zu suchen. Ich war der Meinung, mein Bruder habe sich irgendwohin geflüchtet, um etwas Ruhe zu haben und er werde über kurz oder lang zurückkehren. Da kamen am Samstag, den 9. Lem Beebe und Jim Lane noch spät abends zu mir und erzählten mir alles – so erfuhr ich den gräßlichen Mord, der mir fast das Herz brach. Zugleich erinnerte ich mich an einen Umstand, auf den ich vorher kein großes Gewicht legte, weil ich gehört hatte, der Angeklagte sei ein Nachtwandler und tue im Schlaf allerlei, wovon er kein Bewußtsein habe. In jener schrecklichen Nacht, am Sonnabend nämlich, als ich voll Sorge und Kummer umherirrte, kam ich auch an die Tabakpflanzung des Angeklagten und hörte ein Geräusch, als ob der Boden aufgegraben würde. Ich schlich näher und sah durch die Hecke einen Mann, der Erde in ein Loch schaufelte, das schon fast zugefüllt war. Er stand mit dem Rücken nach mir, aber im Mondlicht erkannte ich den Angeklagten an seinem alten grünen Arbeitskittel mit dem weißen Flicken zwischen den Schultern, der aussieht, als hätte ihn jemand mit einem Schneeball geworfen. Er war gerade beschäftigt, den Mann, den er erschlagen hatte, im Boden zu verscharren.«

Weinend und schluchzend sank Brace auf seinen Stuhl nieder und durch den ganzen Saal ging ein Klagegestöhn. »Wie schauderhaft, wie gräßlich!« klang es von allen Seiten; die Unruhe nahm mit jeder Minute zu. Da auf einmal erhob sich der alte Onkel Silas; er sah so weiß aus, wie ein Tuch und rief:

»Es ist alles buchstäblich wahr – ich habe ihn mit kaltem Blute umgebracht!«

Die Leute waren erst starr vor Schrecken, dann entstand ein wilder Lärm. Jeder sprang von seinem Sitze auf und reckte den Hals, um besser sehen zu können. Der Richter schlug mit dem Hammer auf den Tisch und der Sheriff kreischte: »Ruhe und Ordnung im Gerichtssaal – Ruhe!«

Von alledem schien Tom Sawyer nicht das mindeste zu merken. Wahrhaftig, da saß er, starrte ins Leere und schaute auch nicht ein einzigesmal nach Onkel Silas hin.

Unterdessen stand der alte Mann noch immer hoch aufgerichtet, mit glühenden Blicken und an allen Gliedern bebend da. Er wehrte seine Frau und Tochter ab, die sich an ihn klammerten und flehten, er solle schweigen. Nein, er wollte das Verbrechen nicht mehr auf der Seele haben, er wollte die Last abwälzen, unter der er erliegen mußte, keine Stunde länger wollte er sie tragen. Und während alle Zuschauer ihn entsetzt anstarrten, während der Richter, die Geschworenen, die Anwälte nach Atem rangen, während Benny und Tante Sally schluchzten, daß es einen Stein erbarmen konnte, floß dem alten Mann sein grausiges Bekenntnis über die Lippen, wie ein Strom, der aus seinen Ufern bricht:

»Ich habe ihn umgebracht. Ich bin der Schuldige! Doch hatte ich noch nie im Leben daran gedacht, ihm Schaden oder Leid zuzufügen, bis zu dem Augenblick, als ich den Stock erhob. Daß ich ihm schon früher gedroht haben soll, ist nicht wahr. Ganz plötzlich ward es mir eiskalt ums Herz, alles Mitleid war verflogen, ich wollte ihn töten und schlug zu. In dem Moment kam mir alles zum Bewußtsein, was ich erlitten hatte, aller Schimpf, den mir der Mann und sein schurkischer Bruder dort angetan, die zusammen darauf ausgegangen waren, mich bei den Leuten in Verruf zu bringen, mir den guten Namen abzuschneiden und mich solange zu quälen, bis ich eine Tat beging, die mich und die Meinigen ins Verderben stürzte, während wir ihnen doch, weiß Gott, nie etwas zuleide getan hatten. Es war nichts, als gemeine Rache von ihnen. Und wofür? – Bloß weil meine arme unschuldige Tochter hier den reichen, frechen und feigen Nichtsnutz, den Brace Dunlap, nicht heiraten wollte, der jetzt solchen Schmerz um seinen Bruder heuchelt, dem er sein Lebtag nichts Gutes gegönnt hat. – In jenem Augenblick vergaß ich mein Seelenheil und dachte nur an meinen bittern Groll – ich schlug zu, um meinen Feind zu töten – verzeih mir’s Gott! – Sofort tat mir’s von Herzen leid, mich überfiel die Reue; doch dachte ich an die Meinigen und um ihretwillen wollte ich meine Missetat verbergen. Erst schleppte ich die Leiche ins Gebüsch und später in das Tabakfeld. Im nächtlichen Dunkel schlich ich mich dorthin und begrub den Erschlagenen – –«

Auf einmal schnellte Tom von seinem Sitz in die Höhe: »Jetzt hab‘ ich’s,« rief er triumphierend und streckte die Hand mit förmlich hoheitsvoller Gebärde nach dem alten Mann aus.

»Setz‘ dich, Onkel! Es ist zwar ein Mord verübt worden, aber du bist’s nicht gewesen, der ihn begangen hat.«

Im Nu wurde es totenstill im Saal. Der Alte sank verwirrt auf seinen Stuhl; Tante Sally und Benny starrten Tom mit offenem Munde an und auch die übrigen Anwesenden wußten kaum, wo ihnen der Kopf stand, vor maßlosem Staunen und unbeschreiblicher Überraschung.

»Darf ich reden, Herr Präsident?«

»Um Gottes willen ja – so sprich doch!« rief der Richter, der seinen Ohren nicht traute.

Tom stand und wartete noch ein paar Sekunden – um die Wirkung zu erhöhen, wie er es nennt – dann begann er mit größter Gelassenheit:

»Seit etwa zwei Wochen ist hier vorn am Gerichtshause eine Bekanntmachung angeschlagen, in der eine Belohnung von 2000 Dollars für Wiedererlangung von zwei großen Diamanten geboten wird, die in St. Louis gestohlen worden sind. Die Diamanten sind zwölftausend Dollars wert. Doch darauf komme ich später zurück. Jetzt will ich von dem Mord reden und sagen, wie es dazu kam, wer ihn begangen hat – und alle Einzelheiten.«

Nein, wie sie alle die Köpfe vorstreckten und horchten, damit ihnen kein Wort entginge! –

»Der Mann hier, der jetzt so um seinen toten Bruder jammert, für den er, solange er lebte, keinen Pfifferling gegeben hätte, wie ihr recht wohl wißt – dieser Brace Dunlap wollte das junge Mädchen dort heiraten, aber sie nahm ihn nicht. Da drohte er Onkel Silas, das sollte ihnen noch allen teuer zu stehen kommen. Onkel wußte, daß er gegen solchen Mann nichts auszurichten vermochte; das ängstigte ihn sehr und er tat alles Erdenkliche, um ihn zu besänftigen und wieder zu versöhnen. Er nahm sogar seinen nichtsnutzigen Bruder Jupiter als Arbeiter auf die Farm und sparte sich und den Seinigen den Lohn, den er ihm zahlte, am eigenen Leibe ab. Jupiter aber tat alles, was sein Bruder nur ersinnen konnte, um Onkel Silas zu beleidigen, zu ärgern und zu quälen, damit Onkel sich vom Zorn fortreißen ließe und so um seinen guten Ruf kam. Der Plan gelang. Alle wandten sich von Onkel ab und glaubten den ausgestreuten Verleumdungen. Das nahm sich der alte Mann so zu Herzen, daß er vor lauter Kummer und Trübsal oft gar nicht recht bei Sinnen war.

An jenem schrecklichen Sonnabend nun, kamen die zwei Zeugen Lem Beebe und Jim Lane an dem Acker vorüber, wo Onkel Silas und Jupiter bei der Arbeit waren – so viel von ihrer Aussage ist wahr, das übrige sind lauter Lügen. Sie haben weder Onkel Silas sagen hören, daß er Jupiter umbringen wollte, noch haben sie ihn den Schlag führen sehen. Den Leichnam haben sie auch nicht erblickt und ebenso wenig, daß Onkel etwas im Gebüsch verborgen hat. – Seht sie nur an, wie sie jetzt dasitzen und wünschen, sie hätten ihre Zungen besser im Zaum gehalten. Sie werden noch ganz andere Gesichter machen, wenn ich alles erst ins reine gebracht habe.

An dem nämlichen Sonnabend abend haben Bill und Hans Withers gesehen, wie ein Mann den andern auf der Schulter fortschleppte. Soweit haben sie die Wahrheit gesprochen, das andere ist erlogen. Zuerst glaubten sie, ein Neger hätte dem Onkel Silas Korn gestohlen. – Seht nur, wie verdutzt sie jetzt dreinschauen, weil sie erfahren, daß jemand sie das hat sagen hören. Später ist’s ihnen sonnenklar geworden, wer die Leiche fortgeschafft hat, und sie wissen recht gut, warum sie hier vor Gericht geschworen haben, sie hätten Onkel Silas am Gang erkannt. Er war’s aber doch nicht, und das wußten die meineidigen Zeugen ebenfalls.

Es ist möglich, daß ein Mann beim Mondenschein gesehen hat, wie der Leichnam in der Tabakpflanzung vergraben wurde – aber Onkel Silas hat nichts damit zu tun gehabt. Der lag zu selbiger Zeit daheim in seinem Bett.

Ehe ich weiter erzähle, möchte ich die Anwesenden noch daran erinnern, daß viele Menschen, wenn sie tief in Gedanken geraten oder innerlich erregt sind, die Gewohnheit haben, irgend etwas mit ihren Händen zu tun, ohne es zu wissen. Sie fassen sich ans Kinn oder an die Nase, drehen an einem Knopf oder ihrer Uhrkette, streichen sich übers Haar oder den Bart. Manche zeichnen sich auch mit dem Finger ein Bild oder einen Buchstaben ins Gesicht. Das ist meine Manier. Wenn mich etwas quält oder ärgert, oder wenn ich recht nachdenke, male ich mir immerfort ein großes V auf die Backe oder das Kinn und meistens merke ich selbst gar nichts davon.«

Komisch! Mir geht das ebenso. Nur mache ich ein O. Ich sah auch, wie die Leute im Saal einander anstießen und zunickten, was so viel heißen sollte, wie: Ja, so ist’s!

»Am selben Sonnabend – nein, es war am Abend vorher –« fuhr Tom fort, »lag ein Dampfboot an der Landungsbrücke vierzig Meilen flußaufwärts von hier; es stürmte und regnete, was nur vom Himmel wollte. An Bord war der Dieb, der die zwei großen Diamanten gestohlen hatte, von denen die Bekanntmachung hier am Gerichtshaus redet. Er schlich sich mit seinem Reisesack ans Land, ging in die dunkle Sturmnacht hinaus und hoffte, diese Stadt mit heiler Haut zu erreichen. Allein auf dem Dampfboot hielten sich auch zwei seiner Genossen verborgen, welche, wie er wußte, nur auf die Gelegenheit lauerten, ihn umzubringen, um die Diamanten zu bekommen. Die drei Spießgesellen hatten die Edelsteine nämlich miteinander gestohlen, jener erste Dieb aber hatte sie eingesteckt und sich damit aus dem Staube gemacht.

Na, er war kaum zehn Minuten fort, als seine Genossen Lunte rochen. Sie sprangen ans Land und jagten hinter ihm drein. Wie sie seine Spur gefunden haben, weiß ich nicht, aber den ganzen Sonnabend über blieben sie ihm auf den Fersen und gaben dabei acht, daß er sie nicht zu Gesicht bekam. Gegen Sonnenuntergang erreichte er das Ahornwäldchen bei Onkel Silas‘ Tabakpflanzung und schlich hinein, um die Verkleidung anzulegen, die er im Reisesack trug und in der er sich den Leuten zeigen wollte. – Das geschah ungefähr zur selben Zeit, als Onkel Silas den Jupiter Dunlap mit dem Knüttel schlug – denn, daß er ihn geschlagen hat, ist richtig. Kaum hatten aber die Verfolger ihren Diebsgenossen in das Wäldchen treten sehen, als sie aus dem Gebüsch sprangen und ihm nachliefen. Ohne Gnade und Barmherzigkeit fielen sie über ihn her und schlugen ihn tot, wie laut er auch heulte und schrie.

Zwei Männer, die auf der Straße gelaufen kamen, hatten das Angstgeschrei gehört; sie drangen in das Wäldchen ein, – das ohnehin ihr Ziel gewesen war – verjagten die Mörder und verfolgten sie in atemloser Hast. Aber nur eine Strecke weit; dann kehrten die zwei Männer verstohlen nach dem Ahornwäldchen zurück.

Was taten sie aber dort? – Das will ich euch sagen: Sie fanden den Ermordeten samt dem Reisesack, der alles enthielt, was zu der Verkleidung gehörte. Die legte nun einer der Männer an, nachdem er seine eigenen Kleider ausgezogen hatte.«

Hier machte Tom eine kleine Pause – natürlich wegen der Wirkung – dann sagte er mit Nachdruck: »Der Mann, welcher die Verkleidung des Erschlagenen anlegte, war – Jupiter Dunlap!«

»Gerechter Himmel!« Ein Schrei der Überraschung ging durch den Saal und in Onkel Silas‘ Gesicht spiegelte sich maßloses Erstaunen.

»Ja, es war Jupiter Dunlap, der folglich nicht tot sein konnte. Er zog dem Ermordeten die Stiefel aus und vertauschte sie gegen seine eigenen abgetragenen Schuhe; diese, sowie seine übrigen Sachen wurden der Leiche angelegt. Jupiter Dunlap blieb nun wo er war, der andere Mann aber schleppte den Leichnam im Dämmerlicht nach der Tabakpflanzung; um Mitternacht schlich er sich dann in Onkel Silas‘ Haus, nahm den grünen Arbeitskittel von dem Nagel im Gang zwischen dem Haus und der Küche, wo er immer hängt, zog ihn an, holte die große Schaufel und ging damit nach dem Feld, wo er den Toten begrub.«

Jetzt stand Tom wohl eine Minute schweigend da. Dann fuhr er fort: »Wer aber glaubt ihr, daß der Ermordete war? – Kein anderer, als Jack Dunlap, der längst verschollene Einbrecher!«

»Gerechter Himmel!«

»Und der Mann, der ihn begraben hat, war sein Bruder – Brace Dunlap.«

»Gerechter Himmel!«

»Der Fremde dort aber, der jetzt ein so blödsinniges Gesicht macht und sich seit Wochen gestellt hat, als ob er taub und stumm wäre, das ist – Jupiter Dunlap!«

Solches Gebrüll, solcher Wirrwarr wie jetzt entstand, ist mir all mein Lebtag nicht vorgekommen. Tom sprang auf Jupiter zu, er riß ihm die Brille samt dem falschen Bart herunter und siehe, da stand der Ermordete leibhaftig da

und war ganz und gar nicht tot. Tante Sally und Benny fielen Onkel Silas um den Hals und erstickten ihn fast mit ihren Küssen und Liebkosungen, so daß der alte Mann noch erstaunter und verwirrter dreinschaute, als je zuvor.

Nun aber fing die ganze Versammlung an zu schreien: »Tom Sawyer, Tom Sawyer! Er soll weiter reden! Stille! Stille! Tom Sawyer soll uns alles berichten!«

Na, das schmeichelte Tom nicht wenig. Ich weiß, ihm ist nichts lieber, als wenn er in der Öffentlichkeit auftreten und eine Heldenrolle spielen kann, wie er’s nennt. Als sich der Lärm wieder gelegt hatte, sagte er:

»Der Rest ist bald erzählt. Es war dem Brace Dunlap gelungen, Onkel Silas durch seine Quälereien so zur Verzweiflung zu bringen, daß er fast von Sinnen kam und seinem nichtsnutzigen Bruder den Schlag versetzte. Nun lief Jupiter nach dem Wald, um sich da zu verstecken, und der Plan war vermutlich, daß er bei Nacht außer Landes gehen sollte. Dann konnte Brace das Gerücht verbreiten, Onkel Silas habe seinen Bruder umgebracht und die Leiche irgendwo versteckt. Dadurch war Onkel zu Grunde gerichtet; er mußte den Ort verlassen, ja er kam vielleicht an den Galgen. Als die beiden aber den Toten im Wäldchen fanden – ohne zu wissen, daß es ihr Bruder war, denn die Mörder hatten ihn arg zugerichtet – da änderten sie den Plan. Sie verkleideten alle beide, begruben Jack und als die Leiche aufgefunden wurde, hatte sie Jupiters Kleider an. Jim Lane und die andern Zeugen ließen sich bestechen, ein paar Lügen zu beschwören, die in Brace Dunlaps Kram paßten. Seht nur, wie übel ihnen jetzt zu Mute ist – ich hab’s ja vorausgesagt.

Wir sind nämlich auf dem Dampfboot mit den Dieben flußabwärts gefahren, Huck Finn und ich. Da erzählte uns der Tote von den Diamanten und sagte, seine Genossen würden ihn umbringen, sobald sie könnten und wir versprachen ihm nach Kräften beizustehen. Eben wollten wir nach dem Ahornwäldchen, da hörten wir sein Todesgeschrei; als wir aber am frühen Morgen nach dem Gewitter wieder hinkamen, fanden wir keine Leiche und meinten, es wäre am Ende gar kein Mord begangen worden. Wir sahen Jupiter in derselben Verkleidung herumstolzieren, die Jack uns gezeigt hatte und die er anziehen wollte. Natürlich glaubten wir, es wäre Jack selbst, der sich taubstumm stellte, wie verabredet war.

Nun suchten wir, Huck und ich, nach der Leiche, als die andern es aufgaben; wir fanden sie auch und waren zuerst stolz darauf. Aber Onkel Silas jagte uns einen furchtbaren Schreck ein mit der Behauptung, er hätte Jupiter totgeschlagen.

Da der Leichnam durch uns ans Tageslicht gekommen war, fühlten wir uns verpflichtet, für Onkels Rettung zu sorgen; aber das war ein schweres Stück Arbeit, denn Onkel wollte sich nicht aus dem Gefängnis befreien lassen, wie damals unser alter Neger Jim.

