Der große Rindfleisch-Kontrakt

Der große Rindfleisch-Kontrakt

Mit so wenigen Worten wie möglich will ich der Nation über meine Beteiligung an einer Sache berichten, welche die öffentliche Meinung in hohem Grade beschäftigt und viel böses Blut erregt hat.

Die traurige Angelegenheit ist von den Zeitungen der alten und der neuen Welt mit den schrecklichsten Übertreibungen und Verzerrungen dargestellt worden; für alle Tatsachen, welche ich anführe, finden sich aber – das kann ich versichern – mehr als genügende urkundliche Beweise in den Staatsarchiven der Union vor. Der Verlauf der Sache war ursprünglich folgender:

John Wilson Mackenzie aus Rotterdam in der Grafschaft Chemung im Staate New Jersey, jetzt verstorben, schloß etwa am 10. Oktober 1861 mit der Regierung der Vereinigten Staaten einen Kontrakt ab, nach welchem er dem General Sherman dreißig Faß eingepökeltes Rindfleisch zu liefern hatte.

Nun gut.

Er machte sich auf, um Sherman das Rindfleisch zu bringen, aber als er in Washington ankam, war der General nach Manassas unterwegs; er zog ihm daher mit dem Rindfleisch nach, kam aber zu spät. Nun folgte er ihm nach Nashville, von Nashville nach Chatanooga, von Chatanooga nach Atlanta – einholen konnte er ihn jedoch nicht. In Atlanta nahm er einen neuen Anlauf und zog auf dem ganzen Marsch nach der Meeresküste hinter Sherman drein. Wieder kam er um einige Tage zu spät; da er aber erfuhr, der General habe sich in der ›Quaker-City‹ nach dem Heiligen Lande eingeschifft, ging er nach Beirut unter Segel, überzeugt, er werde

das andere Schiff einholen können. In Jerusalem angekommen, erhielt er die Nachricht, der General sei nicht mit der ›Quaker-City‹ abgesegelt, sondern nach der Prairie aufgebrochen, um gegen die Indianer zu kämpfen. Er kehrte daher nach Amerika zurück und zog in das Felsengebirge. Nach achtundsechzigtägiger, mühseliger Wanderung durch die Prairie, nur noch vier Meilen von Shermans Hauptquartier entfernt, fiel er den Indianern in die Hände, die ihn mit dem Tomahawk erschlugen, ihm die Kopfhaut abzogen und sich des Rindfleischs bemächtigten. Sie nahmen das ganze bis auf ein Faß, welches Shermans Armee eroberte. Der kühne Reisende erfüllte also sogar im Tode noch seinen Kontrakt wenigstens zum Teil. In seinem Testament, das er wie ein Tagebuch führte, vermachte er den Kontrakt seinem Sohn Bartholomäus W. Dieser schrieb die folgende Rechnung auf – dann starb er:

  Rechnung für die Ver. Staaten.
In Rechnung für John Wilson Mackenzie
von New Jersey, jetzt verstorben, 30 Faß eingepökeltes Rindfleisch
für General Sherman
à 100 Dollars 3 000 Doll.
Reisespesen und Transport des Fleisches 14 000 Doll.
__________________
Summa 17 000 Doll.
Den Betrag empfangen zu haben bescheinigt

Bei seinem Ableben hinterließ er den Kontrakt dem Wm. J. Martin, welcher sich bemühte, die Summe zu erheben, aber darüber starb und seine Forderung an Barker J. Allen vermachte. Auch dieser erhielt bei seinen Lebzeiten keine Bezahlung und hinterließ die Schriftstücke Anson G. Rogers, der bei seinem Versuch, den Betrag einzukassieren, eben bis zum neunten Rechnungsführer gelangt war, als der Tod, der alles zum Abschluß bringt, ungerufen erschien, und ihm die ferneren Verhandlungen abschnitt. Die Papiere hinterließ er einem Verwandten in Connecticut, namens Vengeance Hopkins, welcher es vier Wochen und zwei Tage aushielt und unerhörten Erfolg hatte, denn fast wäre er bis zum zwölften Rechnungsführer gelangt. Er vermachte den Kontrakt testamentarisch seinem Onkel, der Freudenreich Johnson hieß. Aber Freudenreich ertrug es nicht lange. Seine letzten Worte waren: »Ich sterbe gern – weinet nicht über mich!« Und er starb wirklich gern, der arme Mann. Nach seinem Tode erbten noch sieben andere Leute Kontrakt und Rechnung, die alle bald starben. So kamen die Papiere zuletzt in meinen Besitz. Ich erhielt sie von meinem Verwandten Betlehem Hubbard aus Indiana, der schon lange einen Groll gegen mich hegte. Auf seinem Totenbette schickte er nach mir und übergab mir tränenden Auges den Rindfleisch-Kontrakt.

Dies ist die Vorgeschichte desselben, bis zu der Zeit, da er mein Eigentum wurde. Jetzt will ich den Versuch machen, mich angesichts der ganzen Nation wegen meines Anteils an der Sache zu rechtfertigen. Mit dem Kontrakt und der Rechnung über Reisespesen und Transport der gelieferten Ware begab ich mich zu dem Präsidenten der Vereinigten Staaten.

»Was wünschen Sie, mein Herr?« fragte er mich. Ich erwiderte: »Majestät, etwa am 10. Oktober des Jahres 1861 schloß John Wilson Mackenzie aus Rotterdam in der Grafschaft Chemung im Staate New Jersey, jetzt verstorben, mit der Regierung der Vereinigten Staaten einen Kontrakt ab, nach welchem er dem General Sherman dreißig Faß eingepökeltes Rindfleisch – –«

Hier fiel er mir ins Wort, freundlich, aber mit fester Stimme, und entließ mich. Am nächsten Tage machte ich dem Staatssekretär meine Aufwartung.

»Ihr Begehr, mein Herr?« fragte dieser.

»Königliche Hoheit,« begann ich, »etwa am 19. Oktober des Jahres 1861 schloß John Wilson Mackenzie aus Rotterdam in der Grafschaft Chemung im Staate New Jersey, jetzt verstorben, mit der Regierung der Vereinigten Staaten einen Kontrakt ab, nach welchem er dem General Sherman dreißig Faß eingepökeltes Rindfleisch – –«

»Genug, mein Herr – genug, sage ich. Wir haben in diesem Ministerium nichts mit Kontrakten über Rindfleisch zu schaffen.« Ich wurde hinauskomplimentiert. Nachdem ich mir die Sache reiflich überlegt hatte, stattete ich tags darauf dem Marineminister einen Besuch ab. Der sagte: »Rasch, mein Herr, bringen Sie Ihr Anliegen vor; lassen Sie mich nicht warten!«

»Königliche Hoheit,« sagte ich, »etwa am 19. Oktober des Jahres 1861 schloß John Wilson Mackenzie aus Rotterdam in der Grafschaft Chemung im Staate New Jersey, jetzt verstorben, mit der Regierung der Vereinigten Staaten einen Kontrakt ab, nach welchem er dem General Sherman dreißig Faß eingepökeltes Rindfleisch – –«

Weiter kam ich nicht. Auch ihn gingen die Rindfleischlieferungen für General Sherman nichts an. Ich dachte, das sei doch eine recht kuriose Regierung! Es hatte ja fast den Anschein, als habe sie überhaupt keine Lust, das Rindfleisch zu bezahlen. Am nächsten Tage ging ich zum Minister des Innern.

»Kaiserliche Hoheit,« sagte ich, »etwa am 10. Oktober des –«

»Sparen Sie sich die Mühe, mein Herr,« fuhr er auf; »ich habe schon von Ihnen gehört. Machen Sie, daß Sie mit Ihrem niederträchtigen Kontrakt aus dem Hause kommen. Mit der Verproviantierung der Armeen hat das Ministerium des Innern durchaus nichts zu tun.«

Ich entfernte mich: aber jetzt war ich wirklich aufgebracht. So leichten Kaufs sollten sie mich nicht los werden: ich nahm mir vor, jedes Departement dieser gottlosen Regierung heimzusuchen, bis das Geschäft mit dem Kontrakt geordnet sei. Entweder wollte ich das Geld einkassieren oder das Leben lassen bei dem Versuch, wie alle meine Vorgänger. Ich ging dem Generalpostmeister zu Leibe, ich belagerte das Ackerbauministerium, ich lauerte dem Sprecher des Repräsentantenhauses auf. Sie alle hatten nichts mit Armeelieferungen von Rindfleisch zu schaffen. Darauf wandte ich mich an den Vorsitzenden des Patentamts.

»Hochwohlgeborene Excellenz,« sagte ich, »etwa am – –«

»Zum Henker, sind Sie mit Ihrem verfluchten Rindfleisch-Kontrakt endlich auch hierher gelangt! Ich versichere Sie, werter Herr, uns gehen weder die Armeelieferungen etwas an, noch Ihr Kontrakt.«

»O, das kann jeder sagen – – irgend jemand muß das Fleisch doch bezahlen! Die Sache wird jetzt auf der Stelle ins reine gebracht, sonst lege ich Beschlag auf dies alte Patentamt, mit allem was darin ist.«

»Aber bester Herr! –«

»Es ist mir alles einerlei. Das Patentamt ist verpflichtet, das Rindfleisch zu bezahlen. Darauf bestehe ich. Alle Ausreden sind umsonst; ich wanke und weiche nicht vom Platze, bis das Patentamt bezahlt hat.«

Die weiteren Einzelheiten tun nichts zur Sache. Sie endete in einer Prügelei und das Patentamt behielt die Oberhand. Aber etwas hatte ich bei der Gelegenheit doch erfahren, was mir Vorteil brachte, nämlich, daß, wenn ich zur richtigen Behörde gehen wolle, ich mich an das Schatzamt wenden müsse. Ich begab mich dorthin und wartete drittehalb Stunden, dann ward ich beim ersten Lord der Schatzkammer vorgelassen.

»Alleredelster, würdigster und hochgeschätztester Signor,« sagte ich, »etwa am 10. Oktober des Jahres 1861 schloß John Wilson Macken – –«

»Nicht weiter, mein Herr – ich weiß, ich weiß! Gehen Sie zum ersten Rechnungsführer.«

Das tat ich und er schickte mich zum zweiten Rechnungsführer. Der schickte mich zum Oberregistrator der Abteilung für Pökelfleisch. Das fing doch an geschäftsmäßig auszusehen! Er ging die Bücher durch, auch alle noch ungehefteten Akten, fand aber den Rindfleisch-Kontrakt nirgends eingetragen und schickte mich zum zweiten Registrator. Auch dieser sah seine Bücher und Papiere durch, aber ohne Erfolg. Jetzt schöpfte ich neuen Mut und kam im Laufe der Woche bis zum sechsten Registrator der Pökelfleisch-Abteilung. In der zweiten Woche machte ich die Abteilung für Schuldforderungen durch, in der dritten erledigte ich die Abteilung für unerfüllte Kontrakte und faßte Fuß in der Abteilung für unbezahlte Rechnungen. Dort waren meine Erkundigungen schon nach drei Tagen zu Ende.

Es gab jetzt nur noch einen Ort, wo ich nachfragen konnte. Ich belagerte den Kommissionär für Bagatellsachen. Das heißt, er selbst war nicht da, ich hielt mich an einen Schreiber. In dem Zimmer befanden sich sechzehn wunderhübsche Damen, welche die Bücher führten, und sieben Schreiber von wohlgefälligem Äußeren, die ihnen zeigten, wie sie es machen müßten. Die jungen Damen wandten den Kopf und lächelten über ihre Schultern nach oben, die Schreiber lächelten zu ihnen hinab und es ging so lustig her, wie wenn die Glocke zur Hochzeit läutet. Zwei oder drei andere Schreiber, welche die Zeitung lasen, sahen mich mit scharfen Blicken an, fuhren aber fort zu lesen und niemand sprach ein Wort. An solche Zuvorkommenheit und bereitwillige Bedienung war ich aber in meiner ereignisreichen Laufbahn schon gewöhnt, da ich sie seit dem Tage, als ich das erste Büro der Pökelfleisch-Abteilung betrat, bis ich das letzte verließ, um mich in die Abteilung für Bagatellsachen zu begeben, bei allen Schreibergehilfen der Registratoren angetroffen hatte. Durch viele Übung war ich schon so weit gekommen, daß ich, von meinem Eintritt ins Büro an, bis zu dem Augenblick, daß der Schreiber mich anredete, auf einem Bein stehen konnte, ohne dasselbe mehr als zwei- oder höchstens dreimal zu wechseln.

Jetzt stand ich hier, bis ich das Bein viermal gewechselt hatte. Dann sagte ich zu einem der Schreiber, welche lasen:

»Erlauchter Bummler, wo ist der Großtürke?«

»Was meinen Sie, mein Herr? Wen meinen Sie? – Wenn Sie den Bürochef meinen – der ist ausgegangen.«

»Wird er heute noch den Harem besuchen?«

Der junge Mann sah mich eine Weile grimmig an und vertiefte sich dann wieder in seine Zeitung. Aber das kümmerte mich nicht, ich kannte die Art dieser Schreiber und wußte, daß Hoffnung für mich vorhanden sei, wenn er eher fertig wurde, als die neuen Zeitungen aus New York eintrafen. Er war jetzt schon bei dem vorvorletzten Tageblatt angekommen. Er gähnte und fragte nach meinem Begehr.

»Weltberühmter und hochverehrter Staatsmann, etwa am 10. –«

»Ah, Sie sind der Mann mit dem Rindfleisch-Kontrakt. Geben Sie mir Ihre Papiere.«

Er nahm sie in Empfang und wühlte dann lange Zeit in seinen Bagatellsachen herum. Endlich fand er die Nordwestpassage, oder was für mich dasselbe bedeutete, den lange verlorenen Vermerk über den Rindfleisch-Kontrakt – die Klippe, an welcher so viele meiner Vorgänger gescheitert waren, ohne sie je zu erreichen. Meine Rührung war groß und doch frohlockte ich im Herzen – denn ich lebte ja noch. Ich sagte mit bewegter Stimme:

»Geben Sie mir das Dokument! Die Regierung wird jetzt sicherlich die Schuld abtragen.«

Er bedeutete mir jedoch, ich solle mich gedulden, es sei vorher noch etwas zu erledigen.

»Wo ist jener John Wilson Mackenzie?« fragte er.

»Tot.«

»Wann ist er gestorben?«

»Gestorben ist er überhaupt nicht – man hat ihn totgeschlagen.«

»Wie das?«

»Mit einem Tomahawk erschlagen.«

»Wer hat ihn mit dem Tomahawk erschlagen?«

»Natürlich doch ein Indianer. Sie glaubten doch nicht, der Superintendent einer Sonntagsschule hätte es getan?«

»Nein. Also ein Indianer war es?«

»Jawohl.«

»Sein Name?«

»Sein Name? – Ich werde doch nicht seinen Namen wissen sollen!«

»Name unbedingt erforderlich. Wer hat denn gesehen, daß er mit dem Tomahawk erschlagen wurde?«

»Das weiß ich nicht.«

»Sie selbst waren also nicht zugegen?«

»Nein – wie Sie an meinen Haaren sehen können.«

»Woher wissen Sie denn, daß Mackenzie tot ist?«

»Weil er zu jener Zeit wirklich gestorben und seitdem auch tot geblieben ist, wie ich allen Grund habe zu glauben. Ja, ich weiß es ganz bestimmt.«

»Wir müssen Beweise haben. Ist der Indianer zur Stelle?«

»Natürlich nicht.«

»Den müssen Sie herbeischaffen. Haben Sie den Tomahawk hier?«

»Bewahre, ich denke gar nicht daran.«

»Sie müssen den Tomahawk beibringen und ihn uns zusamt dem Indianer vorführen. Wenn sich hierdurch Mackenzies Tod beweisen läßt, haben Sie sich an die Kommission zu wenden, welche eingesetzt ist, um schwebende Forderungen zu prüfen. Vielleicht kommt dann Ihre Sache so in den Zug, daß Ihre Kinder die Bezahlung der Rechnung noch erleben und das Geld verzehren können. Aber vor allem muß der Tod jenes Mannes bewiesen werden. Übrigens kann ich Ihnen gleich noch sagen, daß die Regierung die Transport- und Reisespesen des seligen Mackenzie nimmermehr bezahlen wird. Möglicherweise wird sie das Faß Pökelfleisch bezahlen, welches Shermans Soldaten erobert haben, wenn Sie auf Schadenersatz klagen und der Kongreß Ihre Forderung anerkennt; aber die neunundzwanzig Faß, welche die Indianer aufgegessen haben, wird sie Ihnen nicht bezahlen.«

»Demnach hätte ich nur hundert Dollars zu beanspruchen und selbst diese sind mir nicht sicher! Und das nach Mackenzies endlosem Hin- und Herreisen mit dem Pökelfleisch in Europa, Asien und Amerika, nach allen Beschwerden, Prüfungen und Plackereien, die er erduldet hat, nach dem Hinsterben so vieler Unschuldiger, die bei dem Versuch, die Rechnung einzukassieren, ums Leben gekommen sind! Junger Mann, warum hat mir der Oberregistrator der Pökelfleisch-Abteilung das nicht gleich gesagt?«

»Er wußte nicht, daß Ihr Anspruch begründet war.«

»Warum hat es mir der zweite, der dritte nicht gesagt – warum erfuhr ich es in keiner einzigen der Abteilungen und Unterabteilungen?«

»Weil man nirgends etwas davon wußte. Bei uns geschieht alles nach dem Geschäftsgang. Dem sind Sie gefolgt und haben in Erfahrung gebracht, was Sie zu wissen wünschten. Es ist das der beste Weg. Er ist ganz ordnungsmäßig, man kommt dabei sehr langsam, aber sehr sicher zum Ziel.«

»Jawohl, zum sichern Tode. Dahin hat er die meisten der Unsrigen geführt. Ich fühle, daß es auch mit mir zu Ende geht. – Junger Mann, Sie lieben jenes fröhliche Geschöpf da drüben mit den sanften, blauen Augen und dem Federhalter hinter dem Ohr – ich sehe das an Ihren schmachtenden Blicken. Sie wünschen sie zu heiraten – aber Sie sind arm. Hier – strecken Sie die Hand aus, hier ist der Rindfleisch-Kontrakt! Wohlan, nehmt euch, seid glücklich! Gott segne euch, meine Kinder!«

 

Das ist alles, was ich von dem großen Rindfleisch-Kontrakt weiß, der so viel Aufsehen in der Welt gemacht hat. Der Schreiber, dem ich ihn abgetreten habe, ist gestorben. Was weiter aus dem Kontrakt und seinen späteren Besitzern geworden ist, vermag ich nicht zu sagen. Nur soviel weiß ich, daß, wenn jemand lange genug am Leben bleibt, um seine Sache durch das ganze Umständlichkeitsamt in Washington hindurch zu verfolgen, er zuletzt, nach vieler Mühe, Arbeit und Verzögerung, das herausfinden wird, was er am ersten Tage hätte erfahren können, wenn der Geschäftsgang im Umständlichkeitsamt so geschickt und zweckentsprechend geregelt wäre, wie in jedem großen kaufmännischen Institut.

Der gestohlene weiße Elefant

Der gestohlene weiße Elefant

I.

Die folgende merkwürdige Geschichte wurde mir von einem Manne erzählt, den ich zufällig auf der Eisenbahn kennen lernte. Er war ein alter Herr von mehr als siebzig Jahren, dessen gutmütiges Gesicht und aufrichtiges Wesen jedem seiner Worte den unverkennbaren Stempel der Wahrhaftigkeit aufdrückte. Er sagte:

 

Sie wissen, welche Verehrung der königliche weiße Elefant von Siam bei der Bevölkerung jenes Landes genießt. Sie wissen, daß er den Königen geweiht ist, daß nur Könige ihn besitzen dürfen und daß er in einer Hinsicht selbst den Königen überlegen ist, indem er nicht bloß geehrt, sondern auch angebetet wird. Nun gut; als sich vor fünf Jahren Streitigkeiten über die Grenzlinie zwischen Britisch-Indien und Siam erhoben, stellte sich alsbald heraus, daß Siam Unrecht hatte. So wurde denn die Sache rasch und zur Zufriedenheit des Vertreters von England geregelt. Teils zum Zeichen seiner Dankbarkeit, teils auch wohl, um jede noch etwa vorhandene Spur von Mißstimmung auf englischer Seite zu verwischen, beabsichtigte der König von Siam der Königin Viktoria ein Geschenk zu senden – nach orientalischen Begriffen der einzig sichere Weg, einen Feind zu beschwichtigen. Dieses Geschenk sollte nicht nur ein königliches, sondern auch in jeder Beziehung einzig sein. Was konnte sich dazu besser eignen, als ein weißer Elefant? Da ich eine angesehene Stellung im indischen Zivildienst einnahm, ward ich der Ehre gewürdigt, Ihrer Majestät das Geschenk zu überbringen. Man rüstete für mich und meine Dienerschaft nebst den Wärtern des Elefanten ein Schiff aus. Ich gelangte zur gehörigen Zeit im Hafen von New-York an und brachte meinen königlichen Schutzbefohlenen in einem prächtigen Quartiere zu Jersey-City unter. Wir mußten notgedrungen einige Zeit rasten, bevor wir die Reise fortsetzten, denn die Kräfte des Tieres verlangten Schonung.

Vierzehn Tage lang ging alles gut – dann begannen meine Nöte. Der weiße Elefant war gestohlen worden! Man hatte mich mitten in der Nacht aufgeweckt und von dem entsetzlichen Verlust benachrichtigt. Ich war einige Augenblicke außer mir vor Schreck und Angst; dann wurde ich ruhiger und sammelte meine fünf Sinne. Ich sah bald, welchen Weg ich einzuschlagen hatte – für einen vernünftigen Menschen konnte es in der Tat nur einen geben. Trotz der späten Stunde eilte ich sogleich nach New York und ließ mich von einem Schutzmann nach dem Hauptquartier der Geheimpolizei führen. Ich langte noch zur rechten Zeit an, gerade als der Chef, der berühmte Inspektor Blunt, im Begriff war, nach Hause zu gehen. Er war ein Mann von mittlerer Größe und gedrungenem Körperbau. Schon sein Anblick flößte mir Hoffnung und Vertrauen ein. Wenn er in tiefes Nachdenken versunken war, hatte er eine Art, die Brauen zusammenzuziehen und sich mit dem Zeigefinger nachdenklich auf die Stirn zu klopfen, die mich sofort überzeugte, es mit keiner gewöhnlichen Persönlichkeit zu tun zu haben. Ich trug ihm meine Sache vor: sie brachte ihn nicht im geringsten aus der Fassung; ja – machte sichtlich nicht mehr Eindruck auf seine eherne Selbstbeherrschung, als wenn es sich um einen gestohlenen Hund handelte. Er wies mir einen Sitz an und sagte ruhig:

»Bitte, lassen Sie mich ein wenig nachdenken.«

Indem er das sagte, setzte er sich an seinen Schreibtisch und stützte den Kopf mit der Hand. Einige Schreiber arbeiteten am andern Ende des Zimmers; das Kratzen ihrer Federn war das einzige Geräusch, das ich während der nächsten sechs oder sieben Minuten hörte. Mittlerweile blieb der Inspektor in tiefe Gedanken versunken; endlich erhob er das Haupt, und in den festen Zügen seines Gesichts lag etwas, was mir anzeigte, daß sein Gehirn seine Schuldigkeit getan habe und daß sein Plan fertig sei. Er sprach – seine Stimme war leise und eindringlich –:

»Kein gewöhnlicher Fall das! Jeder Schritt muß vorsichtig geschehen; jeder Schritt muß sicher gemacht werden, bevor der nächste gewagt wird. Und die Sache muß verschwiegen bleiben – tiefes, unverbrüchliches Geheimnis. Sprechen Sie mit niemand darüber, nicht einmal mit den Reportern: ich will dafür sorgen, daß sie nur erfahren und berichten, was meinen Zwecken dient.« Er schellte; ein Jüngling erschien. »Alarich, sagen Sie den Reportern, sie sollen vorläufig dableiben.« Der Jüngling verschwand. »Und nun zur Sache – und das systematisch. In meinem Beruf kann man es zu nichts bringen, ohne strenge und genaue Methode.«

Er ergriff eine Feder und legte sich einen Bogen Papier zurecht. »Nun! – der Name des Elefanten?«

»Hassan Ben Ali Ben Selim Abdallah Mohamed Moisé Alhammal Jamtsetjejeebhoy Dhulepp Sultan Ebu Bhudpoor.«

»Sehr gut. Rufname?«

»Jumbo.«

»Sehr gut. Geburtsort?«

»Die Hauptstadt von Siam.«

»Eltern lebend?«

»Nein – tot.«

»Hatten sie noch andere Nachkommenschaft?«

»Nein, er war der einzige Sohn.«

»Gut! Diese Personalien genügen für diese Rubrik. Und nun, bitte, beschreiben Sie den Elefanten und lassen Sie keine Einzelheit aus, sei sie auch noch so unbedeutend – d. h. unbedeutend von Ihrem Gesichtspunkt aus. Für Leute meines Berufs gibt es keine unbedeutenden Einzelheiten.«

Ich beschrieb und er schrieb nieder; als ich zu Ende war, sagte er:

»Hören Sie zu und berichtigen Sie mich, wenn ich einen Fehler gemacht habe.«

Er las wie folgt:

»Höhe 19 Fuß; Länge von der Stirn bis zum Schwanzansatz 26 Fuß; Länge des Rüssels 16 Fuß; Länge des Schwanzes 6 Fuß; Totallänge einschließlich Rüssel und Schwanz 48 Fuß; Länge der Fangzähne 9 1/2 Fuß; Ohren, im Verhältnis zu diesen Dimensionen; Fußspur gleicht der Spur eines Fasses, das man im Schnee aufrecht stellt: Farbe des Elefanten ein schmutziges Weiß; hat in jedem Ohr ein Loch von der Größe eines Tellers zum Einhängen von Schmucksachen; besitzt in hohem Grade die Gewohnheit, Gaffer mit Wasser zu bespritzen und mit seinem Rüssel nicht nur Leute, mit denen er bekannt ist, sondern selbst Fremde zu mißhandeln; hat eine Narbe unter der Achselhöhle, hinkt ein wenig auf dem rechten Hinterbein und hatte, als er gestohlen wurde, auf dem Rücken einen Turm mit Sitzen für fünfzehn Personen und eine Satteldecke aus Goldbrokat von der Größe eines gewöhnlichen Teppichs.«

Das Signalement war tadellos; der Inspektor schellte, händigte Alarich die Beschreibung ein und sagte:

»Lassen Sie sogleich fünfzigtausend Exemplare von diesem Signalement drucken und per Bahn an alle Polizeiämter und Pfandleiher in Nordamerika versenden.« Alarich zog sich zurück. »So, damit wären wir fertig. Nun muß ich eine Photographie des gestohlenen Eigentums haben.«

Ich gab ihm eine; er betrachtete sie kritisch und fragte:

»Sie muß genügen, da wir keine bessere haben; aber er hat den Rüssel aufgerollt und in den Mund gesteckt. Das ist schade, denn es kann leicht irre führen, weil er natürlich den Rüssel für gewöhnlich nicht so trägt.« Er schellte.