Den ganzen Monat lang dachte ich über ein Mittel nach, Onkel Silas loszukriegen, doch mir fiel nichts ein. Als ich heute zur Gerichtsverhandlung ging, wußte ich weder Rat noch Hilfe, mir kam kein rettender Gedanke. Nicht lange aber, da beobachtete ich etwas, nur eine winzige Kleinigkeit, aber sie brachte mich zum Nachdenken. Während ich nun scheinbar im Sinnen verloren dasaß, war ich fortwährend auf der Lauer und richtig, gerade als Onkel Silas uns all den Unsinn auftischte, wie er Jupiter Dunlap umgebracht hatte, sah ich das Ding wieder. Da sprang ich auf und unterbrach die Verhandlung, weil ich wußte, daß Jupiter Dunlap dort leibhaftig vor mir saß. Ich erkannte ihn an etwas, das er zu tun pflegte, als ich letztes Jahr hier war und das er jetzt wieder tat.«

Tom wartete die Wirkung ein Weilchen ab, machte dann eine Bewegung, als ob er sich setzen wollte und sagte in gleichgültigem Ton: »Na, ich glaube, das ist alles!«

Ein Geschrei aus hundert Kehlen ging durch den Saal: »Was hat er getan? Was war es, das du gesehen hast? Bleib‘ stehen, du Teufelsjunge und sag‘ es uns. Denkst du, wir lassen uns so abspeisen, nachdem du uns den Mund wässerig gemacht hast!«

»O, es war gar nicht viel. Ich sah, wie er immer ängstlicher und aufgeregter wurde, während sich Onkel Silas um den Hals redete, wegen eines Mordes, der gar nicht begangen worden war – auf einmal fuhr er mit den Händen hin und her, hob seine Linke in die Höhe und zeichnete sich mit dem Finger ein Kreuz auf die Backe – da war ich meiner Sache sicher.«

Nun begann ein Beifallklatschen, ein Stampfen und Hochrufen, bis Tom Sawyer sich kaum zu lassen wußte, vor lauter Stolz und Glück. Der Richter blickte über den Tisch nach ihm hin und sagte:

»Mein Sohn, hast du denn die verschiedenen Einzelheiten dieser seltsamen Verschwörung und Tragödie, die du uns schilderst, alle selbst gesehen?«

»Nein, Herr Präsident, gesehen habe ich nichts davon!«

»Nichts gesehen? – Aber du hast uns ja die ganze Geschichte von Anfang bis zu Ende erzählt, als ob du Augenzeuge gewesen wärest. Wie ist das möglich?«

»Ich habe nur die Tatsachen zusammengestellt, und dies und jenes daraus gefolgert,« erwiderte Tom leichthin. »Es war ein kleines Stück gewöhnliche Detektiv-Arbeit, die jedermann ausführen könnte.«

»Ganz und gar nicht! Unter Millionen hätten das nicht zwei fertig gebracht. Du bist wirklich ein merkwürdiger Junge!«

»Tom Sawyer hoch! Hurra Tom Sawyer!« klang es wieder durch den Saal, und Tom hätte den Triumph nicht für eine ganze Silbermine hergegeben. Dann sagte der Richter:

»Bist du denn aber auch sicher, daß sich die Geschichte ganz so verhält, wie du sagst?«

»Jawohl, Herr Richter. Da sitzen ja die Zeugen und niemand weiß ein Wort dagegen zu sagen, weder Brace Dunlap noch sein Bruder. Auch die andern, die sich ihre Lügen haben bezahlen lassen, sind jetzt muckstill. Falls aber Onkel Silas Widerspruch erheben sollte, so würde ich ihm nicht glauben und wenn er es eidlich versicherte.«

Das kam den Zuhörern sehr komisch vor; sogar der Richter gab seine würdevolle Haltung auf und lachte. Tom strahlte ordentlich vor Freude, und als alle sich wieder gefaßt hatten, sagte er:

»Herr Präsident, hier im Saal ist ein Dieb.«

»Was, ein Dieb?«

»Ja. Er hat die Diamanten für zwölftausend Dollars bei sich.«

»Wo – wo ist er? – Wer ist es? – Zeige ihn uns!« schrien alle durcheinander.

»Nenne ihn mir, mein Sohn, der Sheriff soll ihn festnehmen. Wer ist es?« sagte der Richter.

»Jupiter Dunlap, der Totgeglaubte.«

Wieder entstand die grenzenloseste Aufregung; aber Jupiter, der vorher schon ganz verdutzt gewesen war, schien jetzt förmlich versteinert vor Überraschung. Endlich rief er in weinerlichem Ton:

»Herr Präsident, das ist wirklich erlogen. Ich bin ja schon schlecht genug ohne das. Alles andere habe ich getan und bereue es jetzt sehr. Brace hat mich dazu überredet und mir versprochen, er wollte mich über kurz oder lang zum reichen Manne machen. Aber die Diamanten habe ich nicht gestohlen. Gewiß und wahrhaftig, ich habe keine Diamanten, der Sheriff kann mich durchsuchen soviel er will.«

»Herr Präsident,« warf Tom ein, »es war vielleicht nicht richtig, daß ich ihn einen Dieb genannt habe. Er hat die Diamanten gestohlen, ohne es zu wissen. Sein Bruder Jack stahl sie den andern Dieben und Jupiter stahl sie seinem Bruder Jack, als er tot am Boden lag. Seit einem Monat läuft er mit den Zwölftausend-Dollar-Diamanten hier herum, als wenn er ein armer Mann wäre. Auch jetzt trägt er diesen ganzen Reichtum bei sich.«

»Durchsucht ihn, Sheriff,« sagte der Richter.

Der Sheriff durchsuchte ihn von Kopf bis zu Fuß: seinen Hut, die Socken, die Nähte seiner Kleider, die Stiefel, kurz, alles. Tom stand ruhig dabei und paßte auf den geeigneten Moment. Endlich gab es der Sheriff auf. Enttäuschung malte sich in allen Mienen und Jupiter sagte:

»Da seht ihr doch, daß ich recht hatte!«

»Diesmal hast du dich wohl geirrt, mein Sohn,« äußerte der Richter.

Tom nahm eine nachdenkliche Stellung an; er schien sich aus allen Kräften zu besinnen und kratzte sich verlegen den Kopf. Plötzlich machte er ein vergnügtes Gesicht.

»Jetzt hab‘ ich’s,« sagte er aufschauend. »Ich hatte es bloß vergessen.«

Tom sprach nicht die Wahrheit, das wußte ich; doch er fuhr ruhig fort:

»Will jemand so gut sein mir einen kleinen Schraubenzieher zu leihen? In dem Reisesack Eures Bruders, den Ihr Euch angeeignet habt, Jupiter, ist einer gewesen, aber den habt Ihr wohl nicht mitgenommen?«

»Nein, ich konnte ihn nicht brauchen und hab‘ ihn weggegeben.«

»Weil Ihr nicht wußtet, wozu er dienen sollte.«

Sobald Tom den Schraubenzieher bekam, forderte er Jupiter auf, der nach der Durchsuchung die Stiefel wieder angezogen hatte, einen Fuß auf den Stuhl zu stellen; dann kniete er nieder und schraubte das Plättchen vom Absatz ab. Als er den großen Diamanten zum Vorschein brachte und ihn im Sonnenschein funkeln ließ, waren die Leute ganz außer sich vor Verwunderung. Nun holte Tom auch den Diamanten aus dem andern Absatz und Jupiters Miene wurde immer trübseliger. Er mochte wohl denken, daß er hätte auf und davongehen und als ein reicher, gemachter Mann im Ausland leben können, wäre er klug genug gewesen, zu erraten, wozu der Schraubenzieher im Reisesack steckte. Jetzt erntete Tom Lob und Ruhm nach Herzenslust. Der Richter nahm die Diamanten an sich, stand auf, schob seine Brille in die Höhe, räusperte sich und sagte:

»Ich werde sie verwahren und dem Eigentümer Anzeige machen. Wenn er sie dann abholen läßt, wird es mir ein großes Vergnügen bereiten, dir, mein Sohn, die zweitausend Dollars Belohnung einzuhändigen. Du hast aber nicht nur dies Geld verdient, sondern auch den aufrichtigen Dank der ganzen Bürgerschaft. Durch dich ist eine unschuldige Familie vor Schmach und Verderben gerettet worden und ein ehrenwerter Mann vor dem Verbrechertode. Obendrein ist es dir gelungen, die Schändlichkeit eines grausamen, verruchten Schurken und seiner elenden Helfershelfer ans Licht zu ziehen und der Gerechtigkeit einen großen Dienst zu erweisen.«

Wäre nur noch ein Musikchor zur Stelle gewesen, um einen Tusch zu blasen, so hätte nach meiner Meinung die Sache gar keinen schöneren Abschluß finden können; darin stimmte Tom Sawyer ganz mit mir überein.

Der Sheriff nahm nun Brace Dunlap und seine Spießgesellen in Haft; einige Wochen später ward ihnen der Prozeß gemacht und sie erhielten ihre gerechte Strafe. Onkel Silas und die Seinigen aber standen von jetzt ab wieder in hohem Ansehen bei der Gemeinde; seine kleine alte Kirche war immer gedrängt voll und man erwies ihnen so viel Liebes und Gutes, als man nur konnte. Mit der Zeit kam der alte Mann auch wieder zu Verstande und seine Predigten waren nicht besser und nicht schlechter, als sie früher waren. So war denn die ganze Familie seelenvergnügt und Tom Sawyer wurde aus lauter Dankbarkeit gepflegt und verhätschelt, wie noch nie; ich aber auch, obgleich ich nichts getan hatte. Als dann die zweitausend Dollars kamen, gab mir Tom die Hälfte ab und sagte keinem ein Wort davon, worüber ich mich gar nicht verwunderte, denn ich kannte ihn ja.

  1. Die Leser von Mark Twains Knabengeschichten: »Tom Sawyers Abenteuer und Streiche« und »Huckleberry Finns Abenteuer und Fahrten« werden die hier folgende Erzählung: »Tom Sawyer als Detektiv« mit Freuden begrüßen, in der die beiden Helden Tom Sawyer und Huck Finn wiederkehren.

Eine Geschichte ohne Ende

Eine Geschichte ohne Ende

Abends, wenn wir Männer uns nach dem öden, einförmigen Tageslauf im Rauchzimmer erfrischen wollten, vertrieben wir uns manchmal die Zeit damit, unvollendete Geschichten zu vervollständigen. Das heißt, jemand erzählte eine Geschichte bis auf das Ende und die andern versuchten den Schluß aus eigener Erfindung zu ergänzen. Wenn jeder, der wollte, seine Lesart zum besten gegeben hatte, fügte der erste Erzähler den ursprünglichen Schluß hinzu und überließ uns die Wahl. Manchmal gefiel uns eines der neuen Enden besser als das alte. Eine Geschichte jedoch, mit der wir uns am eifrigsten und längsten beschäftigten, hatte überhaupt keinen Schluß, man konnte daher auch keinen Vergleich anstellen, ob eine unserer Erfindungen besser gewesen wäre. Der Erzähler sagte, er könne die einzelnen Tatsachen nur bis zu einem gewissen Punkte berichten, weiter wisse er selber nichts. Er hätte die Geschichte vor fünfundzwanzig Jahren gelesen, sei aber unterbrochen worden, ehe er ans Ende kam. Nun wolle er demjenigen, der einen befriedigenden Schluß dazu fände, fünfzig Dollars geben; wir möchten Richter aus unserer Mitte wählen, die zu entscheiden hätten, wem der Preis gebühre. Das taten wir und gingen der Geschichte wacker zu Leibe; aber, obgleich wir uns dies und jenes Ende ausdachten, so verwarfen die Richter doch alles, was vorgebracht wurde – und sie hatten recht. Einen befriedigenden Schluß für diese Geschichte hätte nur der Verfasser selbst möglicherweise finden können, und wenn ihm das gelungen ist, so möchte ich wohl wissen wie. Ihr Inhalt ist etwa folgender:

John Brown, ein guter, sanfter, ängstlicher und schüchterner Mensch von einunddreißig Jahren, wohnte in einem friedlichen Dorfe des Staates Missouri, wo er das Amt eines Vorstands der presbyterianischen Sonntagsschule bekleidete. Das war an sich nichts Großes, aber doch das Einzige, womit er in die Öffentlichkeit trat. Er betrieb es mit Treue und Eifer und war in aller Bescheidenheit stolz darauf. Jedermann kannte seine große Menschenfreundlichkeit und die Leute sagten, er sei ganz aus Güte und Schüchternheit zusammengesetzt. Auf seine Hilfe könne man immer rechnen, wo sie gebraucht werde und auch auf seine Schüchternheit, mochte sie am Platze sein oder nicht.

Mary Taylor, ein sittsames, liebenswürdiges und schönes Mädchen von dreiundzwanzig Jahren, war sein ein und alles, und auch ihr Herz gehörte ihm fast ganz. Noch schwankte sie zwar, ob sie ihm ihr Jawort geben sollte, aber er war doch voller Hoffnung. Ihre Mutter hatte im Anfang allerlei Einwendungen gehabt; jetzt neigte sie sich zu seinen Gunsten. Offenbar hatte sein warmes Interesse für ihre beiden Schützlinge und seine Beisteuer zu deren Unterhalt ihr Herz gerührt und erobert. Diese Schützlinge waren nämlich zwei alte einsame Schwestern, die in einer Holzhütte an einem entlegenen Kreuzweg, vier Meilen weit von Frau Taylors Farm wohnten. Eine der Schwestern war irrsinnig und manchmal sogar gewalttätig, aber das kam nicht häufig vor.

Eines Tages glaubte Brown, daß der rechte Augenblick für den entscheidenden Antrag gekommen sei. Er nahm allen Mut zusammen und beschloß, der Mutter, um sie günstig zu stimmen, die doppelte Summe wie gewöhnlich zu überreichen. War erst ihr Widerstand gebrochen, so durfte er eines schnellen Sieges gewiß sein.

An einem schönen Sonntagnachmittag machte er sich also bei mildem Sommerwetter auf den Weg, gehörig ausstaffiert, wie es die Gelegenheit verlangte. Er war ganz in weiße Leinwand gekleidet, trug ein blaues Band als Krawatte und enge Lackstiefel; sein Einspänner war der feinste aus dem ganzen Mietstall, mit einer nagelneuen, weißleinenen Wagendecke, deren breiter, gestickter Rand an Schönheit und Kunst seinesgleichen suchte.

Schon war er vier Meilen gefahren, als er in einsamer Gegend über eine hölzerne Brücke kam; da flog ihm der Strohhut vom Kopfe, fiel in den Fluß und wurde stromabwärts getrieben, bis er an einem Balken hängen blieb. Brown besann sich, was er tun sollte; den Hut mußte er wiederbekommen, das verstand sich von selbst, aber wie ließ sich das bewerkstelligen?

Da kam ihm ein Gedanke. Die Straße war menschenleer, nichts regte sich. Ja, er wollte es wagen. Nachdem er sein Tier an den Rain geführt hatte, wo es nach Belieben grasen konnte, zog er sich aus, legte seine Kleider in den Wagen, streichelte dem Pferde den Hals, zum Zeichen beiderseitigen Wohlwollens, und eilte zum Fluß. Er schwamm nach dem Balken und gelangte rasch wieder in Besitz seines Hutes; als er aber ans Ufer zurückkehrte, waren Pferd und Wagen fort.

Der Schrecken fuhr ihm in alle Glieder. Da er aber sah, wie das Pferd im Schritt den Weg weiter verfolgte, trabte er hinterdrein. »Halt, halt,« rief er, »warte mein gutes Tier!« Aber so oft er nahe genug herankam und sich im Sprung auf den Wagen schwingen wollte, lief das Pferd schneller und vereitelte sein Bemühen. In Todesangst rannte der nackte Mann immer weiter, jeden Augenblick fürchtend, einen Menschen zu Gesicht zu bekommen. Er bat, er beschwor das Tier stillzustehen; aber erst als er nicht mehr weit von Frau Taylors Behausung war, gelang es ihm endlich, in den Wagen zu springen. Rasch warf er das Hemd über, band seine Krawatte um, schlüpfte in den Rock und langte nach den – aber ach, zu spät! Er setzte sich plötzlich nieder und zog die Wagendecke in die Höhe, denn er sah jemand durch das Hoftor kommen – eine Frau, wie ihm schien. Eilig lenkte er das Pferd zur Linken auf den Kreuzweg. Der war schnurgerade und von allen Seiten sichtbar, aber in einiger Entfernung kam eine Waldecke, wo die Straße eine scharfe

Krümmung machte. Er pries sich glücklich, als er die Stelle erreicht hatte, ließ das Pferd im Schritt gehen und langte nach den Ho – aber leider wiederum zu spät.

Gerade als er um die Ecke bog, stieß er auf Frau Enderby, Frau Glossop, Frau Taylor und Mary, die zu Fuß einherkamen und sehr müde und aufgeregt schienen. Sie traten an den Wagen, schüttelten Brown die Hand und versicherten alle zusammen aufs lebhafteste, wie froh sie wären ihn zu sehen und was für ein Glück es sei, daß er da wäre. Frau Enderby fügte mit großem Nachdruck hinzu:

»Mag es auch wie ein Zufall aussehen, daß er gerade jetzt kommt, so halte ich es doch für eine Sünde, das anzunehmen – nein, er ist uns gewißlich vom Himmel gesendet.«

Alle waren gerührt und Frau Glossop flüsterte mit ehrfurchtsvoller Scheu:

»Da hast du ein wahres Wort gesprochen, Sarah Enderby. Es ist kein Zufall, sondern die Vorsehung hat es so gewollt. Als Engel hat sie ihn uns geschickt; er kommt als ein Retter und Befreier. Nun soll mir noch jemand sagen, daß es keine besonderen Fügungen des Himmels gibt; wir haben hier den klarsten Beweis vor uns.«

»Ja,« fiel Frau Taylor begeistert ein, »das ist auch meine Überzeugung. Wahrhaftig, John Brown, ich könnte vor Ihnen niederknieen und Sie anbeten. Fühlten Sie es nicht im Herzen – trieb Sie nicht eine innere Stimme hierher? O, ich konnte den Saum Ihrer Wagendecke küssen.«

Er brachte kein Wort heraus; Scham und Furcht lähmten ihm die Zunge.