»Alarich, lassen Sie sogleich fünfzigtausend Abdrücke dieser Photographie anfertigen und mit dem Signalement versenden.«

Alarich ging, um seine Befehle zu vollziehen. Der Inspektor sagte:

»Man wird natürlich eine Belohnung aussetzen müssen. Wie hoch meinen Sie?«

»Welche Summe würden Sie mir raten?«

»Vorerst würde ich sagen – nun, fünfundzwanzigtausend Dollars. Es ist eine verwickelte und schwierige Arbeit; es gibt tausend Gelegenheiten zum Entkommen und zum Verbergen. Diese Diebe haben überall Freunde und Helfershelfer – –.«

»Lieber Himmel, wissen Sie denn, wer sie sind?«

Das kluge Gesicht, geübt im Verbergen der Gedanken und Gefühle, verriet mir nicht das mindeste, ebensowenig die vollkommen ruhig geäußerte Erwiderung:

»Lassen Sie’s gut sein! Vielleicht weiß ich’s, vielleicht auch nicht. Wir gewinnen gewöhnlich einen ziemlich deutlichen Hinweis auf die Täter aus der Art und Weise, wie sie zu Werk gehen und aus der Größe ihres Raubes. Wir haben es hier nicht mit einem Taschendieb oder Uhrenabzwicker zu tun, darauf können Sie Gift nehmen – dieser Gegenstand wurde von keinem Anfänger ›aufgehoben‹. Aber, was ich sagen wollte, in Anbetracht der vielen Reisen, die gemacht werden müssen, und des Eifers, mit dem die Diebe ihre Spuren verwischen werden, mögen fünfundzwanzigtausend Dollars fast zu wenig sein; doch kann man immerhin damit anfangen.«

So einigten wir uns denn über diese Summe für den Anfang. Dann sagte der Inspektor, dem nichts entging, was nur irgendwie als Fingerzeig dienen konnte:

»Es gibt in der Polizeigeschichte Fälle, die beweisen, daß Verbrecher durch Eigentümlichkeiten in ihrer Geschmacksrichtung entdeckt worden sind. Sagen Sie, was ißt Ihr Elefant, und wieviel?«

»Was er ißt? – einfach alles! Er ißt einen Menschen, er ißt eine Bibel – er ißt alles, was zwischen Mensch und Bibel liegt.«

»Gut, wirklich sehr gut, aber zu allgemein. Ich brauche Details – Details haben in unserem Berufe allein Wert. Also, die Menschen betreffend: wie viele davon wird er, wenn sie frisch sind, zu einer Mahlzeit oder – sagen wir – während eines Tages verzehren?«

»Er wird keinen großen Unterschied machen, ob frisch oder nicht; und ich denke, daß fünf Menschen eine gewöhnliche Mahlzeit für ihn sind.«

»Sehr gut – fünf Menschen; wir wollen das notieren. Welche Rassen hat er am liebsten?«

»In dieser Beziehung ist er nicht sehr wählerisch. Er zieht Bekannte vor, hat aber keinerlei Voreingenommenheit gegen Fremde.«

»Sehr gut – nun zu den Bibeln. Wie viele Bibeln würde er zu einer Mahlzeit brauchen?«

»Eine ganze Auflage.«

»Das ist kaum genau genug. Meinen Sie die gewöhnliche Oktavbibel oder die illustrierte Familienbibel?«

»Ich glaube nicht, daß ihm an den Illustrationen viel liegen würde – d. h. er wird sie nicht höher schätzen als einfachen Druck.«

»Sie haben mich nicht recht verstanden. Es kommt auf das Gewicht an. Die gewöhnliche Oktavbibel wiegt etwa zwei und ein halbes Pfund, während die Großquartbibel mit den Illustrationen von Doré zehn bis zwölf Pfund wiegt. Wie viel Dorébibeln würde er wohl auf einmal verzehren?«

»Man sieht, daß Sie den Elefanten nicht kennen, sonst würden Sie nicht fragen. Er frißt ganz einfach soviel, als man ihm gibt.«

»Gut, drücken Sie es in Dollars und Cents aus; wir müssen uns bestimmt fassen. Die Dorébibel kostet hundert Dollars pro Exemplar, in Juchtenleder gebunden …«

»Er würde für etwa fünfzigtausend Dollars brauchen – sagen wir, eine Auflage von fünfhundert Exemplaren.«

»So, das ist genauer; ich will’s notieren. Also, er ißt gerne Menschen und Bibeln – das hätten wir! Was ißt er sonst? Ich brauche Details.«

»Hat er keine Bibeln, so ißt er Backsteine: hat er keine Backsteine, so ißt er Flaschen; hat er keine Flaschen, so ißt er Kleider; hat er keine Kleider, so ißt er Katzen; hat er keine Katzen, so ißt er Austern; er ißt ferner Schinken, Zucker, Pasteten, Kartoffeln, Kleie, Heu, Hafer und besonders Reis, denn damit wurde er hauptsächlich aufgezogen, kurzum er frißt alles, was er kriegen kann.«

»Sehr gut. – Gewöhnliche Menge zu einer Mahlzeit?«

»Nun, so zwischen sieben und acht Zentner.«

»Und er trinkt – –«

»Alles, was flüssig ist: Milch, Wasser, Schnaps, Syrup, Kastoröl, Kamphergeist, Karbolsäure – es ist unnütz, auf Einzelheiten einzugehen; was Ihnen Flüssiges einfällt, notieren Sie getrost.«

»Sehr gut. Quantität?«

»Notieren Sie acht bis fünfundzwanzig Hektoliter – sein Durst schwankt, sein Appetit wenig.«

»Das sind alles sehr bemerkenswerte Anhaltspunkte, und sehr dienlich zu seiner Aufspürung.«

Er schellte.

»Alarich, senden Sie Kapitän Burns herein.«

Burns erschien; Inspektor Blunt enthüllte ihm die ganze Angelegenheit Punkt für Punkt. Dann sagte er in der klaren, entschiedenen Weise eines Mannes, der sich seinen Plan genau vorgezeichnet hat und ans Befehlen gewöhnt ist:

»Kapitän Burns, weisen Sie die Detektivpolizisten Jones, Davis, Halsey, Bates und Hackett an, den Elefanten aufzuspüren.«

»Sehr wohl, Sir.«

»Weisen Sie die Detektivpolizisten Moses, Dakin, Murphy, Rogers, Tupper, Higgins und Bartholomey an, die Diebe aufzuspüren.«

»Sehr wohl, Sir.«

»Senden Sie eine starke Wache – eine Wache von dreißig auserlesenen Leuten mit einer Ablösung von dreißig Mann – an den Ort, wo der Elefant gestohlen wurde; sie sollen dort scharfe Wache halten Tag und Nacht und niemand – Reporter ausgenommen – ohne schriftliche Ermächtigung von mir in die Nähe kommen lassen.«

»Sehr wohl, Sir.«

»Verteilen Sie Detektivs in gewöhnlicher Kleidung auf den Bahnhöfen, Dampfschiffen und Landungsdepots und auf allen Wegen, die aus Jersey-City führen, mit dem Befehle, alle verdächtigen Personen zu durchsuchen.«

»Sehr wohl, Sir.«

»Versehen Sie alle diese Leute mit der Photographie und dem Signalement des Elefanten und instruieren Sie diese, alle Züge und abgehenden Fahrzeuge genau zu visitieren.«

»Sehr wohl, Sir.«

»Wenn der Elefant gefunden werden sollte, so ergreife man ihn und benachrichtige mich telegraphisch.«

»Sehr wohl, Sir.«

»Lassen Sie mich sogleich benachrichtigen, wenn eine Spur gefunden werden sollte – Fußspuren oder dergleichen.«

»Sehr wohl, Sir.«

»Erlassen Sie einen Befehl an die Hafenpolizei, fleißig am Ufer zu patrouillieren.«

»Sehr wohl, Sir.«

»Senden Sie Detektivs in gewöhnlicher Kleidung mit allen Bahnzügen ab – nördlich bis Kanada, westlich bis Ohio, südlich bis Washington.«

»Sehr wohl, Sir.« »Stellen Sie Sachverständige in allen Telegraphenämtern auf; dieselben sollen auf alle Telegramme achten und sich die chiffrierten Depeschen entziffern lassen.«

»Sehr wohl, Sir.«

»Lassen Sie dieses alles mit der äußersten Heimlichkeit ausführen – hören Sie, mit der undurchdringlichsten Heimlichkeit.«

»Sehr wohl, Sir.«

»Rapportieren Sie mir pünktlich zur gewöhnlichen Stunde.«

»Sehr wohl, Sir.«

»Nun können Sie gehen!«

»Sehr wohl, Sir« – und fort war er.

Inspektor Blunt war einen Augenblick still und nachdenklich, dann ließ das Feuer in seinen Augen nach und verlosch. Hierauf wandte er sich zu mir und sagte in ruhigem Ton:

»Ich rühme mich nicht gern, es ist das nicht meine Sache; aber wir werden den Elefanten finden.«

Ich schüttelte ihm warm die Hand und dankte ihm – der Dank kam von Herzen. Je mehr ich von dem Manne gesehen hatte, desto mehr schätzte und bewunderte ich ihn, desto mehr staunte ich über die mysteriösen Wunder seines Berufs. Dann trennten wir uns für die Nacht und ich ging nach Hause – mit viel leichterem Herzen als ich gekommen war.

II.

Am nächsten Morgen stand alles haarklein in den Zeitungen, sogar mit Zusätzen – bestehend aus Detektiv A’s, Detektiv B’s und Detektiv N. N’s ›Theorie‹ in bezug auf die Ausführung des Diebstahls, auf die Person der Diebe und auf die Richtung, in der sie mit ihrer Beute entflohen waren. Es waren elf solcher Theorien zu lesen, welche alle Möglichkeiten erschöpften, ein Beweis, was für verständige Denker die Geheimpolizisten sind. Nicht zwei von den elf Theorien stimmten überein oder glichen sich auch nur halbwegs, außer in einem einzigen auffallenden Punkt, in dem alle elf Theorien einander gleich waren. Obgleich nämlich die Rückwand des Gebäudes herausgerissen und die einzige Türe verschlossen geblieben war, stellten alle elf Theorien die Behauptung auf, daß der Elefant nicht durch jene Bresche, sondern auf irgend einem andern (noch unentdeckten) Wege entfernt worden sei, und daß die Diebe jene Öffnung nur gemacht hätten, um die Polizei irre zu führen. Daran würde ich oder irgend ein anderer Laie vielleicht nie gedacht haben, die Detektivs aber hatten den Umstand auch nicht einen Augenblick verkannt. So war das einzige Moment, hinter dem ich kein Geheimnis vermutet hatte, gerade dasjenige, worin ich am weitesten fehlgegangen war. Alle elf Theorien nannten die vermutlichen Diebe, keine zwei aber dieselben; die Totalsumme der verdächtigen Personen war siebenunddreißig. Die verschiedenen Zeitungen schlossen alle mit der wichtigsten Ansicht von allen – der des Inspektors Blunt. Dieselbe lautete im Auszug wie folgt:

»Der Chef weiß, wer die zwei Haupttäter sind – nämlich Brick Duffy und der ›rote‹ McFadden. Zehn Tage vor der Ausführung des Diebstahls wußte er bereits, daß derselbe versucht werden würde, und hat sich in aller Stille daran gemacht, diese zwei notorischen Spitzbuben zu verfolgen; unglücklicherweise aber ging in der fraglichen Nacht ihre Spur verloren, und ehe man sie wieder auffinden konnte, war der Vogel – das heißt der Elefant – ausgeflogen.

»Duffy und McFadden sind die verwegensten Schurken in der ganzen Verbrecherzunft; der Chef hat Grund zu der Annahme, daß sie die Männer sind, die letzten Winter in einer bitterkalten Nacht den Ofen aus der Polizeiwache stahlen, infolgedessen sich vor Tagesanbruch der Chef und sämtliche Geheimpolizisten in ärztlicher Behandlung befanden; – einige wegen erfrorener Füße, andere wegen erfrorener Hände, Ohren, Nasen und anderer Körperteile.«

Als ich die erste Hälfte dieser Theorie las, war ich mehr als je erstaunt über den wunderbaren Scharfsinn des seltenen Mannes: er sah nicht nur alles Gegenwärtige mit klaren Augen, auch das Zukünftige entschleierte sich vor seinem Blicke. Ich begab mich alsbald in sein Bureau und sagte ihm, ich bedauere nur, daß er jene Spitzbuben nicht habe festnehmen lassen, wodurch das ganze Unheil verhütet worden wäre; aber seine Antwort war kurz und bündig:

»Es ist nicht unseres Amtes, das Verbrechen zu verhindern, sondern es zu bestrafen. Das können wir aber erst, nachdem es begangen worden ist.«

Ich bemerkte, daß die Heimlichkeit, mit der wir zu Werk gegangen, durch die Zeitungen verletzt worden sei, nicht nur alle Tatsächlichkeiten, sondern auch alle unsere Anhaltspunkte und Absichten seien enthüllt und selbst alle verdächtigen Personen namhaft gemacht worden – letztere würden sich jetzt ohne Zweifel maskieren oder ihre geheimen Schlupfwinkel aufsuchen. »Sie sollen’s nur!« sagte der Inspektor. »Sie werden bald merken, daß, wenn ich es auf sie abgesehen habe, meine Hand auf sie niederfallen wird, so unfehlbar wie die Hand des Schicksals. Was die Zeitungen anbelangt, so müssen wir mit ihnen rechnen: Ruhm, Reputation, fortwährende öffentliche Erwähnung – sind des Geheimpolizisten täglich Brot. Er muß seine Entdeckungen veröffentlichen, sonst glaubt man, daß er keine macht; er muß seine Theorie veröffentlichen, es gibt nichts Seltsameres und Überraschenderes als die Theorie eines Polizisten, und nichts trägt ihm so viel Bewunderung und Hochachtung ein; wir müssen unsere Pläne veröffentlichen, denn die Zeitungen bestehen darauf, und wir können es ihnen nicht abschlagen, ohne sie zu beleidigen. Wir müssen dem Publikum zeigen, was wir tun, damit es nicht glaubt, daß wir nichts tun. Es ist viel angenehmer, wenn eine Zeitung schreibt: ›Inspektor Blunts geniale und ungewöhnliche Theorie lautet wie folgt,‹ als wenn sie einen unfreundlichen oder – was noch schlimmer – sarkastischen Artikel bringt.«

»Ich verkenne das Zwingende dieser Gründe nicht. – In einem Teil Ihrer Bemerkungen in den Morgenzeitungen fiel mir auf, daß Sie mit Ihrer Ansicht über einen gewissen untergeordneten Punkt zurückhielten.«

»Ja, das tun wir stets; es macht immer Effekt. Übrigens hatte ich mir über jenen Punkt eine Ansicht noch gar nicht gebildet.«

Ich deponierte bei dem Inspektor eine beträchtliche Geldsumme zur Bestreitung der laufenden Ausgaben und setzte mich dann nieder, um auf Nachrichten zu warten; jeden Augenblick konnten Telegramme einlaufen. Inzwischen blätterte ich die Zeitungen und unser Zirkularsignalement nochmals durch und entdeckte, daß anscheinend unsere 25 000 Dollars Belohnung nur für Detektivpolizisten ausgesetzt waren. Ich war der Meinung gewesen, jeder solle sie bekommen, der den Elefanten auffinden würde. Der Inspektor klärte mich auf:

»Meine Geheimen werden den Elefanten auffinden, die Belohnung muß daher an die rechte Adresse gelangen. Wenn andere Leute das Tier fänden, so wäre das nur dadurch möglich, daß sie die Polizisten ausspionieren und aus Kenntnissen und Beobachtungen der Polizisten, welche sie sich zu eigen gemacht, Vorteil ziehen; an der Berechtigung der Polizei zu der Belohnung könnte das nichts ändern. Eine solche Belohnung ist dazu da, die Männer, welche dieser Art von Arbeit ihrer Zeit und ihren ausgebildeten Scharfsinn widmen, anzuspornen, nicht aber dem ersten besten in den Schoß zu fallen, der zufällig einen Fang gemacht hat.«

Das war sicher nur recht und billig. Auf einmal begann der Telegraphenapparat in der Ecke zu ticken, das Resultat war folgende Depesche:

 

» Flower-Station, New York: 7.30 vorm.

Habe eine Spur. Fand eine Reihe tiefer Spuren, die über eine benachbarte Farm führen. Folgte ihnen eine halbe Stunde östlich ohne Resultat; der Elefant ging wahrscheinlich westlich. Werde ihm jetzt in jener Richtung nachspüren.
Darley, Detektiv.«

 

»Darley ist einer unserer tüchtigsten Polizisten,« sagte der Inspektor. »Wir werden bald mehr von ihm hören.«

Telegramm Nr. 2 kam:

» Barkers, New Jersey: 7.40 vorm.

Eben angekommen. Glasfabrik hier während der Nacht erbrochen und 800 Flaschen entwendet. Wasser in größerer Menge erst fünf Meilen von hier zu haben. Werde dahin aufbrechen. Elefant wahrscheinlich durstig. Flaschen waren leer.
Baker, Detektiv.«

 

»Auch das ist vielversprechend,« sagte der Inspektor. Ich sagte Ihnen, seine Begierden würden keine schlechten Fingerzeige sein.«

Weitere Telegramme:

 

» Taylorville, Long Island: 8.15 vorm.

Ein Heuschober in der Nähe während der Nacht verschwand – wahrscheinlich aufgefressen. Fand eine Spur und verfolge sie eilig.
Hubbard, Detektiv.«

 

»Was er für Sprünge macht!« sagte der Inspektor. »Ich wußte, daß wir ein schwieriges Stück Arbeit vor uns hätten; aber wir werden ihn deshalb doch kriegen.«

 

» Flower-Station, New York: 9 vorm.

Verfolgte die Spuren über eine Stunde westlich – sind groß, tief und ausgezackt. Bin eben einem Farmer begegnet, der sagte, es seien keine Elefantenfußstapfen; sagt, es seien Löcher von den Bäumchen, die er letzten Winter aus dem gefrorenen Grunde ausgrub. Ich bitte um Verhaltungsbefehle bezüglich weiterer Schritte.
Darley, Detektiv.«

 

»Aha, ein Helfershelfer der Diebe! Die Sache wird ernst!« sagte der Inspektor und diktierte folgendes Telegramm an Darley:

 

»Verhaften Sie den Mann und zwingen Sie ihn, seine Komplizen zu nennen. Verfolgen Sie die Spuren weiter – bis zum Stillen Ozean, wenn’s sein muß.
Inspektor Blunt.«

 

Nächstes Telegramm:

 

» Coney-Point, Pennsylvania: 8.45 vorm.

Bureau der Gasanstalt hier während der Nacht erbrochen und die unbezahlten Gasrechnungen von drei Monaten gestohlen. Fand eine Spur und verfolge sie.

Murphy, Detektiv.«

 

»Himmel!« rief der Inspektor; »sollte er Gasrechnungen verzehren?«

»Wahrscheinlich aus Dummheit.« –

Darauf kam nachstehendes aufregendes Telegramm:

 

» Ironville, New York: 9.30 vorm.

Soeben angekommen. Stadt in Aufregung. Elefant kam hier durch, früh 5 Uhr. Einige sagen, er ging östlich, andere sagen westlich, einige nördlich, andere südlich – keiner aber weiß etwas Genaueres zu berichten. Er tötete ein Pferd; ich verschaffte mir ein Stück davon – für alle Fälle. Tötete es mit seinem Rüssel; schließe aus der Wunde; daß er von links schlug. Aus der Lage des Pferdes schließe, daß der Elefant nordwärts, die Berkley-Bahn entlang, reiste. Hat 4½ Stunden Vorsprung; folge aber sogleich seiner Spur.
Hawes, Detektiv.«

 

Ich konnte meine Freude nicht zurückhalten. Der Inspektor blieb so ruhig wie eine Statue. Er schellte gelassen.

»Alarich, senden Sie Kapitän Burns zu mir.«

Burns erschien.

»Wie viel Mann sind reisefertig?«

»Sechsundneunzig, Sir.«

»Senden Sie diese sogleich nach Norden; sie sollen sich längs der Berkley-Bahnlinie konzentrieren.«

»Sehr wohl, Sir.«

»Sie sollen ihre Bewegungen mit der äußersten Heimlichkeit ausführen. Sobald andere von den Leuten frei werden, sollen sie sich fertig machen!«

»Sehr wohl, Sir.«

»Sie können gehen.«

»Sehr wohl, Sir.«

Gleich darauf kam ein weiteres Telegramm:

 

» Sage-Corners, New York: 10.30 vorm.

Eben angelangt. Elefant kam 8.15 hier durch. Alle bis auf einen Polizisten entkamen aus der Stadt. Elefant wollte anscheinend nicht nach dem Polizisten, sondern nach einem Laternenpfahl schlagen, traf aber beide. Verschaffte mir ein Stück von dem Polizisten, um es für alle Fälle zu behalten.
Stumm, Detektiv.«

 

»Der Elefant hat sich also gegen Westen gewendet,« sagte der Inspektor. »Es wird ihm aber nichts helfen, denn meine Leute sind über die ganze Gegend zerstreut.«

 

Das nächste Telegramm besagte:

 

»Glovers: 11.15

Eben angelangt. Stadt verlassen, ausgenommen von Kranken und Greisen. Elefant kam durch vor dreiviertel Stunden. Die Anti-Mäßigkeits-Massenversammlung tagte; er steckte seinen Rüssel durchs Fenster hinein und spritzte alles voll Zisternenwasser. Einige schluckten das Wasser – starben seitdem; mehrere ertranken. Detektiv Croß und O’Shaugnessy passierten die Stadt, gingen aber südlich und verfehlten so den Elefanten. Ganze Gegend auf viele Stunden im Umkreis voll Entsetzen – Leute fliehen aus ihrer Heimat. Allenthalben stoßen sie auf den Elefanten; viele werden getötet.
Brant, Detektiv.«

 

Ich hielt kaum meine Tränen zurück, so traurig stimmte mich dieses Gemetzel, der Inspektor aber sagte nur:

»Sie sehen, wir umringen ihn. Er fühlt unsere Nähe; er hat sich wieder gegen Osten gewendet.«

Es harrten unserer bereits neue beängstigende Nachrichten. Der Telegraph meldete:

 

» Hoganport, 12.19 nachm.

Eben angelangt. Elefant kam vor einer halben Stunde hier durch, jähen Schrecken verbreitend; wütete durch die Straßen: zwei Arbeiter gingen vorüber – tötete den einen, der andere entkam.
O’Flaherty, Detektiv.«

 

»Nun ist er mitten unter meinen Leuten,« sagte der Inspektor. »Jetzt ist kein Entrinnen für ihn möglich!«

Eine Anzahl anderer Telegramme lief dazwischen ein von Detektivs, die über New Jersey und Pennsylvanien zerstreut waren. Aus zerstörten Fabriken, Scheunen und Sonntagsschulbibliotheken wiesen sie die Spur des Elefanten mit an Sicherheit grenzenden Ausdrücken nach.

Der Inspektor sagte:

»Ich wollte, ich könnte mit ihnen verkehren und sie nach Norden dirigieren, aber das ist unmöglich. Ein ›Geheimer‹ geht nur dann zum Telegraphenamt, wenn er seinen Bericht absendet; man weiß nie, wo man ihn fassen kann.«

Nun kam folgende Depesche:

 

» Bridgeport, Connecticut: 12.15 nachm.

Barnum bietet 4000 Doll. jährlich für ausschließliches Recht, Elefant als wandernde Reklame zu benützen, von jetzt an bis ihn Detektivs auffinden. Will Zirkusplakate auf ihn kleben. Verlangt umgehende Antwort.
Boggs, Detektiv.«

 

»Das ist doch zu lächerlich!« rief ich aus.

»Ja freilich,« sagte der Inspektor. »Herr Barnum, der sich für so gewitzigt hält, kennt mich offenbar nicht – aber ich kenne ihn.«

Dann diktierte er folgende Antwortdepesche:

»Herrn Barnums Anerbieten abgelehnt. Entweder Doll. 7000 oder nichts.
Inspektor Blunt.«

 

»So. Wir werden nicht lange auf Antwort zu warten brauchen. Herr Barnum ist nicht zu Hause; er ist gewöhnlich auf dem Telegraphenamt, wenn es einen Handel gilt. Vor drei Uhr –«

 

»Abgemacht. – P. S. Barnum.«

 

So unterbrach der tickende Telegraphenapparat. Ehe ich mir einen Vers machen konnte auf diesen ungewöhnlichen Zwischenfall, leitete folgende Depesche meine Gedanken in ein anderes und sehr betrübendes Fahrwasser:

 

» Bolivia, New York: 12.50 nachm.

Elefant kam hier an aus dem Süden und passierte den Wald um 11.50, er sprengte einen daherkommenden Leichenzug auseinander und verminderte die Leidtragenden um zwei. Bürger feuerten einige Schüsse aus einem kleinen Böller auf ihn ab und flohen dann. Detektiv Burke und ich langten zehn Minuten später aus dem Norden an, hielten aber ein paar Vertiefungen fälschlich für Fußstapfen und verloren so ziemlich viel Zeit; endlich aber kamen wir auf die rechte Spur und verfolgten sie bis zu den Wäldern. Wir krochen nun auf Händen und Knien vorwärts, verfolgten die Spur mit scharfem Auge und gelangten so ins Gebüsch. Burke war voraus. Unglücklicherweise hat das Tier angehalten, um auszuruhen; Burke, der auf die Spur erpicht, die Augen auf den Boden geheftet hatte, stieß plötzlich, ehe er die Nähe des Elefanten gewahr wurde, gegen dessen Hinterbeine. Burke sprang sogleich auf die Füße, ergriff den Schwanz und rief freudig aus: ›ich beanspruche die Be – –,‹ kam aber nicht weiter, denn ein einziger Schlag mit dem mächtigen Rüssel streckte den braven Burschen tot nieder. Ich floh zurück, aber der Elefant wandte sich um und verfolgte mich bis an den Rand des Gehölzes in schrecklicher Eile; ich wäre unrettbar verloren gewesen, wenn nicht zufällig der Rest des Leichenzuges dem Tiere in den Weg gekommen wäre und seine Aufmerksamkeit abgelenkt hätte. Erfahre soeben, daß von jenem Leichenzug nichts mehr vorhanden ist; schadet nichts, Stoff genug für andere vorhanden. Elefant mittlerweile wieder verschwunden.
Mulrooney, Detektiv.«

 

Wir hörten keine weiteren Neuigkeiten außer von den eifrigen und zuversichtlichen Detektivs, die über New Jersey, Pennsylvanien, Delaware und Virginia zerstreut waren – sie folgten alle frischen und vielversprechenden Spuren – bis kurz nach 2 Uhr nachmittags folgendes Telegramm ankam:

 

»Baxter-Centre: 2.15 nachm.

Elefant hier gewesen, über und über mit Zirkusplakaten beklebt; zerstreute ein Methodisten-Revivalmeeting und erschlug und verletzte viele, die eben im Begriffe waren, ein besseres Leben anzufangen. Bürger pferchten ihn ein und stellten eine Wache auf. Als Detektiv Brown und ich ankamen, betraten wir die Umzäunung und schritten zur Feststellung der Identität des Elefanten an der Hand der Photographie und des Signalements. Alle Zeichen stimmten genau, ausgenommen eines, das wir nicht sehen konnten – die Narbe unter der Achselhöhle. Um sich darüber zu vergewissern, kroch Brown unter das Tier, – er lag im nächsten Augenblick mit zerschmetterter Hirnschale am Boden. Alle flohen, so auch der Elefant, der mit viel Effekt nach rechts und links um sich schlug. Entkam, ließ aber starke Blutspuren von Böllerwunden zurück. Wiederauffindung gewiß. Brach südwärts durch einen dichten Wald; ich ihm unverzüglich nach.
Brent, Detektiv.«

 

Dies war das letzte Telegramm. Gegen Abend sank ein Nebel auf alles herab – so dicht, daß man auf drei Schritte Entfernung nicht das geringste unterscheiden konnte. Er hielt die ganze Nacht über an. Die Dampfboote und selbst die Omnibusse mußten ihre Fahrt einstellen.

III.