»Mag man die Sache betrachten wie man will, Julia Glossop,« fuhr Frau Taylor fort, »in allem läßt sich die Hand der Vorsehung sichtbarlich erkennen. Gegen Mittag sahen wir den Rauch aufsteigen. ›Die Hütte der alten Schwestern brennt, Julia‹, sagte ich. Nicht wahr, du kannst es bezeugen?«

»Jawohl, Nancy, ich stand dicht bei dir und habe es deutlich gehört. Du warst ganz blaß geworden und sahst so weiß aus wie hier die Wagendecke.«

»Kein Wunder! Und dann rief ich Mary zu, der Knecht solle gleich das Gefährt anspannen, wir müßten den Ärmsten zu Hilfe eilen. Aber der war aufs Land gefahren, um seine Angehörigen zu besuchen. Ich hatte ihm selbst erlaubt, über den Sonntag zu bleiben, es jedoch ganz vergessen. So gingen wir denn zu Fuß und trafen Sarah unterwegs.«

»Ja, und ich ging mit euch,« fiel Frau Enderby ein. »Wir fanden die Hütte in Asche liegen; die Irrsinnige hatte sie in Brand gesteckt. Die beiden alten Geschöpfe waren so schwach und hinfällig, daß wir sie nicht mitnehmen konnten. Mir führten sie an einen schattigen Platz, machten es ihnen behaglich so gut es ging und zerbrachen uns den Kopf, wie wir es anfangen sollten, um sie bis nach Nancys Haus zu schaffen. Da brach ich das Schweigen, und wißt ihr noch, was ich gesagt habe? ›Wir wollen es der Vorsehung anheimstellen!‹ Ja, das waren meine Worte.«

»Richtig, das hatte ich ganz vergessen. So wahr ich lebe, du hast es gesagt. Wie wunderbar!«

»Dann sind wir zusammen zwei Meilen weit bis zu Mosleys gegangen, aber wir fanden niemand zu Hause, alle waren im Feldgottesdienst. Wir kamen die zwei Meilen zurück und dann noch eine Meile hieher. Und nun schickt uns die Vorsehung Hilfe in der Not, das seht ihr ja selbst.«

Alle blickten einander an, hoben die Hände empor und riefen wie aus einem Munde:

»Es ist zu wunderbar!«

»Wie wollen wir es nun aber machen?« fragte Frau Glossop. »Soll Herr Brown die alten Schwestern einzeln zu Frau Taylor fahren oder sie alle beide auf einmal in den Wagen setzen und das Pferd am Zügel führen?«

Brown holte tief Atem. »Ja, das ist recht schwierig zu entscheiden,« meinte Frau Enderby. »Wir sind alle todmüde, und wenn Herr Brown die beiden schwachen Geschöpfe in den Wagen heben soll, so muß eine von uns mitgehen und ihm helfen; allein bringt er das nicht fertig.«

»Wie wär’s denn aber, wenn ich mit Herrn Brown hinführe?« sagte Frau Taylor, »und ihr andern ginget nach meinem Haus, um alles in Bereitschaft zu setzen? Wir heben die eine Alte zusammen in den Wagen und fahren mit ihr –«

»Wer wird denn aber unterdessen auf die andere acht geben?« fragte Frau Enderby. »Sie kann doch nicht allein im Walde bleiben – die Irrsinnige schon gar nicht. Bis man hin- und zurückkommt dauert’s gute anderthalb Stunden.«

Alle hatten sich, um auszuruhen, neben den Wagen ins Gras gesetzt und dachten schweigend nach, um einen Ausweg zu finden.

»Jetzt hab‘ ich’s,« rief endlich Frau Enderby, frohlockend. »Daß wir nicht mehr zu Fuß gehen können ist klar; seit Mittag haben wir neun Meilen zurückgelegt ohne einen Bissen zu essen – vier Meilen hin, zwei Meilen zu Mosley macht sechs, und dann noch bis hierher – es ist kaum zu glauben! Also, eine von uns muß mit Herrn Brown hinfahren und mit einer Alten zurückkommen; Brown leistet der andern Gesellschaft. Die übrigen gehen nach Nancys Wohnung, ruhen sich aus und warten; dann fährt eine von uns zurück, holt die andere Alte, und Herr Brown geht zu Fuß.«

»Vortrefflich,« riefen die Damen, »das können wir tun, so läßt sich’s machen!«

Frau Enderbys Plan ward sehr gelobt, und um ihren Scharfsinn zu ehren, beschloß man, daß sie zuerst mit Brown zurückfahren solle. Glücklich und leichten Herzens standen alle vom Rasen auf, strichen ihre Kleider glatt und schickten sich zur Heimkehr an, während Frau Enderby schon den Fuß auf den Wagentritt setzte, um einzusteigen. Da endlich konnte Brown Worte finden und stieß keuchend hervor:

»Bitte, rufen Sie die Damen zurück – ich fühle mich unwohl – ich kann nicht zu Fuß gehen – es ist mir völlig unmöglich.«

»O, lieber Herr Brown, Sie sehen wirklich ganz blaß aus! Weshalb habe ich das nur nicht gleich bemerkt? Kommt alle zurück, hört ihr? Herr Brown ist krank. Ach, es tut mir so leid. Kann ich Ihnen helfen? Haben Sie Schmerzen?«

»Nein, o nein, mir fehlt nichts, ich fühle mich nur in letzter Zeit zu schwach – sonst hat es gar nichts auf sich.«

Die Damen kehrten um und waren voller Teilnahme und Mitgefühl. Auch machten sie sich bittere Vorwürfe, weil ihnen Browns blasses Aussehen nicht sofort aufgefallen war. Augenblicklich entwarfen sie einen neuen Plan und kamen bald überein, daß es sich so am allerbesten machen würde: Zuerst wollten sie alle zu Frau Taylor gehen; dort sollte sich Herr Brown im Wohnzimmer auf das Sofa legen und sich von Mary und ihrer Mutter pflegen lassen, während die andern Damen erst eine der alten Schwestern abholten und dann die andere, welcher eine von ihnen inzwischen Gesellschaft geleistet hatte, und –

Unter solchen Beratungen waren sie zu dem Pferde getreten und schickten sich an, den Wagen zu wenden. Aber in der höchsten Gefahr fand Brown die Stimme wieder und das war seine Rettung.

»Meine Damm,« sagte er, »Sie übersehen einen Umstand, der den Plan unausführbar macht. Wenn Sie die eine alte Schwester nach Hause bringen und jemand mit der andern dort bleibt, so sind drei Personen an Ort und Stelle, wenn eine von Ihnen zurückkommt, um die andere Alte zu holen. Aber drei haben nicht Platz im Wagen und jemand muß doch kutschieren.«

»Ganz recht, so ist es,« riefen alle in großer Bestürzung.

»Was sollen wir nur anfangen?« sagte Frau Glossop seufzend; »eine so verwickelte Geschichte ist mir noch nie vorgekommen. Die Sache mit dem Wolf, der Ziege und dem Kohlkopf ist dagegen nur ein Kinderspiel.«

Ganz ermattet setzten sie sich abermals nieder, um sich aufs neue das Hirn zu zermartern und einen Ausweg zu suchen. Mary hatte bisher noch keinen Vorschlag gemacht, endlich tat sie aber den Mund auf:

»Ich bin jung, stark und gut zu Fuße,« sagte sie, »auch habe ich jetzt eine Weile ausgeruht. Bringt Herrn Brown in unser Haus und sorgt für ihn – man sieht ihm ja an, wie sehr er der Pflege bedarf. Inzwischen will ich die beiden Alten behüten, in einer halben Stunde kann ich dort sein. Ihr andern aber führt unsern ersten Plan aus und paßt auf, bis ein Wagen auf der Landstraße vorbeifährt, den schickt ihr hin und laßt uns alle drei holen. Die Pächter kommen jetzt bald aus der Stadt zurück, da braucht ihr nicht lange zu warten. Der alten Polly will ich schon zureden, daß sie Geduld hat und guten Mutes bleibt – bei der Irrsinnigen ist das nicht nötig.«

Der Plan ward reiflich erwogen und gut befunden; etwas Besseres ließ sich unter den Umständen nicht tun, und den beiden Alten wurde gewiß die Zeit schon lang. Brown fühlte sich wie erlöst und von Herzen dankbar. Wenn er nur erst auf der Landstraße war, wollte er schon Mittel und Wege finden, dem Unheil zu entgehen.

»Die Abendkühle wird früh hereinbrechen,« sagte jetzt Frau Taylor, »und die armen Abgebrannten haben nichts, um sich zu erwärmen. Nimm die Wagendecke mit, liebes Kind, das ist wenigstens ein Notbehelf.«

»Das kann ich ja tun, Mutter, wenn du meinst,« versetzte Mary. Sie trat zum Wagen und streckte die Hand nach der Decke aus –

 

Weiter ging die Geschichte nicht. Der Passagier, der sie uns erzählte, sagte, er sei vor fünfundzwanzig Jahren, als er sie im Eisenbahnwagen las, an diesem Punkt unterbrochen worden, weil der Zug von einer Brücke ins Wasser stürzte.

Zuerst glaubten wir, es würde ein Leichtes sein, die Geschichte zu Ende zu bringen und gingen sehr zuversichtlich ans Werk. Bald stellte sich jedoch heraus, daß die Sache keineswegs so einfach war, sondern im Gegenteil höchst verworren und schwierig. Daran war Browns Charakter schuld – seine Großmut und Güte, verbunden mit außerordentlicher Schüchternheit und Befangenheit, besonders in Gegenwart von Damen. Ferner kam seine Liebe zu Mary mit ins Spiel, die zwar sehr hoffnungsvoll, aber noch keineswegs der Erhörung sicher war – das heißt, gerade in einem Stadium, wo die größte Vorsicht geboten schien, um weder einen Mißgriff zu begehen, noch Anstoß zu erregen. Und es galt die Mutter zu berücksichtigen, die noch schwankte, ob sie einwilligen solle, und die sich vielleicht jetzt oder nie gewinnen ließ, wenn man sie geschickt zu behandeln wußte. Im Walde warteten die beiden hilflosen Alten – ihr Schicksal und Browns künftiges Lebensglück hing von der nächsten Sekunde ab. Mary streckte die Hand nach der Wagendecke aus; es war keine Zeit zu verlieren.

Natürlich konnte der Preis nur jemand zuerkannt werden, der die Sache zu einem glücklichen Ende brachte. Browns Ansehen bei den Damen durfte nicht geschmälert, seine Selbstlosigkeit nicht in Frage gestellt, sein Anstandsgefühl nicht verletzt werden. Er mußte helfen die beiden Alten aus dem Walde zu holen, so daß man ihn als ihren Wohltäter pries, sein Lob in aller Munde war und sein Name mit Stolz und Freude genannt wurde.

Wir versuchten es so einzurichten; aber auf allen Seiten stellten sich uns unüberwindliche Schwierigkeiten entgegen. Natürlich würde Brown aus Scham und Befangenheit die Wagendecke nicht hergeben wollen. Dies mußten Mary und ihre Mutter übel nehmen, und auch die anderen Damen würden sich sehr darüber verwundern, denn ein solches Benehmen, wo es den unglücklichen Alten zu helfen galt, paßte nicht zu Browns Charakter; er war ja als Engel vom Himmel gesandt und konnte unmöglich so eigennützig handeln. Hätte man eine Erklärung von ihm verlangt, so wäre er viel zu schüchtern gewesen, um die Wahrheit zu bekennen, und aus Mangel an Übung und Erfindungsgeist würde ihm keine glaubhafte Lüge eingefallen sein.

Wir arbeiteten bis drei Uhr morgens an dem schwierigen Problem herum; aber noch immer langte Mary nach der Wagendecke. Da gaben wir es auf und ließen sie weiter die Hand danach ausstrecken. – Nun kann sich der Leser selbst das Vergnügen machen, zu entscheiden, was aus der Sache geworden ist.

Eduard Jackson und Vanderbilt

Eduard Jackson und Vanderbilt

Schon einige Jahre vor Ausbruch des Bürgerkrieges erkannten einsichtige Leute an deutlichen Zeichen, daß die Stadt Memphis in Tennessee bald ein großer Stapelplatz für den Tabakhandel werden würde. Memphis hatte ein Werftboot zum Löschen der Güter, an welches die einlaufenden Dampfer anlegten. Aller Warenverkehr zwischen den Schiffen und dem Ufer ging über das breite Deck des Werftbootes hinüber und herüber. Zur Aufsicht war dabei eine Anzahl junger Beamter angestellt, die natürlich während einiger Stunden sehr viel zu tun hatten, aber den Rest des Tages müßig gingen und sich sterblich langweilten. In ihrem Jugendübermut griffen sie mit Wonne nach dem ersten besten Zeitvertreib und fanden ihr Hauptvergnügen darin, einander irgend welchen Schabernack zu spielen. Zur Zielscheibe ihrer Späße wählten sie meist ihren Kameraden Eduard Jackson, der selbst nie jemand etwas zu leide tat und sich leicht anführen ließ, weil er alles aufs Wort glaubte.

Eines Tages teilte er den Gefährten seinen Plan für die Ferien mit. Er wollte in diesem Jahre weder auf die Jagd noch auf den Fischfang gehen, sondern mit dem Sümmchen, das er von seinen vierzig Dollars Monatsgehalt erspart hatte, eine Reise nach New York machen.

Das war ein großartiges Unternehmen; etwa so merkwürdig wie heutzutage eine Reise um die Welt. Zuerst glaubten die jungen Leute, Ed sei ein wenig übergeschnappt; als sie aber sahen, daß es sein Ernst war, kamen sie sofort überein, daß man die Gelegenheit nicht vorbeigehen lassen dürfe, ohne ihm einen Streich zu spielen. Es fand eine geheime Beratung statt und bald war der Plan fertig. Man beschloß, daß einer der Verschwörer einen Empfehlungsbrief für Ed an Kommodore Vanderbilt, den berühmten New Yorker Millionär, verfassen solle. Das ließ sich ohne Schwierigkeit ausführen, auch konnte man Ed leicht überreden den Brief abzugeben. Aber, was er bei seiner Rückkehr nach Memphis tun würde, war eine ernstere Frage. Bisher hatte er zwar in seiner Gutherzigkeit alle Späße geduldig ertragen, diese waren jedoch harmlos gewesen und nicht dazu angetan ihn öffentlich zu beschämen. Das grausame Spiel aber, welches die Kameraden jetzt vorhatten, konnte ihnen gefährlich werden. Er war ein Südländer und er würde sicherlich die Verschwörer vor Wut umbringen wollen, sobald sie ihm in die Hände fielen! Den Plan aufzugeben war aber unmöglich. Der herrliche Spaß mußte ausgeführt werden, mochte daraus werden was wollte.

So wurde denn der Empfehlungsbrief mit aller Sorgfalt und Ausführlichkeit in durchaus freundschaftlichem Tone entworfen und ›Alfred Fairchild‹ unterschrieben. Der Überbringer – hieß es darin – sei der beste Freund vom Sohne des Briefstellers, ein wackerer junger Mann und trefflicher Charakter, den der Kommodore mit Wohlwollen aufnehmen möge. »Vielleicht,« – so fuhr der Schreiber fort – »hast du mich, deinen alten Schulkameraden, in den langen Jahren ganz vergessen, doch wird mein Andenken sofort wieder bei dir lebendig werden, wenn ich dich daran erinnere, wie wir an jenem Abend den Obstgarten des alten Stevenson zusammen geplündert haben. Weißt du noch, wie er auf der Straße hinter uns dreinlief und wir querfeldein rannten, durch das Hintergäßchen zurückkamen und uns bei seiner eigenen Köchin die gestohlenen Apfel für einen Hut voll Dampfnudeln eintauschten? Und dann damals, als wir – –« So ging es in dem Briefe immer weiter; alle möglichen erfundenen Namen früherer Schulgefährten und ihre gemeinsamen lustigen Streiche und Abenteuer wurden auf die anschaulichste und geschickteste Weise hineingeflochten.

Als nun der junge Fairchild seinen Kameraden mit großer Ernsthaftigkeit fragte, ob er einen Brief an Kommodore Vanderbilt zu haben wünsche, war Eduard Jackson sehr erstaunt, wie sich nicht anders erwarten ließ.

»Was,« rief er, »du kennst den großen Vanderbilt?!«

»Ich nicht, aber mein Vater. Sie waren zusammen auf der Schule. Wenn du willst, könnte ich meinen Vater schon bitten, dir einen Empfehlungsbrief zu schreiben. Ich weiß, er tut es mir zuliebe; in drei Tagen hast du ihn in Händen.«

Ed fand kaum Worte um seine Freude und Erkenntlichkeit auszudrücken. Als die drei Tage um waren, erhielt er das Empfehlungsschreiben und reiste ab, nachdem er noch allen ein herzliches Lebewohl gesagt und Fairchild dankbar die Hand gedrückt hatte. Als er fort war, wollten sich die Kameraden im Jubel über den gelungenen Spaß zuerst vor Lachen ausschütten, dann aber stiegen allerlei Zweifel in ihnen auf, ob die Täuschung nicht schlimme Folgen haben könne, und sie gerieten in eine recht kleinlaute Stimmung.

Bald nach seiner Ankunft in New York begab sich der junge Jackson nach dem Geschäftshaus von Kommodore Vanderbilt und ward in ein großes Vorzimmer geführt, wo ein paar Dutzend Leute geduldig harrten, bis die Reihe an sie käme, auf zwei Minuten bei dem Millionär vorgelassen zu werden. Ein Diener verlangte Jacksons Visitenkarte und erhielt statt dessen den Brief.

Gleich darauf ward Ed in das Privatbüro geführt. Herr Vandervilt war allein und hielt den offenen Brief in der Hand.