Am nächsten Morgen waren die Zeitungen ebenso voll Theorien wie am vorhergehenden; sie brachten ausführlich alle uns bekannten tragischen Ereignisse, dazu noch eine Menge weiterer telegraphischer Berichte, die sie von ihren Korrespondenten erhalten hatten. Spalte auf Spalte begegnete ich herzzerreißenden Artikelüberschriften. Der Grundton derselben war stets derselbe; etwa wie folgt:

»Der weiße Elefant ist los! Er schreitet weiter auf seinem verhängnisvollen Marsche! Ganze Ortschaften verlassen von den entsetzten Einwohnern! Furcht und Schrecken gehen vor ihm her, Tod und Verwüstung folgen ihm. Diesen nach die Detektivs. Scheunen verwüstet. Werkstätten beraubt. Ernten verzehrt. Öffentliche Versammlungen gesprengt, begleitet von Blutszenen, die nicht zu beschreiben sind! Berichte von vierunddreißig der ausgezeichnetsten Detektivpolizisten! Bericht des Inspektors Blunt!«

»Ah!« rief Inspektor Blunt, der Erregung nahe; »das ist prächtig! Das ist die größte Leistung, die je eine polizeiliche Organisation vollbracht hat. Die Welt wird davon sprechen.«

Für mich aber gab es keine Freude; mir war zu Mute, als ob ich alle diese blutigen Verbrechen begangen hätte und der Elefant mein unverantwortliches Werkzeug wäre. Und wie die Unfalliste angewachsen war! In einem Orte hatte er sich in »eine Wahl gemischt und fünf Agitatoren getötet.« Er hatte dieser Tat die Vernichtung zweier armer Teufel folgen lassen – armer O’Donohue, armer Mc Flannigan! – die »erst am Tage vorher in der Heimat der Unterdrückten aller Länder eine Zuflucht gefunden hatten und im Begriffe waren, zum erstenmale das kostbare Recht amerikanischer Bürger an der Urne auszuüben, als sie niedergeschmettert wurden von der mitleidslosen Hand der Geißel Siams.« An einem anderen Orte hatte er »einen verrückten Sensationsprediger niedergerannt, der eben für die nächste Saison seine heroischen Angriffe auf den Tanz, das Theater und ähnliches Teufelswerk vorbereitete.« In einem dritten Orte hatte er »einen Blitzableiteragenten erschlagen.« Und so ging die Liste weiter und wurde immer blutiger und herzzerreißender. Sechzig Personen hatte er getötet, zweihundertvierzig verwundet. Alle Berichte legten vollgültiges Zeugnis ab von der Tätigkeit und dem hingebenden Eifer der Detektivs, und alle schlössen mit der Bemerkung, daß »dreimalhunderttausend Bürger und vier Detektivs das schreckliche Wesen sahen, sowie daß er zwei von letzteren ums Leben brachte.«

Nur mit Angst hörte ich von neuem das Ticken des Telegraphenapparates; es regnete förmlich Depeschen, aber glücklicherweise rechtfertigte ihr Inhalt meine Befürchtungen nicht. Es stellte sich bald heraus, daß jede Spur des Elefanten verloren war: der Nebel hatte es ihm ermöglicht, sich unbemerkt ein gutes Versteck zu suchen. Telegramme von Punkten, die lächerlich weit entfernt waren, berichteten, daß man zu der und der Stunde eine ungeheure trübe Masse durch den Nebel habe schimmern sehen! Es sei das »unzweifelhaft der Elefant gewesen.« Diese trübe ungeheure Masse hatte man in New Haven, in New Jersey, in Pennsylvania, im Staate New York, in Brooklyn und sogar in der City von New York selbst gesehen! Immer aber war die trübe ungeheure Masse rasch wieder verschwunden, ohne eine Spur zu hinterlassen. Jeder von den Hunderten über diese ungeheure Landstrecke zerstreuten Detektivs sandte stündlich seinen Rapport, und jeder hatte eine Spur, verfolgte sie und war dem Elefanten dicht auf den Fersen.

Aber der Tag verging ohne weiteres Resultat. Ebenso der nächste Tag. Der dritte desgleichen.

Die Zeitungsberichte mit ihren nichtssagenden Tatsachen, ihren Spuren, die zu nichts führten, und ihren blendenden, sinnverwirrenden Theorien, fingen an, langweilig zu werden.

Auf den Rat des Inspektors verdoppelte ich die Belohnung.

Vier weitere eintönige Tage folgten; dann kam ein schwerer Schlag für die armen geplagten Detektivs – die Zeitungen lehnten es ab, ihre Konjekturen zu drucken, und sagten kühl: Laßt uns in Ruhe.

Vierzehn Tage nach dem Verschwinden des Elefanten erhöhte ich auf des Inspektors Rat die Belohnung auf 75 000 Dollars. Es war das eine große Summe; aber ich wollte lieber mein ganzes Vermögen opfern, als mein Ansehen bei der Regierung einbüßen. Jetzt, da die Detektivs in Nöten waren, begannen die Zeitungen über sie herzufallen und die beißendsten Sarkasmen gegen sie zu schleudern. Das war Futter für die Bänkelsänger! Sie kostümierten sich als Detektivs, und führten auf der Bühne die Jagd nach dem verlorenen Elefanten auf. Die Karrikaturenzeichner entwarfen Skizzen von Detektivs, die das Land mit Feldstechern absuchten, während der Elefant hinter ihrem Rücken Apfel aus den Taschen holte, und machten das Wappenzeichen der Detektivs – ein weitgeöffnetes Auge mit der Devise: »Wir schlafen nie« – auf alle mögliche Weise lächerlich. Die Luft war geschwängert mit Sarkasmen.

Aber einen Mann gab es, der bei alledem ruhig, gelassen und unerschütterlich blieb – es war jenes eichenfeste Herz, der Inspektor Blunt. Sein kühnes Auge senkte sich nie, seine heitere Zuversicht wankte nie; er wiederholte nur:

»Laßt sie spotten; wer zuletzt lacht, lacht am besten.«

Meine Bewunderung für den Mann grenzte an Vergötterung. Ich war stets an seiner Seite. Sein Büro war ein qualvoller Aufenthalt für mich geworden und wurde es täglich mehr; doch solange er es dort aushalten konnte, war auch ich entschlossen zu bleiben – solang als irgend möglich. So kam ich denn regelmäßig und blieb – zu jedermanns Verwunderung. Es war mir oft, als müsse ich davonlaufen; wenn ich dann aber in jenes ruhige und anscheinend leidenschaftslose Antlitz blickte, hielt ich wieder stand.

Etwa drei Wochen nach dem Verschwinden des Elefanten war ich eines Morgens eben im Begriff zu sagen: ich werde die Segel streichen und mich zurückziehen müssen, als der große Detektiv diesen feigen Gedanken wieder zurückscheuchte, indem er einen neuen meisterhaften Schachzug vorschlug – nämlich, mit den Dieben einen Kompromiß zu schließen. Die Fruchtbarkeit der Erfindungsgabe dieses Mannes überstieg alles, was ich je erlebt, und das will etwas sagen, war ich doch mit den auserlesensten Geistern der Welt in Berührung gekommen. Er sagte, er sei der besten Zuversicht, daß er für 100 000 Dollars einen Kompromiß schließen und den Elefanten wieder erlangen könne. Ich sagte, ich würde am Ende die Summe aufbringen können; aber was sollte mit den armen Detektivs werden, die so wacker gearbeitet hatten? Er entgegnete:

»Bei Kompromissen bekommen sie stets die Hälfte.« Das beseitigte meinen einzigen Einwand, und so schrieb denn der Inspektor zwei Noten wie folgt:

 

»Werte Frau, – Ihr Gatte kann sich viel Geld machen (und das ganz ohne Gefahr vor dem Strafgesetz), wenn er sich sogleich bei mir einfinden will.
Chef Blunt.«

 

Von diesen beiden Noten sandte er die eine durch seinen vertrauten Boten an die ›wohlgeborene Frau‹ Brick Duffys, die andere an die ›wohlgeborene Frau‹ des roten Mc Fadden.

Innerhalb einer Stunde kamen folgende beiliegende Antworten zurück:

 

»Sie alter Narr! Brick Mc Duffy ist gestorben, schon vor zwei Jahren.
Bridget Mahoney.«

 

»Chef-Nachteule, – der rote Mc Fadden ist gehangen und im Himmel seit achtzehn Monaten. Jeder Esel außer einem Detektiv weiß das.
Mary O’Hooligan.«

 

»Ich hatte das lange vermutet,« sagte der Inspektor; »es beweist mir nur die nie irrende Schärfe meines Instinkts.«

Sobald ein Mittel sich als erfolglos erwies, war er nie um ein anderes verlegen. Er schrieb sogleich ein Inserat für die Morgenblätter, von dem ich eine Abschrift aufbewahre –

»A. – xwblv. 142 N. Tjnd – fz 328 wmlg. Ozpo,–; 2 m! ogw. Mum.«

»Lebt der Dieb noch,« erklärte mir der Inspektor, »so wird ihn das sicher an den gewöhnlichen Rendezvousplatz bringen.« Es sei dies ein Platz, wo alle geschäftlichen Angelegenheiten zwischen Detektivs und Verbrecher abgemacht werden. Die gesuchte Begegnung solle in der nächsten Nacht um zwölf Uhr stattfinden. Bis dahin war nichts zu tun; ich verließ also ohne Verzug und dankbaren Herzens das Büro.

Um elf Uhr in der nächsten Nacht legte ich 100 000 Dollars in die Hände des Inspektors, und gleich darauf verabschiedete er sich, die heldenmütige alte ungetrübte Zuversicht in seinen Augen. Eine fast unerträglich lange Stunde schlich zu Ende, da hörte ich seinen willkommenen Tritt, erhob mich keuchend und wankte ihm entgegen. Wie seine schönen Augen im Triumph glänzten! Er sagte –:

»Wir haben einen Vergleich geschlossen! Die Spötter werden morgen ein anderes Lied singen! Folgen Sie mir!«

Er ergriff eine brennende Kerze und schritt voran, hinab in das ungeheure gewölbte Erdgeschoß, wo fortwährend sechzig Detektivs schliefen und wo jetzt etwa zwanzig Karten spielten, um sich die Zeit zu vertreiben. Ich folgte ihm auf den Fersen. Er schritt rasch hinab an das düstere, ferne Ende des Platzes, und in dem Augenblick, da ich in der dicken Stickluft ohnmächtig umsank, strauchelte und fiel er über die ausgestreckten Gliedmaßen eines mächtigen Körpers, und ich hörte ihn gerade noch beim Hinfallen ausrufen:

»Unser edler Beruf ist gerechtfertigt. Hier ist Ihr Elefant!«

Ich wurde in das Büro hinaufgetragen und mit Karbolsäure wieder zum Bewußtsein gebracht. Die ganze Detektivmannschaft schwärmte herein, und es folgte eine Siegesfeier, wie ich noch keine erlebt hatte. Die Reporter wurden geholt, der Champagner floß in Strömen, Toaste wurden ausgebracht, die Händedrücke und Beglückwünschungen waren enthusiastisch und wollten kein Ende nehmen. Der Chef war natürlich der Held des Tages, und sein Glück war so vollständig und es war mit so viel Ausdauer, Würde und Bravour verdient worden, daß es mich beglückte, Zeuge davon zu sein; obgleich ich dastand als ein heimatloser Bettler; – denn mein unschätzbarer Schutzbefohlener war tot und ich meiner Stellung im Dienste meines Vaterlandes verlustig, weil ich unmöglich den üblen Schein, als habe ich das in mich gesetzte hohe Vertrauen durch eine sorglose Ausführung meines Auftrags getäuscht, von mir abzuwenden vermochte. Manches beredte Auge bezeugte seine hohe Bewunderung für den Chef, und manches Detektivs Stimme murmelte: »Seht ihn an, den König der Profession – gebt ihm nur die Spur von einer Spur, – und es bleibt nichts vor ihm verborgen.« Die Teilung der 50 000 Dollars machte viel Vergnügen; als sie vollzogen war, hielt der Chef, während er seinen Anteil in die Tasche steckte, eine kleine Rede, in der er sagte: »Genießt das Geld, denn ihr habt es verdient; und mehr als das – ihr habt unserem schönen Berufe unsterblichen Ruhm erworben.«

 

Ein Telegramm langte an, folgenden Inhalts: –

 

» Monroe, Michigan: 10. – nachm.

Zum erstenmal seit drei Wochen erreichte ich eben ein Telegraphenamt. Folgte jenen Fußstapfen zu Pferde durch die Wälder, etwa zweihundert Meilen bis hieher: sie werden täglich stärker, größer und frischer. Quälen Sie sich nicht unnötig ab – ehe acht Tage verflossen sind, habe ich den Elefanten – auf mein Wort!
Darley, Detektiv.«

 

Der Chef brachte drei Hochrufe aus auf »Darley, einen der feinsten Köpfe unter der Mannschaft,« in welche sämtliche Anwesenden begeistert einstimmten; dann ließ er an Darley telegraphieren, er möge heimkehren und seinen Anteil an der Belohnung in Empfang nehmen.

 

So endete jene wunderbare Episode von dem gestohlenen Elefanten. Die Zeitungen waren am nächsten Tage wieder voll Anerkennung – mit einer nichtssagenden Ausnahme. Ein Blatt schrieb nämlich: »Groß ist der Detektiv! Er mag im Auffinden eines kleinen Gegenstandes, wie es ein verlorener Elefant ist, ein wenig langsam sein – er mag ihn drei Wochen lang den ganzen Tag verfolgen und des Nachts neben seinem verwesenden Kadaver schlafen, aber er wird ihn endlich finden, – sobald er nur den Mann, der den Elefanten verloren hat, dahin bringt, ihm den Platz zu zeigen.«

Der arme Hassan war auf ewig für mich verloren. Die Böllerschüsse hatten ihn tödlich verwundet. Er war im Nebel an jenen düsteren Platz gekrochen; und dort, umgeben von seinen Feinden und fortwährend in Gefahr entdeckt zu werden, war er dahingeschwunden vor Hunger und Leiden, bis der Tod ihn erlöste.

Der Kompromiß kostete mich 100 000 Dollars; meine Auslagen für die Detektivs betrugen weitere 42 000 Dollars; ich bewarb mich nie wieder um eine Anstellung im Dienste meiner Regierung; ich bin ein ruinierter Mann und ein unstäter Wanderer auf Erden – aber meine Bewunderung für jenen Mann, den ich für den größten Geheimpolizisten halte, welchen die Welt hervorgebracht hat, bleibt unvermindert bis auf diesen Tag und wird so bleiben bis an mein seliges Ende.

  1. Barnum, der bekannte Schaubudenbesitzer und Meister in der Kunst der Reklame.
  2. Religiöse Versammlung von Wanderpredigern, meist auf offenem Felde abgehalten.

Eine wahre Geschichte

Eine wahre Geschichte

(Gerade so wiedererzählt, wie ich sie gehört habe)

Es war im Sommer, zur Dämmerstunde. Wir saßen alle unter dem Vordach des Landhauses, Tante Rahel in bescheidener Ehrerbietung etwas tiefer wie wir auf den Stufen, denn sie war unsere Magd und eine Farbige. Von hohem Wuchs und gewaltigem Körperbau, hatte sie trotz ihrer sechzig Jahre ihre alte Kraft bewahrt und ihr Augenlicht war noch ungeschwächt. Der braven, lustigen Seele war das Lachen so natürlich wie einem Vogel das Singen. Wie gewöhnlich nach beendetem Tagewerk stand sie auch jetzt wieder im Feuer, das heißt, sie wurde unbarmherzig geneckt, und das machte ihr großes Vergnügen. Sie brach wieder und wieder in schallendes Gelächter aus und wenn sie keinen Atem mehr hatte, hielt sie ihren Kopf mit beiden Händen fest und schüttelte sich im Übermaß der Wonne und des Entzückens.

»Tante Rahel,« sagte ich zu ihr, als sie dies wieder einmal tat, »wie kommt es, daß du sechzig Jahre alt geworden bist und gar nichts Trauriges erlebt hast?«

Da war ihr Lachkrampf vorüber; sie schwieg einen Augenblick, sah über die Schulter nach mir hin und alle Fröhlichkeit war von ihr gewichen.

»Ist das Ihr Ernst, Mista Charles?« fragte sie.

Das überraschte mich sehr und mir verging die scherzhafte Stimmung.

»Je nun,« entgegnete ich betroffen, »ich dachte – das heißt, ich meinte nur, – du könntest doch unmöglich jemals Kummer gehabt haben. Noch nie habe ich einen Seufzer von dir gehört, und wenn ich dich sehe, lachst du immer über’s ganze Gesicht.« Sie drehte sich jetzt vollends herum und sah mich mit großer Ernsthaftigkeit an.

»Ich – keinen Kummer? – Hören Sie Mista Charles, ich erzählen will alles und dann sagen Sie sich’s selber. Ich bin geboren unter Sklaven, ganz da unten und weiß alle Dinge von die Sklaverei, weil ich selbst gewesen eine. Nun also, mein Alter – das heißt mein Mann – der war lieb und gut zu mir, wie Mista zu seiner eigenen Frau. Sieben Kinder wir haben gehabt und sie geliebt haben wie Mista liebt seine Kinder. Sie schwarz gewesen, aber uns‘ Herrgott können nicht machen Kinder so schwarz, daß ihre eigene Mutter sie nicht liebt und für nichts in der ganzen Welt hergeben will.

Nun, Mista Charles, groß geworden ich bin im alten Virginien, aber meine Mutter, sie stammte aus Maryland. – Mein‘ Seel‘, wenn die in Zorn geriet, das schrecklich war; sie konnte den Leuten die Pelz waschen, daß die Haare flogen. Wenn sie so recht im Harnisch war, dann sie hatte immer bloß eine Wort, die sie sagte. Sie reckte hoch sich in der Höhe, stemmte die Fäuste in die Seite und sagte: ›Na, wartet, ich das werd‘ euch lehren! Ihr denkt wohl, ich stamm‘ aus ’nem Bettelsack und wollt mich narren, ihr Lumpenpack? Ich bin von die alte blaue Henne ihren Hühnchen, daß ihr’s wißt!‹ – Sehen Sie, so Leute sich nennen, die in Maryland sind geboren und sind stolz darauf. Ja, ja, sie sagte das immer, und ich vergeß‘ es mein Lebtag nicht, weil sie sagte es so oft und auch einmal, als mein kleiner Henry sich hatte einer Loch in die Kopf gefallen, gerade auf der Stirn und seine Handgelenk blutig gerissen – o schrecklich! Und die Nigger, sie kamen nicht gleich herbeigeflogen, das Kind zu helfen. Da war meine Mutter furchtbar böse und sie trat vor sie hin und sagte: ›Na wartet, ihr Nigger, ich das werd‘ euch lehren! Ihr denkt wohl, ich stamm‘ aus ’nem Bettelsack und wollt mich narren, ihr Lumpenpack? Ich bin von die alte blaue Henne ihren Hühnchen, daß ihr’s wißt!‹ Dann trieb sie sie alle aus die Küche ‚raus und verband die Kind selbst. Da hab‘ ich mich das angewöhnt, und wenn der Ärger über mich kommt sag‘ ich auch das Wort von meine Mutter.

Nu also, mit der Zeit, meine alte Missis sagt einmal, mit ihr wär‘ alles aus, sie muß verkaufen ihre Platz und alle Nigger. Wie ich aber höre, daß sie uns wollte verkaufen auf dem Markt in Richmond – o du meine Güte, das Schrecken! Ich wußte ja, was der Glocke hat geschlagen.«

(Tante Rahel war allmählich im Eifer ihrer Erzählung aufgestanden; ihre große Gestalt ragte jetzt über uns hinaus und hob sich schwarz und deutlich ab vom Sternenhimmel.)

»Sie legten uns in Ketten und stellten uns auf eine Tritt so hoch wie der Vordach. Und die Leute standen herum, viele Haufen. Sie kamen da ‚rauf und besahen uns von vorn und von hinten, sie drückten unser Arme, machten uns stehen und gehen und sagten dann: der ist zu alt; der taugt nichts mehr. Der ist lahm. Der ist nicht viel wert. Und sie verkauften mein alter Mann und führten ihn weg. Dann fangen sie an und verkaufen meine Kinder und nehmen sie fort. Ich laut heule, aber die Mann sagt: Laß deine verdammte Gewinsel, und schlägt mich mit sein Hand auf meine Mund. Wenn alle fort sind bis auf mein kleiner Henry, ich presse ihn ganz fest an meine Brust und trete hin und schrei: ›den ihr dürft nicht nehmen mit, nein, nein, wer ihn anrührt den schlagen ich tot.‹ Aber mein kleiner Henry, er spricht mir ins Ohr: ›Ich tu‘ weglaufen, und dann arbeiten ich und kaufen dich los.‹ Gott segne die Kind, es war immer so gut! – Und das Kerle, sie kommen und nehmen ihn, aber ich sie packen und reißen sie die Kleider vom Leibe und schlage sie mit meine Kette über die Kopf. Sie haben’s tüchtig wiedergegeben mir, freilich – aber was kümmerten mich das!

Nu also, mein Alter war fort und meine Kinder – meine ganzen sieben Kinder – und sechs davon ich habe nie wieder mit Augen gesehen bis zum heutigen Tag – zweiundzwanzig Jahr letzte Ostern. Mich kaufte ein Mann aus Newbern und hat gebracht mich dorthin. Dann vergehen die Jahre und der Krieg kommt. Mein Massa war ein Oberst von die Konförderierte und ich Köchin in seine Familie. Wie aber die Unioner kommen und einnehmen die Stadt, sind sie alle fortgelaufen und mich allein gelassen haben mit die andern Nigger in Massas großes Haus. Nun die großen Offiziers von die Unioner sind eingezogen und haben mich gefragt, will ich kochen vor ihnen. ›Na Herrje, freilich,‹ sage ich, ›zu was wär‘ ich sonst da?‹

Das sind keine so kleine Offiziers gewesen, nein, von die allergrößten, und wie die ihre Soldaten ‚rumschwenken ließen! Der General zu mir sagt, ich soll die Kommando haben über das Küche und alle rausjagen, die sich mengen wollen in meinen Sachen. ›Nur nicht fürchten dich,‹ sagte er, ›du jetzt bist unter guten Freunden.‹

Na, ich denken bei mir, wenn mein kleiner Henry Gelegenheit gefunden zum Fortlaufen, so ist er natürlich nach das Norden. Und eine Tag ich gehe ins Wohnzimmer, wo die großen Offiziers sind, mache eine Knix und fange an zu erzählen von mein kleiner Henry, und sie hören meine traurige Geschichte zu, gerade als ob ich eins von die weiße Leut‘ wär‘. Und ich sage: ›Weswegen ich komme, das ist, weil, wenn er ist fortgelaufen und nach das Norden, wo die Herrens herkommen, sie ihn haben vielleicht gesehen und können mir sagen, wo ich ihn finden wieder. Er ganz klein ist und hat eine Narben am linken Handgelenk und oben auf die Stirn.‹ Dann machten sie betrübte Gesicht und der General fragt: ›Wie lange ist es her, seit man dir die Kind genommen hat?‹ Und ich sage: ›Dreizehn Jahr.‹ ›Dann ist er jetzt nicht mehr klein,‹ antwortet der General, ›er ist ein Mann.‹

Daran ich hatt‘ vorher nie noch gedacht, er war für mich noch immer die kleine Junge, mir war nie eingefallen, daß er gewachsen und groß geworden sein muß. Aber nun ich es verstand. Keiner von den Offiziers war ihm begegnet und sie konnten mir nicht helfen. Aber die ganze Zeit, ohne daß ich’s wußte, vor vieler Jahr, war mein Henry schon fort nach das Norden und war eine Barbier, der für eigener Rechnung arbeiten tat. Wie aber die Krieg kam, da er hat gesagt: ›Jetzt ich laß das Bartscheren und gehe meine alte Mutter zu suchen, wenn es nicht schon tot ist.‹ So verkauft er sein Sach‘ und geht hin, wo sie Soldaten werben und verdingt sich als Bursche bei die Oberst. Nun er marschiert überall mit durch allen Schlachten, sein alte Mutter zu finden, erst er war bei eine Offizier, dann bei eine andere, bis er ist gezogen durch das ganzen Süden. Aber von das alles wußt‘ ich nicht ein Sterbenswort. Wie ich’s sollt‘ auch wissen?

Nun, eine Abend hatten wir großer Soldatenball. Die Soldaten in Newbern immerzu wollten tanzen und jubeln, und sie tanzten oft und oft in meine Küche, weil die ist so arg groß. Nun wissen Sie, mir gar nicht das gefiel, weil ich diente die Offiziers, und es ärgerte mich zu sehen die gemeine Soldaten ihre Sprünge machen in meine Küche. Aber ich blieb immer dabei und sah nach das Rechte und wenn sie trieben es zu arg und ich einen Zorn kriegte, dann ‚raus mit sie aus meine Küche – hast du nicht gesehen!

Also einmal – Freitag abend – da kam eine ganze Bataillon von das Nigger-Regiment, das die Wache hatte beim Haus – die Haus war der Hauptquartier, wissen Sie. Da kocht alles inwendig bei mir. Ich bin im hellen Zorn und nur warte drauf, daß sie was tun, daß ich könnte drunter hineinfahren. Und sie walzten und sprangen herum, heisahopsasa – und ich schwoll und schwoll vor Wut. Nicht lange, so kommt da ein junger Springinsfeld von Nigger gesegelt daher, den Arm um seine gelbe Tänzerin; sie drehen und schwingen sich im Kreise, rund, rund, rund, daß einem ganz wirbelig wird, sie anzusehen. Und als sie dicht vor mir sind da hopsen sie erst auf eine Fuß, dann auf die andere und lachen über meine große rote Kopftuch und trieben ihren Spaß. Da ich fahre auf sie los und sage: ›Macht, daß fortkommt ihr, ihr Gesindel!‹ Da wird das Gesicht von der junge Nigger auf einmal ernst, aber nur einen Augenblick, dann war er wieder lustig und lachte wie zuvor. Indem kommt eine ganze Bande Nigger herein, die wo die Musik machen und immer so vornehm tun. Aber sobald sie das an die Abend versuchen, fahre ich auf sie ein. Sie lachten und da es wurde noch ärger. Die andern Nigger fangen auch an zu lachen und nun ich war wie ein Feuerbrand. Ich reckte mich in der Höhe, so – gerade wie jetzt – fast bis an die Decke, stemmte die Fäuste in die Seite und jagte: ›Na, wartet, ihr Nigger, ich das werd‘ euch lehren. Ihr denkt wohl ich stamm‘ aus ’nem Bettelsack und wollt mich narren, ihr Lumpenpack? Ich bin von die alte blaue Henne ihren Hühnchen, daß ihr’s wißt!‹ Da stand die junge Mann stocksteif da, die Augen nach das Decke, als ob er was vergessen hätt‘ und sich nicht mehr erinnern könnt‘. Ich aber gehe den Niggers zu Leibe, wie eine richtige General, und sie nehmen Reißaus und drängen nach die Tür. Und wie die junge Mann rausgeht, hör‘ ich, wie er zu einem andern Nigger sagt: ›Jim‹, sagt er, ›geh mal hin und sag‘ die Hauptmann, ich würd‘ morgen früh um acht zur Hand sein; aber ich hab‘ was auf dem Herzen, schlafen ich kann heute nacht nicht mehr, geh, laß mich allein.‹

Das war um ein Uhr in der Nacht, und wie es sieben Uhr schlug, war ich auf und hantierte herum, den Offiziers zu machen das Frühstück. Wie ich mich nun zu die Ofen bücke – grade als wär‘ Ihr Fuß die Ofen – und die Türe aufmache mit meine Hand und zurückstoße sie – wie jetzt Ihre Fuß – und die Pfanne mit das heiße Backwerk in die Hand halte und aufstehen will – da sehe ich ein schwarzes Gesicht sich vor meines hinschieben und mir in die Augen schauen – – grade wie ich jetzt ansehe Sie – ich rühre mich nicht und gucke und gucke nur in einem fort – so – bis die Pfanne zu zittern anfängt – und auf einmal – da wußt‘ ich’s. Die Pfanne liegt am Boden und ich packe ihn an der linken Hand, schiebe den Ärmel zurück – grade so, wie ich’s mache mit Sie, und dann kommt das Stirn an die Reihe und ich streiche seine Haar zurück, so – und ›Junge,‹ sag‘ ich, ›wenn du nicht mein Henry bist, wie du kommst zu die Narbe am Handgelenk und die Schramme auf die Stirn? – Der Herrgott im Himmel gepriesen sei, ich habe meine Herzensjunge wieder!‹

Ja, ja, ich hab‘ Kummer gehabt – aber auch Freude, Mista Charles – auch Freude!«

  1. Herrin.
  2. Herr.

Wie Hadleyburg verderbt wurde

Wie Hadleyburg verderbt wurde

I.

Vor vielen, vielen Jahren war Hadleyburg in der ganzen Gegend wegen seiner Rechtschaffenheit allgemein bekannt. Es hatte sich diesen Ruhm, der seinen größten Stolz ausmachte, schon seit drei Generationen unbefleckt erhalten. Damit der Stadt nun auch in Zukunft nichts davon verloren ginge, war man eifrig bemüht, bereits dem Säugling in der Wiege feste Grundsätze der Ehrlichkeit in Handel und Wandel einzuflößen und die ganze spätere Erziehung der Kinder auf solchen Lehren weiterzubauen. Man sorgte vor allem dafür, daß ihnen während der Entwickelungsjahre jede Versuchung ferngehalten wurde, damit die redliche Gesinnung Zeit hätte, sich zu befestigen und ihnen sozusagen in Mark und Knochen überzugehen. Alle Nachbarstädte waren eifersüchtig, weil Hadleyburg sie an Rechtschaffenheit weit übertraf, und spotteten darüber, daß es sich auf seinen Ruf so viel einbildete. Aber trotzdem konnten sie nicht umhin, anzuerkennen, daß in der Stadt wirklich die unbestechlichste Redlichkeit herrschte, ja sie mußten sogar zugeben, daß es für jeden jungen Mann, der aus Hadleyburg stammte, keiner andern Empfehlung bedurfte, wenn er seinen Geburtsort verließ, um sich auswärts eine Vertrauensstellung zu suchen.