»Bitte, nehmen Sie Platz, Herr – hm –«

»Jackson.«

»Richtig – also, bitte Herr Jackson, setzen Sie sich. Nach der Einleitung zu urteilen kommt dieser Brief von einem Jugendfreunde. Sie entschuldigen wohl – ich will nur rasch sehen, was er enthält. Da steht, wir hätten – ja aber, wer schreibt denn das?« Er wandte das Blatt und sah nach der Unterschrift. »Alfred Fairchild – hm – Fairchild – der Name ist mir nicht erinnerlich. Kein Wunder – wie viele

tausend Namen habe ich mit der Zeit vergessen. Und er weiß das alles noch – hm – hm – aber das ist wirklich gut – ein köstlicher Spaß! Ganz deutlich erinnere ich mich nicht daran – nur eine leise Ahnung habe ich noch, aber es wird mir wohl alles wieder einfallen. Ja wahrhaftig, mir ist als sähe ich es vor mir – nur undeutlich – aber doch – es ist ja auch schon so lange her – auf einige von den Namen besinne ich mich nicht genau – aber es wird mir ganz warm ums Herz dabei, als hätte ich meine verlorene Jugend wieder! – Doch zu Gefühlen ist jetzt keine Zeit, das Alltagsleben verlangt sein Recht – das Geschäft eilt und die Leute draußen warten – ich will mir den Schluß für heute nacht versparen, wenn ich zu Bett gehe – und von meinen Jugendtagen träumen. – Wenn Sie Fairchild wiedersehen – habe ich ihn nicht damals Alf genannt? – so danken Sie ihm herzlich in meinem Namen und sagen Sie ihm, daß sein Brief mich mitten in meiner Arbeitslast ordentlich erfrischt und verjüngt hat. Er soll mich stets bereit finden, für ihn oder einen seiner Freunde alles zu tun, was in meinen Kräften steht. Sie aber, lieber Jackson, sind mein Gast. Bleiben Sie nur noch ein Weilchen hier sitzen, bis ich die Leute, die mich sprechen wollen, abgefertigt habe, dann gehen wir zusammen nach Hause. Verlassen Sie sich auf mich, mein Sohn, ich werde schon für Sie sorgen.«

Ed blieb eine Woche da und war glückselig. Er hatte keine Ahnung davon, daß Vanderbilts scharfes Auge ihn täglich beobachtete, um seine Gaben und Kräfte genau zu prüfen. In seinem Hochgenuß schrieb er gar nicht nach Hause, sondern sparte alles auf, um es den Gefährten bei der Heimkehr brühwarm zu erzählen.

Zweimal erinnerte er in größter Bescheidenheit daran, daß sein Besuch wohl jetzt lange genug gewährt habe; doch der Kommodore erwiderte nur: »Nein, gehen Sie noch nicht – ich will Ihnen schon sagen, wann es Zeit ist.«

Damals war Vanderbilt gerade mit seinen gewaltigsten Kombinationen beschäftigt, welche darauf ausgingen, die verschiedenen kleinen, zerstreuten Eisenbahnen in ein einheitliches System zu bringen und dem ungewiß schwankenden Handel und Verkehr einen festen Mittelpunkt zu geben. Unter anderm hatte sein weitschauender Blick auch die bereits erwähnten, wunderbar günstigen Konjunkturen für die Entwicklung eines großartigen Tabakhandels in Memphis erspäht, die er für seine Zwecke auszubeuten gedachte.

Als eine Woche um war, rief der Kommodore den jungen Jackson zu sich. »Sie können nun abreisen,« sagte er. »Aber zuvor möchte ich noch einmal mit Ihnen von geschäftlichen Dingen reden: In betreff jener Tabakangelegenheit sind Sie vollkommen unterrichtet; Sie wissen, daß ich das Geschäft machen will, weil ich es für vorteilhaft halte; auch in meine darauf bezüglichen Pläne habe ich Sie eingeweiht. Ihren Charakter und Ihre Fähigkeiten kenne ich jetzt so genau wie Sie sich selber kennen – vielleicht besser. Ich brauche einen zuverlässigen Mann, der imstande ist, die Verwaltung einer so wichtigen Sache zu übernehmen und mich in Memphis zu vertreten. Diese Stelle habe ich für Sie bestimmt.«

»Für mich!«

»Ja. Sie werden natürlich als mein Vertreter ein hohes Gehalt beziehen, das sich mit der Zeit steigern kann. Auch müssen Sie eine Anzahl Gehilfen haben; gehen Sie bei der Wahl sorgfältig zu Werke, stellen Sie nur brauchbare Leute an; wenn Sie tüchtige Freunde haben, geben Sie diesen den Vorzug. Nun leben Sie wohl, mein Sohn, und danken Sie Alf, daß er Sie mir geschickt hat.«

Sobald Ed in Memphis angekommen war, eilte er nach der Werft, denn er brannte vor Verlangen, den Gefährten die große Nachricht zu verkünden und ihnen nochmals für den Brief an Herrn Vanderbilt zu danken. Es war Mittagszeit, die Sonne glühend heiß und die Werft wie ausgestorben. Als Ed sich jedoch zwischen den Warenballen durchdrängte, sah er unter einem Schattendach eine Gestalt in weißem Leinwandanzug auf den Kornsäcken ausgestreckt im Schlummer liegen.

»Das ist ja Charley Fairchild,« rief er erfreut, trat hinzu und legte die Rechte zärtlich auf des Schläfers Schulter. Dieser rieb sich die Augen, blickte auf, ward totenblaß, glitt von den Säcken herunter und lief davon wie der Wind.

Ed sah ihm verwundert nach. Hatte Fairchild plötzlich den Verstand verloren? Was bedeutete diese schnelle Flucht? Langsam und nachdenklich schritt er nach dem Werftboot hin: als er an einem Haufen Frachtgüter vorbeikam, sah er zwei der Kameraden in heiterm Gespräch beisammen stehen. Kaum hatten sie ihn erkannt, so verstummte ihr Lachen, sie stoben auseinander und sprangen wie gehetzt über Ballen und Fässer davon. Ed wußte nicht, ob er wache oder träume und fand keine Erklärung für dies wunderliche Benehmen. Auf dem Werftboot angekommen, lehnte er sich gedankenvoll an das Geländer. Da stürzte plötzlich eine weiße Gestalt an ihm vorbei und sprang über Bord; prustend und keuchend tauchte sie wieder auf und eine Stimme rief:

»Geh‘ fort! Tu mir nichts! Ich bin’s nicht gewesen. Wahrhaftig, ich hab’s nicht getan!«

»Was soll denn das heißen? So komm doch herauf! Warum lauft ihr alle vor mir davon, ich habe doch nichts verbrochen!«

»Ja, bist du denn gar nicht böse auf uns?«

»Bewahre – weshalb? Ich denke nicht daran.«

»Der Tausend,« brummte der junge Mann im Wasser, »der Mensch hat Lunte gerochen und den Brief gar nicht abgegeben! Na, meinetwegen, ich werde mich hüten die Geschichte zur Sprache zu bringen.« Mit triefenden Kleidern kam er wieder an Bord gestiegen und schüttelte Ed die Hand. Nun schlichen auch die übrigen Verschwörer – bis an die Zähne bewaffnet – einer nach dem andern herbei. Als sie die friedliche Lage der Dinge erkannten, feierten sie gleichfalls ein Wiedersehen.

Auf alle Fragen Eds, was ihr sonderbares Benehmen ihm gegenüber zu bedeuten habe, antworteten sie ausweichend, es sei nur ein Spaß gewesen, und jeder dachte bei sich: »Er hat den Brief nicht abgegeben, und diesmal sind wir die Angeführten. Aber zum Glück weiß er es nicht, und keiner von uns wird dumm genug sein, es ihm zu sagen.«

Nun sollte aber Ed von der Reise erzählen. Er ließ ein paar Flaschen Wein auf Deck bringen und als sie alle gemütlich beisammen saßen und die Zigarren brannten, begann er seinen Bericht:

»Als ich Herrn Vanderbilt den Brief übergab –«

»Donnerwetter!«

»Was ist denn los – was erschreckt ihr mich so?«

»Ach nichts – es fuhr uns nur eben heraus.«

»Nun, wie gesagt, als ich den Brief übergab –«

»Hast du ihn wirklich abgegeben?«

Sie sahen einander ganz verblüfft an und hörten dann Eds Mitteilungen mit offenem Munde zu. Die wunderbare Geschichte benahm ihnen schier den Atem, sie waren stumm vor Staunen und zwei Stunden lang saßen sie wie versteinert da, ohne einen Laut von sich zu geben. Endlich war Ed Jackson bis zum Schluß seines Romans gekommen.

»Und euch, Jungens,« sagte er, »verdanke ich das alles; dafür will ich mich auch erkenntlich zeigen. Welcher Mensch hat wohl je so gute Freunde gehabt! Jeder von euch bekommt eine Stelle, denn ihr seid tüchtige Kerls, wenn ihr auch dann und wann einen schlechten Spaß macht. Dich aber, Charley Fairchild, ernenne ich zu meinem ersten Gehilfen, weil ich weiß, was du für ein kluger Geschäftsmann bist und weil du mir den Brief verschafft hast. Auch möchte ich damit deinem Vater eine Freude machen, der den Brief geschrieben hat und Herrn Vanderbilt, an den er gerichtet war. Und nun stoßt alle mit mir an, auf das Wohl des großen Mannes! Hoch soll er leben, dreimal hoch!«

Die Tabakspekulation hatte einen glänzenden Erfolg und so war auch hier der rechte Mann zur rechten Zeit erschienen, trotzdem er erst hatte von weither kommen müssen und nur mit Hilfe eines Schabernacks entdeckt worden war.

Mein Reisegefährte, der Reformator

Mein Reisegefährte, der Reformator

Es war im Frühjahr 1893; ich reiste nach Chicago, um die Weltausstellung zu sehen, sah sie zwar nicht, aber mein Ausflug war doch nicht ganz fruchtlos – ich fand Ersatz für die Ausstellung. In New York machte ich die Bekanntschaft eines Majors von der Armee, der mir sagte, er wolle ebenfalls nach Chicago gehen; wir verabredeten uns, die Reise zusammen zu machen. Ich hatte vorher noch etwas in Boston zu tun, aber das machte ihm nichts; er sagte, er wolle den Umweg machen und mitkommen. Er war ein schöner Mann, von einem Körperbau wie ein Gladiator, indes seine Manieren waren ruhig, seine Sprache war sanft und hatte etwas Überzeugendes an sich. Er war ein unterhaltender Gesellschafter, aber ungemein ruhig; dazu ohne jeglichen Sinn für Humor. Er nahm Interesse an allem, was um ihn herum vorging, allein sein Gleichmut war unerschütterlich; nichts brachte ihn aus der Ruhe, nichts regte ihn auf.

Bevor indessen der Tag zu Ende war, bemerkte ich, daß er tief im Innern trotz all seiner Ruhe eine Leidenschaft hatte – eine Leidenschaft für die Abstellung kleiner Mißstände im öffentlichen Leben. Er schwärmte für Bürgerpflicht – das war sein Steckenpferd. Er war der Meinung, jeder Bürger der Republik müsse sich selber als nichtamtlichen und unbesoldeten Polizisten betrachten und über den Gesetzen und ihrer Beobachtung treue Wacht halten. Seiner Ansicht nach waren die Rechte der Allgemeinheit auf wirksame Weise nur zu wahren und zu schützen, wenn jeder Bürger für sein Teil dazu half, daß jeder Verstoß, der zu seiner persönlichen Kenntnis kam, verhindert oder bestraft wurde.

Der Gedanke war gut; mir wollte nur scheinen, als ob man dabei fortwährend Unannehmlichkeiten haben müsse und nichts andres mehr zu tun habe, als pflichtwidrig handelnde kleine Beamte absetzen zu lassen, um vielleicht zum Dank dafür bloß ausgelacht zu werden. Aber er sagte nein, ich wäre auf dem Holzweg; es läge keine Veranlassung vor, irgend jemand absetzen zu lassen, ja es dürfe überhaupt niemand entlassen werden; das wäre gänzlich verfehlt – nein, man müßte den Mann reformieren und für die von ihm bekleidete Stelle brauchbar machen.

»Da muß man also den Sünder erst zur Anzeige bringen und dann den Vorgesetzten bitten, ihn nicht zu entlassen, sondern ihm nur einen tüchtigen Rüffel zu geben und ihn zu behalten?«

»Nein, so ist es nicht gemeint; Sie dürfen ihn überhaupt nicht anzeigen, denn damit bringen Sie sein täglich Brot in Gefahr. Sie könnten so tun, als ob Sie ihn anzeigen wollten – wenn alles andre nichts hilft. Aber nur im äußersten Notfall. Das ist schon eine Art von Gewalt, und Gewalt taugt nicht. Diplomatie – das hilft! Wenn nun jemand Takt besitzt – wenn er Diplomatie anwendet …«

Seit zwei Minuten waren wir vor einem Telegraphenschalter gestanden, und die ganze Zeit über hatte der Major sich bemüht, die Aufmerksamkeit eines der jungen Beamten zu erregen; aber von denen hatte keiner Zeit, weil sie alle Maulaffen feil hielten. Schließlich machte sich der Major bemerklich und bat einen von ihnen, ihm sein Telegramm abzunehmen. Er bekam zur Antwort:

»Sie können wohl ’ne Minute warten, was?«

Und der junge Mann sah wieder aus dem Fenster.

Der Major sagte ja, er hätte es nicht so eilig. Dann schrieb er ein zweites Telegramm:

»Präsident der Western Union Telegraph Company. Bitte, speisen Sie heute abend bei mir. Kann Ihnen etwas davon erzählen, wie in einem Ihrer Büros der Dienst gehandhabt wird.«

Der junge Mann, der eben vorher so schnippisch geantwortet hatte, streckte die Hand aus und nahm das Telegramm; als er es las, wurde er ganz blaß und begann sich zu entschuldigen. Er sagte, er würde seine Stellung verlieren, wenn dieses furchtbare Telegramm abginge, und vielleicht bekäme er keine andre wieder. Wenn es ihm nur noch diesmal so hinginge, so würde er in Zukunft keinen Anlaß zur Klage mehr geben. Daraufhin wurde der Friede geschlossen.

Als wir weitergingen, sagte der Major:

»Nun, sehen Sie, das war Diplomatie – und Sie haben bemerkt, wie sie wirkte. Es hätte gar keinen Zweck gehabt, Lärm zu machen, wie die Leute fortwährend tun – der junge Mensch kann einem mit gleicher Münze heimzahlen, und man zieht fast immer den kürzeren dabei und ärgert sich bloß über sich selber. Aber, wie Sie gesehen haben, gegen Diplomatie kann er nichts machen. Freundliche Worte und Diplomatie – das sind die Werkzeuge, mit denen man arbeiten muß.«

»Ja, ich verstehe; aber nicht jeder ist in so günstiger Lage, wie Sie in diesem Fall. Es steht eben nicht jedermann auf so vertrautem Fuß mit dem Präsidenten der Western Union.«

»Ich kenne den Präsidenten gar nicht – ich benutzte ihn nur zu diplomatischen Zwecken. Es geschieht zu seinem und zum allgemeinen Besten. Also nichts Böses dabei.«

Ich fragte zögernd und mit bedenklichem Gesicht: »Ist es aber überhaupt wohl jemals recht oder anständig, zu lügen?«

Die gelinde Selbstüberhebung, die in der Frage lag, beachtete er nicht, sondern antwortete mit unerschütterlich ernster Einfachheit:

»Ja, zuweilen. Wenn man lügt, um jemand Schaden zu tun oder um sich selber einen Vorteil zu verschaffen, so ist das nicht zu rechtfertigen. Wenn man dagegen lügt, um einem Nebenmenschen beizustehen oder um des allgemeinen Besten willen – oh, das ist ganz was andres! Das weiß ja jedes Kind. Aber ganz abgesehen von den Methoden – Sie sehen das Ergebnis. Der junge Mensch wird jetzt ein brauchbarer und höflicher Beamter werden. Er hatte ein gutes Gesicht. Es lohnte sich, ihn zu retten, – um seiner Mutter, wenn nicht um seiner selbst willen. Natürlich hat er eine Mutter – auch Schwestern. Hol‘ der Henker die Leute, die das fortwährend vergessen. Wissen Sie, ich habe nie in meinem Leben ein Duell gehabt – nicht ein einzigesmal –, obwohl ich so gut wie andre Leute Herausforderungen erhielt. Ich sah immer meines Gegners unschuldige Frau oder Mutter oder Kinderchen zwischen ihm und mir stehen. Sie hatten ja nichts getan – ich konnte doch nicht ihre Herzen brechen.«

Er verbesserte im Lauf des Tages eine hübsche Menge Mißstände, und stets ohne Reibung, stets mit einer feinem und zartfühlenden ›Diplomatie‹, die keinen Stachel zurückließ. Seine Leistungen bereiteten ihm so viel Glückseligkeit und Zufriedenheit, daß ich ihn um seinen Beruf beneidete und mich vielleicht auch darin versucht haben würde, wenn ich die notwendigen Abweichungen von der Wahrheit mit ebensolcher Zuversicht aus meinem Munde hervorbringen könnte, wie es mir mittels einer Feder und hinter der Deckung einer Druckerpresse nach einiger Übung wohl möglich wäre.

Als wir am späten Abend mit der Straßenbahn wieder in die Stadt hineinfuhren, kamen drei Radaubrüder in den Wagen und begannen nach rechts und links mit unflätigen Späßen und Flüchen um sich zu werfen. Die Passagiere, zum Teil Frauen und Kinder, hatten Angst, und kein Mensch wagte, den Knoten entgegenzutreten oder ein Wort zu erwidern; der Schaffner versuchte es mit gütlichem Zureden, aber die Rauhbeine gaben ihm einfach Schimpfworte zurück und lachten ihn aus. Sehr bald sah ich dem Major an, daß er hier einen Fall seiner Spezialität vor sich hatte; augenscheinlich musterte er in Gedanken seinen Vorrat von diplomatischen Mitteln. Ich sah mit Bestimmtheit voraus, daß ein derartiger Versuch ihm nur Spott und Hohn, vielleicht sogar noch Schlimmeres einbringen würde; aber bevor ich ihm diese Bemerkung zuflüstern konnte, sagte er bereits in gleichmütigem und leidenschaftslosem Ton:

»Schaffner, Sie müssen die Schweine ’nausschmeißen. Ich will Ihnen dabei helfen.«

Das hatte ich nicht erwartet. Schnell wie der Blitz fuhren die drei Knoten auf ihn los, aber kein einziger kam an ihn heran. Er teilte drei Faustschläge aus, wie man sie außerhalb eines Preisboxerringes zu sehen nicht erwarten konnte, und die drei Kerle blieben liegen, wo sie hingefallen waren. Der Major schleifte sie hinaus und warf sie von der Plattform des einen Moment haltenden Wagens hinunter; hierauf fuhren wir weiter.