Einmal hatte die Stadt jedoch im Laufe der Zeit das Unglück gehabt, einem durchreisenden Fremden eine – vielleicht ganz absichtslose – Kränkung zuzufügen. Die Hadleyburger machten sich natürlich keinen Kummer über so etwas, denn sie waren sich selbst genug und das Urteil fremder Leute ließ sie völlig gleichgültig. Dennoch hätten sie klüger getan, sich diesen Fall mehr zu Herzen zu nehmen, weil der Beleidigte ein verbitterter Mensch von rachsüchtiger Gemütsart war. Ein ganzes Jahr lang dachte er auf allen seinen Wanderungen nur an die erlittene Kränkung und benutzte jeden freien Augenblick, um auf ein Mittel zu sinnen, wie er sich volle Genugtuung verschaffen könne. Ihm fiel mancher gute Plan ein, aber keiner, der ihn ganz befriedigte. Das alles hätte nur eine mehr oder minder große Zahl der Bewohner geschädigt, und er wollte etwas ausfindig machen, wobei die ganze Stadt in Mitleidenschaft gezogen würde und auch nicht ein einziger Mensch mit heiler Haut davon käme. Endlich geriet er auf einen glücklichen Gedanken und helle Schadenfreude blitzte ihm aus den Augen, als der Plan ihm durch den Kopf fuhr. Sofort stand sein Entschluß fest: »Ja, so will ich’s machen,« sagte er bei sich, »ich will die Stadt verführen und verderben.«

Ein halbes Jahr war vergangen, da fuhr der Fremde eines Abends gegen zehn Uhr vor dem Hause des alten Bankkassierers in Hadleyburg vor. Er holte einen Sack aus seinem Einspänner, lud ihn auf die Schulter und schwankte unter der Last über den Hof bis zur Haustür, wo er anklopfte. »Herein!« rief eine Frauenstimme. Der Fremde betrat das Wohnzimmer, stellte den Sack hinter den Ofen und wandte sich dann in höflichem Ton an die alte Dame, die, in ihrem Missionsblatt lesend, bei der Lampe saß:

»Ich will Sie nicht stören; behalten Sie bitte Platz, Madame. So, jetzt habe ich den Sack so gut wie möglich verborgen; kein Mensch würde etwas davon merken. Könnte ich wohl ihren Mann einen Augenblick sprechen?«

»Nein; er ist nach Brixton gefahren und wird schwerlich vor morgen früh heimkehren.«

»So? – Nun, das schadet weiter nichts. Ich wollte ihm nur diesen Sack übergeben, mit der Bitte, ihn seinem rechtmäßigen Eigentümer zuzustellen, sobald dieser sich findet. Ich bin hier fremd und Ihr Mann kennt mich nicht. Auf meiner Durchreise wünschte ich, diese Sache, welche mir schon lange am Herzen liegt, ein für allemal zu erledigen. Das ist jetzt geschehen, und ich kann stolz und zufrieden weiterziehen. An dem Sack ist ein Zettel befestigt, aus dem Sie alles Nähere erfahren werden. Gute Nacht, Madame!«

Die alte Dame war froh, als der geheimnisvolle Fremde wieder fortging, denn sie fürchtete sich vor dem großen, starken Mann. Doch konnte sie ihre Neugierde nicht lange bezähmen; sie band das Papier von dem Sack los und begann zu lesen:

»Sie haben die Wahl, ob Sie dies veröffentlichen, oder auf privatem Wege Erkundigungen nach dem richtigen Manne einziehen wollen; eins ist so gut wie das andere. – Der Sack enthält Goldmünzen im Gewicht von 160 Pfund vier Loth –«

»Ums Himmels willen – und die Tür ist nicht verschlossen!«

An allen Gliedern bebend, stürzte Frau Reichard nach der Tür und drehte den Schlüssel um. Dann schloß sie auch die Fensterladen und blieb mitten in der Stube in ängstlichem Sinnen stehen, ob sie nicht noch etwas für die Sicherung des Goldes und ihrer eigenen Person tun könne. Eine Weile horchte sie gespannt auf etwaige Einbrecher, dann trieb die Neugierde sie wieder zu ihrer Lampe zurück und sie las die Schrift bis ans Ende:

»Ich bin ein Ausländer und kehre jetzt in meine Heimat zurück, die ich nicht wieder zu verlassen denke. Für alles Gute, das ich unter dem Schutz des Sternbanners genossen habe, werde ich Amerika stets erkenntlich bleiben. Ganz besonderen Dank schulde ich aber einem amerikanischen Bürger und Bewohner Hadleyburgs, der mir vor etwa zwei Jahren die größte Freundlichkeit erwies. Eigentlich hat er mir sogar einen doppelten Dienst geleistet, wie ich des näheren erklären will: Ich hatte mich beim Glücksspiel zu Grunde gerichtet und kam spät abends hungrig und ohne einen Heller in der Tasche hier im Orte an. Bei Tage hätte ich mich geschämt zu betteln, aber im Dunkel der Nacht bat ich einen Herrn auf der Straße um Hilfe. Ich war an den Rechten gekommen. Er schenkte mir zwanzig Dollars und gab mir dadurch nicht nur das Leben wieder, sondern machte mich auch zum reichen Manne. Denn mit jenen zwanzig Dollars gewann ich mir ein Vermögen am Spieltisch. Zugleich aber tat er eine Äußerung, die ich bis auf den heutigen Tag nicht vergessen kann; sie hat mich zur Besinnung gebracht und mir geholfen, meine Spielerleidenschaft zu überwinden. Jetzt bin ich ganz davon geheilt. Leider habe ich keine Ahnung, wer der Mann ist, doch wünsche ich, ihn zu entdecken, denn für ihn ist dies Gold bestimmt. Er kann damit tun, was er will, es verschenken, es fortwerfen oder behalten, ganz nach Belieben. Es soll nur der Ausdruck meiner Dankbarkeit sein. Könnte ich mich längere Zeit hier aufhalten, so würde ich selbst nach ihm suchen, bis ich ihn fände; aber ich zweifle nicht, daß man es auch ohne meinen Beistand bewerkstelligen wird, und setze mein ganzes Vertrauen auf die wohlbekannte Rechtschaffenheit der Bewohner dieser Stadt. Mein Wohltäter wird sich gewiß noch der Äußerung erinnern, die er mir gegenüber getan hat und sich dadurch als der richtige Mann ausweisen.

»Falls Sie vorziehen, die Nachforschung auf privatem Wege zu betreiben, brauchen Sie bloß den Inhalt dieses Schreibens demjenigen Ihrer Mitbürger kund zu tun, welcher Ihrer Ansicht nach der richtige Mann sein könnte. Sagt er dann: ›Ja, der bin ich, meine Äußerung lautete so und so,‹ dann machen Sie die Probe: Wenn Sie den Sack öffnen, werden Sie darin einen versiegelten Umschlag finden, der die bewußte Äußerung enthält. Stimmt dieselbe mit den Worten des Mannes überein, so kann er den Sack ohne alles weitere mitnehmen, denn er ist sicherlich der Rechte.

»Ziehen Sie aber ein öffentliches Verfahren vor, dann lassen Sie meine Zuschrift im hiesigen Tageblatt abdrucken, nebst den folgenden Bedingungen: Am dreißigsten Tage nach dem heutigen Datum soll sich der Bewerber um acht Uhr abends auf dem Rathaus einfinden und dem Herrn Pastor Burgeß (falls dieser so freundlich sein will, die Mühe zu übernehmen) ein versiegeltes Papier abgeben, welches die bewußte Aeußerung enthält. Hierauf soll Herr Burgeß die Siegel des Sacks zerbrechen, denselben öffnen und sich überzeugen, ob die Worte gleichlautend sind. Ist dies der Fall, so bitte ich ihn, meinem wiedergefundenen Wohltäter das Gold als Beweis meiner aufrichtigen Dankbarkeit einhändigen zu wollen.«

 

Der Zettel hatte Frau Reichard ungewöhnlich aufgeregt, sie mußte sich niedersetzen. Bald war sie ganz in Gedanken versunken, die ihr im Kopf durcheinander schwirrten. »Was für eine sonderbare Geschichte! … Der gute Mann, der damals aufs Geratewohl so großmütig war, kann wirklich von Glück sagen! … Wenn es nur mein Eduard gewesen wäre – wir sind zwei so arme alte Leute und hätten’s gut brauchen können! …« Sie seufzte. – »Mein Mann würde einem Fremden nicht zwanzig Dollars geben, nein, sicher nicht … Leider, leider ist das außer Frage … Aber das Gold ist ja im Spiel gewonnen! Mir schaudert, wenn ich nur daran denke. Es ist Sündengeld! Das könnten wir doch nicht annehmen; nicht mit einem Finger würden wir es berühren. Schon seine bloße Nähe scheint mir eine Entwürdigung.« – Sie rückte ihren Stuhl in die äußerste Ecke … »Wenn nur Eduard käme und den Sack auf die Bank trüge. Es ist zu schrecklich, so ganz allein mit dem Gold bleiben zu müssen, ohne Schutz vor Dieben.« –

Um elf Uhr kehrte Reichard heim. »Wie freue ich mich, daß du wieder da bist,« rief ihm seine Frau entgegen. Er aber grollte: »Ich bin ganz abgehetzt und müde zum umfallen. Es ist wirklich arg, daß ich so arm bin und noch in meinem Alter diese elenden Fahrten machen muß. Fort und fort in der Tretmühle stecken bei dem lumpigsten Gehalt – Sklavenarbeit für einen andern tun, der unterdessen behaglich daheim im Lehnstuhl sitzt – es ist nicht zum aushalten!«

»Du weißt wohl Eduard, wie leid mir das tut. Aber wir haben doch unser tägliches Brot und unsern guten Namen, das ist wenigstens ein Trost.«

»Freilich, freilich, Mary, das ist die Hauptsache. Höre nur nicht auf mein Gerede. Mich hat der Ärger einen Augenblick übermannt; es hat nichts auf sich. Gib mir einen Kuß! So, jetzt ist schon alles wieder gut; du sollst keine Klage mehr hören. Was hast du denn aber bekommen? Was ist in dem Sack?«

Nun erzählte die Frau das große Geheimnis, und ihm wurde zuerst ganz schwindelig zu Mute. Endlich sagte er:

»Der Sack ist hundertsechzig Pfund schwer. Aber Mary – das sind ja vierzigtausend Dollars – ich bitte dich – ein ganzes Vermögen, wie es kaum zehn Menschen hier am Ort besitzen. Wo ist der Zettel?«

Er überflog ihn hastig. »Das klingt ja wie ein Roman,« rief er. »Solche abenteuerlichen Begebenheiten stehen wohl in Büchern, aber im Leben sind sie mir noch nie vorgekommen.« Alle Müdigkeit war jetzt von ihm gewichen. In der besten Laune tätschelte er seiner alten Frau die Wangen.

»Denke doch nur, Mary,« scherzte er ausgelassen, »wir sind jetzt mit einemmal reiche Leute. Laß uns das Gold vergraben und die Papiere verbrennen. Wenn der Glücksspieler je wiederkommt, brauchen wir nur kaltblütig auf ihn herabzuschauen und zu sagen: ›Was reden Sie da für ungereimtes Zeug? Ich habe weder von Ihnen noch von Ihrem Goldsack je etwas gehört oder gesehen.‹ Dann würde er ein verblüfftes Gesicht machen und –«

»Höre nur jetzt auf mit deinen Spässen und schaffe das Geld fort, ehe die Diebe es holen.«

»Da hast du recht. Aber wie wollen wir’s machen – soll ich private Nachforschungen anstellen? – Nein, lieber nicht; dabei ginge alle Romantik verloren. Besser, wir betreiben die Sache öffentlich. Stelle dir nur vor, was das für Aufsehen machen wird. Alle andern Städte werden uns beneiden, denn sie wissen recht gut, daß der Fremde keiner einzigen solches Vertrauen schenken würde, wie er Hadleyburg erweist. Es ist ein Haupttreffer für uns. Jetzt will ich nur schnell in die Druckerei gehen, es wird sonst zu spät.«

»Nein, nein, bleib, Eduard. Laß mich nicht allein mit dem Gold!«

Aber er war schon fort, doch nicht auf lange. Wenige Schritte vor seinem Hause begegnete er dem Chefredakteur und Eigentümer des Tageblatts, gab ihm den Zettel und sagte: »Hier bringe ich Ihnen etwas Gutes, Cox, lassen Sie es einrücken!«

»Wenn noch Zeit ist, Herr Reichard; ich will sehen, ob es sich tun läßt.«

Als der Bankkassierer wieder daheim war, hatte er noch ein langes Gespräch mit seiner Frau über das wundervolle Geheimnis. Schlafen konnten sie beide nicht. Die erste zu lösende Frage, wer wohl der Bürger sein könne, der dem Fremden die zwanzig Dollars geschenkt hatte, bot keine Schwierigkeiten; sie beantworteten dieselbe wie aus einem Munde:

»Barclay Goodson.«

»Jawohl, dem sähe es ähnlich; er hätte so etwas tun können; aber sonst niemand in der ganzen Stadt.«

»Das wird dir keiner bestreiten, Eduard. Seit Goodson vor einem halben Jahr gestorben ist, haben wir am Ort lauter ehrliche, engherzige, selbstgerechte und geizige Bürger, wie das von jeher so war.«

»Wenigstens hat er es immer behauptet, noch bis zu seiner Todesstunde, und vor aller Ohren.«

»Deshalb konnte ihn auch niemand leiden.«

»Freilich, aber er machte sich nichts daraus. Es war wohl kein Mensch in Hadleyburg so verhaßt wie er, ausgenommen der Pastor Burgeß.«

»Burgeß – nun ja, dem geschieht es ganz recht; von dem hat sich die Gemeinde ein für allemal losgesagt. Kommt es dir nicht sonderbar vor, Eduard, daß der Fremde gerade Burgeß gewählt hat, um das Geld abzuliefern?«

»Hm – ich weiß nicht. Vielleicht kennt der Fremde den Pastor Burgeß besser als unsere Stadt ihn kennt.«

»Um so schlimmer für Burgeß.«

Reichard schien um eine Antwort verlegen und wich dem fest auf ihn gerichteten Blick seiner Frau soviel wie möglich aus. Endlich sagte er mit unsicherer Stimme:

»Weißt du, Mary, ein schlechter Mensch ist Burgeß nicht.«

Sie sah ihn mit unverhohlenem Staunen an.

»Nein, er ist nicht schlecht; du kannst mir’s glauben. Seine Unbeliebtheit gründete sich einzig und allein auf jene gewisse Sache – die damals soviel Lärm gemacht hat.«

»Ich meine doch, jene Sache genügte an und für sich vollkommen, um zu beweisen – –«

»Freilich, freilich! Nur war er unschuldig daran.«

»Was redest du da für Unsinn. Kein Mensch zweifelte doch an seiner Schuld.«

»Mary – mein Wort darauf – er hatte die Tat nicht begangen.«

»Das glaube ich nun und nimmermehr. Woher solltest du es auch wissen?«

»Ich schäme mich, es dir einzugestehen, aber es muß heraus: Ich war der einzige Mensch, der seine Unschuld kannte; ich hätte ihn zu retten vermocht, aber – aber – du weißt ja wie aufgebracht alle Welt gegen ihn war – ich hatte nicht den Mut, mir die ganze Stadt auf den Hals zu hetzen. Zwar fühlte ich, wie erbärmlich das war; doch dem allgemeinen Haß zu trotzen ging über meine Kräfte.«

Mary schwieg eine Welle bekümmert still. Endlich stammelte sie:

»Nein, nein, das wäre nichts für dich gewesen. Man muß auch die öffentliche Meinung – berücksichtigen – und darf nicht – –« Sie war vom geraden Weg abgekommen und in den Sumpf geraten. Nach einer Weile begann sie von neuem: »Freilich, er tut einem leid – aber – Nein, wirklich, Eduard, das hätten wir nicht auf uns nehmen können. Ich wäre trostlos gewesen, hättest du es getan.«

»Ich würde eine Menge Leute vor den Kopf gestoßen haben, Mary, – sie hätten uns ihr Wohlwollen entzogen, und – und –«

»Es liegt mir nur schwer auf dem Herzen, was Burgeß selbst wohl von uns denken mag, Eduard.«

»O, er ahnt nicht, daß ich um seine Unschuld weiß.«

»Wirklich? Das ist mir eine große Erleichterung. Sonst würde er doch – nein, das ändert die Sache gewaltig. – Ich hätte mir’s übrigens denken können, daß er keine Ahnung hat; würde er uns sonst wohl bei jeder Gelegenheit so freundlich begegnen, ohne die geringste Aufmunterung von unserer Seite? Oefters haben mich die Leute schon deswegen verspottet. Die Wilsons, Harkneß und Wilcox machen sich förmlich ein Vergnügen daraus, mit mir von ›meinem Freund Burgeß‹ zu reden, weil sie wissen, wie mich das in Harnisch bringt. Wenn er nur aufhören wollte, uns mit seiner besonderen Zuneigung zu beehren! Ich begreife gar nicht, was ihn dazu treibt.«

»Das will ich dir auch bekennen; bis jetzt habe ich’s selbst vor dir geheim gehalten: Als das Ding zuerst ruchbar wurde, und alle so entrüstet waren, daß man beschloß, Lynchjustiz an ihm zu üben, quälte mich mein Gewissen so sehr, daß ich’s nicht länger aushielt. Ich warnte ihn insgeheim, so daß er die Stadt noch rechtzeitig verlassen konnte; erst als ihm keine Gefahr mehr drohte, kam er zurück.«

»O Eduard! Wenn die Leute dahinter gekommen wären!«

»Schweig still! Mir läuft noch jetzt die Gänsehaut über, wenn ich nur daran denke. Es reute mich auch gleich nachher; nicht einmal dir wagte ich es zu sagen, weil ich fürchtete, man möchte es deinem Gesicht ansehen. Vor lauter Angst schloß ich die ganze Nacht kein Auge zu. Aber niemand hegte Argwohn gegen mich; schon nach einigen Tagen wurde ich ruhiger, und später freute ich mich ordentlich, es getan zu haben. Ja, ich bin noch heute von ganzer Seele froh darüber.«

»Ich auch, Eduard. Es wäre gar zu entsetzlich gewesen. Du warst ihm das wirklich schuldig. – Wie aber, wenn es eines Tages doch noch entdeckt würde? was dann?«

»Das ist ganz ausgeschlossen.«

»Wieso?«

»Weil jedermann denkt, Goodson hätte Burgeß gewarnt.«

»Das lag sehr nahe.«

»Natürlich. Und er machte sich nichts aus dem falschen Verdacht. Der arme alte Salsberg wurde zu ihm hinübergeschickt, ihn der Tat zu beschuldigen. Goodson musterte ihn eine Weile mit unaussprechlicher Verachtung von Kopf bis Zu Fuß. ›So?‹ sagte er dann, ›Sie stellen wohl die Untersuchungskommission vor?‹ ›Jawohl,‹ erwiderte Salsberg und warf sich in die Brust. ›Hm! Wünschen die Herren etwa alle Einzelheiten zu wissen, oder würde ihnen eine allgemeine Antwort genügen?‹ ›Geben Sie mir nur eine allgemeine Antwort, Herr Goodson; falls Einzelheiten verlangt werden, will ich wiederkommen.‹ ›Sehr wohl; so sagen Sie den Herren nur – sie sollen sich zur Hölle scheren – das wird wohl allgemein verständlich sein. Ihnen, Salsberg, möchte ich aber obendrein den Rat geben, wenn Sie wiederkommen gleich einen Korb mitzubringen, um die Überreste aufzulesen, die noch von Ihnen vorhanden sein könnten.‹«

»Das sieht Goodson ganz ähnlich; man würde ihn gleich daran erkennen. Allen Leuten guten Rat zu erteilen war seine einzige Schwäche; er glaubte das besser zu verstehen als jeder andere.«

»Es war unsere Rettung, Mary. Die Sache hatte damit ihr Bewenden; man ließ sie ein für allemal ruhen.«

»Du meine Güte, das verstand sich wohl von selbst.« –

Sie kamen nun wieder mit großem Eifer auf den Geldsack zu sprechen. Bald entstanden jedoch Pausen in ihrer Unterhaltung, weil einmal der Mann, einmal die Frau in tiefes Schweigen versank. Immer längere Unterbrechungen des Gesprächs traten ein, bis Reichard sich endlich ganz seinen Gedanken überließ. Lange starrte er wie abwesend auf den Fußboden, dann machte er mit den Händen allerlei nervöse Bewegungen, die seinen geheimen Ärger verrieten. Auch die Frau sprach kein Wort, doch zeugten ihre Gebärden von großem Unbehagen. Zuletzt stand Reichard auf, ging wie ein Nachtwandler, der böse Träume hat, ziellos im Zimmer hin und her und fuhr sich mit den Händen durchs Haar. Plötzlich schien er einen Entschluß zu fassen; stumm griff er nach seinem Hut und schritt eilig zur Tür hinaus. Seine Frau saß indessen da und brütete vor sich hin, ohne auch nur zu merken, daß sie allein war. Von Zeit zu Zeit bewegte sie die Lippen: »Führe uns nicht in Ver… aber ach, wir sind so arm! Führe uns nicht … Wem würde es denn Schaden bringen? – Kein Mensch hätte es je erfahren … Führe uns …« sie murmelte nur noch unverständliche Laute. Nach einer Weile sah sie auf; Schrecken und Freude zugleich malten sich in ihren Zügen. »Er ist fort,« rief sie. »Aber ach, vielleicht kommt er zu spät – zu spät … Doch wäre es ja möglich, daß er noch zur Zeit …« Sie erhob sich, preßte die Hände krampfhaft ineinander, und während ihr ein Schauer durch alle Glieder lief, sagte sie stöhnend: »Verzeih mir’s Gott – das sind schreckliche Gedanken – aber … was hilft’s – wir sind doch nun einmal schwache Geschöpfe!«

Sie drehte die Lampe herunter, lief verstohlen zu dem Sack hin, kniete sich auf den Boden, befühlte ihn von allen Seiten und strich liebkosend mit der Hand über jede unebene Stelle. Ihre alten Augen schwelgten förmlich in dem Anblick. Von Zeit zu Zeit erwachte sie wie aus einem Traum und murmelte vor sich hin: »Wenn wir doch gewartet hätten – nur eine kleine Weile, statt die Sache so zu überstürzen!«

 

Cox, der Tagblattbesitzer, war inzwischen aus dem Bureau nach Hause gegangen und hatte seiner Frau alles erzählt, was sich Wunderbares zugetragen. Sie besprachen das Ereignis aufs lebhafteste und kamen überein, daß keiner ihrer Mitbürger, außer dem verstorbenen Goodson, großmütig genug wäre um einem armen Fremdling zwanzig Dollars zu schenken. Doch bald entstand eine Stille; beide Ehegatten blickten nachdenklich zu Boden; gleich darauf wurden sie unruhig und aufgeregt; endlich murmelte die Frau wie im Selbstgespräch: »Niemand weiß um dies Geheimnis, außer die Reichards und wir … kein einziger Mensch.«

Cox schreckte aus seinen Gedanken auf, sah seine Frau, die ganz blaß geworden war, verständnisvoll an, stand zögernd auf, blickte verstohlen bald auf seinen Hut, bald nach seiner Ehehälfte – eine stumme Frage. Frau Cox schluckte ein paarmal und räusperte sich, dann nickte sie leise mit dem Kopf. Im nächsten Augenblick war sie allein im Zimmer und die Haustür fiel klirrend ins Schloß.

Von zwei entgegengesetzten Richtungen eilten jetzt Reichard und Cox durch die menschenleeren Straßen. Ganz außer Atem kamen sie gleichzeitig an der Treppe der Druckerei an und schauten einander beim Laternenschein ins Gesicht.

»Weiß außer uns niemand etwas davon?« fragte Cox im Flüsterton.

»Keine Menschenseele, auf Ehrenwort,« gab der andere leise zurück. »Vielleicht ist es noch nicht zu spät, um – –«

Eben schickten sich die Männer an hinaufzusteigen, als ein Junge zu ihnen trat.

»Bist du das, Johann?«

»Ja, Herr Cox.«

»Du brauchst die Morgenpost noch nicht wegzuschicken. Laß alles liegen bis ich’s dir sage.«

»Die Postsachen sind schon fort.«

»Schon fort?« Es klang unsagbare Enttäuschung aus den Worten.

»Ja. Der neue Fahrplan für Brixton und Umgegend ist heute ausgegeben worden. Die Zeitungen mußten eine Viertelstunde früher auf der Bahn sein. Ich bin gelaufen was ich konnte; wäre ich zwei Minuten später dagewesen, so – –«

Die Herren entfernten sich langsam, ohne das Ende seiner Rede abzuwarten. Eine Weile schritten sie stumm nebeneinander her, endlich sagte Cox ärgerlich:

»Was hat Sie nur geplagt, die Sache so zu übereilen. Es ist mir vollkommen unbegreiflich.«

Reichard war ganz betreten. »Jetzt sehe ich’s freilich ein,« sagte er: »vorher hatte ich mir’s gar nicht überlegt, bis es zu spät war. Das nächste Mal will ich gewiß – –«

»Das nächste Mal,« hohnlachte Cox. »So was kommt in tausend Jahren nicht wieder!«

Die Freunde trennten sich ohne Gruß und schleppten sich mühselig nach Hause, als hätte sie ein schwerer Schicksalsschlag getroffen. In atemloser Spannung warteten die Frauen daheim; sie lasen den Eintretenden die Entscheidung vom Gesicht ab, es bedurfte keiner Worte. Nun folgte in beiden Häusern eine sehr heftige, wenig freundliche Erörterung, wie sie bisher zwischen den Ehegatten noch niemals stattgefunden. Die Sache verlief hier und dort fast auf die gleiche Weise:

»Hättest du nur gewartet, Eduard,« sagte Frau Reichard, »aber nein, in deiner Gedankenlosigkeit läufst du stehenden Fußes nach der Druckerei und posaunst es in der ganzen Welt aus.«

»Auf dem Zettel stand doch, es sollte veröffentlicht werden.«

»Ach was! Es war dir freigestellt, es auch unter vier Augen abzumachen. Das kannst du doch nicht leugnen.«

»Ich weiß wohl. Aber wenn ich an das Aufsehen dachte, und wie schmeichelhaft es für Hadleyburg ist, daß ein Fremder solches Vertrauen in unsere Redlichkeit setzt –«

»Das brauchst du mir nicht noch erst lang und breit vorzuhalten. Aber bei einigem Nachdenken hättest du dir doch sagen müssen, daß sich der rechte Mann gar nicht mehr auffinden läßt, weil er im Grabe ruht, und weder Kind noch Kegel, kein einziger Verwandter von ihm am Leben ist. Hätte da das Geld nicht Leuten zu gute kommen können, die es so nötig brauchen wie wir? Kein Mensch wäre dadurch geschädigt worden, und – und –«

Tränen erstickten ihre Stimme; der Mann zerbrach sich vergebens den Kopf, womit er sie trösten könne; endlich sagte er:

»So beruhige dich doch, Mary, die Vorsehung hat es nun einmal so gefügt und deshalb muß es zu unserm Heil dienen; ja, ja, es wird wohl so am besten sein, sonst wäre es nicht geschehen.«

»Eine bequeme Ausrede, wenn man eine Dummheit begangen hat. – War es nicht ebenso gut eine Fügung des Himmels, daß das Geld gerade uns zugeschickt wurde? Und du erdreistest dich, die Absicht der Vorsehung zu durchkreuzen – mit welchem Recht, wenn ich fragen darf? Nichts als gotteslästerliche Anmaßung ist es, die einem demütigen Christenmenschen durchaus nicht zukommt.«

»Aber du weißt doch, Mary, daß die ganze Erziehung in Hadleyburg darauf ausgeht, und auch wir unser Leben lang gewöhnt waren, uns keinen Augenblick zu besinnen, wenn es sich um ein Gebot der Redlichkeit handelt; das ist uns zur zweiten Natur geworden.«

»Ja, ja doch. Man hat uns das immer und immer wieder vorgepredigt und uns von der Wiege an jede nur mögliche Versuchung aus dem Wege geräumt. Und was ist dadurch erreicht worden? Man hat eine künstliche Ehrlichkeit groß gezogen, die wie Butter an der Sonne zerrinnt, sobald sie einmal auf die Probe gestellt wird – das haben wir diese Nacht gründlich erfahren. Gott weiß, mir wäre auch nie der Schatten eines Zweifels an meiner durch und durch redlichen Gesinnung gekommen, und die erste wirkliche Versuchung wirft alle meine Grundsätze über den Haufen. Du kannst mir glauben, Eduard, mit der Redlichkeit der ganzen Stadt ist’s um kein Haar besser bestellt; sie ist gerade so fadenscheinig wie meine und deine. Die Leute hier sind engherzig und geizig, und ihre einzige Tugend, auf die sie sich so viel einbilden und deretwegen sie allenthalben berühmt sind, ist auch nicht weit her. Tritt einmal eine große Versuchung an sie heran, so wird ihr ganzer Ruhm zusammenfallen wie ein Kartenhaus – verlaß dich drauf. So – nach diesem Bekenntnis ist mir schon leichter ums Herz. Mein Leben lang habe ich der Welt etwas vorgeschwindelt, ohne es zu wissen. Mich soll niemand wieder eine redliche Frau nennen – das verbitte ich mir gehorsamst.«

»Wahrhaftig, Mary, du hast mir ganz aus der Seele gesprochen. Merkwürdig – ich hätte das nie für möglich gehalten!«

Sie schwiegen lange still; beide waren mit ihren Gedanken beschäftigt. Endlich schaute die Frau auf.