Ich war erstaunt; erstaunt darüber, daß ein Lamm so vorgehen konnte; erstaunt über die von ihm entfaltete Kraft und über das klare und allgemeinverständliche Ergebnis; erstaunt über die gewandte und geschäftsmäßige Art, wie er das Ganze gemacht hatte. Die Situation hatte ihre humoristische Seite, insofern ich den ganzen Tag über von diesem schlagfertigen Herrn fortwährend Vorträge über sanfte Überredung und freundliche Diplomatie angehört hatte. Ich hätte ihn gern darauf hingewiesen und einige Sarkasmen darüber angebracht; aber als ich ihn ansah, merkte ich, daß das keinen Zweck haben würde. Auf seinem ruhigen und zufriedenen Gesicht lag keine Ahnung von Humor; er würde mich nicht verstanden haben. Als wir auf einer der nächsten Haltestellen ausgestiegen waren, sagte ich zu ihm:

»Das war ein tüchtiger diplomatischer Streich, oder vielmehr es waren drei tüchtige diplomatische Streiche.«

»Das? Das war keine Diplomatie. Sie sind völlig auf dem Holzweg. Diplomatie ist ganz was andres. Damit ist bei der Sorte nichts auszurichten; sie würden’s nicht verstehen. Nein, das war keine Diplomatie, es war Gewalt.«

»Da Sie das Wort nennen, so – ja, ich glaube, Sie können vielleicht recht haben.«

»Vielleicht? Natürlich habe ich recht. Es war eben Gewalt!«

»Ich glaube selber, es hatte den äußeren Anschein. Versuchen Sie oft, Leute auf diese Art zu bessern?«

»O nein, das kommt beinahe nie vor. Nicht öfter, als jedes halbe Jahr einmal im Durchschnitt.«

»Die Leute werden doch mit dem Leben davonkommen?«

»Mit dem Leben davonkommen? Na, natürlich! Sie sind ganz außer Gefahr. Ich weiß, wie und wohin ich zu schlagen habe. Sie haben wohl bemerkt, daß ich nicht unter die Kinnlade schlug. Das würde sie getötet haben.«

Ich glaubte das. Ich bemerkte – und nach meiner Meinung war es ein ganz guter Witz –, er sei den ganzen Tag über ein Lamm gewesen, habe sich aber jetzt auf einmal zum Bock entwickelt, zum Sturmbock; aber er sagte mit freundlicher Offenheit und Unbefangenheit: nein, ein Sturmbock sei ganz was andres und jetzt nicht mehr im Gebrauch. Das war, um aus der Haut zu fahren, und ich wäre beinahe mit der Antwort herausgeplatzt, er habe von Witz nicht mehr Ahnung als ein Trampeltier. Ich hatte das Wort tatsächlich schon auf der Zunge, aber ich sagte es doch nicht, denn mir fiel ein, daß die Sache keine Eile habe, und ich es ebensogut ein andermal telephonisch abmachen könne.

Am nächsten Nachmittag fuhren wir nach Boston. Die Rauchabteilung im Salonwagen war voll, und wir gingen daher in das gewöhnliche Rauchcoupé. Drüben auf der andern Seite des Wagenganges, auf dem vordersten Sitz, saß ein bescheiden aussehender alter Mann – dem Anschein nach ein Landmann – mit bleichem, kränklichem Gesicht und hielt mit dem Fuß die Tür offen, um frische Luft zu bekommen. Auf einmal kam polternd ein großer Bremser herein; bei der Tür blieb er stehen, warf dem Landmann einen ganz wütenden Blick zu und schlug mit solcher Kraft die Tür zu, daß der alte Mann beinahe seine Stiefelsohle eingebüßt hätte. Dann machte er sich an seine Verrichtungen. Mehrere von den Passagieren lachten, und der alte Herr sah ganz beschämt und traurig drein.

Ein Weilchen darauf kam der Schaffner durch, und der Major hielt ihn an und stellte in seiner gewöhnlichen höflichen Weise die Frage:

»Schaffner, wo beschwert man sich über unangemessenes Betragen eines Bremsers? Bei Ihnen?«

»Sie können ihn in New Haven anzeigen, wenn Sie das wollen. Was hat er getan?«

Der Major erzählte die Geschichte. Sie schien den Schaffner zu amüsieren. Er sagte mit einer ganz kleinen Beimischung von Sarkasmus zu seinen köstlichen Worten:

»Wenn ich Sie recht verstehe, so sagte der Bremser nichts?«

»Nein, das tat er nicht.«

»Aber er sah den Herrn wütend an, sagten Sie?«

»Ja.«

»Und er warf in unhöflicher Weise die Tür zu?«

»Ja.«

»Und das ist alles, nicht wahr?«

»Ja, das ist alles.«

Der Schaffner lächelte freundlich und sagte:

»Na, wenn Sie ihn anzeigen wollen, meinetwegen; aber ich sehe nicht recht, wohin das führen könnte. Wenn ich recht begriffen habe, so wollen Sie vorbringen, der Bremser habe den alten Herrn hier beleidigt. Man wird Sie fragen, was er gesagt habe. Sie werden antworten, gesagt habe er überhaupt nichts. Dann wird man jedenfalls fragen, wie Sie von einer Beleidigung sprechen können, wenn der Mann, wie Sie selber zugeben, kein Wort gesagt hat.«

Ein Beifallsgemurmel belohnte den Schaffner für seine knappen und bündigen Schlußfolgerungen. Das machte ihm Vergnügen – man konnte es seinem Gesicht ansehen.

Aber der Major war unerschüttert. Er sagte:

»Ja, da haben Sie einen schreienden Übelstand im ganzen Beschwerdewesen berührt. Die Eisenbahnbehörden – wie übrigens auch das Publikum und allem Anschein nach Sie selber – wissen gar nicht, daß es auch Beleidigungen gibt, die nicht in Worten bestehen. Darum wendet sich niemand an die höchste Stelle und beschwert sich wegen Beleidigungen in Manieren, Gebärden, Blicken und so weiter, und trotzdem berühren solche zuweilen empfindlicher als Worte. Sie tun bitterlich weh, weil sie unfaßbar sind und weil der Beleidiger, wenn er von seinen Vorgesetzten zur Rede gestellt wird, immer sagen kann, es sei ihm nicht im Traum eingefallen, irgend jemand beleidigen zu wollen. Mir scheint, die Behörden sollten das Publikum dringend ersuchen, auch Beleidigungen und Unhöflichkeiten, die nicht in Worten ausgedrückt waren, zur Anzeige zu bringen.«

Der Schaffner lachte und sagte:

»Na, das hieße denn doch die Fürsorge fürs Publikum recht weit treiben!«

»Aber nicht zu weit, glaube ich. Ich will diesen Fall in New Haven zur Sprache bringen, und ich habe so eine Ahnung, daß man mir dankbar dafür sein wird.«

Des Kondukteurs Gesicht verlor etwas von seinem freundlichen Ausdruck, oder vielmehr es wurde vollkommen kühl und ernst, als der Mann wegging. Ich sagte:

»Sie wollen doch nicht wirklich wegen so einer Lappalie Lärm schlagen?«

»Es ist keine Lappalie. So etwas sollte stets angezeigt werden. Es ist eine öffentliche Angelegenheit, und kein Bürger hat das Recht, darüber hinwegzusehen. Aber ich werde mich über diesen Fall gar nicht zu beschweren brauchen.«

»Wieso?«

»Es wird nicht nötig sein. Diplomatie wird alles in Ordnung bringen. Sie werden schon sehen.«

Nach einiger Zeit kam der Schaffner wieder durch den Wagen; als er beim Major war, beugte er sich zu ihm herüber und sagte:

»’s ist alles in Ordnung. Sie brauchen den Mann nicht anzuzeigen. Er ist mir verantwortlich, und wenn er’s noch einmal tut, will ich ihm einen Rüffel geben.«

Der Major antwortete herzlich:

»Nun, so gefällt’s mir. Glauben Sie nicht, ich hätte aus Rachsucht so gesprochen, ich tat’s aus Pflichtgefühl, weiter nichts. Mein Schwager ist einer von den Direktoren der Bahn, und wenn er erfährt, daß Sie den Bremser das nächstemal, wenn er einen harmlosen alten Mann gröblich beleidigt, ganz gehörig vornehmen wollen, so wird ihn das freuen, darauf können Sie sich verlassen.«

Der Schaffner sah nicht so heiter drein, wie man vielleicht hätte erwarten können; er machte im Gegenteil den Eindruck, als ob ihm recht unbehaglich zu Mute wäre. Er dachte eine Weile nach, dann sagte er:

»Ich meine, irgend ‚was sollte gleich jetzt auf der Stelle mit ihm geschehen. Ich will ihn entlassen.«

»Ihn entlassen? Was sollte das für einen Zweck haben? Glauben Sie nicht, es wäre vernünftiger, ihm bessere Manieren beizubringen und ihn zu behalten?«

»Hm, da liegt was drin … Was würden Sie vorschlagen?«

»Er beleidigte den alten Herrn in Gegenwart all dieser Herrschaften. Wie wär’s, wenn Sie ihn hereinkommen ließen, daß er in ihrer Gegenwart Abbitte tut?«

»Ich werde ihn sofort schicken. Und ich möchte noch eins bemerken: Wenn alle Leute es so machten wie Sie und solche Sachen sofort bei mir meldeten, anstatt ihren Ärger bei sich zu behalten und nachher herumzulaufen und auf die Eisenbahnen zu schimpfen, so sollten Sie mal sehen, wie schnell sich alles ändern würde. Ich bin Ihnen sehr verbunden.«

Der Bremser kam und leistete Abbitte. Als er wieder hinaus war, sagte der Major:

»Sehen Sie wohl, wie einfach und leicht das war? Der gewöhnliche Bürger würde nichts ausgerichtet haben – der Schwager eines Direktors bringt alles fertig, was er nur will.«

»Aber sind Sie wirklich der Schwager von einem der Direktoren?«

»Immer. Immer, wenn das öffentliche Interesse es erfordert. Ich habe einen Schwager in allen Direktionen – überall. Das erspart mir endlose Verdrießlichkeiten.«

»Es ist eine recht ausgebreitete Verwandtschaft.«

»Ja; ich habe ihrer mehr als dreihundert.«

»Wird die Verwandtschaft niemals von einem Schaffner angezweifelt?«

»Es ist mir noch niemals vorgekommen; auf mein Ehrenwort: niemals!«

»Warum ließen Sie ihn denn nicht, wie er’s wollte, den Bremser fortjagen? Sie wissen, daß der Mensch es verdiente?«

Der Major antwortete – und in seinem Tone lag wirklich ein an ihm ganz ungewohnter Anflug von Ungeduld:

»Wenn Sie bloß mal einen Augenblick nachdenken wollten, so würden Sie eine solche Frage nicht stellen. Ist ein Bremser ein Hund, und kann man ihn nicht anders erziehen wie einen Hund? Er ist ein Mensch und hat wie ein Mensch um seinen Lebensunterhalt zu ringen. Und er hat stets eine Schwester oder eine Mutter oder Weib und Kinder zu erhalten. Immer – Ausnahmen gibt es nicht. Wenn Sie ihm seinen Lebensunterhalt nehmen, so nehmen Sie auch den ihrigen weg – und was haben sie Ihnen getan? Nichts. Und was hat es für Zweck, einen unhöflichen Bremser fortzujagen und einen andern anzustellen, der gerade so ist wie er? Es wäre eine Unklugheit. Sehen Sie denn nicht ein, daß es das einzig Vernünftige ist, den Bremser zu bessern und ihn zu behalten? Das ist doch klar.«

Während der ferneren Fahrt hatten wir bloß noch ein Erlebnis. Zwischen Hartfort und Springfield kam mit dem üblichen Gebrüll der Buchhandlungsjunge durch den Wagen; er hatte einen ganzen Arm voll Bücher und Zeitungen und ließ ein dickes Heft einem schlafenden Herrn in den Schoß fallen, so daß er ganz erschrocken emporfuhr. Er war sehr ärgerlich, und er sowie zwei Freunde ergingen sich in sehr hitzigen Reden über den Frevel. Sie ließen den Salonwagenschaffner kommen, trugen ihm den Fall vor und verlangten, der Junge müsse durchaus fortgejagt werden. Die drei Beschwerdeführer waren reiche Holyoker Kaufleute, und der Schaffner hatte offenbar ziemliche Angst vor ihnen. Er suchte sie zu beschwichtigen und setzte ihnen auseinander, der Junge stehe nicht unter seiner Machtbefugnis, sondern sei Angestellter der Eisenbahnbuchhandlung. Aber all sein Reden nutzte ihm nichts.

Hierauf erbot sich der Major freiwillig, für den Beschuldigten zu zeugen. Er sagte:

»Ich habe alles mitangesehen. Sie, meine Herren, haben nicht übertreiben wollen, haben es aber doch getan. Der Junge hat nichts weiter getan, als was die Bahnzugjungen alle tun. Wenn Sie wünschen, daß er anständigere Manieren annimmt und sich bessert, so bin ich mit Ihnen einverstanden und bereit, Ihnen bei diesen Bemühungen zu helfen; aber es ist nicht recht, ihn einfach wegzujagen, ohne ihm eine Möglichkeit der Besserung zu geben.«

Aber sie waren ärgerlich und wollten von einem Vergleich nichts wissen. Sie wären gut bekannt mit dem Präsidenten der Boston- und Albany-Gesellschaft, sagten sie, und wollten den nächsten Tag alles andere liegen lassen, um nach Boston zu gehen und dem Jungen zu zeigen, wer sie wären.

Der Major sagte, da wollte er auch dabei sein, und er würde alles tun, was in seinen Kräften stände, um den Jungen zu retten. Einer von den Herren sah ihn von oben bis unten an und sagte:

»Da kommt es also offenbar darauf hinaus, wer den größten Einfluß beim Präsidenten der Gesellschaft hat. Kennen Sie Herrn Bliß persönlich?«

Der Major sagte in aller Ruhe:

»Ja; er ist mein Oheim.«

Die Wirkung war zufriedenstellend. Ein paar Minuten lang herrschte ein peinliches Schweigen. Dann fingen sie an einzulenken und halbe Zugeständnisse zu machen, daß sie wohl etwas zu hastig und überempfindlich gewesen seien. Und bald war alles wieder friedlich und gemütlich, und es wurde beschlossen, die Sache fallen zu lassen und dem Jungen sein Brot (mit Butter) zu lassen.

Der Präsident der Eisenbahngesellschaft war natürlich nicht des Majors Oheim – nur für diesen Tag und diesen Zug adoptiert!

Auf der Rückreise erlebten wir gar nichts: wahrscheinlich, weil wir mit einem Nachtzug fuhren und den ganzen Weg über schliefen.

Am Samstagabend fuhren wir mit der Pennsylvaniabahn von New York ab. Nach dem Frühstück am andern Morgen gingen wir in den Salonwagen, fanden es aber dort öde und ungemütlich. Es waren nur ein paar Leute drin und nichts los. Hierauf gingen wir in den kleinen Rauchabteil des Salonwagens und fanden dort drei Herren. Zwei von ihnen schimpften über eine Vorschrift der Bahnverwaltung: daß nämlich Sonntags in den Zügen nicht Karten gespielt werden dürfte. Sie hatten ein unschuldiges Spielchen gemacht, und es war ihnen verboten worden, weiter zu spielen. Der Fall interessierte unsern Major. Er sagte zu dem dritten Herrn:

»Hatten Sie etwas gegen das Spielen einzuwenden?«

»Durchaus nicht. Ich bin Professor an der Yale-Universität und ein religiöser Mann, aber das geht mir zu weit.«

Hierauf sagte der Major zu den beiden andern:

»Sie können ganz nach freiem Belieben Ihr Spiel wieder aufnehmen, meine Herren; niemand hier hat etwas dagegen einzuwenden.«

Einer von ihnen wollte es nicht riskieren; aber der andere meinte, er wolle gern wieder anfangen, wenn der Major mit ihm spiele. Sie legten also einen Überzieher über ihre Knie, und das Spiel nahm seinen Fortgang. Ziemlich bald nachher kam der Salonwagenschaffner herein und sagte in scharfem Tone:

»Hoho, meine Herren, das geht nicht! Stecken Sie die Karten ein – es ist nicht erlaubt.«

Der Major war gerade beim Mischen. Er mischte ruhig weiter und sagte:

»Auf wessen Befehl ist es verboten?«

»Das ist mein Befehl. Ich verbiete es.«

Der Major fing an zu geben und fragte:

»Ist die Idee von Ihnen?«

»Was für ’ne Idee?«

»Die Idee, das Kartenspielen an Sonntagen zu verbieten.«

»Nein, natürlich nicht.«

»Von wem dann?«

»Von der Gesellschaft.«

»Dann geht ja eigentlich der Befehl nicht von Ihnen, sondern von der Gesellschaft aus. Stimmt das?«

»Ja. Aber Sie hören ja nicht auf zu spielen; ich muß Sie ersuchen, daß Sie augenblicklich aufhören.«

»Übereilung ist zu nichts gut und tut oft Schaden. Wer ermächtigte die Gesellschaft, einen solchen Befehl zu erlassen?«

»Mein werter Herr, das geht mich gar nichts an, und …«

»Aber Sie vergessen, daß Sie nicht der einzige sind, der hier in Betracht kommt. Vielleicht geht es mich sehr nahe an. Ja, es ist in der Tat für mich eine Sache von sehr großer Bedeutung. Ich kann eine gesetzmäßige Vorschrift meines Landes nicht verletzen, ohne mich selber zu entehren; ich kann keinen Menschen und keiner Gesellschaft erlauben, meine Freiheit mit ungesetzlichen Vorschriften einzuschränken – was Eisenbahnverwaltungen fortwährend zu tun versuchen – ohne meine Bürgerwürde zu entehren. Ich komme daher auf meine Frage zurück: auf welche Autorität hin hat die Verwaltung diesen Befehl erlassen?«