»Ich weiß, woran du denkst, Eduard.«

Reichard machte ein verlegenes Gesicht. »Fast schäme ich mich, es dir einzugestehen, Mary.«

»Laß gut sein, Eduard; mir geht dieselbe Frage im Kopf herum.«

»Wirklich? Und die wäre?«

»Du hast gedacht: ›Wenn unsereins doch nur erraten könnte, was das für eine Äußerung war, die Goodson dem Fremden gegenüber getan hat.‹«

»Ja, ich will’s nicht leugnen. Es ist eine Sünde und Schande. Schämst du dich nicht auch?«

»Nein, ich bin darüber hinaus. Aber laß uns die Sicherheitskette vorhängen. Wir sind für den Sack verantwortlich, bis er morgen früh in das Bankgewölbe geschafft werden kann. – Du liebe Zeit – hätten wir nur nicht die Torheit begangen!«

Während der Mann die Tür fest verwahrte, sagte Mary:

»Wer doch wüßte, was das ›Sesam, tu‘ dich auf‹ ist. Wie kann nur die Äußerung gelautet haben? – Aber komm, laß uns zu Bette gehen.«

»Und einschlafen?«

»Nein, nachdenken.«

»Ja, das wollen wir.« –

 

Das Ehepaar Cox hatte unterdessen seinen Wortwechsel, der mit einer Versöhnung schloß, gleichfalls zu Ende geführt und sich zur Ruhe begeben. Doch der Schlaf floh auch ihr Lager. Unruhig wälzten sie sich hin und her und zermarterten sich das Hirn, was Goodson dem verarmten Fremden wohl gesagt haben möchte. Was für goldene Worte mußten das doch gewesen sein – sie waren ja vierzigtausend Dollars wert.

 

An jenem Abend blieb das städtische Telegraphenamt länger offen als sonst und zwar aus guten Gründen: Der bei Coxens Zeitung angestellte Faktor war zugleich offizieller Berichterstatter für die Vereinigte Presse der Union. Im gewöhnlichen Lauf der Dinge war dies ein bloßes Ehrenamt, das er bekleidete, denn mehr als viermal im Jahr brachte er keine Depesche zusammen, die als verwendbar angenommen wurde. Doch heute verhielt sich die Sache anders. Auf das Telegramm, in welchem er die große Begebenheit meldete, war eine umgehende Antwort erfolgt:

»Telegraphieren Sie die ganze Geschichte mit allen Einzelheiten – zwölfhundert Wörter.«

Ein riesiger Auftrag! Aber der Faktor führte ihn aus und war über die Maßen stolz auf seine Leistung. Schon am nächsten Morgen zur Frühstückszeit war in ganz Amerika, von Montreal bis zum Golf von Mexico, und von der Gletscherwelt Alaskas bis zu Floridas Orangenhainen nur Hadleyburg und seine unbestechliche Redlichkeit auf aller Lippen. Viele Millionen Menschen sprachen von dem Fremden und seinem Goldsack; man stritt hin und her, ob sich der rechte Mann wohl finden würde, und wartete gespannt auf weitere Nachricht, die hoffentlich in kürzester Frist eintreffen würde.

II.

Als Hadleyburg an jenem Morgen erwachte, war es eine weltberühmte Stadt; man staunte, man freute sich und war stolz darauf – unbeschreiblich stolz. Die neunzehn angesehensten Bürger und ihre Frauen schüttelten sich mit überseligem Lächeln die Hände, so oft sie einander trafen, und wünschten sich Glück, daß Hadleyburg von nun an in jedem Konversationslexikon als Muster der Unbestechlichkeit zu finden sein würde; ja selbst die unbedeutenderen Bürger samt ihren Frauen folgten diesem Beispiel. Alt und jung lief auf die Bank, wo der Geldsack zu sehen war, und schon zur Mittagszeit kamen die bekümmerten und neidischen Bewohner Brixtons und der Nachbarstädte in Scharen herbeigeströmt. Gegen Abend und am folgenden Tag trafen Berichterstatter aus allen Himmelsgegenden ein, die den Sack in Augenschein nahmen, sich die Geschichte bestätigen ließen, sie mit allen Einzelheiten von neuem zu Papier brachten und durch kühne Bleistiftskizzen illustrierten. Sie zeichneten nicht nur den Sack ab, sondern auch Reichards Haus, das Bankgebäude, die Kirchen der Presbyterianer- und der Baptistengemeinde, den Marktplatz und das Rathaus, wo die Probe angestellt und der Sack ausgehändigt werden sollte. Ja sie entwarfen sogar scheußliche Porträts von dem Ehepaar Reichard, dem Bankier Pinkerton, von Cox und dem Faktor, von Pastor Burgeß, vom Postmeister und selbst von Jack Halliday, einem gutmütigen, respektlosen Menschen und allgemeinen Lustigmacher, dem Freund aller kleinen Buben und herrenlosen Hunde, der sich als Fischer, Jäger oder Bummler im Ort herumtrieb. Der knauserige Pinkerton zeigte den Sack mit selbstgefälligem Grinsen jedem neuen Ankömmling, rieb sich vergnügt die Hände und erging sich in salbungsvollen Reden über den alten, festbegründeten Ruf unantastbarer Rechtlichkeit, dessen sich die Stadt erfreute, was jetzt wieder auf so wunderbare Weise bestätigt worden sei. Er hoffe und glaube nun, daß dies Beispiel in ganz Amerika Nachahmung finden und eine allgemeine sittliche Wiedergeburt erzeugen werde.

Im Verlauf der nächsten Woche wurden die Gemüter nach und nach ruhiger: der wilde, stolze Freudenrausch verwandelte sich in ein stilles, wonniges Entzücken, in ein Gefühl tiefen, unaussprechlichen Behagens. Der Ausdruck friedevoller Glückseligkeit lag auf allen Gesichtern.

Doch das dauerte nicht lange. Ganz allmählich trat eine Veränderung ein, was zuerst niemand bemerkte, außer Jack Halliday, dem selten etwas entging und der über alles seine Späße machte, es mochte sein, was es wollte. Er fing mit allerlei beißenden Bemerkungen an, weil dieser und jener nicht mehr solche glückstrahlende Miene zur Schau trug, wie vor ein paar Tagen. Dann behauptete er, die Leute würden immer schwermütiger; später schienen sie ihm von unbesiegbarer Trauer ergriffen, und endlich versicherte er sogar, alle seien in einem Grade verstimmt, gedankenvoll und geistesabwesend, daß er sich anheischig machen wolle, selbst dem ärmsten Wicht einen Cent aus der Hosentasche zu stehlen, ohne ihn aus seinem Traumzustand zu wecken.

Als die Angelegenheit diesen Punkt erreicht hatte, konnte man zur Schlafenszeit in den neunzehn angesehensten Häusern der Stadt tiefe Seufzer hören, worauf das Haupt der Familie gewöhnlich in die Worte ausbrach:

»Ach, was für eine Äußerung kann denn Goodson nur getan haben!«

»Schweig still,« rief die Hausfrau zusammenschauernd. »Was für schreckliche Dinge wälzest du in deinem Hirn herum. Ums Himmels willen schlage sie dir aus dem Kopf!«

Aber am zweiten Abend erfolgte derselbe Ausruf, und der Widerspruch der Frau war schon etwas schwächer. Als der Mann dann am dritten und den folgenden Abenden die Frage immer angstvoller wiederholte, fuhr die Frau nur noch unruhig mit den Händen hin und her; sie öffnete den Mund, sagte aber nichts. Zuletzt fanden beide jedoch die Sprache wieder und seufzten sehnsuchtsvoll: »O, könnten wir es doch erraten!« –

Hallidays Bemerkungen wurden von Tag zu Tag unangenehmer und abfälliger. Er ging in der ganzen Stadt umher und machte sich bald über jeden einzelnen, bald über die gesamte Einwohnerschaft lustig. Außer ihm lachte aber niemand mehr weit und breit, seine Fröhlichkeit bildete den grellsten Gegensatz zu der allgemeinen Trauer; kein Lächeln war irgendwo zu erblicken. Der Spaßvogel trug jetzt eine Zigarrenkiste auf einem Holzgestell mit sich herum, als wäre es eine Kamera für Momentaufnahmen. Alle Vorübergehenden hielt er an, stellte seinen Apparat auf und rief: »Fertig! – Etwas freundlicher, wenn ich bitten darf!« Aber selbst bei diesem köstlichen Witz erheiterte sich keins der trübseligen Gesichter.

So vergingen drei Wochen – noch acht Tage, dann sollte es sich entscheiden. Es war Samstag Abend: Hadleyburg hatte schon zur Nacht gespeist. Statt der Geschäftigkeit und Unruhe in den Läden und dem fröhlichen Stimmengewirr, das sonst um diese Zeit auf den Straßen herrschte, war alles wie ausgestorben. Reichard und seine alte Frau saßen schweigsam und nachdenklich im Wohnzimmer, jedes in seiner Ecke. So trieben sie es jetzt Abend für Abend, während sie früher behaglich beisammen gesessen hatten, lesend, strickend und plaudernd, wenn sie nicht bei den Nachbarn Besuch machten oder diese bei ihnen vorsprachen. Aber das alles schien begraben und vergessen, als sei es nie gewesen – und war doch erst zwei oder drei Wochen her. Niemand plauderte jetzt, man las nicht, man machte keine Besuche. Alle Leute saßen stumm daheim und quälten sich unter Seufzen und Stöhnen, jene rätselhafte Äußerung zu erraten.

Der Postbote brachte einen Brief. Reichard sah die Aufschrift von unbekannter Hand und den Poststempel gleichgültig an, warf das Schreiben auf den Tisch und verfiel dann wieder in sein nutzloses Grübeln, das ihn ganz elend machte. Zwei oder drei Stunden später stand seine Frau schwerfällig auf, um ohne Gutenachtgruß zu Bette zu gehen – nach ihrer jetzigen Gewohnheit. Bei dem Brief blieb sie jedoch stehen und starrte eine Weile gedankenlos darauf hin; dann öffnete sie ihn und überflog den Inhalt. Reichard, der in sich zusammengesunken an der Wand saß, hörte plötzlich einen schweren Fall – seine Frau lag auf dem Boden. Er eilte hin, um ihr zu helfen, aber sie rief:

»Laß mich, laß mich, mein Glück ist zu groß. Hier den Brief mußt du lesen!«

Er tat es. Jedes Wort verschlang er, während sich alles mit ihm im Kreise zu drehen schien. Der Brief kam aus einem entfernten Staat und lautete:

»Ich wende mich an Sie, um Ihnen eine Mitteilung zu machen, obgleich ich Ihnen ganz fremd bin. Nach meiner soeben erfolgten Rückkunft aus Mexico wurde mir erzählt, was sich in Ihrer Stadt zugetragen. Natürlich wissen Sie nicht, wer die Äußerung getan hat, aber ich weiß es. Ich bin der einzige Mensch auf der Welt, der Ihnen sagen kann, daß es Goodson gewesen ist. Wir kannten uns schon seit Jahren und auf meiner Durchreise war ich an jenem Abend bei ihm zu Gast, bis zur Abfahrt des Mitternachtzuges. Ich stand dabei, als er im Dunkeln in der Hale-Allee jene Äußerung dem Fremden gegenüber tat; auch unterhielten wir uns noch auf dem Heimweg darüber, und bei der Zigarre in seinem Hause. Im Laufe des Gesprächs kam die Rede noch auf viele Ihrer Mitbürger, über die er sich jedoch keineswegs schmeichelhaft aussprach; etwas günstiger beurteilte er nur zwei oder drei derselben, zu denen Sie gehörten, soviel ich weiß. Irgend welche Zuneigung sprach er zwar für keinen einzigen aus, doch erinnere ich mich, daß er sagte, ein Hadleyburger – ich glaube, er nannte Ihren Namen, doch bin ich meiner Sache nicht ganz gewiß – hätte ihm einmal einen großen Dienst erwiesen, vermutlich ohne dessen Tragweite selbst zu kennen. Wenn er ein Vermögen besäße, würde er es Ihnen bei seinem Tode vermachen und jedem der andern Bürger seinen Fluch hinterlassen. Waren Sie also derjenige, welcher ihm den Dienst geleistet hat, so sind Sie sein rechtmäßiger Erbe und können den Goldsack als Ihr Eigentum beanspruchen. Ich weiß, daß ich mich auf Ihre Treue und Redlichkeit verlassen kann, denn diese Tugenden erbt ja jeder Hadleyburger ohne Ausnahme von seinen Vätern. So will ich Ihnen denn jene Äußerung mitteilen, da ich überzeugt bin, Sie werden, falls Sie nicht selbst der rechte Mann sind, nach demselben suchen, bis Sie ihn gefunden haben, und Sorge tragen, daß Goodsons Dankesschuld für den bewußten Dienst wirklich gezahlt wird. Die Äußerung, um die es sich handelt, lautete: ›Ihr seid noch lange kein schlechter Mensch. – Geht hin und bessert Euch.‹
Howard L. Stephenson.«

»O Eduard, das Geld gehört uns, wie froh und dankbar bin ich. Gib mir einen Kuß, das hast du seid einer Ewigkeit nicht getan – mein Verlangen war gar zu groß – nach dem Gelde – nun kannst du dich von Pinkerton und seiner Bank losmachen, du brauchst keines Menschen Sklave mehr zu sein. Es ist, als ob ich Flügel hätte, so leicht wird mir ums Herz vor lauter Freude.«

Die halbe Stunde, die das Ehepaar unter Liebkosungen auf dem Sofa zubrachte, gehörte zu den glücklichsten in ihrem Leben. Es war, als sollte die gute alte Zeit noch einmal wiederkehren, die mit dem Brautstand begonnen und keine Unterbrechung erlitten hatte, bis der Fremde das unheilvolle Gold ins Haus brachte. Nach einer Weile sagte die Frau:

»Weißt du, Eduard, es war doch ein rechtes Glück, daß du dem braven Goodson solchen großen Dienst geleistet hast. Bisher mochte ich ihn nicht leiden, aber jetzt habe ich ihn ordentlich lieb. Du hast nie damit geprahlt, auch keine Andeutung gemacht – das war ein schöner und edler Zug von dir. Aber deinem Weibe hättest du es doch anvertrauen sollen; mir scheint, das warst du mir schuldig.«

»Ja, siehst du, Mary – das ging doch nicht an –«

»Mache jetzt keine Umschweife, Eduard, sondern sage es mir. Ich habe dich immer lieb gehabt, aber heute bin ich stolz auf dich. Die Leute glaubten, es gäbe nur einen guten, hochherzigen Menschen in der Stadt, und nun stellt sich heraus, daß du – so sprich doch, Eduard.«

»Nein, Mary, ich kann wirklich nicht.«

»Du kannst nicht? Aber weshalb?«

»Siehst du – nun ja – ich habe es ihm versprechen müssen.«

Sie maß ihn mit großen Blicken.

»Du hast versprochen, mit niemand davon zu reden?« fragte sie eindringlich. »Ist das wirklich der Fall?«

»Glaubst du, ich würde dir etwas vorlügen?«

Sie schwieg eine Weile sichtlich beunruhigt; dann reichte sie ihm die Hand.

»Nein, nein,« rief sie, »Gott behüte! Wir sind schon weit genug vom rechten Weg abgeirrt. All dein Lebtag ist dir noch keine Lüge über die Lippen gekommen – aber jetzt scheint ja selbst der festeste Grund unter unsern Füßen zu wanken, da – da –« Die Stimme versagte ihr einen Augenblick, dann stammelte sie: »Führe uns nicht in Versuchung … Ich glaube an dein Versprechen, Eduard. Laß es dabei bewenden. Ich will nicht weiter in dich dringen. Nun alle Not ein Ende hat, wollen wir unser Glück genießen und es uns durch keinen Schatten trüben lassen.«

Für Eduard war das leichter gesagt als getan; seine Gedanken irrten ruhelos umher, während er sich zu besinnen suchte, was für einen Dienst er Goodson geleistet hatte.

Fast die ganze Nacht tat das Ehepaar kein Auge zu. Mary überlegte voll innerer Befriedigung, was sie mit dem Golde tun wolle. Eduard war bemüht, sich den Dienst ins Gedächtnis zurückzurufen. Zuerst hatte er Gewissensbisse wegen der Lüge. Freilich, eine Lüge war und blieb es. Aber hatte das denn solche ungeheure Bedeutung? Unser tägliches Tun und Treiben ist ja voller Unwahrheit. War etwa Mary besser als er? – O nein; während er fortgeeilt war, um seinen Auftrag redlich zu erfüllen, hatte sie dagesessen und gejammert, daß man die Papiere nicht vernichtet habe, um das Gold behalten zu können. Ist denn Stehlen weniger schlecht als Lügen? –

Ueber diesen Punkt war er also beruhigt – die Lüge trat in den Hintergrund und störte seinen Frieden nicht mehr. Nun kam die nächste Frage an die Reihe: Hatte er den Dienst wirklich geleistet? – Goodsons eigenes Zeugnis, von dem Stephensons Brief berichtete, sprach dafür und war der beste und vollgültigste Beweis. Das lag auf der Hand. Also konnte man auch diesen Punkt füglich für erledigt ansehen … Nein, doch nicht so ganz. Reichard erinnerte sich mit Unbehagen, daß jener Stephenson nicht bestimmt hatte behaupten können, ob er, Reichard, oder ein anderer, den Dienst geleistet habe, und, o Jammer, er verließ sich auf seine Ehrenhaftigkeit. Reichard selbst sollte entscheiden, wem das Gold zukäme, und Stephenson war überzeugt, daß er rechtschaffen genug sein würde, den richtigen Mann aufzusuchen, falls er der falsche wäre. Es war ganz abscheulich, einen Menschen in solche Lage zu versetzen. Wozu hatte nur Stephenson diesen Zweifel überhaupt aufgebracht? Das hätte doch recht gut aus dem Brief wegbleiben können.

Wie kam es aber, überlegte Reichard weiter, daß gerade sein Name dem Briefsteller im Gedächtnis geblieben war? Das sah doch ganz so aus, als müßte er der rechte Mann sein. Wirklich, es war ein sehr gutes Zeichen; je mehr er darüber nachdachte, umso besser erschien es ihm, und zuletzt betrachtete er es als einen entschiedenen Beweis. Wenn aber etwas einmal erwiesen ist, tut man am besten, sich den Kopf nicht mehr darüber zu zerbrechen, das fühlte Reichard instinktmäßig und schlug sich die Sache sofort aus dem Sinn.

Ihm war jetzt schon viel behaglicher zu Mute, nur eine Kleinigkeit ließ ihn noch nicht zur Ruhe kommen. Daß er den Dienst geleistet hatte, stand fest; aber was war es nur für ein Dienst gewesen? Das mußte ihm erst noch einfallen – dann würde er mit voller Gemütsruhe die Augen schließen und schlafen können. So dachte er denn hin und her an jede nur mögliche Dienstleistung, aber nichts schien ihm groß und bedeutend genug, um Goodsons Wunsch zu rechtfertigen, ihm dafür ein Vermögen hinterlassen zu können. Und leider erinnerte er sich auch gar nicht, etwas der Art wirklich getan zu haben. Was war es denn nur, wodurch man einen Menschen zu so außergewöhnlichem Dank verpflichten konnte? Vielleicht wenn man seine Seele rettete? Ja, das mußte es sein. Hatte er es sich nicht einmal zur Aufgabe gemacht, Goodson zum Glauben zu bekehren? Gewiß – und wie lange hatte er daran gearbeitet? – Zuerst meinte er, wohl ein Vierteljahr, doch bei Lichte besehen schrumpfte es zu einem Monat zusammen, dann zu einer Woche, und schließlich blieb gar nichts übrig. Er erinnerte sich jetzt zu seinem größten Leidwesen mit vollkommener Deutlichkeit, daß Goodson ihm gesagt hatte, er solle zum Donnerwetter machen, daß er fortkäme und sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern; ihm sei ganz und gar nichts daran gelegen, mit den Hadleyburgern in den Himmel zu kommen.

Reichard war recht entmutigt. Also Goodsons Seele hatte er nicht gerettet, das stand fest. Vielleicht aber sein Haus und Gut. Nein, damit war’s auch nichts – er besaß keines. Sein Leben? Natürlich – auf jeden Fall. Daran hätte er doch gleich denken sollen. Nun war er endlich auf der rechten Spur und seine Einbildungskraft hatte freien Spielraum.

Zwei Stunden lang beschäftigte er sich eifrig damit, Goodson auf jede erdenkliche und meist sehr gefahrvolle Weise das Leben zu retten. Immer gelang ihm die Heldentat bis zu einem gewissen Punkt, aber gerade wenn er auf dem besten Wege war, sich zu überzeugen, daß die Sache wirklich geschehen sei, trat ein lästiger Umstand dazwischen, der dies zur Unmöglichkeit machte. Beim Ertrinken zum Beispiel: Reichard war weit hinaus geschwommen und hatte Goodson in bewußtlosem Zustand glücklich ans Land gebracht, während die Menge am Ufer stand und ihm zujauchzte. Er hatte es alles so schön ausgedacht und seine Erinnerung daran wurde immer lebhafter, aber da kam der Rückschlag: Unmöglich – die ganze Stadt hätte es doch erfahren; Mary würde darum gewußt haben, und in seinem eigenen Gedächtnis wäre die Tat unauslöschlich verzeichnet gewesen; so etwas vergißt man nicht wieder, es ist auch kein Dienst, dessen ›Tragweite man nicht kennt‹. Obendrein fiel ihm zuguterletzt noch ein, daß er ja gar nicht schwimmen könne.

Halt – diesen Punkt hatte er von vornherein übersehen: Es mußte ein Dienst sein, den er möglicherweise geleistet haben konnte, ›ohne dessen ganze Tragweite zu kennen‹. Das erleichterte die Sache wesentlich. Nach einigem weiteren Kopfzerbrechen kam er denn auch wirklich zu einem befriedigenden Ergebnis: Vor langen Jahren war Goodson einmal nahe daran gewesen, ein liebes, hübsches Mädchen Namens Nancy Hewitt zu heiraten; er hatte jedoch die Verlobung aus irgend einem Grunde wieder aufgelöst. Bald darauf starb das Mädchen, und Goodson wurde mit der Zeit ein verbitterter Hagestolz, der seine Menschenverachtung ganz offen zur Schau trug. Nach Nancy Hewitts Tode hatte sich in der Stadt das Gerücht verbreitet, daß das Mädchen nicht ausschließlich von Weißen abstamme, sondern ein paar Tropfen Negerblut in den Adern gehabt habe. Reichard wälzte diesen Umstand so lange in seinem Haupte, bis ihm war, als tauchten aus der Tiefe seiner Erinnerung allerlei Einzelheiten auf, an die er lange nicht mehr gedacht haben mochte. War er es denn nicht gewesen, der den Flecken in des Mädchens Stammbaum entdeckt und die Sache stadtbekannt gemacht hatte? Natürlich erfuhr Goodson, von wem die Nachricht ausgegangen war und wer ihn davor bewahrt hatte, die entehrende Heirat einzugehen. Und diesen wertvollen Dienst hatte er ihm geleistet, ohne es selbst zu ahnen, also auch, ohne dessen Tragweite zu kennen. Goodson aber, der wohl wußte, mit wie genauer Not er der Gefahr entronnen war, blieb seinem Wohltäter dankbar bis ans Grab und wünschte sich ein Vermögen, um es ihm zu hinterlassen. Das war alles klar und einfach, je mehr Reichard darüber nachdachte, um so einleuchtender ward es ihm; ja, als er sein Haupt jetzt beglückt und zufrieden in die Kissen schmiegte, stand ihm das Ganze so deutlich vor der Seele, als hätte er es erst gestern erlebt. Mary hatte sich unterdessen für sechstausend Dollars ein Haus gekauft und ein Paar Pantoffeln zum Geschenk für ihren Pastor; dann war sie friedlich eingeschlummert. –

An ebendemselben Samstag Abend hatte der Postbote auch jedem der andern angesehenen Hadleyburger einen Brief gebracht – neunzehn Briefe alles in allem. Die Couverts waren ganz verschieden und nicht zwei Adressen von der nämlichen Hand, aber die Briefe selbst glichen einander völlig. Es waren genaue Abschriften desjenigen, welchen Reichard erhalten hatte, auch alle von Stephenson selbst geschrieben, nur mit dem einzigen Unterschied, daß darin der Name des jedesmaligen Adressaten an Stelle von Reichards Namen stand.

Die ganze Nacht hindurch taten die achtzehn angesehenen Männer, was ihr Mitbürger Reichard um dieselbe Zeit getan hatte – sie waren aus Leibeskräften bemüht, sich auf den wichtigen Dienst zu besinnen, den sie – ohne es zu wissen – Barclay Goodson geleistet hatten. Die Arbeit kostete ihnen manchen Schweißtropfen, aber sie wurden doch damit fertig. Was ihre neunzehn Ehegattinnen unterdessen taten, war nicht so schwer. Sie gaben durchschnittlich siebentausend Dollars von den vierzigtausend aus, die der Sack enthielt – einhundertdreiunddreißigtausend Dollars im ganzen, wenn man die Summen zusammenzählt.

Tags darauf war Jack Halliday höchstlich überrascht, zu sehen, daß die Gesichter der neunzehn angesehensten Bürger und ihrer Frauen wieder den früheren glückstrahlenden Ausdruck trugen. Es schien ihm unfaßlich und ihm fiel auch nicht die kleinste witzige Bemerkung ein, um diese himmlische Ruhe zu stören. Das machte ihn nun seinerseits mißmutig und ärgerlich. Wie sehr er sich auch bemühte, dem Rätsel auf den Grund zu kommen, es wollte ihm nicht gelingen. Als er Frau Wilcox begegnete und in ihr verklärtes Antlitz sah, dachte er bei sich: »Ihre Katze hat Junge gekriegt,« aber das war nicht der Fall, wie er auf seine Erkundigung von der Köchin erfuhr. Hatte Billsons Nachbar vielleicht das Bein gebrochen? War Gregor Yates Schwiegermutter gestorben? Hatte Pinkerton ein Zehncentstück einkassiert, das er schon für verloren gehalten? – Dies und noch vieles andere riet Jack Halliday, als er die seelenvergnügten Mienen der Leute sah; aber meistens erfuhr er, daß er fehlgeschossen hatte, und in den übrigen Fällen blieb die Sache zweifelhaft. Nur eins stand fest, nämlich daß neunzehn Hadleyburger Familien sich augenblicklich wie im Himmel fühlten, und mit dieser Gewißheit mußte sich Halliday fürs erste beruhigen.

Ein Bau-Unternehmer aus dem Nachbarstaat hatte sich vor kurzem am Ort niedergelassen und ein Geschäft eröffnet. Schon seit acht Tagen hing sein Schild heraus, aber noch war kein Kunde gekommen. Das entmutigte ihn sehr und er fing bereits an, sein Unternehmen zu bereuen, als der Wind plötzlich umschlug. Die Frauen der ersten Bürger der Stadt fanden sich eine nach der andern bei ihm ein, um ihn auf den oder jenen Tag der nächsten Woche zu sich zu bestellen. »Reden Sie einstweilen noch nicht davon,« hieß es; »wir haben den Plan, uns ein Haus zu bauen, möchten aber nicht, daß es gleich unter die Leute käme.«

Der Mann erhielt elf Aufträge an einem Tage und schrieb noch denselben Abend an seine Tochter, sie solle ihre Verlobung mit dem Studenten auflösen, da sie jetzt eine weit bessere Partie machen könne.

Der Bankier Pinkerton und noch ein paar andere wohlhabende Herren gedachten sich Landhäuser zu kaufen – doch warteten sie die Sache erst ab. Menschen dieses Schlages machen die Rechnung nie ohne den Wirt.

Bei Wilsons hatte man den großen Plan gefaßt, ein Kostümfest zu geben. Man äußerte zwar noch nichts Bestimmtes, sondern erging sich den Bekannten gegenüber nur in allgemeinen vertraulichen Andeutungen. »Wir haben es uns vorgenommen,« hieß es, »und wenn es dazu kommt, werden Sie natürlich auch eingeladen.« Alles war erstaunt darüber. »Wie können die armen Wilsons nur an so etwas denken,« sagte eins zum andern; »ihre Mittel erlauben es ihnen doch nicht.« Einige Damen aus der Zahl der Neunzehn meinten aber, der Gedanke wäre nicht schlecht, und beschlossen zu warten, bis die armselige Geschichte vorüber sei, und dann einen Ball zu geben, der jenen ganz in den Schatten stellen sollte.

Je näher die Zeit rückte, um so mehr wuchs die Verschwendungssucht, immer wilder wurden die Wünsche, immer leichtsinniger die Ausgaben. Es hatte ganz den Anschein, als ob jede einzelne der neunzehn Familien nicht nur mit den 40 000 Dollars fertig werden, sondern sich auch darüber hinaus in Schulden stürzen wollte, noch ehe die Entscheidung gefallen war. In ihrer Sorglosigkeit begnügten sich manche nicht damit, Pläne zu schmieden, sie machten wirkliche Einkäufe – auf Kredit. Bauplätze, Hypotheken, Wiesen und Äcker, Börsenpapiere, kostbare Kleider, Wagen und Pferde nebst vielen andern Dingen schafften sich die Leute an, zahlten ein Draufgeld und machten sich verbindlich, den Rest nach Ablauf von zehn Tagen zu entrichten.

Dieser erste Rausch war jedoch bald wieder verflogen und auf vielen Gesichtern begann sich eine entsetzliche Sorge und Angst zu spiegeln, wie Halliday zu seiner Verwunderung bemerkte. Das Rätsel wurde ihm nur noch unerklärlicher. »Die Kätzchen bei Wilcox sind nicht gestorben, weil gar keine zur Welt gekommen waren,« dachte er bei sich; »niemand hat das Bein gebrochen, alle Schwiegermütter sind noch am Leben – da werde nun einer klug daraus!«

Auch ein anderer Hadleyburger war über die Vorgänge in der Stadt höchlichst verblüfft, nämlich der Pastor Burgeß. Tagelang konnte er nirgends hingehen, ohne daß jemand ihm folgte oder ihm auflauerte. Kam er an irgend einen entlegenen Ort, so tauchte sicher dieser oder jener seiner Mitbürger auf, drückte ihm verstohlen einen Briefumschlag in die Hand, flüsterte: »Am Freitag Abend im Rathaus zu öffnen,« und verschwand wieder gleich einem Missetäter. Dem Pastor war es von vornherein zweifelhaft gewesen, ob jemand Anspruch auf den Sack erheben werde, denn Goodson war ja tot. Daß die Leute, welche sich an ihn drängten, lauter Bewerber sein könnten, kam ihm daher auch nicht von ferne in den Sinn. Als der wichtige Tag endlich erschien, hatte Burgeß neunzehn versiegelte Briefumschläge in der Tasche.

III.

Der Rathaussaal hatte noch nie so prächtig ausgesehen. Im Hintergrund der Rednerbühne, sowie längs den Wänden und Galerien war der ganze Raum mit reichem Flaggenschmuck verkleidet und behängt; sogar um die Säulen schlangen sich bunte Fahnen. Dies Festgepränge sollte einen mächtigen Eindruck auf die Fremden machen, die, wie man vorausgesehen hatte, von nah und fern herbeiströmten; unter ihnen auch eine Menge Berichterstatter der hervorragendsten Zeitungen. Der Saal war zum Erdrücken voll. Nicht nur die 412 festen Plätze waren sämtlich besetzt, sondern auch 68 Extrastühle, welche man hier und da verteilt hatte, sowie die Stufen zur Rednerbühne. Auf dieser selbst befanden sich Ehrensitze für die vornehmsten Gäste, und Tische in Hufeisenform, an denen die Herren von der Presse Platz genommen hatten.

Die Damen waren in großer Toilette; solchen Staat hatte Hadleyburg noch nie erblickt. Dem Anschein nach fühlten sich einige von ihnen nicht sehr behaglich in den kostbaren Gewändern. Wenigstens machten die Einheimischen diese Bemerkung, was aber wohl daher rühren mochte, daß sie genau wußten, jene Damen hätten in ihrem ganzen Leben noch niemals solche Kleider angehabt.

Im Vordergrund der Rednerbühne, auf einem kleinen Tisch, wo alle Welt ihn sehen konnte, lag der Goldsack. Dorthin wandten sich die meisten Blicke mit brennender Begierde und schmerzlich sehnsüchtigem Verlangen, während neunzehn Ehepaare den Sack mit einem liebevollen Eigentumsgefühl betrachteten. Die männlichen Hälften dieser glücklichen Minderzahl wiederholten sich dabei im stillen die hübsche kleine Rede aus dem Stegreif, mit welcher sie alsbald ihren Dank für die Glückwünsche der Menge auszudrücken gedachten. Von Zeit zu Zeit zog bald dieser bald jener Herr ein Stück Papier aus der Westentasche, um seinem Gedächtnis nachzuhelfen.

Anfänglich herrschte ein lebhaftes Stimmengewirr; als aber Pastor Burgeß aufstand und seine Hand auf den Sack legte, wurde es totenstill im Saal; man hätte eine Mücke husten hören können. Der Pastor erzählte die wunderbare Geschichte des Sacks und erging sich dann in warmen Worten über Hadleyburgs wohlverdienten Ruf fleckenloser Redlichkeit, auf den die Stadt mit Recht stolz sein könne. Dieser Ruf, sagte er, sei ein Besitz von unschätzbarem Wert, auf welchem auch Gottes Segen sichtlich ruhe. Denn durch jene merkwürdige Begebenheit habe sich Hadleyburgs Ruhm allenthalben verbreitet, so daß die Blicke von ganz Amerika jetzt auf diese Stadt gerichtet seien, und ihr Name für alle Zeiten, wie er glaube und hoffe, als Sinnbild unbestechlicher Treue in Handel und Wandel gelten werde. (Beifall). »Wer aber soll der Hüter dieses kostbaren Schatzes sein? Etwa die ganze Gemeinde? O nein! Jeder Einzelne ist dafür verantwortlich. Von heute ab hat jeder Bewohner dieser Stadt persönlich Sorge zu tragen, daß unser herrlichstes Besitztum unangetastet bleibt. Wollt ihr diese große Verantwortung auf euch nehmen? (Brausende Rufe der Zustimmung.) Dann ist alles wohl bestellt. Vererbt den Schatz auf eure Kinder und Kindeskinder! Bisher hat niemand eure Lauterkeit antasten können – möge es immer so bleiben. Kein einziger von unsern Mitbürgern würde sich heute verführen lassen, auch nur einen Cent anzurühren, der ihm nicht gehört – sehet zu, daß ihr in solcher Tugend beharrt!« (»Ja, ja, das wollen wir!«) »Hier ist nicht der Ort, um einen Vergleich zwischen uns und andern Gemeinden anzustellen, von denen einige kein Wohlwollen für uns hegen. Sie haben ihre Sitten und Gebräuche und wir die unsrigen – daran soll uns genügen. (Beifall.) Ich bin zu Ende, meine Freunde. Hier lege ich die Hand auf den Goldsack, dies beredte Zeugnis für die Anerkennung, die ein Fremder unserer Tugend zollt. Sie wird durch ihn jetzt und für alle Zeit in der ganzen Welt verkündet werden. Der Mann ist uns unbekannt, aber ich spreche ihm in euer aller Namen unsern tiefgefühlten Dank aus und bitte euch, mit mir in ein Hoch auf ihn einzustimmen.«

Der ganze Saal erhob sich, und minutenlang schallten die Wände von donnernden Hurrarufen wieder. Als die Ruhe hergestellt war, zog Pastor Burgeß einen versiegelten Briefumschlag aus der Tasche, öffnete ihn und nahm einen Papierstreifen heraus. In atemloser Spannung lauschten die Anwesenden auf die Zauberworte, von denen jedes einen Klumpen Gold wert war und die der Pastor jetzt langsam und nachdrücklich vorlas:

»Die Äußerung, welche ich dem armen Fremden gegenüber tat, lautete: ›Ihr seid noch lange kein ganz schlechter Mensch. Geht hin und bessert Euch.‹« Dann fuhr Burgeß fort: »Wir wollen uns nun überzeugen, ob diese Äußerung gleichlautend ist mit den Worten, die der Sack enthält. Dies wird unzweifelhaft der Fall sein, und sobald es bewiesen ist, gehört der Goldsack einem unserer Mitbürger, der fortan bei allem Volk als Inbegriff und Vertreter jener besonderen Tugend gelten wird, die den Ruhm unserer Stadt in ganz Amerika ausmacht. Sein Name ist – Billson!«

Alle hatten sich schon zu einem gewaltigen Beifallssturm gerüstet; jetzt schienen sie plötzlich wie vom Frost erstarrt. Eine unheimliche Stille lagerte über der Versammlung, dann hörte man allmählich ein leises Flüstern, das immer deutlicher wurde: »Billson! Nanu – wer das glaubt! Zwanzig Dollars hätte der einem Fremden gegeben? Nicht im Traum würde es ihm einfallen. Ja, Prosit – so was lassen wir uns nicht aufbinden!« Aber ihrer wartete noch eine größere Überraschung. Während an einer Stelle des Saales der Kirchenrat Billson mit demütig gesenktem Haupt dastand, hatte sich an einer andern Rechtsanwalt Wilson erhoben. Verwundert schwieg die Menge eine Weile, und die Entrüstung der neunzehn Ehepaare war groß. Billson und Wilson hatten sich umgewandt und starrten einander an.

»Weshalb stehen Sie auf, Herr Wilson?« fragte Billson in beißendem Ton.

»Weil ich ein Recht dazu habe. Vielleicht würden Sie so freundlich sein, den Anwesenden zu erklären, warum Sie nicht sitzen bleiben.«

»Mit Vergnügen. Ich habe den Zettel dort geschrieben.«

»Das ist eine unverschämte Lüge. Er ist von meiner Hand

Jetzt war die Reihe an Burgeß, sich zu verwundern. Er stand stumm da und starrte bald den einen, bald den andern an, ohne zu wissen, was er tun sollte. Endlich nahm Wilson das Wort:

»Ich ersuche den Vorsitzenden,« sagte er, »den Namen zu lesen, mit welchem das Papier unterzeichnet ist.«

Das brachte den Pastor wieder zu sich.

»John Wharton Billson,« las er.

»Da haben Sie’s,« schrie Billson. »Wie wollen Sie sich nun herausreden und sich wegen der Beleidigung entschuldigen, die Sie mit Ihrer frechen Täuschung nicht nur mir, sondern dieser ganzen Versammlung zugefügt haben?«

»Von Entschuldigung ist gar keine Rede. Im Gegenteil, mein Herr, ich klage Sie hiermit öffentlich an, daß Sie dem Pastor Burgeß meinen Zettel entwendet und eine Abschrift untergeschoben haben, auf der Ihr Name steht. Dies ist die einzige Art, wie Sie zur Kenntnis der bewußten Aeußerung gelangt sein können, denn außer mir weiß kein Mensch in der ganzen Welt, wie jene Worte gelautet haben.«

Der Sache mußte ein Ende gemacht werden, wollte man nicht das ärgerlichste Aufsehen erregen und der Klatschsucht Tür und Tor öffnen. Alle sahen bestürzt nach den Stenographen hin, die in rasender Eile immer weiter schrieben. »Zur Ordnung! Zur Ordnung!« rief man dem Vorsitzenden zu, bis dieser mit dem Hammer auf den Tisch klopfte.

»Meine Herren, lassen Sie uns die Würde dieser Versammlung aufrecht halten und den Anstand nicht verletzen,« sagte Burgeß. »Offenbar liegt hier ein Irrtum vor, weiter nichts. Wenn Herr Wilson mir ein Couvert gegeben hat, wie mir jetzt erinnerlich ist, so befindet sich dasselbe auch noch in meinem Besitz.« Er zog einen Umschlag aus der Tasche, öffnete ihn, warf einen Blick hinein, machte ein verstörtes, bekümmertes Gesicht, stand eine Weile in ratlosem Schweigen da, erhob dann unwillkürlich die Hand und versuchte mehrmals zu sprechen, brachte aber kein Wort heraus.

»Vorlesen! Vorlesen!« riefen viele Stimmen. »Was steht darin?«

Mechanisch und wie ein Träumender gehorchte Burgeß der Aufforderung:

»Die Äußerung, welche ich dem unglücklichen Fremden gegenüber tat, lautete: ›Ihr seid noch lange kein schlechter Mensch (die Zuhörer schauten ihn verblüfft an). Geht hin und bessert Euch.‹« (Gemurmel: »Wunderbar! Was soll das nur bedeuten!«) »Dies ist Thurlow G. Wilson unterschrieben,« sagte der Vorsitzende.

»Habe ichs nicht gesagt,« schrie Wilson; »jetzt ist es sonnenklar. Ich wußte ja gleich, daß mein Brief abgeschrieben worden ist.«

»Das ist erlogen,« tobte Billson; »ich verbitte mir dergleichen von Ihnen und Leuten Ihres Gelichters.«

Der Vorsitzende: »Ich muß Sie zur Ruhe verweisen, meine Herren, und Sie beide ersuchen, Ihre Plätze wieder einzunehmen.«

Murrend, unter zornigem Widerspruch folgten sie der Aufforderung. Die Versammelten sahen einander kopfschüttelnd an, keiner wußte sich den seltsamen Fall zurechtzulegen. Endlich stand der Hutmacher Thomson auf. Er wäre gern einer der neunzehn angesehendsten Bürger gewesen, allein das war ihm nicht beschieden; für solche Würde war sein Hutlager nicht groß genug.

»Ich erlaube mir, dem Vorsitzenden zu bemerken,« sagte er, »daß die beiden Herren dem Fremden gegenüber schwerlich genau dieselben Worte gebraucht haben. Nach meiner Ansicht ist das ein Ding der Unmöglichkeit.«

Hier wurde Thomson von dem Lohgerber unterbrochen, der zu den Unzufriedenen gehörte, weil er nicht als ein Neunzehner anerkannt wurde, wiewohl er Anspruch darauf zu haben meinte. Dies gab seiner Art und Weise einen etwas unangenehmen Beigeschmack.

»Bah,« rief er, »das ist gar nicht der Punkt, auf den es ankommt. So etwas könnte geschehen – alle hundert Jahre einmal –; aber das andere liegt außer dem Bereich der Möglichkeit: Keiner von beiden hat die zwanzig Dollars gegeben!« (Schallender Beifall).

Billson: »Ich habe es getan!«

Wilson: »Nein, ich habe es getan!«

Wieder beschuldigten sie einander des Diebstahls.

Der Vorsitzende: »Ruhe, sage ich. Setzen Sie sich, meine Herren. Keins der beiden Couverts ist mir auch nur einen Augenblick aus der Hand gekommen.«

Eine Stimme: »Gut – damit ist das abgemacht.«

Der Lohgerber: »Ich weiß, wie es zugegangen sein muß: Einer der Männer hat sich unter dem Bett des andern versteckt und seine Familiengeheimnisse belauscht. Wenn es nicht unparlamentarisch ist, möchte ich die Behauptung aufstellen, daß man allen beiden so etwas zutrauen kann. ( Der Vorsitzende: »Zur Ordnung, zur Ordnung!«) »Ich ziehe meine Bemerkung zurück und will nur noch erwähnen, daß, wenn der eine gehört hat, wie der andere die wichtige Äußerung seiner Frau mitteilte, wir jetzt bald hinter seine Schliche kommen werden.«

Eine Stimme: »Wieso?«

Der Lohgerber: »Nichts leichter als das. Die Äußerung ist von beiden nicht genau in denselben Worten wiedergegeben worden. Das würde den Anwesenden auch aufgefallen sein, wenn die zweite Lesart nicht erst nach einiger Zeit und nach aufregenden Streitigkeiten vorgetragen worden wäre.«

Eine Stimme: »Was ist der Unterschied?«

Der Lohgerber: »Auf Billsons Zettel steht das Wort ganz – auf dem andern nicht.«

Viele Stimmen: »Richtig, richtig, so ist es!«

Der Lohgerber: »Wenn nun der Herr Vorsitzende die Probe macht und den Zettel im Sack liest, werden wir erfahren, wer von den beiden Betrügern –« ( Der Vorsitzende: »Zur Ordnung!«) »wer von diesen zwei Glücksjägern –« ( Der Vorsitzende: »Zur Ordnung!«) »wer von den beiden Ehrenmännern –« (Gelächter und Beifall) »die Auszeichnung genießen soll, der erste Halunke zu sein, der je in unserer durch ihn entehrten Stadt geboren und erzogen worden ist. Sein fernerer Aufenthalt hier dürfte für ihn etwas unbehaglich werden.« (Lebhafter Beifall.)

Viele Stimmen: »Öffnen, öffnen – den Sack öffnen!!«

Burgeß machte einen Schlitz in den Sack, steckte die Hand hinein und zog ein Couvert heraus, welches zwei zusammengefaltete Papiere enthielt. Dann sagte er:

»Hier auf diesem Zettel steht: ›Erst zu öffnen, nachdem alle schriftlichen Mitteilungen, die der Vorsitzende etwa erhalten hat, gelesen worden sind.‹ Das andere Papier trägt die Aufschrift: ›Die Probe‹. Mit Ihrer Erlaubnis will ich den Inhalt lesen; er lautet:

 

»Ich verlange nicht, daß die Äußerung, welche mein Wohltäter mir gegenüber getan hat, in ihrer ersten Hälfte dem Wortlaut nach genau wiedergegeben sein soll; sie war unbedeutend und er hat sie möglicherweise vergessen. Die letzten Sätze aber sind so schlagend, daß sie ihm sicherlich im Gedächtnis geblieben sind. Stimmen diese nicht mit der Probe überein, so hat man es mit einem Betrüger zu tun. Mein Wohltäter begann mit der Bemerkung, daß er selten guten Rat erteile, täte er es aber einmal, so sei sein Rat auch von erster Güte. Was er nun sagte, hat sich mir unauslöschlich ins Gedächtnis eingeprägt: ›Ihr seid noch lange kein schlechter Mensch –‹«

 

Viele Stimmen: »Das ist entscheidend – das Gold gehört Wilson. Er soll reden! Wilson hat das Wort!«

Die Leute sprangen von ihren Sitzen auf, sie umringten Wilson, schüttelten ihm die Hand und wünschten ihm von Herzen Glück, während der Vorsitzende immer lauter mit dem Hammer auf den Tisch klopfte und rief:

»Ruhe! Ordnung, meine Herren! Ich bitte um Ruhe! Lassen Sie mich den Zettel zu Ende lesen. –«

Als sich der Sturm gelegt hatte, fuhr Burgeß fort:

»›Geht hin und bessert Euch. Tut Ihr es nicht, so werdet Ihr eines Tages sicherlich in Euern Sünden sterben und zur Strafe in die Hölle kommen, oder nach Hadleyburg – ersteres wäre noch vorzuziehen.‹«

Eine unheimliche Stille entstand. Zuerst lagerten sich dunkle Zorneswolken auf der Stirn aller Hadleyburger, doch allmählich erheiterten sich die Gesichter wieder, ja, es schien, daß sie große Mühe hatten, den Lachkitzel zu unterdrücken, der sich ihrer unwiderstehlich bemächtigte. Die Berichterstatter, die Bürger aus Brixton und sämtliche fremde Gäste hielten sich die Hand vors Gesicht oder saßen mit gesenktem Kopf da, während sie sich aus Höflichkeit aufs äußerste anstrengten, ihre Lachmuskeln zu beherrschen. In diesem verhängnisvollen Augenblick unterbrach Jack Halliday plötzlich das allgemeine Schweigen, indem er mit lauter Stimme rief: »Das Ding ist echt – ein Rat erster Güte!«

Jetzt platzte die ganze Versammlung heraus, Fremde wie Einheimische, und als sogar Burgeß seine Ernsthaftigkeit nicht behaupten konnte, legte sich niemand mehr Zwang auf. Ein ungeheures Gelächter erscholl, das lange kein Ende nehmen wollte. Ein paarmal wischten sich die Leute schon die Augen aus und der Vorsitzende nahm sich gewaltig zusammen, um die Verhandlung fortzusetzen, aber immer von neuem brachen die Lachsalven unaufhaltsam hervor, und es dauerte eine geraume Zeit, ehe Burgeß endlich anhub:

»Es würde nutzlos sein, wollten wir versuchen, uns die Tatsache zu verhehlen, daß es sich hier um eine sehr ernste Sache handelt, denn die Ehre und der gute Name unserer Stadt stehen auf dem Spiel. Schon der Umstand, daß die beiden Zettel der Herren Wilson und Billson sich nur durch ein Wort unterschieden, war von schwerwiegender Bedeutung, da derselbe klar bewies, daß einer von ihnen sich des Diebstahls schuldig gemacht hatte –«

Die beiden Männer, welche in großer Niedergeschlagenheit dagesessen hatten, sprangen wie elektrisiert in die Höhe.

»Setzen Sie sich,« befahl der Vorsitzende streng, und sie gehorchten. »Wie gesagt, der Umstand war unheilvoll, doch nur für einen der Beteiligten. Jetzt aber erhält die Sache ein noch weit schlimmeres Ansehen, denn die Ehre beider ist nicht nur bedroht, sondern ich darf wohl sagen unrettbar verloren. Beide haben die letzten Sätze mit den entscheidenden Worten ausgelassen.« Er hielt inne und die lautlose Stille, welche entstand, erhöhte noch die eindrucksvolle Wirkung des Augenblicks. Dann fuhr er fort:

»Mir scheint, daß es hier nur eine mögliche Erklärung gibt – deshalb frage ich die Herren – geschah dies auf Verabredung – in heimlichem Einverständnis?«

Ein Flüstern ging durch den Saal: »Er hat sie beide in der Falle,« murmelte die Menge.

Billson war einer so schwierigen Lage nicht gewachsen; er sah in völliger Hilflosigkeit da. Aber Wilson, der Advokat, hatte sich ermannt; mit bleicher, verstörter Miene richtete er sich empor.

»Ich bitte die geehrten Anwesenden um Nachsicht bei der Erörterung dieser höchst peinlichen Angelegenheit. Nur ungern ergreife ich das Wort, denn ich weiß, daß ich durch meine Aussage Herrn Billson, den ich immer geachtet und hochgeschätzt habe, den schwersten Schaden zufüge. Wie alle übrigen habe auch ich bisher geglaubt, daß seine Rechtschaffenheit jeder Versuchung trotzen würde; aber meine eigene Ehre verlangt, daß ich offen zu Ihnen rede. Mit Beschämung muß ich gestehen – und ich bitte Sie herzlich, es mir zu vergeben –, daß ich mich dem mittellosen Fremden gegenüber ganz so geäußert habe, wie es auf dem Zettel im Sack verzeichnet ist, sogar den schimpflichen Schlußsatz mit inbegriffen. (Große Erregung.) Mir war das noch vollkommen erinnerlich, als ich beschloß, Anspruch auf den Sack zu erheben, der mir von Rechts wegen zukam. Versetzen Sie sich bitte einen Augenblick in meine Lage: Die Dankbarkeit des Fremden war grenzenlos gewesen an jenem Abend; er sagte selbst, er könne unmöglich Worte dafür finden, doch würde er mir die Wohltat tausendfach vergelten, wenn er je imstande wäre, es zu tun. Nun fragen Sie sich einmal, ob sich bei dieser seiner Gesinnung erwarten ließ, ja, ob es auch nur denkbar war, daß er mir so übel mitspielen würde, jenen ganz unnötigen Schlußsatz auf seinem Zettel beizufügen, mich in die Falle zu locken und in einer öffentlichen Versammlung als Verleumder meiner Vaterstadt bloßzustellen? Dergleichen anzunehmen wäre höchst widersinnig gewesen. Ich zweifelte daher keinen Augenblick, daß auf jenem Papier nur der ganz harmlose Anfang meiner Aeußerung stehen würde. Sie hätten das auch geglaubt und einem Menschen, dem Sie aus der Not geholfen und dem Sie kein Leid getan, niemals zugetraut, daß er schmählichen Verrat an Ihnen üben würde. So schrieb ich denn mit voller Zuversicht den Eingang nebst den Worten ›Geht hin und bessert Euch‹ und setzte meinen Namen darunter. Als ich den Zettel eben in einen Umschlag tun wollte, wurde ich abgerufen und ließ ihn in meiner Sorglosigkeit offen auf dem Schreibtisch liegen.« Hier hielt der Redner inne, wandte den Kopf langsam nach Billson hin, wartete noch ein paar Sekunden und sagte dann: »Als ich etwas später zurückkam, machte Herr Billson eben meine Haustüre hinter sich zu – urteilen Sie selbst, was das zu bedeuten hatte.« (Große Erregung.)

Doch schon war Billson aufgesprungen: »Es ist eine schändliche Lüge!« schrie er, rot vor Zorn.

Der Vorsitzende: »Setzen Sie sich! Herr Wilson hat das Wort.«

Billsons Freunde zogen ihn auf seinen Platz zurück und suchten ihn zu beruhigen, während Wilson fortfuhr:

»Ich teile Ihnen nur Tatsachen mit. Mein Zettel lag nicht mehr an derselben Stelle auf dem Tisch, wohin ich ihn gelegt hatte. Ich sah das wohl, beachtete es aber nicht weiter, in der Meinung, ein Zugwind habe ihn dahin geblasen. Daß Herr Billson ein Privatpapier lesen würde, kam mir nicht in den Sinn; er mußte das als Ehrenmann für unter seiner Würde halten. Hätte sein Gedächtnis ihn nicht im Stich gelassen, so würde er das Wort ganz nicht hinzugefügt haben. Ich bin der einzige Mensch in der Welt, der jene Äußerung auf ehrenhafte Weise – genau wiedergeben konnte. Weiter habe ich nichts zu bemerken.«

Für den schlauen und gewandten Redner ist es von jeher ein Leichtes gewesen, die Denkfähigkeit einer Zuhörerschaft, die an das täuschende Blendwerk der Redekunst nicht gewöhnt ist, zu verwirren und sie zu maßlosen Gefühlsäußerungen fortzureißen. Als Wilson wieder Platz nahm, war sein Sieg gewonnen. Ein nicht enden wollender Beifallssturm erschallte; Freunde und Bekannte umringten ihn, schüttelten ihm die Hand und wünschten ihm Glück. Billson versuchte umsonst in dem Getümmel zu Worte zu kommen. Selbst der Vorsitzende strengte seine Lunge vergebens an, und wie laut er auch mit dem Hammer klopfte, niemand gab acht darauf.

Endlich wurde es einigermaßen still. »Fahren wir nun mit der Verhandlung fort!« rief Burgeß.