»Das weiß ich nicht. Das ist ihre Sache!«

»Meine auch. Ich zweifle, ob die Gesellschaft überhaupt ein Recht hat, eine derartige Vorschrift zu erlassen. Die Bahn führt durch verschiedene Staaten. Wissen Sie, in welchem Staat wir augenblicklich sind, und wie die gesetzlichen Vorschriften dieses Staates in Bezug auf das Kartenspielen am Sonntag lauten?«

»Diese gesetzlichen Vorschriften gehen mich nichts an, wohl aber die Befehle meiner Gesellschaft. Es ist meine Pflicht, dafür zu sorgen, daß dies Spielen aufhört, meine Herren, und es muß aufhören!«

»Kann sein; aber trotzdem brauchen wir uns nicht zu übereilen. In Gasthäusern schlagen sie gewisse Vorschriften in den Zimmern an, aber stets führen sie dabei Paragraphen aus den Staatsgesetzen an. Hier sehe ich nichts derart angeschlagen. Bitte, weisen Sie Ihre Berechtigung nach und lassen Sie uns zum Schluß kommen, denn Sie sehen selber, daß Sie das Spiel aufhalten.«

»So etwas habe ich nicht, aber ich habe meine Befehle, und das genügt. Diesen Befehlen muß gehorcht werden.«

»Wir wollen nicht zu hastig in unsern Folgerungen sein. Es wird besser sein, wenn wir die Sache ohne Hitze und ohne Hast untersuchen und uns erst mal ansehen, wie es steht, bevor einer von uns einen Mißgriff macht – denn wenn die Freiheiten eines Bürgers der Vereinigten Staaten beschnitten werden, so ist das ein viel ernsteres Ding, als Sie und die Bahnverwaltungen zu ahnen scheinen, und ich für meine Person lasse es mir nicht gefallen, wenn der Betreffende mir nicht die Berechtigung seines Vorgehens nachweist. Nu …«

»Mein werter Herr, wollen Sie Ihre Karten hinlegen?«

»Alles zu seiner Zeit – vielleicht. Es kommt darauf an. Sie sagen, diesem Befehl muß gehorcht werden. Muß. Das ist ein starkes Wort. Sie sehen selber, wie stark es ist. Eine vernünftige Verwaltung wird Sie – natürlich! – nicht mit einem so drastischen Befehl bewaffnen, ohne eine Buße auf jede Verletzung der Vorschrift zu legen. Sonst könnte es leicht ein toter Buchstabe und ein lächerlicher Befehl bleiben. Wieviel beträgt die Buße für Übertretung dieses Gesetzes?«

»Buße? Davon habe ich niemals etwas gehört.«

»Unfraglich müssen Sie sich irren. Ihre Gesellschaft befiehlt Ihnen, hier hereinzukommen und in schroffer Weise eine unschuldige Unterhaltung zu verbieten, und gibt Ihnen kein Mittel an die Hand, um dem Befehl Geltung zu verschaffen? Sehen Sie nicht ein, daß das Unsinn ist? Was tun Sie denn, wenn Leute sich weigern, dem Befehl zu gehorchen? Nehmen Sie ihnen die Karten weg?«

»Nein.«

»Weisen Sie den Frevler auf der nächsten Haltestelle aus dem Zug?«

»Na, das können wir doch natürlich nicht, wenn einer seine Fahrkarte hat!«

»Verklagen Sie ihn vor Gericht?«

Der Schaffner schwieg: augenscheinlich war er verwirrt. Der Major gab neue Karten und sagte:

»Sie sehen selber, daß Sie hilflos sind und daß die Gesellschaft Sie in eine lächerliche Stellung gebracht hat. Man überträgt Ihnen das Amt, eine anmaßende Vorschrift durchzuführen, Sie machen das mit Lärmen und Toben, und wenn Sie näher zusehen, so finden Sie, daß Sie kein Mittel haben, sich Gehorsam zu erzwingen.«

Hierauf sagte der Schaffner mit kühler Würde:

»Meine Herren, Sie haben den Befehl gehört, und damit habe ich meine Schuldigkeit getan. Ob Sie dem Befehl nachkommen oder nicht, das werden Sie machen, wie’s Ihnen gutdünkt.« Damit wandte er sich zum Gehen.

»Bitte, warten Sie doch noch. Die Sache ist noch nicht zu Ende. Ich glaube, Sie irren sich, wenn Sie meinen, Ihre Schuldigkeit getan zu haben; aber wenn das wirklich der Fall ist, so habe ich jetzt selber eine Schuldigkeit zu erfüllen.«

»Wie meinen Sie das?«

»Werden Sie meinen Ungehorsam bei der Direktion in Pittsburg zur Anzeige bringen?«

»Nein. Wozu auch?«

»Sie müssen mich anzeigen, oder ich werde Sie anzeigen!«

»Anzeigen – weswegen?«

»Wegen Ungehorsams gegen die Befehle Ihrer Gesellschaft, indem Sie nicht unserm Spiel Einhalt getan haben. Als Bürger habe ich die Pflicht, den Eisenbahngesellschaften beizustehen, daß ihre Angestellten den Dienst ordentlich versehen.«

»Meinen Sie das im Ernst?«

»Ja, in vollem Ernst. Ich habe nichts gegen Sie als Menschen, aber ich muß Ihnen als Beamten den Vorwurf machen, daß Sie Ihren Befehl nicht ausgeführt haben, und wenn Sie mich nicht anzeigen, muß ich Sie anzeigen. Und das werde ich auch tun.«

Der Schaffner sah ganz verblüfft drein und dachte einen Augenblick nach; dann rief er:

»Ich habe mich da, wie’s scheint, selber in eine nette Patsche gebracht. Das Ganze ist ja ein großer Kuddelmuddel; ich werde absolut nicht mehr klug daraus. So was ist mir noch niemals vorgekommen. Die Leute haben sich stets gefügt und nie ein Wort gesagt, daher habe ich auch gar nicht bemerkt, wie lächerlich der dumme Befehl ohne Strafbestimmungen ist. Ich wünsche niemand anzuzeigen, wünsche aber auch selber nicht angezeigt zu werden – um Gottes willen, davon könnte ich ja endlose Scherereien haben! Bitte, spielen Sie nur ruhig weiter – spielen Sie den ganzen Tag, wenn Sie Lust haben –, und reden wir nicht mehr davon!«

»Nein, ich habe bloß diesen Platz hier eingenommen, um die Rechte dieses Herrn hier zu vertreten – jetzt kann er selbst weiterspielen. Doch bevor Sie gehen – wollen Sie mir nicht vielleicht sagen, weshalb nach ihrer Meinung die Gesellschaft diese Vorschrift erlassen hat?«

»Der Grund für die Vorschrift ist vollkommen klar und einfach; sie ist erlassen aus Rücksicht auf die Gefühle, ich meine die religiösen Gefühle der Mitfahrenden. Es ist vielen unter ihnen peinlich, wenn durch Kartenspielen auf den Eisenbahnen der Sonntag entheiligt wird.«

»So dachte ich mir’s auch. Sie finden nichts dabei, den Sonntag durch Reisen zu entheiligen, aber sie wollen nicht dulden, daß andre Leute …«

»Wahrhaftig, Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Auf diesen Gedanken war ich noch nie gekommen. Aber es ist wirklich eine alberne Vorschrift, wenn man genauer zusieht.«

In diesem Augenblick kam der Zugführer herzu und wollte sehr von oben herab das Kartenspielen untersagen, aber der Schaffner nahm ihn auf die Seite, um ihm den Fall auseinanderzusetzen. Wir hörten kein Wort mehr von der Geschichte.

In Chicago lag ich elf Tage lang krank zu Bett und bekam daher von der Weltausstellung keinen Schimmer zu sehen, denn ich war genötigt, nach dem Osten zurückzukehren, sobald ich wieder reisefertig war. Am Tage vor unserer Abreise bestellte der Major eine Salonabteilung in einem Schlafwagen und bezahlte den Preis dafür. Ich hatte also einen bequemen großen Raum zur Verfügung; als wir aber auf dem Bahnhof ankamen, stellte sichs heraus, daß aus Versehen unser Wagen nicht angehängt worden war. Der Schaffner hatte einen Abteil für uns freigehalten – mehr könne er nicht tun, sagte er. Aber der Major sagte, wir hätten es nicht so eilig und wollten warten, bis der Wagen angehängt sei. Hierauf antwortete der Schaffner mit freundlicher Ironie:

»Mag sein, daß Sie es nicht eilig haben, wie Sie soeben sagten, aber wir haben’s eilig. Bitte, einsteigen, meine Herren, einsteigen! Lassen Sie uns nicht warten!«

Aber der Major wollte nicht einsteigen und ließ auch nicht zu, daß ich es tat. Er verlangte seinen Wagen und sagte, er müsse ihn haben. Dies machte den vor Geschäftigkeit schwitzenden Schaffner ungeduldig, und er rief:

»Wir haben unser möglichstes getan – Unmögliches können wir nicht fertig bringen. Sie werden diesen Abteil nehmen oder gar keinen. Es ist ein Versehen vorgekommen, und das kann nicht in diesem letzten Augenblick wieder gutgemacht werden. So etwas kommt ab und zu vor, und man kann nichts andres tun, als sich so gut wie möglich darein zu finden. Andre Leute machend auch so.«

»Ach ja, das ist es eben! Hätten sie auf ihren Rechten bestanden, so würden Sie jetzt nicht versuchen, die meinigen so mir nichts dir nichts unter die Füße zu treten. Ich habe durchaus nicht den Wunsch, Ihnen unnötiger Weise Verlegenheiten zu bereiten, aber es ist meine Pflicht, den nächsten, dem das Gleiche passieren könnte, vor derartigem zu bewahren. Ich muß also meinen Wagen haben. Sonst werde ich in Chicago warten und die Eisenbahngesellschaft wegen Verletzung des mit mir abgeschlossenen Vertrages verklagen.«

»Die Gesellschaft verklagen? Wegen so einer Kleinigkeit?«

»Gewiß.«

»Ist das wirklich Ihre Absicht?«

»Allerdings.«

Der Schaffner sah den Major mit einem erstaunt prüfenden Blick an; dann sagte er:

»Donnerwetter, so ‚was! Das war noch nicht da – ist mir noch niemals vorgekommen. Aber ich will darauf schwören, Sie täten’s. Hören Sie, ich will den Bahnhofsvorsteher holen.«

Der Bahnhofsvorsteher war nicht wenig ärgerlich – auf den Major, nicht auf den Mann der das Versehen gemacht hatte. Er war ziemlich kurz angebunden und stellte sich auf den gleichen Standpunkt wie anfangs der Schaffner; aber das rührte den Artilleristen durchaus nicht; er bestand mit seiner freundlichen Ruhe darauf, er müsse seinen Wagen haben. Offenbar lag in diesem Fall der ganze Vorteil des Rechts nur auf der einen Seite, und zwar auf der des Majors. Der Stationsvorsteher gab sein ärgerliches Wesen auf und wurde höflich; er bat sogar halb und halb um Entschuldigung. Dies war eine gute Eröffnung von Vergleichshandlungen, und der Major gab nun auch etwas nach. Er sagte, er wolle auf die bestellte und bezahlte Salonabteilung verzichten, aber eine Salonabteilung müsse er haben. Nach einigem Suchen wurde eine gefunden, deren Inhaber sich überreden ließ; er vertauschte sie mit unserm Sonderabteil und wir fuhren endlich ab.

Am Abend besuchte der Schaffner uns und war freundlich und höflich und zuvorkommend. Wir hatten ein langes Gespräch miteinander und wurden schließlich gut Freund. Er sagte, er wünsche, das Publikum beschwerte sich öfter – das würde von guter Wirkung sein. Man könnte nicht erwarten, daß die Bahnverwaltungen den Reisenden gegenüber ihre Schuldigkeit täten, solange nicht die Reisenden sich selber darum bekümmerten.

Ich hoffte, wir hätten jetzt auf unsrer Reise genug reformiert, aber dem war nicht so. Am andern Morgen bestellte der Major, als wir im Speisewagen saßen, ein gebratenes Huhn. Der Kellner sagte:

»Es steht nicht auf der Speisekarte, Herr; wir servieren nichts, was nicht auf der Karte steht.«

»Der Herr da drüben ißt Huhn.«

»Ja, das ist aber ‚was andres. Er ist Betriebsdirektor bei der Gesellschaft.«

»Dann muß ich erst recht gebratenes Huhn haben. Solche Unterscheidung liebe ich nicht. Bitte schnell – bringen Sie mir ein gebratenes Huhn!«

Der Kellner kam mit dem Steward, und dieser setzte leise und höflich dem Major auseinander, es ließe sich unmöglich machen – es wäre gegen die Vorschrift, und die Vorschrift laute auf das strengste.

»Sehr wohl; dann müssen Sie sie entweder unparteiisch anwenden oder sie unparteiisch brechen. Sie müssen dem Herrn sein Huhn wegnehmen oder mir auch eins bringen.«

Der Steward wußte nicht, was er machen sollte. Er begann eine unzusammenhängende Erklärung vom Stapel zu lassen, und in diesem Augenblick kam der Schaffner vorbei und fragte, wo’s fehle. Der Steward setzte ihm auseinander, da wäre ein Herr, der durchaus ein Huhn haben wollte, obwohl das doch gegen die Vorschrift wäre und jenes Gericht nicht auf der Speisekarte stände. Der Schaffner sagte:

»Halten Sie sich an Ihre Vorschrift – eine andre Wahl gibts nicht für Sie. Aber warten Sie ‚mal ’nen Augenblick – ist das der Herr?« Dann lachte er und fuhr fort: »Lassen Sie lieber Ihre Vorschriften – ich rate Ihnen – und ich weiß warum –, geben Sie ihm alles, was er verlangt, und wenn Sie’s nicht haben, so lassen Sie den Zug halten und besorgen Sie’s.«

Der Major aß das Huhn, aber er sagte mir, er täte es nur aus Pflichtgefühl und des Prinzips wegen, denn eigentlich möge er Huhn gar nicht.

Ich verfehlte allerdings die Weltausstellung, aber ich lernte dafür ein paar diplomatische Kunstgriffe kennen, die sich mir und dem Leser vielleicht im Laufe der Zeit als bequem und praktisch erweisen werden.

Achtes Kapitel

Achtes Kapitel

Achtes Kapitel

Schicksalsschläge.

Im Jahre 1895, um die Zeit seines 60. Geburtstags brach das Unglück durch den Bankrott der Firma Webster über ihn herein. Er verlor dabei sein ganzes Vermögen. Die Firma hinterließ eine große Schuldenlast, welche er mit einem geradezu heroischen Mute abzutragen beschloß.

Ohne auf die Vorstellungen seiner Freunde zu achten, daß er nach kaufmännischer Gepflogenheit die Gläubiger mit einem gewissen Prozentsatz abfinden solle, und ohne die ihm bereitwilligst gebotene finanzielle Hilfe anzunehmen, gab er sein Wort, die Schulden innerhalb 4 Jahren bei Heller und Pfennig abzutragen. Er hat diese Ehrenpflicht glänzend erfüllt.

Es war ein Riesenwerk. Um es zu vollbringen, unternahm er eine Vorlesungstour, die ihn zuerst durch den Norden der Vereinigten Staaten und dann rund um die Erde führte. Nur die moralische Notwendigkeit, jene Schulden zu bezahlen, veranlaßte ihn, jahrelang auf Ruhe und Behagen zu verzichten; denn das anstrengende Reisen machte ihm in seinem Alter kein Vergnügen mehr.

Aber das Opfer ist nicht vergeblich gewesen. Schon die freundliche Aufnahme und das herzliche Wohlwollen, welches ihm allenthalben bezeugt wurde, gewährte Mark Twain hohe Befriedigung und einen persönlichen Gewinn, der ihm ebenso wichtig war wie die Einnahmen, welche seinen Gläubigern zugute kamen. Zuerst ging er nach Australien. In jeder Stadt erfreute sich der beliebte Redner und Schriftsteller des wärmsten Empfanges; seine Reise glich einem Triumphzug durch das ganze Land. Großen Erfolg hatte er auch bei den Rajahs in Indien, und die dortigen englischen Bewohner zeigten sich unermüdlich in den Beweisen von Verehrung und Bewunderung, mit denen sie ihn überhäuften. Nicht minder angenehm waren die Erfahrungen, welche Mark Twain bei seinem Besuch in Südafrika machte. Er sah sich im Rückblick auf so viele hochinteressante Erlebnisse fast veranlaßt, das Mißgeschick zu preisen, das ihn genötigt hatte, jene wunderbaren Länder aufzusuchen.

Nach Europa zurückgekehrt, ließ sich Clemens zuerst in London nieder, wo er ein Haus in Chelsea mietete. Dort schrieb er seine › Reise um die Welt‹, in welcher er den reichen Stoff, den er gesammelt hatte, literarisch verwertete. Das Buch (1898 in deutscher Uebersetzung im Verlag des Herausgebers der vorliegenden Sammlung erschienen) bietet neben den bekannten Vorzügen des unvergleichlichen Humoristen eine Fülle von kulturgeschichtlicher Belehrung, so daß uns Mark Twain hier zugleich als ernster, gediegener Schriftsteller entgegentritt; immer wieder aber zuckt sein köstlicher Humor oft blitzartig durch alle Erzählungen und Beschreibungen hindurch, wo es der Leser am wenigsten erwartet.

Nach Vollendung seiner ›Reise um die Welt‹ ruhte er sich einige Monate in der Schweiz aus und lebte dann 1897-1899 mit seiner Familie in Wien. Der dortige Aufenthalt galt hauptsächlich der musikalischen Ausbildung seiner Tochter Clara unter der Leitung des berühmten Meisters Leschetitzky. Seine älteste Tochter Susan hatte Mark Twain während seiner Weltreise verloren, nachdem sie eben ihre Ausbildung als Gesangskünstlerin beendet hatte: der herbste Schicksalsschlag, der bis dahin den Vater getroffen. In Wien fand Mark Twain die einem so hervorragenden Gaste gebührende Aufnahme. Bald nach seiner Ankunft veranstaltete der Schriftsteller- und Journalistenverein ›Concordia‹ Mark Twain zu Ehren eine Festkneipe, bei welcher er zur allgemeinen Ueberraschung als Redner in deutscher Sprache auftrat. Er versicherte der Versammlung mit drolligem Ernste, es sei stets der Traum seines Lebens gewesen, ein Reformator der edlen deutschen Sprache zu werden. Daß es hauptsächlich die langen Wörter und Sätze, sowie die trennbaren Zeitwörter waren, gegen die er zu Felde zog, darüber wird niemand in Zweifel sein, der seinen gelungenen Aufsatz über die › Schrecken der deutschen Sprache‹ (Bd. VI, S. 72) gelesen hat.