»Was ist denn da noch zu verhandeln?« hieß es; »man braucht ihm doch bloß den Sack zu geben.«

Viele Stimmen: »Jawohl, jawohl! Wilson soll vortreten!«

Der Hutmacher: »Ich fordere Sie auf, mit mir Herrn Wilson hoch leben zu lassen, als Inbegriff und Vertreter der besonderen Tugend, welche – –«

»Hoch! hoch! Hurra!« hallte es mit Donnergetöse durch den Saal. Wilsons Bewunderer hoben ihn auf ihre Schultern, und man schickte sich eben an, ihn im Triumph auf die Rednertribüne zu geleiten, als die Stimme des Vorsitzenden den Lärm übertönte: »Ruhe! Ordnung! Platz nehmen! – Erinnern Sie sich doch, meine Herren, daß ich noch ein Schriftstück zu verlesen habe.« –

Es ward wieder still im Saal; Burgeß nahm das zweite Papier zur Hand, legte es aber wieder hin. »Fast hätte ich vergessen, daß ich zuvor alle Zuschriften lesen soll, welche ich erhalten habe.« Er zog ein Couvert aus der Tasche, öffnete es, überflog den Inhalt und schien starr vor Verwunderung.

»Was ist es? Vorlesen! Vorlesen!« schrien zwanzig bis dreißig Stimmen auf einmal.

Langsam und bedächtig, als traue er seinen Augen kaum, las Burgeß:

»Die Äußerung, welche ich dem Fremden gegenüber tat – (Mehrere Stimmen: »Hallo, wie geht das zu?«) – lautete: ›Ihr seid noch lange kein schlechter Mensch. (Mehrere Stimmen: »Gerechter Himmel!«) Geht hin und bessert Euch.‹ (Eine Stimme: »Da schlag‘ doch das Donnerwetter drein!«) Gezeichnet von Herrn Bankier Pinkerton.«

Jetzt brach ein Höllenlärm los, über den die besonneneren Leute trauernd ihr Haupt schüttelten. Wer sich nicht mehr halten konnte, lachte daß ihm die Tränen über die Wangen liefen. Die Berichterstatter wälzten sich vor Lachen und machten solche Krakelfüße auf dem Papier, daß es nicht menschenmöglich war, nur ein Wort zu entziffern. Ein Hund, der im Winkel geschlafen hatte, schreckte auf und geriet über das Getöse so in Wut, daß er wie wahnsinnig zu bellen anfing. Jeder schrie und brüllte, was ihm gerade durch den Kopf fuhr. »Oho, immer toller! – Jetzt besitzen wir zwei Inbegriffe von Treue und Redlichkeit! – Nein, drei – man muß auch Billson mitzählen – je mehr, desto besser! – Richtig, richtig, Billson gehört dazu! – Was ist doch Wilson für ein armes Opferlamm – zwei Diebe haben ihn beraubt!«

Eine mächtige Stimme: »Stille! Der Vorsitzende holt wieder etwas aus der Tasche.«

Andere Stimmen: »Hurra! Was gibt es Neues? Vorlesen! Vorlesen!«

Der Vorsitzende (liest): »Die Äußerung, welche ich usw. ›Ihr seid noch lange kein schlechter Mensch. Geht hin‹ usw. Unterschrift: Gregor Yates.«

Dröhnende Rufe: »Vier Inbegriffe! – Der ehrliche Yates soll leben! – Weiter, weiter!«

Das Gebrüll im Saal wollte jetzt kein Ende nehmen; es galt, den Kapitalspaß von Grund aus zu genießen. Als einige von den Neunzehnern aufstanden und sich mit bleichen, angstvollen Mienen nach dem Ausgang hin zu drängen suchten, wurden von allen Seiten Rufe laut:

»Schließt die Türen! Zieht die Schlüssel ab! Kein Ehrenmann darf den Saal verlassen! Hinsetzen! Hinsetzen! Jeder auf seinen Platz!«

Alle folgten der Aufforderung.

»Immer mehr! – Vorlesen! Vorlesen!«

Burgeß zog abermals ein Couvert hervor und las die wohlbekannten Worte: »Ihr seid noch lange kein schlechter Mensch –«

»Der Name! Der Name! Was steht darunter?«

»Ingoldsby Sargent.«

»Fünf Auserwählte! Ein ganzer Haufen Inbegriffe! Weiter, weiter!«

»Ihr seid noch lange kein –«

»Den Namen her!«

»Nikolas Whitworth.«

»Hurra! Hurra! Hoch soll er leben!« »Hoch soll er leben!« fiel der ganze Saal ein; »hoch soll er leben! Dreimal hoch!!!«

»Jetzt noch ein Lebehoch für Hadleyburg, das Vorbild unbestechlicher Tugend, und für alle seine Inbegriffe und würdigen Vertreter!«

»Hadleyburg und seine Tugendspiegel sollen leben – hoch!« brüllte der Chor; »dreimal hoch!!!«

»Weiter, weiter!« tönte es jetzt aus vielen Kehlen. »Wir wollen mehr hören! Vorlesen! Alles vorlesen, was da ist!«

»Jawohl, jawohl! Das wird unsern Ruhm auf ewig begründen.«

Jetzt standen einige Männer auf, um Widerspruch zu erheben. Sie sagten, ohne Zweifel hätte sich irgend ein erbärmlicher Spaßvogel dies Possenspiel ausgedacht, das ein Schimpf für das ganze Gemeinwesen sei. Die Unterschriften müßten alle gefälscht sein, nur so ließe sich die Sache erklären. Aber sie predigten tauben Ohren.

»Oho! Schweigt nur und setzt euch wieder,« hieß es. »Ihr bekennt euch bloß schuldig – nächstens werden eure Namen an die Reihe kommen!«

»Wir fragen den Vorsitzenden, wie viele solche Briefumschläge er bekommen hat.«

»Es waren, glaube ich, neunzehn, alles in allem.«

Ein Hohngelächter erfolgte. »Vielleicht enthalten sie sämtlich das Geheimnis. Ich stelle den Antrag, von jedem derartigen Zettel die sieben ersten Wörter und die Unterschrift zu lesen. Wer stimmt dafür?«

Der Vorschlag wurde mit lautem Beifall aufgenommen und zum Beschluß erhoben. Da stand plötzlich der arme alte Reichard auf und ihm zur Seite seine Frau, das Haupt gesenkt, um ihre Tränen zu verbergen. Der Gatte gab ihr den Arm, sie zu stützen, und begann mit bebender Stimme:

»Freunde und Mitbürger, ihr kennt uns beide, Mary und mich von Jugend auf, und habt uns stets Liebe und Achtung erwiesen –«

»Entschuldigen Sie, Herr Reichard,« unterbrach ihn der Vorsitzende; »was Sie sagen, ist zwar die lautere Wahrheit – die ganze Stadt kennt Sie nicht nur, sondern ehrt und liebt Sie beide, aber –«

Hier ließ sich Hallidays Stimme vernehmen: »Wenn das auch die Meinung der Versammlung ist, so schlage ich vor, das Ehepaar Reichard leben zu lassen. Hurra, hoch!«

Lautes Beifallklatschen war die Antwort; zahllose Taschentücher wurden geschwenkt und donnernde Hochrufe erschallten. Dann fuhr der Vorsitzende fort:

»Ich wollte mir nur die Bemerkung erlauben, Herr Reichard, daß es zwar Ihrem guten Herzen Ehre macht, wir aber in diesem Fall den Missetätern keine Nachsicht gewähren dürfen.« (Zurufe: »Nein, nein!«) »Die edle Absicht steht Ihnen im Gesicht geschrieben; allein ich kann nicht gestatten, daß Sie sich für jene Männer verwenden –«

»Aber ich wollte ja nur –« »Setzen Sie sich, bitte, Herr Reichard. Wir müssen erst die übrigen Zuschriften lesen. Das verlangt schon die Billigkeit den Leuten gegenüber, deren Schuld wir bereits ans Licht gezogen haben. Sobald dies geschehen ist, wollen wir Sie anhören, das verspreche ich Ihnen.«

Zögernd nahm das Ehepaar wieder Platz. »Das Warten ist eine rechte Qual,« flüsterte Reichard seiner Frau zu. »Nun wird unsere Schande um so größer sein, wenn es sich herausstellt, daß wir nur für uns selber um Nachsicht bitten wollten.«

Jetzt ging der Spaß von neuem los; die Namen wurden gelesen.

»›Ihr seid noch lange kein schlechter Mensch –‹ Unterschrift ›Robert Titmarsch.‹

›Ihr seid noch lange kein schlechter Mensch –‹ Unterschrift: ›Eliphalet Wenks‹

›Ihr seid noch lange kein schlechter Mensch –‹ Unterschrift: ›Oskar Wilder‹«

Als der Vorsitzende so weit gekommen war, gerieten die Zuhörer auf den Einfall, ihn der Mühe zu überheben, jedesmal die sieben Wörter zu lesen, womit er sehr einverstanden war. Er hielt nun nur noch den Zettel in die Höhe und wartete, bis die Versammlung in volltönendem Chor, der fast klang wie die Melodie eines bekannten Kirchenliedes, feierlich die sieben Wörter sang: »Ihr seid noch la-an-ge kein schle-ech-ter Mensch.« Dann las er die Unterschrift: »Archibald Wilcox.« So ging es immer weiter unter allgemeinem Gaudium und zur Qual der unglücklichen Neunzehner. Jedesmal, wenn ein besonders angesehener Name verlesen ward, ließ der Chor den Vorsitzenden warten, sang die ganze Litanei von Anfang an bis zu den Worten: »zur Strafe in die Hölle gekommen, oder nach Hadleyburg – ersteres wäre noch vo-o-or-zu-ziehn« – und schloß dann mit einem mächtigen »A-a-a-a-men!«

Immer kleiner wurde die Zahl der noch zu verlesenden Papiere; Reichard wußte genau, wie viele noch fehlten und zuckte zusammen, so oft ein Name dem seinigen glich. Er wartete in qualvoller Spannung auf den Augenblick, wenn die Reihe an ihn kommen würde. Dann wollte er sich erheben und die Versammlung etwa mit folgenden Worten um Erbarmen für sich und Mary anflehen: »Bisher sind wir unsern Weg unsträflich gewandelt und haben noch nie in eine Sünde gewilligt. Aber wir sind alt und sehr arm, haben auch weder Sohn noch Tochter zur Stütze; die Versuchung war groß und wir sind unterlegen. Als ich vorhin aufstand, wollte ich mein Unrecht bekennen und bitten, daß man meinen Namen nicht öffentlich vorlesen möchte, weil ich glaubte, die Schande nicht überleben zu können; man ließ mich jedoch nicht ausreden. Ich weiß, es ist nur gerecht, wenn wir vor den andern nichts voraus haben; aber die Strafe ist hart. Unser Name war bis jetzt immer unbescholten; habt Erbarmen, denkt, daß wir stets rechtschaffene Leute gewesen sind, und laßt uns den Fehltritt nicht allzuschwer büßen.« So weit war er in seinen Gedanken gekommen, als Mary ihn anstieß, um ihn aus der Träumerei zu wecken. Eben sang der Chor: »Ihr seid noch la-a-nge kein« usw.

»Mach‘ dich bereit,« flüsterte Mary. »Jetzt ist die Reihe an dir; achtzehn Namen sind schon verlesen.«

»Weiter, weiter!« schrie die ungeduldige Menge. Langsam und zitternd erhob sich das alte Ehepaar. Burgeß steckte die Hand in die Tasche und schien einen Augenblick zu suchen. »Ich muß die Zettel alle gelesen haben,« sagte er dann.

Fast überwältigt von freudiger Überraschung sanken Reichard und seine Frau auf ihre Plätze zurück. »Gerettet!« flüsterte Mary; »Gott sei Dank. Er hat unsern Zettel verloren. Hundert Goldsäcke würden mich nicht so glücklich machen!«

Der Chor brüllte nun noch ein Lebehoch auf Hadleyburgs Redlichkeit und die achtzehn unsterblichen Vertreter seiner Tugend. Dann stand Wingate, der Sattler auf, um den wackersten Mann in der Stadt leben zu lassen, den einzigen aus der Klasse der angesehensten Bürger, der keinen Versuch gemacht habe, das Gold zu stehlen – Eduard Reichard.

Die Menge stimmte mit wahrer Begeisterung ein, und man pries Reichard laut, als den einzigen treuen Hüter der geheiligten Hadleyburger Überlieferung.

»Aber wer bekommt nun den Sack?« fragte eine Stimme.

Der Lohgerber (mit bitterem Spott): »Das liegt doch auf der Hand. Das Gold muß unter die achtzehn Tugendhelden verteilt werden. Jeder von ihnen hat dem armen Fremdling zwanzig Dollars gegeben – und jenen kostbaren Rat. Zweiundzwanzig Minuten hat es gedauert, bis sie einer nach dem andern bei ihm vorübermarschiert sind. Was sie für den Fremden eingezahlt haben, betrug alles in allem dreihundertsechzig Dollars; sie möchten nur ihr Geld und die Zinsen zurückhaben – die sich mit dem Kapital auf vierzigtausend Dollars belaufen.«

»Hahaha! Die armen Leute!« Allgemeines Hohngelächter.

Der Vorsitzende: »Ich bitte um Ruhe, damit ich die letzte Zuschrift des Fremden vorlesen kann. – Sie lautet: ›Falls sich niemand meldet, um Anspruch auf den Sack zu erheben, (lautes Seufzen und Stöhnen aus der Menge), so soll das Geld unter die ersten Bürger der Stadt verteilt werden, damit sie es aufs beste verwenden, um den ehrenwerten Ruf Hadleyburgs auch ferner zu erhalten und immer weiter auszubreiten. Dafür, daß sie dies nach besten Kräften tun werden, bürgt schon ihre eigene Unbescholtenheit und allgemein anerkannte Vortrefflichkeit.‹ (Spöttische Beifallsrufe von allen Seiten und lautes Händeklatschen.) Halt! Ich bin noch nicht zu Ende – hier ist eine Nachschrift:

» P. S. – Bürger von Hadleyburg!

Die ganze Sache beruht auf Erfindung – kein Mensch hatte jene Äußerung getan. (Unbeschreibliche Aufregung.) Sowohl der fremde Bettler als die geschenkten zwanzig Dollars samt dem guten Rat und Segenswunsch sind vollkommen aus der Luft gegriffen. (Großes Gewirr verwunderter und belustigter Stimmen.) Erlaubt, daß ich euch mit wenigen Worten meine Geschichte erzähle: Als ich eines Tages durch Hadleyburg reiste, tat man mir eine schwere, unverdiente Beleidigung an. Jeder andere hätte sich damit begnügt, ein paar von euch umzubringen, aber bei meiner Gemütsart würde mich eine so geringfügige Rache kaum entschädigt haben. Konnte ich euch auch nicht allen das Leben nehmen, so wollte ich doch jeden Insassen der Stadt, ob Mann oder Weib, empfindlich schädigen, wenn auch nicht an Leib und Gut, so doch an ihrer Eitelkeit – der Stelle, wo schwache und törichte Menschen am verwundbarsten sind. Verkleidet kam ich zurück und lernte euch näher kennen. Euch beizukommen war nicht schwer. Ihr besaßet einen Schatz, den ihr wie euern Augapfel hütetet, den altbewährten, hohen Ruhm unantastbarer Redlichkeit, der euern ganzen Stolz ausmachte. Sobald ich sah, daß ihr mit der größten Sorgfalt und Wachsamkeit jede Versuchung von euch und euern Kindern fernhieltet, war mein Plan gefaßt. Ihr einfältigen Menschen! Es gibt ja nichts Schwächeres auf Erden, als eine Tugend, die nicht im Feuer der Prüfung bewährt ist. Meine Absicht war, dem tugendstolzen Hadleyburg seinen Ruhm zu nehmen und fast ein halbes Hundert bisher untadeliger Männer und Frauen, die in ihrem ganzen Leben noch keine Unwahrheit gesagt und keinen Cent gestohlen hatten, zu Dieben und Lügnern zu machen. Eine Liste von Namen hatte ich bald entworfen; nur Goodson, der kein eingeborener Hadleyburger war, stand meinem Plan im Wege. Hätte ich euch damals meinen Brief vorlegen lassen, so würdet ihr ohne Zweifel gesagt haben: ›Goodson ist der einzige Bürger unserer Stadt, der einem armen Teufel zwanzig Dollars schenken könnte‹ – und ich fürchte, ihr wäret nicht in meine Falle gegangen. Sobald aber der Himmel Goodson von dieser Welt abgerufen hatte, warf ich den Köder mit vollster Zuversicht aus – ich wußte, ihr würdet anbeißen. Vielleicht fange ich nicht alle Männer, an welche ich die erdichtete Äußerung mit der Post geschickt habe, die meisten jedoch sicherlich, wie ich den Charakter der Hadleyburger kenne. Bei ihrer verkehrten Erziehung und inneren Haltlosigkeit wird selbst der Umstand, daß das Geld im Glücksspiel gewonnen ist, sie nicht hindern, es fälschlich an sich zu bringen. So hoffe ich denn, euern Stolz auf ewige Zeiten zu Grunde gerichtet zu haben, und Hadleyburg in einen ganz neuen Ruf zu bringen, der sich allenthalben verbreiten wird und den es nie wieder loswerden soll. Wenn mein Zweck erreicht ist, so öffne man den Sack und ernenne einen Ausschuß zur Erhaltung und Verbreitung des Hadleyburger Ruhmes.«

Viele Stimmen: »Der Ausschuß ist bereits erwählt. Die achtzehn Tugendhelden sollen vortreten!«

Jetzt trennte Burgeß den Sack auf und nahm eine Handvoll großer gelber Münzen heraus, die er durcheinander schüttelte und genau betrachtete.

»Werte Freunde,« sagte er, »es sind nur Scheiben aus vergoldetem Blech.«

Lautes Gelächter folgte auf diese Neuigkeit. Vergebens rief man nach den Mitgliedern des Ausschusses, um ihnen das Gold einzuhändigen; keiner rührte sich vom Platze. Endlich nahm der Sattler das Wort:

»Von allen unsern vornehmen Bürgern hat sich nur einer als redlich bewährt. Der Mann braucht Geld und verdient eine Unterstützung. Ich schlage daher vor, daß Jack Halliday den Auftrag erhält, den Sack voll vergoldeter Zwanzigdollarstücke hier öffentlich zu versteigern und den Ertrag Herrn Eduard Reichard zu übermitteln, denn er ist ein Mann von echtem Schrot und Korn, dem Hadleyburg mit Freuden alle Ehre erweist.«

Die Leute klatschten Beifall, der Hund bellte und die Versteigerung begann. Zuerst bot der Sattler einen Dollar; mehrere Bewohner von Brixton und Barnums Vertreter trieben sich gegenseitig in die Höhe. Bei jedem neuen Angebot jubelte die Menge; die Aufregung wuchs, die Bietenden wurden hartnäckiger und kühner. Von einem Dollar stieg der Preis auf fünf, auf zehn, auf zwanzig, auf fünfzig, auf hundert und immer höher.

Als der Antrag zuerst gestellt wurde, hatte Reichard seiner Frau in kläglichem Ton zugeflüstert: »O Mary, das dürfen wir nicht gestatten; es ist ein Zeugnis für die Reinheit unseres Charakters, ein Ehrengeschenk, und – und – wir können es doch nicht dulden! Sollen wir nicht lieber aufstehen und – Mary, was fangen wir nur an – was meinst du, daß wir –«

(Hallidays Stimme: »Fünfzehn für den Sack! Fünfzehn zum ersten – zwanzig – danke bestens – dreißig – dreißig zum – höre ich recht? – Vierzig – bieten Sie weiter, meine Herren – fünfzig zum ersten, zum zweiten, zum – siebzig – neunzig – bravo! Immer höher! – Hundert – hundertzwanzig – vierzig – noch ist es Zeit! – Hundertfünfzig – zweihundert – zweihundertfünfzig – keiner mehr? –«)

»Es ist eine neue Versuchung, Eduard – ich zittere an allen Gliedern. Aus der ersten sind wir glücklich errettet worden; das sollte uns zur Warnung dienen –« [»Habe ich recht gehört? Sechs – meinen Dank – sechshundertfünfzig – siebenhundert.«] »Und doch, wenn man’s recht bedenkt, – kein Mensch argwöhnt –« [Achthundert Dollars! Hurra! Neunhundert wäre noch besser! – Haben Sie neunhundert gesagt, Herr Parsons? – Ganz recht – also dieser schöne Sack, mit echtem Blech gefüllt, soll samt der Vergoldung für nur neunhundert Dollars – tausend – sehr verbunden! Will niemand elfhundert bieten für den Sack, der als eine der berühmtesten Raritäten in den Vereinigten Staaten –«] »O Eduard,« schluchzte Mary, »wir sind so arm – aber – tu‘ was dir am besten dünkt – ich hindere dich nicht.«

Eduard erlag der Versuchung, das heißt, er saß still und beschwichtigte sein Gewissen damit, daß die Umstände ihm keine Wahl ließen.

 

Während der ganzen Zeit war ein Fremder, welcher aussah wie ein als englischer Graf verkleideter Geheimpolizist, den Verhandlungen mit dem größten Interesse gefolgt. Jetzt trug sein Gesicht einen hochbefriedigten Ausdruck, und was er bei sich dachte, war ungefähr folgendes: »Die achtzehn Tugendhelden bieten nicht mit, das ist nicht in der Ordnung, es verstößt gegen die poetische Gerechtigkeit. Sie müssen im Gegenteil den Sack kaufen, den sie stehlen wollten, und einen ordentlichen Preis dafür zahlen – denn es sind reiche Leute darunter. Außerdem hat der einzige Hadleyburger, der meine Berechnung zu Schanden gemacht hat, eine hohe Prämie verdient, und sie darf ihm nicht entgehen. Der arme alte Reichard ist ein ehrlicher Mann, das muß ich zugeben, obgleich es mir unfaßlich scheint. Jedenfalls soll er den Glückstopf ausleeren, wie es ihm von Rechts wegen gebührt. Daß er mich Lügen gestraft hat, will ich ihm nicht nachtragen.«

Gespannt beobachtete der Fremde den weiteren Verlauf der Auktion. Nachdem tausend Dollars geboten waren, ging der Preis nur noch langsam in die Höhe. Ein Liebhaber nach dem andern zog sich zurück. Nun bot der Fremde selbst ein paarmal mit, erst fünf Dollars mehr, jemand steigerte ihn noch um drei Dollars, dann fügte er rasch fünfzig hinzu und der Sack wurde ihm für eintausendzweihundertundzweiundachtzig Dollars zugeschlagen. Die Menge brach in schallende Hochrufe aus, doch trat gleich darauf eine lautlose Stille ein, als der Fremde mit der Hand winkte und zu reden begann:

»Gestatten Sie mir ein Wort, geehrte Anwesende. Ich bin Raritätenhändler und habe in der ganzen Welt Verbindungen mit Leuten, die seltene Münzen sammeln. Zwar könnte ich den Sack, so wie er ist, mit Gewinn verkaufen, aber einen ungleich größeren Vorteil würde ich daraus ziehen, wenn Sie mir eine Bitte gewähren wollten, welche ich Ihnen sogleich vortragen werde. Ich könnte dann jede einzelne dieser blechernen Münzen mindestens für ein echtes Zwanzigdollarstück verkaufen und würde gern einen Teil meines Profits Ihrem Mitbürger, Herrn Reichard, überlassen, dessen unerschütterliche Redlichkeit heute von Ihnen mit vollem Rechte anerkannt und gepriesen worden ist. Sein Anteil würde zehntausend Dollars betragen, die ich ihm morgen einhändigen will.« [Großer Beifall der Menge; Reichard und seine Frau wurden dunkelrot bei dem Lob, das schadete jedoch nichts, man legte es ihnen als Bescheidenheit aus.] »Der besondere Wert einer Rarität hängt meistens davon ab, ob sie die Wißbegierde reizt oder viel besprochen wird. Deshalb möchte ich Sie bitten, mir zu erlauben, daß ich auf diese vergoldeten Blechmünzen hier die Namen der achtzehn Herren stempeln lassen darf, welche –«

Mit Ausnahme einer kleinen Minderheit erhob sich die ganze Versammlung wie ein Mann, um unter Lachen und Beifallklatschen ihre Zustimmung zu geben. Als jedoch der Fremde seinen Dank dafür aussprechen wollte, daß man so bereitwillig auf seinen Vorschlag eingegangen war, erhoben sämtliche Tugendhelden außer Doktor Harkneß den heftigsten Widerspruch; sie wollten es sich nicht gefallen lassen, daß man ihnen solchen Schimpf antäte, und stießen sogar Drohungen gegen den Fremden aus, der jedoch ganz ruhig blieb.

Während nun die andern Siebzehn fortfuhren, zu bitten und zu drohen, benutzte Harkneß die günstige Gelegenheit, welche sich ihm bot. Er und Pinkerton waren die reichsten Männer der Stadt und Gegenkandidaten bei der Abgeordnetenwahl, um die ein heißer Kampf zwischen ihnen entbrannt war. Im Repräsentantenhaus verhandelte man gerade über den Bau einer neuen Eisenbahn; beide Männer besaßen große Strecken Landes und jeder hoffte, es bei der Regierung dahin zu bringen, daß die Bahn durch sein Besitztum geleitet würde, was ihm ein Vermögen einbringen mußte. Eine einzige Stimme konnte dabei vielleicht den Ausschlag geben. Vor einer gewagten Spekulation zurückzuschrecken, war Harkneß‘ Sache nicht, und hier galt es ein hohes Spiel. Der Fremde saß in seiner Nähe und die Unruhe im Saal war groß. Rasch beugte sich Harkneß vor und sagte:

»Wieviel verlangen Sie für den Sack?«

»Vierzigtausend Dollars.«

»Ich biete Ihnen zwanzigtausend.«

»Nein.«

»Fünfundzwanzig.«

»Nein.«

»Was sagen Sie zu dreißig?«

»Ich fordere vierzigtausend Dollars und keinen Pfennig weniger.«

»Sehr wohl; ich will den Preis zahlen. Morgen früh um zehn Uhr komme ich zu Ihnen ins Hotel; doch möchte ich nicht, daß es bekannt würde; ich wünsche Sie allein zu sprechen.«

Der Fremde war damit einverstanden; dann erhob er sich, um sich bei der Versammlung zu verabschieden; er dankte den Anwesenden nochmals für die Gewährung seiner Bitte, ersuchte den Vorsitzenden, ihm den Sack bis morgen aufzuheben und Herrn Reichard einstweilen drei Fünfhundertdollarscheine einzuhändigen. Nachdem Burgeß diese in Empfang genommen, fuhr der Fremde fort: »Morgen früh um neun will ich den Sack abholen und um elf Uhr Herrn Reichard den Rest der zehntausend Dollars persönlich in seinem Hause übergeben. Gute Nacht!«

Er entfernte sich rasch aus dem Saal, wo der Lärm jetzt von neuem anhob: Hurrarufe, Zischen, Beifallklatschen, Hundegebell, und dazwischen der Chorgesang: »Ihr seid noch la-a-nge kein schle-e-ech-ter Mensch –« erschallten in wildem Durcheinander.

IV.

Zu Hause angekommen mußte das Ehepaar Reichard noch bis Mitternacht fortwährend Glückwünsche und Lobsprüche über sich ergehen lassen. Als sie endlich allein waren, saßen sie mit betrübten Mienen stumm und traurig da, bis Mary zuletzt tief aufseufzte:

»Glaubst du, Eduard, daß wir sehr, sehr unrecht getan haben?« fragte sie und schaute nach den Beweisen ihrer Schuld, den drei großen Kassenscheinen, welche die Leute vorhin mit so verlangenden Blicken betrachtet und kaum anzurühren gewagt hatten. Eduard schwieg eine Weile, dann kam ein Seufzer auch aus seiner Brust.

»Wir – wir konnten nichts dafür, Mary – es war eine Fügung des Himmels – wie alles in dieser Welt,« erwiderte er zögernd.

Mary sah ihn mit großen Augen an, aber er senkte den Blick.