Daß Mark Twain unter allen Nationen, mit denen er auf seinen Reisen in näheren Verkehr getreten ist, der deutschen den Vorzug giebt, beweist er schon dadurch, daß er sich oft und mit Vorliebe unter den Deutschen niedergelassen hat. Der ernste Fleiß und die Gründlichkeit ihres Wesens haben für ihn, seinem ganzen Charakter nach, die größte Anziehung.

So kann es denn auch nicht fehlen, daß die Deutschen ihm und seinen Werken überall die freundlichste Aufnahme bereiten und er sich auch bei uns allgemein einer Beliebtheit erfreut, wie sie ein Schriftsteller bei Lebzeiten nur selten genießen darf. Er hat unserm sorgenvollen, ernsten Geschlecht so viele harmlos frohe Stunden bereitet, daß wir ihn getrost einen Wohlthäter der Menschheit nennen dürfen.

Kinderspiele

Kinderspiele

Bei meinen Alpenwanderungen traf ich einmal auf einen Trupp kleiner Kinder, die sich ein höchst eigenartiges, sonderbares Spiel ausgedacht hatten; das schien mir aber nur so, denn sie amüsierten sich auf eine ganz natürliche und sehr bezeichnende Weise. Sie waren durch ein Seil mit einander verbunden, trugen kleine Alpenstücke und Eishaken und erklommen einen niedrigen, bescheidenen Düngerhaufen unter Anwendung aller erdenklichen Vorsicht und Sorgfalt. Der ›Führer‹ an der Spitze des Zuges hackte zum Schein mit dem größten Fleiß Stufen in den Eisberg ihrer Phantasie, und keiner der kleinen Affen rührte sich, bevor ihm sein Vordermann nicht auf der höheren Stufe Platz gemacht hatte. Wären wir länger stehen geblieben, wir hätten ohne Zweifel auch einen schauerlichen Absturz mit angeschaut, hätten die kühnen Wanderer auf dem Gipfel ihr lautes Hurra rufen hören, wahrend sie die ›herrliche Aussicht‹ bewunderten, und gesehen, wie sie sich mit Gebärden völliger Erschöpfung auf der erhabenen Höhe niederwarfen, um auszuruhen.

In Nevada habe ich die Kinder oft ›Silbergraben‹ spielen sehen. Die Hauptsache war dabei natürlich ein Unglücksfall im Bergwerk, bei dem es zwei wichtige Rollen darzustellen gab: erstens, den Verunglückten, der in den Schacht gestürzt ist, und zweitens, den kühnen Helden, welcher in die Tiefe hinabgelassen wird, um jenen wieder ans Tageslicht zu befördern. Ein kleiner Knirps, den ich kannte, bestand regelmäßig darauf, beide Rollen zu spielen. Erst fiel er in den Schacht und kam ums Leben, dann erschien er wieder auf der Oberfläche und stieg abermals hinunter, um seine eigene Leiche zu holen.

Überall ist es der klügste Junge, der die Heldenrolle spielt. In der Schweiz ist er der erste Führer, in Nevada der Obersteiger, in Spanien der berühmteste Stierkämpfer u.s.w. Aber keine dieser Rollen kommt doch an Würde und Größe derjenigen gleich, die sich einmal ein siebenjähriger Pfarrerssohn meiner Bekanntschaft, Namens Jimmy, ausgesucht hatte. Sein Vater verbot ihm an einem Sonntag, Pferdebahnkutscher zu spielen, am nächsten Sonntag durfte er nicht Kapitän eines Dampfboots sein, den folgenden Sonntag wurde ihm untersagt, sein Kriegsheer in die Schlacht zu führen – und so ging es weiter. Endlich sagte das Söhnchen:

»Nun habe ich alles versucht, aber nichts war recht, Was darf ich denn spielen?«

»Das weiß ich nicht, Jimmy, aber du darfst nur etwas spielen, was für den Tag des Herrn paßt.«

Am folgenden Sonntag trat der Pfarrer leise in die Kinderstube, um zu sehen, ob die Kleinen auch nichts Ungehöriges trieben. Auf einem Stuhl mitten im Zimmer hing Jimmys Mütze; eine der kleinen Schwestern nahm die Mütze herunter, knabberte daran, reichte sie dann dem andern Schwesterchen und sagte:

» Iß von dieser Frucht, denn sie ist gut

Ach, die Kinder spielten die Vertreibung aus dem Paradiese – das ward dem würdigen Herrn mit Schrecken klar; ein Umstand beruhigte ihn aber gewissermaßen: »Ich habe Jimmy doch unrecht gethan,« sagte er bei sich; »solche Bescheidenheit hätte ich ihm nicht zugetraut; er hat sich diesmal keine der Hauptrollen ausgesucht, weder Adam noch Eva.« Allein auch dieser Trost wurde dem Vater bald genommen; er sah sich um und entdeckte Jimmy, der mit ehrfurchtgebietender Haltung in einer Ecke stand, die Stirn in finster drohende Falten gelegt. Was das zu bedeuten hatte, ließ sich leicht erkennen – er stellte die Gottheit dar.

Die erhabene Einfalt dieses Gedankens kann durch nichts übertroffen werden.

Peinliche Ohrenmusik

Peinliche Ohrenmusik

In den Gebirgsdörfern der Schweiz und sonst auf Weg und Steg schlägt einem fortwährend das Rauschen der Wasserbäche ans Ohr. Man bildet sich ein, es sei Musik und fühlt sich poetisch gestimmt; legt man sich ins Bett, so wird man davon in Schlaf gelullt. Aber allmählich wird es einem doch zu viel, man kann das Geräusch nicht mehr los werden; selbst in Einöden, wo die tiefste Stille herrscht, summt einem ein dumpfes, fernes Geräusch in den Ohren, ähnlich dem Gefühl, das man beim Anlegen einer großen Seemuschel ans Ohr empfindet. Man weiß anfangs gar nicht, wie es kommt, daß man so schläfrig und zerstreut ist, warum die Gedanken unfähig sind, einen Gegenstand festzuhalten oder zu verfolgen; setzt man sich zum Schreiben hin, so fallen einem die Wörter nicht ein; man vergißt, was man schreiben wollte, und sitzt da mit der Feder in der Hand, den Kopf zurückgebeugt, mit geschlossenen Augen und horcht peinlich auf ein dumpfes Brausen, wie das eines entfernten Eisenbahnzuges. Im festesten Schlaf läßt diese Spannung nicht nach, man horcht immer, horcht fortwährend, horcht mit ängstlicher Genauigkeit und endlich wacht man auf, gepeinigt, gereizt und unerfrischt.

Man kann sich diese Zustände gar nicht erklären. Tag für Tag ist es einem zu Mut, als wenn man die Nächte in einem Schlafwagen zugebracht hätte. Es dauert in der That wochenlang, bis man dahinterkommt, daß die ewigen Gießbäche und Gebirgsquellen an dieser Qual schuld sind. Jetzt ist es aber hohe Zeit, die Schweiz zu verlassen; denn sobald man die Ursache kennt, steigert sich die Qual um’s zehnfache. Das Rauschen ist zum wahnsinnig werden, sobald die Phantasie mitwirkt; man leidet dann die empfindlichsten physischen Schmerzen. Sobald man sich einem dieser rauschenden Bäche nur nähert, möchte man vor Angst schleunigst Reißaus nehmen und wie vor einem Feinde fliehen.

Acht oder neun Monate, nachdem ich die Qual jener Sturzbäche losgeworden war, wurde ich infolge des brausenden und donnernden Lärms in den Straßen von Paris von neuem davon ergriffen. Ich zog daher in den obersten Stock des Hotels, um Ruhe zu suchen. Gegen Mitternacht ließ das Getöse etwas nach und ich war schon im Begriff einzuschlafen, als ich ein neues sonderbares Geräusch vernahm. Ich horchte: offenbar führte irgend ein verrückter Mensch einen Matrosentanz in dem Zimmer über dem meinigen auf. Ich mußte natürlich warten, bis er fertig war. Während fünf langen, langen Minuten fuhr er mit dem schleifenden, walzenden Tanz fort, – dann erfolgte eine Pause, und dann fiel etwas mit einem schweren Plumps auf den Boden. Ich sagte mir: ›Jetzt zieht er die Stiefel aus, jetzt ist er – Gottlob! – fertig!‹

Wieder eine kleine Pause, und er setzte von neuem das Tanzen fort! Da sagte ich mir: ›Wahrscheinlich probiert er, ob es auch mit einem Stiefel am Fuß geht!‹ Bald kam wieder eine Pause, und wieder ein Plumps auf den Boden. Ich sagte mir: ›Gut; er hat den zweiten Stiefel ausgezogen, jetzt ist er fertig.‹ Aber er war nicht fertig; im nächsten Augenblick fing das Schleifen und Walzen wieder an.

›Hol‘ ihn der Kuckuck! jetzt geht es in den Pantoffeln weiter‹ Nach einiger Zeit trat wieder die alte Pause ein, und gleich darauf erfolgte der besagte Plumps auf den Boden noch einmal. ›Hol‘ ihn der Henker!‹ sagte ich, ›der hat zwei Paar Stiefel angehabt!‹

Während einer ganzen Stunde fuhr dieser Hexenmeister fort zu tanzen und Stiefel auszuziehen, bis er mindestens fünfundzwanzig Paar abgeworfen hatte, und mein Zustand schon an die äußersten Grenzen des Wahnsinns streifte.

Ich nahm mein Gewehr und schlich mich die Treppe hinauf. Der Kerl stand da, inmitten, eines ganz mit Stiefeln besäten Zimmers, er hatte noch einen Stiefel in der Hand, und er walzte – nein: – er wichste den Stiefel, wollte ich sagen. Er hatte nicht getanzt. – Er war der Hausknecht des Hotels und ging seinem Geschäfte nach.

Die Schrecken der deutschen Sprache

Die Schrecken der deutschen Sprache

Ich war oft im Heidelberger Schloß, um die daselbst befindliche Kuriositätensammlung zu besichtigen und eines Tages überraschte ich den Besitzer derselben mit meinem Deutsch, das ziemlich seltsam lauten mochte. Er war sehr aufmerksam, und nachdem ich eine Zeit lang gesprochen hatte, äußerte er, mein Deutsch sei ganz seltener Art, vielleicht ein ›Unikum‹, er möchte es gerne seinem Museum einverleiben. Hätte er gewußt, was die Erwerbung meiner Fertigkeit mich gekostet hatte, so würde er auch gewußt haben, daß deren Anschaffung einen jeden Sammler zu Grunde richten müßte. Mein Freund Harris und ich hatten damals mehrere Wochen lang tüchtig an unserm Deutsch gearbeitet, und obwohl wir gute Fortschritte machten, hatten wir doch unser Ziel nur unter großen Schwierigkeiten und Plackereien erreicht, denn drei von unsern Lehrern waren darüber gestorben. Wer nicht selbst deutsch gelernt hat, kann sich keine Vorstellung davon machen, was das für eine verzwickte Sprache ist.

Es giebt gewiß keine andere Sprache auf der Welt, die so systemlos ist, so schlüpfrig und aalglatt, um sie zu fassen. Man treibt darin umher wie in einem brandenden Meer, bald hierhin, bald dorthin, in der elendesten Hilflosigkeit, und wenn man einmal glaubt, eine Regel gefunden zu haben, welche festen Grund bietet, um einen Augenblick in dem allgemeinen Wirrwarr und Tumult der zehn Redeteile auszuruhen, so vernimmt man in der Grammatik: ›Der Schüler gebe acht auf folgende Ausnahmen.‹ Ein Blick auf diese zeigt ihm, daß deren mehr sind, als Beispiele für die Regel selbst. So wird er hoffnungslos wieder über Bord geschleudert, um nach einem neuen Berg Ararat zu jagen und statt dessen eine neue Sandbank zu finden. Dies sind die Erfahrungen, die ich gemacht habe und noch fortwährend mache. So oft ich glaube, ich habe einen von den vier vertrakten ›Kasus‹ richtig gepackt, schleicht sich eine anscheinend bedeutungslose Präposition in meinen Satz hinein, die mit einer furchtbaren ungeahnten Macht ausgerüstet ist, und zerbröckelt mir den Boden unter den Füßen. Z. B. fragt mein Lesebuch nach einem Vogel (es fragt immer nach Dingen, die für keinen Menschen irgend welchen Wert haben): » Where is the bird?« – Die Antwort auf die Frage lautet nach dem Buch: » The bird is waiting in the blacksmith shop on account of the rain.« Selbstverständlich würde das keinem Vogel einfallen, allein das mußt du mit dem Buch ausmachen. Also, ich mache mich daran, die deutsche Übersetzung dieser Antwort herauszuklauben. Ich muß dabei notwendig am verkehrten Ende anfangen, so will es der deutsche Gedankengang. Ich sage mir: Regen ist männlichen Geschlechts – oder vielleicht auch weiblich oder möglicherweise sächlich – darnach zu schauen, ist mir jetzt zu umständlich. Je nach dem Geschlecht nun, das sich schließlich herausstellt, heißt the rain entweder der Regen oder die Regen oder das Regen. Im Interesse der Wissenschaft will ich die Annahme zu Grunde legen, das Wort sei männlichen Geschlechts. Gut! Dann heißt the rainder Regen‹, falls derselbe einfach in ruhendem Zustand erwähnt wird ohne nähere Erörterung, also Nominativ; ist jedoch dieser Regen überall rings auf dem Boden angelangt, dann ist er an eine bestimmte Örtlichkeit gebunden, er thut etwas, nämlich ruhen (in der deutschen Grammatik wird dies unter die Tätigkeiten gerechnet) und dies versetzt den Regen in den Dativ, so daß er zu › dem Regen‹ wird. Allein dieser Regen hat noch keine Ruhe, sondern entwickelt eine aktive Thätigkeit – er fällt nieder – vermutlich dem Vogel zum Ärger – dies zeigt Bewegung an und hat die Folge, daß das Wort in den Akkusativ geschoben und dadurch aus dem Regen › den Regen‹ wird.

Nachdem ich mit der Befragung des Schicksals über diesen Punkt zu Ende bin, antworte ich keck darauf los und sage auf deutsch: »Der Vogel wartet in der Hufschmiede wegen den Regen«. Der Lehrer dämpft darauf sanft meine Freude mit der Bemerkung, daß, wo das Wörtchen wegen in einem Satz vorkommt, es das abhängige Wort in den Genetiv versetze, möge daraus entstehen, was da wolle – und daß deshalb dieser Vogel in der Schmiede gewartet habe ›wegen des Regens‹.

NB. Später erfuhr ich von einer höheren Autorität, daß es eine ›Ausnahme‹ gebe, die einem unter gewissen besonderen verwickelten Umständen gestatte, zu sagen, wegen den Regen, es komme jedoch diese Ausnahme ganz allein bei diesem Wort vor.

Von der Schwierigkeit dieser Sprache kann die nächste beste Zeitung überzeugen. Ein Normalsatz in einer deutschen Zeitung ist eine überraschende Merkwürdigkeit; er nimmt eine Viertelseite ein und enthält sämtliche Redeteile dieser Sprache, nicht in einer geregelten Ordnung, sondern durcheinander. Er besteht hauptsächlich aus zusammengesetzten Wörtern, von dem Verfasser eigens für seinen Zweck gebaut und nirgends im Wörterbuch zu finden; oft sechs bis sieben Worte an einem Stücke ohne Nähte und Einschnitte; der Satz handelt von 14 bis 15 verschiedenen Gegenständen, von denen jeder einen Zwischensatz bildet, bisweilen schließt ein Hauptzwischensatz mehrere kleinere ein und damit sie nicht auseinander fallen, werden sie zum Teil mit Klammern zusammengehalten; – nach alledem kommt endlich das Zeitwort, woraus man erst klug wird, was der Verfasser eigentlich sagen wollte; nach dem Zeitwort schließt der Verfasser – wie mir scheint, lediglich aus dekorativer Spielerei – mit den Wörtern ›haben zu sein‹, ›gewesen sein dürften‹, oder ähnlich. Vermutlich ist dieser Schlußknalleffekt so etwas wie der Schnörkel, den man unter seine Unterschrift zu machen pflegt; was nicht gerade nötig ist, aber hübsch aussieht. Ich rate zum bessern Verständnis, deutsche Bücher so zu lesen, daß man sie vor den Spiegel hält oder auf den Kopf stellt, damit die Konstruktion umgekehrt erscheint; aber deutsche Zeitungen zu lesen, wird dem Fremden stets eine unerreichbare Kunst bleiben. Ich will mich zum Beweis des Gesagten auf ein Beispiel aus einem deutschen Buche, einer anerkannt guten Novelle, beschränken. ›Wenn er aber auf der Straße der in Sammt und Seide gehüllten, jetzt sehr ungeniert nach der neuesten Mode gekleideten Regierungsrätin begegnete?‹ So steht es in Marlitts ›Geheimnis einer alten Mamsell‹. Man wird bemerkt haben, wie weit das Zeitwort von der Operationsbasis des Lesers entfernt ist. In den Zeitungen ist das noch weit schlimmer, da steht das Zeitwort immer erst auf der nächsten Spalte, und mir wurde gesagt, es käme oft vor, daß der Verfasser eines Artikels, der sich ein bis zwei Spalten lang mit Einreihungen und Zwischensätzen aufgehalten hat, sich am Ende so beeilen muß, daß der Satz ohne Zeitworte in die Druckpresse geht. Dann sind natürlich die Leser übel dran.

In unserer Litteratur spukt diese Einschachtelungsmanie ebenfalls und es lassen sich jeden Tag Beispiele dafür in unsern Büchern und Zeitungen finden; allein bei uns ist dieselbe ein Kennzeichen davon, daß es dem Schriftsteller an Gewandtheit oder an klarem Verstande fehlt, während sie bei den Deutschen schriftstellerische Übung und das Vorhandensein einer Art von lichtvollem Verstandsnebel verrät, der bei diesen Leuten für Klarheit gilt. Denn Klarheit ist dies ganz gewiß nicht, das kann schlechterdings nicht sein. Es muß vielmehr recht wirr, recht vertrakt und verkehrt in eines Schriftstellers Kopfe aussehen, wenn er einen Anlauf nimmt, um zu sagen, daß jemand einer Regierungsrätin auf der Straße begegnet, und dann gerade mitten in diesem so einfachen Unternehmen die beiden Begegnenden anhält und stehen läßt, bis er den Anzug der Dame bis ins Kleinste ausgemalt hat. Dies ist handgreiflicher Unsinn.

Man denkt dabei unwillkürlich an jene Zahnärzte, die, nachdem sie den Zahn mit der Zange gefaßt und einen dadurch in den höchsten Grad atemloser Spannung versetzt haben, sich hinstellen und einem in aller Behaglichkeit eine langweilige Geschichte vorkauen, ehe sie den gefürchteten Ruck thun. In der Litteratur und beim Zahnausziehen sind Einschaltungen gleich übel angebracht.

Die Deutschen haben in ihrer Sprache eine Art von Parenthese, welche sie durch das Auseinanderreißen eines Zeitworts in zwei Teile erzielen, wovon der eine am Anfang eines spannenden Kapitels steht, der andre am Schluß desselben. Kann man sich etwas Verwirrenderes denken? Die deutsche Sprache wimmelt von solchen trennbaren Zeitwörtern und je weiter die beiden Teile in einem Schriftstück auseinander kommen, desto mehr freut sich der Urheber eines solchen Verbrechens seiner That. Ein Lieblingsspiel dieser Art wird mit dem Wort ›reiste ab‹ getrieben. Hier ein Beispiel aus einer Novelle:

›Er reiste, als die Koffer fertig waren und nachdem er Mutter und Schwester geküßt und nochmals sein angebetetes, einfach in weißen Muslin gekleidetes, mit einer frischen Rose in den sanften Wellen ihres reichen braunen Haares geschmücktes Gretchen, das mit bebenden Gliedern die Treppe herabgewankt war, um noch einmal sein armes gequältes Haupt an die Brust desjenigen zu legen, den es mehr liebte, als das Leben selber, ans Herz gedrückt hatte, – ab.‹

Es ist jedoch nicht gut, sich zuviel mit den trennbaren Zeitwörtern abzugeben, sie bringen einen unfehlbar bald um die Gemütsruhe, und wenn man sich nicht warnen läßt und sich darein vertieft, so bekommt man entweder Gehirnerweichung oder Gehirnversteinerung davon.

Die persönlichen Fürwörter und Adjektiva dieser Sprache sind eine fruchtbare Quelle von Ärger aller Art. Das Wort ›Sie‹ bedeutet you und the zugleich, es heißt her und heißt it, es meint they und es meint them. Man stelle sich die klägliche Armut einer Sprache vor, die ein einziges Wort nötigt, den Dienst von sechs zu versehen, noch dazu solch ein armes kleines Würmchen mit nur drei Buchstaben am Leib. Aber erst die Verzweiflung, wenn man niemals weiß, in welchem Sinne der Sprechende das Wort gemeint hat! Grund genug für mich, um einer Person, welche ›Sie‹ zu mir sagt, wenn ich irgend kann, den Garaus zu machen.

Sodann fasse man einmal die Adjektivformen ins Auge. Wenn irgendwo, wäre hier Einfachheit am Platz gewesen. Grund genug für die Erfinder dieser Sprache, die Sache erst recht zu erschweren. Wenn wir in unserer deutlichen englischen Sprache von our good friend or friends sprechen, so gebrauchen wir eine und dieselbe Adjektivform und das genügt vollauf; nicht so in der deutschen Sprache. Kommt ein Adjektiv unter die Zunge eines Deutschen, so dekliniert er es und dekliniert es fort und fort, bis er endlich allen gesunden Sinn herausdekliniert hat. Er dekliniert z.B. ›mein guter Freund, meines guten Freundes, meinem guten Freunde u.s.w.‹ Diese beständigen Änderungen möge ein Irrenhausaspirant auswendig lernen! Man thut wahrhaftig in Deutschland besser daran, sich ohne Freunde zu behelfen, als diese Plackerei mit ihnen in den Kauf zu nehmen. Ich habe nun gezeigt, welche Mühsal es ist, einen guten Freund zu deklinieren, das ist aber nur ein kleiner Vorgeschmack von der Schwierigkeit, denn es giebt noch eine Menge neuer Adjektivverrenkungen, wenn es sich um einen weiblichen beziehungsweise um einen sächlichen Gegenstand handelt.

Sodann giebt es in dieser Sprache mehr Adjektive als schwarze Katzen und diese müssen alle nach obigem Beispiel sorgfältigst abgewandelt werden. Schwierig? – Mühselig? – Diese Ausdrücke sind viel zu schwach. Ein Heidelberger Student aus Kalifornien hat mir allen Ernstes versichert, er mache sich weniger daraus, zwei Kneipereien auszuschlagen, als ein deutsches Adjektivum zu deklinieren.

Der Erfinder dieser Sprache scheint ein besonderes Vergnügen daran gefunden zu haben, dieselbe so verwickelt zu machen, als nur irgend möglich. So heißen z. B. house, horse, dog für gewöhnlich Haus, Pferd, Hund, im Dativ aber hängt man ein ganz thörichtes überflüssiges e daran und schreibt Hause, Pferde, Hunde. Da nun ein e am Schluß häufig die Mehrzahl bezeichnet, so kann der Anfänger einen ganzen Monat lang aus einem Hund im Dativ ein Pärchen machen, ehe er seinen Irrtum gewahr wird; und wiederum hat mancher junge Musensohn, der kein Geld hinauszuwerfen hatte, zwei Hunde bezahlt und nur einen bekommen, weil er unwissentlich diesen Hund im Dativ Singularis kaufte, während er glaubte, im Plural zu sprechen. – Das Recht hatte natürlich unter solchen Umständen angesichts der strengen grammatischen Regeln der Verkäufer auf seiner Seite, und eine Ersatzklage mußte erfolglos bleiben.

Im Deutschen werden alle Hauptwörter mit einem großen Anfangsbuchstaben geschrieben. Das ist ein guter Einfall, weil man so auf den ersten Blick ein Hauptwort erkennt. Aber bisweilen giebt es zu Täuschungen Anlaß, indem man einen Personennamen für einen Sachnamen ansieht, und umgekehrt. Dann geht bei dem Versuch, Sinn in den Satz zu bringen, viel Zeit verloren; und man wird um so leichter in die Irre geführt, da die deutschen Personennamen meistens eine Bedeutung haben. Ich übersetzte einmal einen Text, welcher lautete: ›Die wütende Tigerin brach los und fraß den unglücklichen Tannenwald völlig auf.‹ Nach langem Besinnen kam ich endlich dahinter, daß Tannenwald in diesem Falle der Name eines Mannes war.

Jedes Hauptwort hat einen Artikel; aber da ist kein System und Sinn in der Anwendung desselben, so daß nichts übrig bleibt, als jeden Artikel zu jedem Wort besonders auswendig zu lernen. So hat z. B. in der deutschen Sprache ein junges Mädchen kein Geschlecht, während eine Steckrübe ein solches hat. Welche maßlose Hochachtung zeigt das einer Rübe gegenüber, welche Geringschätzung vor einem Mädchen! Man sehe sich einmal an, wie sich dies gedruckt ausnimmt. Ich übersetze aus meinem Lesebuch:

Gretchen. Wilhelm, wo ist die gelbe Rübe?

Wilhelm. Sie ist in der Küche.

Gretchen. Wo ist das hübsche und wohlerzogene Mädchen?

Wilhelm. Es ist in die Oper gegangen.

Aber weiter mit diesen Artikeln. Ein Baum ist männlich, seine Knospen sind weiblich, seine Blätter sind sächlich. Pferde sind geschlechtslos, Hunde sind männlich, Katzen sind weiblich; des Menschen Mund, Nacken, Busen, Ellbogen, Finger, Nägel, Füße und Leib sind männlichen Geschlechts; Kopf oder Haupt ist männlich oder sächlich, je nachdem man eines dieser Wörter gebraucht, nicht also je nachdem ein Mann oder eine Frau das Ding trägt; eines Menschen Nase, Lippe, Schulter, Brust, Hüfte und Zehe sind weiblich; seine Ohren, Augen, Kinn, Beine, Knie, Herz und Gewissen haben gar kein Geschlecht. (Der Erfinder dieser Sprache kannte vermutlich das Gewissen nur vom Hörensagen.) Aus dieser Zergliederung geht deutlich hervor, daß ein deutscher Mann sich zwar einbilden mag, er sei ein Mann, wenn er aber näher zusieht, muß er wohl daran zweifeln; er muß entdecken, daß er eine ganz lächerliche Zusammensetzung aller möglichen Geschlechter bildet.

Es giebt in dieser Sprache einige ungemein nützliche Wörter; z. B. Schlag und Zug. Im Wörterbuch nehmen diese Schlagwörter mehrere Spalten und die Zugwörter noch einmal so viel ein. Das Wort Schlag bedeutet so ziemlich alles; es bedeutet unser blow, stroke, dash, hit, shock clip, clap, time, bar, coin, stamp, kind, sort, manner, way, apoplexy, woodcutting, enclosure, field, forest-clearing. Das alles bedeutet Schlag im engern beschränkten Sinn; wenn aber das Wort einmal losgelassen wird, dann nimmt es Flügel der Morgenröte und fliegt, wohin es mag. An seinen Schwanz kann sich jedes beliebige Wort anhängen, wodurch der Sinn ins Unglaubliche vervielfältigt wird. Man kann anfangen mit Schlag-Ader, auf englisch artery, und so fort das ganze Wörterbuch daranhängen, Wort für Wort, ganz durch bis Schlag-Wasser, auf englisch Bilge-water und Schlag-Mutter, mother-in-law. Ebenso ist es mit dem Wort ›Zug‹. Nimmt man zu den Wörtern Schlag und Zug noch das Wörtchen ›Also!‹ hinzu, so verfügt man über einen hübschen Sprachschatz, mit dem man schon ziemlich gut durchkommt. ›Also‹ ist gleichbedeutend mit der englischen Redensart you know und besagt eigentlich gar nichts – wenigstens in der Unterhaltungssprache. So oft ein Deutscher seinen Mund aufthut, fällt ein ›Also‹ heraus, und so oft er ihn wieder zumacht, beißt er sicher ein ›Also‹, das gerade zwischen seinen Zähnen herauskommen wollte, entzwei. Diese häufige zwecklose Anwendung des Wortes ›Also‹ ist eine spezifisch süddeutsche, besonders weibliche schwäbische Untugend. Nichts verleiht einer deutschen oder englischen Unterhaltung so viel Anmut und Zwanglosigkeit, als wenn man sie voll mit Alsos und you knows spickt.

In meinem Tagebuch finde ich folgenden Eintrag: »Juli 1. Gestern wurde ein Kranker mit Erfolg von einem Wort mit 13 Silben Länge befreit; der Kranke war ein Norddeutscher von Hamburg. Da aber die Chirurgen den Kranken unglücklicherweise an der falschen Stelle aufschnitten, in der Meinung, er habe ein Panorama verschluckt, so starb er. Das Ergebnis hat die Stadt in Trauer versetzt.«

An diese Notiz möchte ich einige Bemerkungen über eine der sonderbarsten Erscheinungen unseres Gegenstandes knüpfen; nämlich über die Länge deutscher Wörter. Einige davon sind so lang, daß sie einen Schatten werfen und perspektivisch wirken, z. B.:

Freundschaftsbezeugungen,
Dilettantenaufdringlichkeiten,
Stadtverordnetenversammlungen.

Das sind keine Wörter mehr; das sind alphabetische Prozessionen. Man sieht sie in jeder Nummer einer Zeitung majestätisch einherschreiten und mit einiger Einbildungskraft kann man die zur Prozession gehörigen Banner fliegen sehen und die Musik hören. Sie verleihen dem schmächtigsten Begriff etwas ungemein Großartiges. So oft ich ein gelungenes Exemplar von einem solchen Worte finde, verleibe ich es meinem Museum ein. Ich habe bereits eine Sammlung beieinander. Meine Duplikate tausche ich mit andern Sammlern aus. Anbei einige Prachtexemplare, welche ich neulich auf der Auktion erstand:

Generalstaatenverordnetenversammlung,
Altertumsforschungswissenschaften,
Kleinkinderbewahrungsanstalten,
Wiederherstellungsbestrebungen,
Waffenstillstandsverhandlungen.

Wenn solch eine Alpenkette sich stolz hinzieht über eine Druckseite, so muß dadurch die literarische Landschaft bedeutend verschönert werden; aber für den Anfänger in der Sprache sind diese Gebirge ein großes Hindernis; sie versperren ihm den Weg, er kann weder unten durch, noch darüber weg, höchstens per Tunnel, wo einer ist. Nimmt er seine Zuflucht zum Wörterbuch, so läßt ihn das im Stich. Mit solchen zusammengesetzten Wörtern befaßt es sich nicht. Man muß zuvor das Wort durch den Chemiker in seine Bestandteile auflösen lassen und dann die einzelnen Brocken im Wörterbuch aufsuchen.

Also jetzt habe ich gezeigt, wie schwierig die deutsche Sprache ist, oder zum wenigsten habe ich mich bemüht, es zu zeigen.

Ein Student aus Amerika soll auf die Frage, wie er mit seinem Deutsch zurechtkomme, ohne Zögern erwidert haben: »Ich komme gar nicht damit zurecht. Drei volle Monate habe ich es mir sauer werden lassen und kann nur den einen Satz aufweisen: ›Zwei Glas‹! ( two glasses of beer).« Nach einem Augenblick stummen Nachsinnens setzte er mit Emphase hinzu: »Aber das habe ich auch fest im Kopf!«

Die englische Sprache, will mir scheinen, verfügt in der Beschreibung lärmender erhaben-schrecklicher Dinge über kräftigere, klangvollere, bezeichnendere Worte als die deutsche Klänge wie: boom, burst, crash, roar, bellow, blow, thunder, explosion, howl, cry, shout, yell, battle, hell, sind von prächtiger Wirkung, voll Kraft und Großartigkeit. Die entsprechenden deutschen Worte kommen mir viel schwächer vor; einzelne klingen so sanft, daß man Kinder damit in Schlaf bringen könnte: wie zahm klingt z. B. Schlacht, Gewitter! Als stärksten Ausdruck für unser explosion hat man im Deutschen – Ausbruch! Da liegt in unserm toothbrush (Zahnbürste) etwas Fürchterliches im Vergleich.

Nach dieser Erörterung der Gebrechen der deutschen Sprache gehe ich jetzt an die kurze angenehme Aufgabe, deren Vorzüge hervorzuheben. Das Großschreiben der Hauptwörter habe ich bereits erwähnt. Aber noch weit über diesem steht ein anderer, – nämlich der, die Wörter zu schreiben, wie man sie ausspricht. Nach kurzer Unterweisung weiß der Anfänger von jedem deutschen Wort, wie es ausgesprochen wird, während in unserer Sprache der Schüler damit die größten Schwierigkeiten hat. Ferner ist die deutsche Sprache ungemein reich an Ausdrücken für das friedliche, heimelige, trauliche, häusliche Dasein; für alles, was mit Liebe, kindlichem Gefühl und Freundlichkeit gegen Fremde zusammenhängt; endlich für das mannigfaltige Leben und Weben in der Natur. Es giebt deutsche Lieder, welche selbst den der Sprache Fremden zu Thränen rühren; das beweist, wie treffend der Klang der Worte ist. Er bringt deren Bedeutung so treu und wahr zum Ausdruck, daß sie, auch unverstanden, dem Fremden durchs Ohr zu Herzen dringen.

Deutsche Frauen rufen häufig aus: Ach Gott, mein Gott, Gott im Himmel, Herr Gott. Sie scheinen zu glauben, die Amerikanerinnen haben dieselbe Gewohnheit; denn ich hörte einmal ein ältliches deutsches Fräulein zu einer jungen Landsmännin von mir sagen: »Die beiden Sprachen sind sich so ähnlich – wie hübsch das ist. Wir sagen ›ach Gott‹ und ihr sagt » Goddam

Aus Obigem geht hervor, daß die deutsche Sprache einer Reform bedarf. Ich erlaube mir einige Vorschläge zu diesem Zwecke zu machen.

1) Man gebe dem Zeitwort einen Platz weiter oben, so daß man es mit dem bloßen Auge deutlich erkennen kann.

2) Man organisiere den Artikel und verteile ihn nach den Geschlechtsverhältnissen, wie es Gottes Wille ist.

3) Man schaffe die endlos langen zusammengesetzten Wörter ab oder man schreibe vor, daß sie stückweise geschrieben werden, mit Erholungspausen dazwischen. Geistige Speise ist wie andere auch; man genießt sie angenehmer mit dem Löffel als mit der Schaufel.

4) Es soll darauf gehalten werden, daß der Schreiber aufhört, wenn er mit seinem Satz und Vortrag zu Ende ist und daß er nicht noch ein unnötiges ›gewesen zu sein haben würden‹ und dergleichen anhängt.

5) Auf die Anwendung von Parenthesen ist die Todesstrafe zu setzen.

6) Für die Beschreibung aller Arten von geräuschvollen Dingen müssen einige kraftvolle englische Wörter eingeführt werden.

Am besten wäre es vielleicht, von der ganzen Sprache nur die Wörter Schlag, Zug und Also, nebst den an die ersten beiden anzuhängenden Wörtern beizubehalten; das würde die Sprache wesentlich vereinfachen.

Nach meiner Erfahrung braucht man zum Erlernen des Englischen 30 Stunden, des Französischen 30 Tage, des Deutschen 30 Jahre. Entweder reformiere man also diese Sprache, oder man lege sie zu den toten Sprachen, denn nur die Toten haben heutzutage noch Zeit genug, sie zu erlernen.

  1. »Wo ist der Vogel?«
  2. Der Vogel wartet in der Hufschmiede wegen des Regens.«