»Ich war der Meinung,« sagte sie, »daß Lob und Anerkennung der Menschen immer Freude machten – aber jetzt scheint mir – höre, Eduard?«

»Was denn?«

»Wirst du deine Stelle bei der Bank behalten?«

»N – nein.«

»Was willst du tun?«

»Morgen früh meinen Abschied schriftlich einreichen.«

»Das wird wohl am besten sein.«

Reichard starrte unverwandt vor sich hin. »Bisher hatte ich keine Furcht, wenn mir auch das Geld anderer Leute stromweise durch die Hände floß,« murmelte er. »O Mary, ich bin müde zum Umfallen.«

»Laß uns zu Bette gehen.«

 

Am andern Morgen um neun Uhr holte der Fremde den Sack ab und fuhr damit in einer Droschke nach dem Hotel. Dort hatte Harkneß um zehn ein Privatgespräch mit ihm. Der Fremde ließ sich fünf Wechsel – zahlbar an den Überbringer – auf eine New Yorker Bank ausstellen, einen zu vierunddreißigtausend Dollars und vier zu fünfzehnhundert Dollars. Von letzteren steckte er einen in sein Taschenbuch, alle übrigen legte er in ein Couvert und schrieb ein Briefchen dazu, nachdem Harkneß fort war. Um elf Uhr klingelte er am Reichard’schen Hause; Mary guckte erst durch den Fensterladen, dann nahm sie an der Tür das Kuvert in Empfang, welches ihr der Fremde einhändigte, ohne ein Wort zu sagen. In großer Erregung kehrte sie ins Zimmer zurück.

»Schon gestern abend kam es mir vor, als müßte ich ihn früher irgendwo gesehen haben; aber jetzt habe ich ihn wiedererkannt.«

»Es ist wohl der Mann, der den Sack gebracht hat?«

»Ja, ich mochte darauf schwören.«

»Dann ist er auch der angebliche Stephenson, der die Bürger mit seinem erfundenen Geheimnis zum Narren gehalten hat. Wenn er uns nun Wechsel statt Geld bringt, sind wir noch einmal angeführt, während wir uns eben in Sicherheit wiegten. Nach der Nachtruhe war mir schon ganz behaglich zu Mute, aber dies Kuvert verdirbt alles wieder, es ist viel zu dünn. Achttausendfünfhundert Dollars, selbst in den größten Banknoten, wären ein dickeres Paket.«

»Was hast du denn gegen Wechsel einzuwenden?«

»Wenn sie dieser Stephenson ausgestellt hat! – Ich habe mich zwar darein gegeben, die 8500 Dollars in Banknoten anzunehmen, weil es der Himmel nun einmal so gefügt hat. Aber Wechsel einzulösen, welche jene verhängnisvolle Unterschrift tragen – nein, dazu fehlt mir der Mut. Es könnte eine Falle sein. Schon einmal hat mich der Mensch fast in seine Hände bekommen, und wir sind ihm wie durch ein Wunder entgangen. Jetzt versucht er es auf andere Weise. Wenn Wechsel in dem Couvert sind –«

»O Eduard, wie schrecklich!« Weinend hielt sie die Wechsel in die Höhe.

»Wirf sie ins Feuer, rasch, damit wir nicht in Versuchung kommen. Es ist nur eine Hinterlist, um uns ins Verderben zu locken – uns dem Hohn und Spott der Leute preiszugeben wie die andern. Wenn du es nicht tun kannst, gib sie mir.« Er riß ihr die Wechsel aus der Hand und wankte damit zum Ofen. Doch er war Kassierer von Beruf und konnte nicht umhin, zuvor noch einen Blick auf die Unterschrift zu werfen. Fast wäre er in Ohnmacht gefallen.

»Mary, Mary, halte mich – sie sind so gut wie Gold!«

»O Eduard, wie herrlich! Aber ist es auch ganz gewiß?«

»Harkneß hat die Wechsel ausgestellt. Das ist mir ein unerklärliches Rätsel.«

»Glaubst du denn, Eduard –«

»So sieh doch nur her! Fünfzehn – fünfzehn – fünfzehn – vierunddreißig! Achtunddreißigtausendfünfhundert! Was sagst du dazu, Mary? – Der Sack ist keine zwölf Dollars wert und Harkneß hat offenbar diese Riesensumme dafür gezahlt.«

»Und du glaubst, das alles soll uns gehören? Nicht nur die versprochenen Zehntausend?«

»Es hat ganz den Anschein. Überdies lauten die Wechsel auf den ›Überbringer.‹«

»Ist das günstig, Eduard? Was hat das zu bedeuten?«

»Man kann das Geld bei jeder beliebigen Bank erheben. Vielleicht wünscht Harkneß nicht, daß die Sache hier ruchbar wird. Was ist denn das – – ein Brief?«

»Ja, er lag bei den Wechseln.«

Das Schreiben war von Stephensons Hand, trug aber keine Unterschrift. Reichard las:

 

»Ich habe mich in Ihnen getäuscht; Ihre Ehrlichkeit ist über jede Versuchung erhaben. Als ich das Gegenteil annahm, tat ich Ihnen unrecht, und bitte Sie aufrichtig, es mir zu verzeihen. Sie verdienen meine vollste Hochachtung, und Ihre Mitbürger sind nicht wert, Ihnen die Schuhriemen aufzulösen. Ich bin mit mir selbst eine Wette eingegangen, daß sich in Ihrer tugendstolzen Stadt neunzehn Männer zur Unredlichkeit verführen lassen würden. Die Wette habe ich verloren. Nehmen Sie den ganzen Einsatz; er gebührt Ihnen von Rechts wegen.«

 

Reichard tat einen tiefen Atemzug: »Das brennt, als wäre es mit Feuer geschrieben,« sagte er. »Mir ist wieder ganz erbärmlich zu Mute, Mary.«

»Mir auch. Ach, hätten wir doch – –«

»Stelle dir nur vor, Mary – er glaubt an mich.«

»Schweig‘ still davon – ich halte es sonst nicht aus.«

»Wenn ich dies schöne Lob verdiente – und Gott weiß, ich glaube, früher war das der Fall – so gäbe ich wahrhaftig die vierzigtausend Dollars dafür hin. Sein Schreiben aber würde ich heilig aufbewahren, es wäre mir mehr wert, als Gold und Juwelen. Doch jetzt müßte es uns ein ewiger Vorwurf sein, darum fort mit ihm.«

Er warf das Papier in die Flammen. –

Indem kam ein Bote, der einen Brief brachte. Burgeß hatte ihn geschickt; er lautete:

 

»Sie waren mein Retter zur Zeit der Not. Zum Dank dafür habe ich Sie gestern gerettet. Ich mußte es auf Kosten der Wahrheit tun, doch habe ich das Opfer gern gebracht, es reut mich nicht. Es weiß doch keiner Ihrer Mitbürger so gut wie ich, daß Sie ein braver, wackerer und edler Mensch sind. Sie wissen, welches Fehltritts man mich anklagt, und da man allgemein von meiner Schuld überzeugt ist, kann ich auf Ihre Achtung keinen Anspruch machen. Aber der Gedanke, daß Sie mich wenigstens nicht für einen Undankbaren halten, wird mir die Last erleichtern, die ich tragen muß.

Burgeß.«

 

»Wieder von einer Angst befreit und unter welchen Bedingungen!« Er warf den Brief ins Feuer. »Ich – ich wollte, ich wäre tot, Mary, da hätte die Sache ein für allemal ein Ende.«

»Das sind jetzt rechte Leidenstage für uns, Eduard. So viel Großmut muß einem schier das Herz zermalmen – und das geht immer Schlag auf Schlag. –«

Drei Tage vor der Abgeordnetenwahl wurde jedem der zweitausend Wähler als kostbares Erinnerungszeichen eine der wohlbekannten falschen Doppelkronen zugestellt. Auf der einen Seite der Münze las man am Rand die Inschrift: ›Die Worte, die ich zu dem armen Fremdling sagte, lauteten –‹ Auf der andern Seite stand: ›Geht hin und bessert Euch! Pinkerton.‹

So wurde alles, was noch von dem großen Possenspiel an Unrat übrig geblieben war, über ein einziges Haupt ausgegossen, und die Wirkung war verhängnisvoll. Das furchtbare Hohngelächter begann von neuem und richtete sich ausschließlich gegen Pinkerton, so daß bei Harkneß‘ Wahl von einem Kampf überhaupt nicht mehr die Rede war.

 

Herr und Frau Reichard hatten inzwischen Zeit gehabt, ihr Gewissen über die Annahme der Wechsel zu beruhigen; sie machten sich keine Vorwürfe mehr wegen ihrer Sünde. Doch sollten sie noch inne werden, welche Schreckensgestalt eine böse Tat annehmen kann, sobald die Möglichkeit ihrer Entdeckung vorhanden scheint. Die Sünde selbst gewinnt dadurch eine völlig neue Bedeutung und Wichtigkeit.

Am nächsten Sonntag war die Predigt in der Kirche ganz so wie immer. Dieselben alten Sachen wurden in hergebrachter Weise vorgetragen. Die Eheleute hatten das alles schon tausendmal gehört, ohne sich davon getroffen zu fühlen; es war oft ordentlich schwer gewesen, nicht dabei einzuschlafen, weil es ihnen so unerheblich und abgedroschen vorkam. Aber auf einmal war das ganz anders. Die Predigt schien voller Anschuldigungen und ganz besonders auf Leute gemünzt, die eine schwere Sünde vor der Welt verbergen möchten. Als der Gottesdienst zu Ende war, wich das Ehepaar so viel wie möglich der sie beglückwünschenden Menge aus; von unbestimmter Furcht und Bangigkeit erfüllt, kehrten sie in tiefster Niedergeschlagenheit heim. Unterwegs sahen sie zufällig von ferne Herrn Burgeß, der um die Straßenecke bog, ohne ihren Gruß zu erwidern. Er hatte sie nicht gesehen, aber da sie das nicht wußten, fragten sie sich besorgt, was es wohl bedeuten möchte. Sollte er erfahren haben, daß Reichard seine Unschuld damals hätte an den Tag bringen können? Vielleicht wartete er nur eine günstige Gelegenheit ab, um die Rechnung mit ihm ins Reine zu bringen. – Daheim fingen sie vor lauter Angst an, sich einzubilden, ihre Magd müsse sie im Nebenzimmer belauscht haben, als Reichard seiner Frau erzählte, er wisse, daß Burgeß unschuldig sei. Sie glaubten sich sogar zu erinnern, daß sie damals dort ein Rascheln gehört hätten; kein Zweifel, Sara war die Verräterin. Sie riefen die Magd ins Zimmer und stellten ihr so unzusammenhängende, wunderliche Fragen, daß Sara bald auf den Gedanken kam, der Verstand der alten Leute müsse bei dem plötzlichen Glückswechsel gelitten haben. Als sie nun unter ihren forschenden, mißtrauischen Blicken errötend ängstlich und befangen wurde, sah das Ehepaar dies für den deutlichen Beweis ihrer Schuld an. Sobald Sara das Zimmer verließ, redeten sie weiter über diese Entdeckung und quälten sich mit den gewagtesten Trugschlüssen und Vermutungen, plötzlich stöhnte Reichard laut auf.

»Was gibt es? – Fehlt dir etwas?«

»Burgeß‘ Brief geht mir im Kopf herum. Jetzt erst verstehe ich seinen beißenden Spott. Man kann ja zwischen den Zeilen lesen, wie gut er weiß, daß ich seine Unschuld kannte. Und ich Narr nahm sein Lob für bare Münze. Du weißt doch, Mary –«

»Daß er dir deine Abschrift nicht wiedergeschickt hat – den Zettel mit der erlogenen Äußerung. Ja, das ist entsetzlich.«

»Er behält ihn, um uns damit zu Grunde zu richten. Einigen Leuten muß er ihn schon gezeigt haben; ich sah es ihnen nach der Kirche am Gesicht an. Nein, ich täusche mich nicht. Er hätte doch auch unsern Gruß erwidert, wenn er nichts Böses gegen uns im Schilde führte.«

In der Nacht wurde der Arzt zu Reichard gerufen und am Morgen verbreitete sich das Gerücht, die alten Leute seien ernstlich erkrankt. Die gewaltige Aufregung über das Glück, welches ihnen so unerwartet in den Schoß gefallen war, das späte Aufbleiben und die vielen Gratulationsbesuche seien schuld daran, meinte der Doktor. Die Hadleyburger hörten es mit großer Betrübnis, denn dies Ehepaar war ja das einzige, worauf sie noch stolz sein konnten.

Zwei Tage später lautete der Bericht noch schlimmer; Reichard lag im Fieber und benahm sich sehr sonderbar. Nach Aussage der Wärterinnen, hatte er seine Wechsel sehen lassen, die aber nicht auf 8500 Dollars, sondern auf die Riesensumme von 38 000 Dollars ausgestellt waren. Wie kamen die Leute zu einem so ungeheuren Vermögen?

Tags darauf wußten die Wärterinnen noch wunderbarere Dinge zu erzählen. Sie hatten die Wechsel in Verwahrung nehmen wollen, damit sie nicht beschädigt würden, aber als man danach suchte, fand man sie unter dem Kissen des Kranken nicht mehr: sie waren und blieben verschwunden.

»Was wollt ihr mit meinem Kissen?« hatte Reichard gefragt; »laßt mich in Ruhe!«

»Wir möchten nur, daß die Wechsel –«

»Die werdet ihr nie mehr erblicken, die sind vernichtet. Es war Satanswerk; ich habe das Brandmal der Hölle darauf gesehen; ihr Zweck war, mich in Sünde und Schande zu stürzen.« Dann begann er schreckliche Reden zu führen über ganz unverständliche Dinge und der Doktor ermahnte die Umstehenden, nichts davon weiterzusagen.

Doch mußte eine Wärterin wohl im Schlaf die Fieberphantasien des Kranken ausgeplaudert haben, denn bald darauf sprach man in der ganzen Stadt davon. Die Leute erzählten sich, Reichard hätte so gut wie die andern Anspruch auf den Sack erhoben, was durch Burgeß zuerst verheimlicht und dann aus Bosheit verraten worden sei.

Als man Burgeß dies vorhielt, leugnete er standhaft und meinte, es sei ungerecht, den Worten, die ein kranker alter Mann im Fieberwahn geredet, irgend welche Bedeutung beizumessen. Allein der Argwohn war nun einmal wach geworden und jeder ließ seiner Zunge freien Lauf.

Nach zwei Tagen lag auch Frau Reichard im Fieber, und was sie sprach, war nur eine Wiederholung von ihres Mannes Reden. Da zweifelte niemand mehr, daß es auch mit der Vortrefflichkeit des einen unbescholtenen Bürgers, den Hadleyburg noch unter seinen ersten Familien besessen hatte, nicht sonderlich beschaffen sein könne, und mit dem Stolz auf ihn war es ein für allemal vorbei.

Wieder vergingen sechs Tage, da lag das alte Ehepaar im Sterben. Kurz vor seinem Tode kam Reichard noch einmal zu klarem Bewußtsein und ließ Burgeß rufen. Der Pastor bat die Anwesenden, das Zimmer zu verlassen, da der Kranke gewiß wünsche, mit ihm allein zu reden.

»Nein,« sagte Reichard, »ich muß Zeugen haben. Ihr alle sollt mein Bekenntnis hören, denn ich will wie ein Mann sterben und nicht wie ein elender Heuchler. Ich war rechtschaffen, aber nur gewohnheitsmäßig – wie alle übrigen Hadleyburger, und gleich meinen Mitbürgern bin ich der ersten wirklichen Versuchung unterlegen. Ich unterschrieb eine Lüge, um in den Besitz des erbärmlichen Sackes zu gelangen. Pastor Burgeß erinnerte sich, daß ich ihm einmal einen Dienst erwiesen hatte; aus Dankbarkeit behielt er meinen Brief zurück, um meine Ehre zu retten. Er wußte nicht, daß ich die Anklage, welche vor Jahren gegen ihn geschleudert wurde, durch mein Zeugnis hätte entkräften können. Aber ich war ein Feigling und gab ihn der Schande preis –«

»Nein, nein, Herr Reichard, Sie haben – –«

»Meine Dienstmagd hat ihm dieses Geheimnis verraten –«

»Kein Mensch hat mir ein Sterbenswort gesagt –«

– »und darauf tat er etwas, das vollständig natürlich und gerechtfertigt war. Seine Güte und Nachsicht gegen mich reute ihn und er offenbarte meine Schuld, wie ich es verdiente.«

»Niemals – das schwöre ich –«

»Ich vergebe es ihm von ganzem Herzen.«

Des Pastors Beteuerungen waren umsonst, er predigte tauben Ohren. Der Sterbende hauchte seinen letzten Seufzer aus, ohne noch zu erfahren, daß er dem armen Burgeß wiederum ein Unrecht zugefügt hatte. In der folgenden Nacht starb auch die alte Frau Reichard. So war denn der letzte der Neunzehner eine Beute des teuflischen Sackes geworden, und die Stadt hatte ihren alten Ruhm für ewige Zeit eingebüßt. Ihre Trauer darüber trug sie zwar nicht zur Schau, aber sie war tief und aufrichtig.

Nach vielen Bitten und Eingaben erhielt Hadleyburg von der Regierung die Erlaubnis, einen andern Namen anzunehmen (einerlei, welchen, ich will ihn nicht ausplaudern), und aus dem uralten Motto seines Stadtsiegels ein Wort fortzulassen.

Es ist jetzt wieder eine rechtschaffene Stadt, und wer sie noch einmal überrumpeln wollte, der müßte früh aufstehen.

Ein Tischgespräch

Ein Tischgespräch

Auf unserer Schweizerreise waren wir, ich und mein Reisebegleiter Harris, einmal im ›Schweizerhof‹ in Luzern abgestiegen, wo wir ein Tischgespräch hatten, an das ich zeitlebens denken werde.

Man ging um 7½ zur Tafel, an der sich eine Menge Angehöriger der verschiedensten Nationalitäten zusammenfanden; doch ließen sich an den ungeheuer langen Tischen besser Kleider als Menschen beobachten, da man die Gesichter meist nur in der Perspektive zu sehen bekam. Das Frühstück dagegen wurde an kleinen runden Tischen eingenommen, und wenn man das Glück hatte, einen Platz in der Mitte des Saales zu erhalten, konnte man so viele Gesichter studieren, als man wünschte.

Öfters versuchten wir zu erraten, zu welcher Nation die Leute gehörten und dies gelang uns ziemlich gut, aber mit den Namen der Personen glückte es uns weniger; um diese zu raten, ist wahrscheinlich viele Übung nötig. So gaben wir dies denn auf und begnügten uns mit weniger schwierigen Versuchen.

Eines Morgens sagte ich: »Da sitzt eine Gesellschaft Amerikaner!«

»Ja,« meinte Harris – »aber aus welchem Staat?«

Ich nannte einen Staat, Harris einen andern! Daß das junge Mädchen, das zu der Gesellschaft gehörte, sehr schön sei und sehr geschmackvoll gekleidet, darin waren wir einerlei Meinung, über ihr Alter jedoch konnten wir uns nicht einigen: ich meinte, sie sei achtzehn, Harris hielt sie für zwanzig. Wir ereiferten uns darüber und ich sagte schließlich,

als ob es mein Ernst wäre: »Die Sache läßt sich ja sehr leicht entscheiden, – ich will hingehen und sie fragen.«

Harris erwiderte in spöttischem Ton: »Ja, das wird wohl das Beste sein. Du brauchst ja nur hinüberzugehen und mit der hier gebräuchlichen Formel zu sagen: ›Ich bin Amerikaner!‹ Dann wird sie sich natürlich sehr freuen, dich zu sehen.« Dabei gab er mir zu verstehen, daß ich es wohl schwerlich wagen würde, sie anzureden.

»Ich habe nur so gedacht,« versetzte ich, »und es nicht im Ernst gemeint, aber du traust mir doch zu wenig Courage zu; ein Frauenzimmer macht mir nicht so leicht bange, und jetzt gehe ich hin und spreche mit dem Fräulein.«

Mein Vorhaben war sehr einfach: ich wollte sie höchst ehrerbietig anreden und um Entschuldigung bitten, wenn ihre große Ähnlichkeit mit einer frühern Bekannten mich getäuscht hätte. Wenn sie mir dann antwortete, der Name, den ich genannt habe, sei nicht der ihrige, so wollte ich mich abermals aufs höflichste entschuldigen, meine Verbeugung machen und mich wieder zurückziehen. Daraus konnte doch kein Unglück entstehen. – Ich ging also an den Tisch, verbeugte mich vor dem Herrn und wollte mich eben mit meiner Rede an sie wenden, als sie ausrief:

»Also habe ich mich doch nicht geirrt! – Ich sagte gleich zu John, daß Sie es wären; er wollte mir nicht glauben, aber ich wußte, daß ich recht hatte und sagte, Sie würden mich sehr bald erkennen und zu uns herüberkommen! Es freut mich sehr, daß Sie es getan haben, denn wenn Sie fortgegangen wären, ohne mich zu erkennen, hätte ich das nicht für sehr schmeichelhaft gefunden. Bitte, setzen Sie sich doch! – Wie merkwürdig! – Sie sind wirklich der letzte Mensch, den ich erwartet hätte jemals wieder zu sehen!«

Das war eine Überraschung, die mich förmlich betäubte und mir einen Augenblick die Besinnung raubte. Indessen schüttelten wir uns herzlich die Hände und ich nahm neben ihr Platz; aber in einer solchen Klemme war ich wirklich noch nie gewesen. Mir dämmerte es dunkel, als ob ich die Züge des Mädchens schon einmal gesehen hätte, aber wo das gewesen war und welcher Name zu ihr gehörte, war mir gänzlich entfallen. Daher begann ich sogleich die Rede auf Schweizer Landschaften zu bringen, um mich nicht zu verraten; allein es half nichts, sie ging ohne Umschweife auf die Dinge los, die sie näher interessierten.

»Nein, was das für eine Nacht war, als der Sturm die vorderen Boote mit wegriß! Wissen Sie noch?«

»Wie sollte ich nicht!« sagte ich, aber ich hatte keine Ahnung. Ich wollte, der Sturm hätte auch das Steuer und den Kapitän selbst mitweggerissen, – dann wäre mir vielleicht ein Licht aufgegangen, wo ich die Fragerin hintun sollte.

»Und erinnern Sie sich, wie bange die arme Marie war?«

»Jawohl,« sagte ich, »nein, wie einem alles wieder gegenwärtig wird.«

Das wünschte ich zwar aufs innigste, aber es war wie aus meinem Gedächtnis weggeblasen! Das Klügste wäre gewesen, offen die Wahrheit zu gestehen, aber das konnte ich nicht übers Herz bringen, nachdem das junge Mädchen mir solches Lob gespendet, weil ich sie wieder erkannt hatte. So geriet ich denn immer tiefer hinein und hoffte vergebens auf einen rettenden Faden, um aus dem Labyrinth zu kommen.

Die Unerkennbare fuhr lebhaft fort: »Denken Sie, Georg hat doch noch Marie geheiratet!«

»Wirklich? Ist es möglich!« –

»Jawohl; er sagte, er glaube, daß ihr Vater viel mehr schuld gewesen sei, als sie selbst; und ich glaube, er hatte recht, meinen Sie nicht auch?«

»Natürlich, es war ja ganz klar, ich habe es doch immer gesagt.«

»O nein, Sie waren ja anderer Meinung, wenigstens in jenem Sommer.«

»Im Sommer, da haben Sie ganz recht, aber im folgenden Winter sagte ich’s.«

»Nun, es stellte sich heraus, daß Marie gar nicht schuld war, sondern nur ihr Vater und der alte Darley.«

Um doch etwas zu erwidern, sagte ich:

»Ja, Darley habe ich immer als ein lästiges altes Geschöpf angesehen!«

»Das war er auch, aber trotz seiner Sonderbarkeiten waren sie ihm zärtlich zugetan; – wissen Sie noch, wie er immer versuchte, ins Haus zu kommen, sobald es nur im geringsten kalt war?«

Ich getraute mir nicht, weiter zu gehen. Offenbar war dieser Darley kein Zweifüßler, sondern irgend ein Vierfüßler, vielleicht ein Hund, möglicherweise ein Elefant. Da nun jedes Tier eine Haut hat, so fiel ich im Anschluß an ihre Frage mit der Bemerkung ein:

»Und was er für ein Fell hatte!«

Diese Bemerkung mußte passen, denn sie sagte zustimmend:

»Ja, ein sehr dickes – und erst seine Wolle!«

Das verblüffte mich, ich wußte nicht recht weiter und sagte nur:

»Ja, an Wolle fehlte es ihm nicht!«

»Einen Neger mit solchem Wollhaar könnte man lange suchen,« meinte sie.

Das war ein Lichtblick, denn mir fing an schwül zu werden, und ich war froh, als sie fortfuhr:

»Er war doch selbst bequem genug einquartiert, aber wenn es kalt wurde, fand er sich stets bei der Familie ein und war nicht wieder aus dem Hause zu bringen. Man sah ihm manches nach, weil er vor Jahren Tom das Leben gerettet hatte. Erinnern Sie sich noch an Tom?«

»Ganz deutlich, er war ein so hübscher Mensch!«

»Jawohl, und das Kind ein so niedliches Ding.«

»Ein hübscheres Kind habe ich nie gesehen.«

»Ich tat nichts lieber, als mit ihm tändeln und spielen.«

»Und ich schaukelte es so gern auf den Knieen.«

»Sie haben ihm auch den Namen ausgesucht, – wie war es doch?«

Jetzt kam ich aufs Glatteis! Hätte ich nur des Kindes Geschlecht gewußt. Zum guten Glück fiel mir ein Name ein, der für alle Fälle paßte. Ich sagte:

»Es wurde Fränzchen genannt.«

»Nach einem Verwandten vermutlich. Aber dem verstorbenen, das ich nie gesehen habe, gaben Sie auch den Namen; wie hieß denn das?«

Da das Kind tot war und sie es nie gesehen hatte, dachte ich, man könnte auf gut Glück einen Namen wagen und so antwortete ich:

»Es hieß Thomas Heinrich!«

Sie wurde nachdenklich und sagte: »Das ist doch sonderbar – sehr sonderbar!«

Ich saß ganz still und der kalte Schweiß lief an mir herunter. Aber, so arg meine Verlegenheit war, so hoffte ich doch, mich aus der Klemme zu ziehen, wenn sie nur nicht noch mehr Namen von Kindern wissen wollte. – Ich war begierig, wo der nächste Blitz einschlug. Sie war noch mit dem Namen des letzten Kindes beschäftigt, sagte aber plötzlich:

»Es war recht schade, daß Sie gerade fort waren als mein Kind geboren wurde, sonst hätten Sie seinen Namen auch wählen müssen.«

»Ihr Kind? Sind Sie denn verheiratet?«

»Ich bin seit dreizehn Jahren verheiratet.«

»Getauft, meinen Sie wohl.«

»Nein, verheiratet, – dieser Knabe hier ist mein Sohn.«

»Das scheint ja ganz unglaublich, – fast unmöglich! Wenn Sie es nicht für unhöflich halten, möchte ich mir wirklich erlauben zu fragen, ob Sie älter als achtzehn sind?«

»Am Tag des Sturmes, von dem wir sprachen, war ich gerade neunzehn, das war mein Geburtstag.«

Dadurch wurde ich wenig klüger, da ich das Datum des Sturmes nicht wußte.

Ich dachte nach, was ich wohl Unverfängliches sagen könnte, um meinen Anteil an der Unterhaltung beizutragen und meinen Mangel an Erinnerungen weniger bemerklich zu machen. Aber nichts Unverfängliches wollte mir einfallen. Wenn ich sagte: ›Sie haben sich seitdem nicht im geringsten verändert!‹ so war das riskiert; meinte ich dagegen: ›Sie sehen jetzt viel besser aus,‹ so ging das auch nicht. Eben wollte ich einen Ausfall auf das Wetter machen, als meine Landsmännin mir zuvorkam und rief:

»Wie habe ich mich gefreut, einmal wieder von den lieben alten Zeiten zu sprechen! Sie nicht auch?«

»Gewiß, eine solche halbe Stunde habe ich noch nie erlebt,« versetzte ich voll Gefühl und hätte mit Wahrheit hinzufügen können: ›Lieber wollte ich mir bei lebendigem Leibe die Haut abziehen lassen, als sie noch einmal durchzumachen.‹ Ich war von Herzen dankbar, mit der Feuerprobe fertig zu sein und wollte mich eben verabschieden, als sie fortfuhr:

»Nur eins geht mir im Kopf herum!«

»Was denn?«

»Der Name des verstorbenen Kindes. Wie sagten Sie doch, daß es hieß?«

Jetzt war ich übel daran; ich hatte des Kindes Namen ganz vergessen, wie konnte ich ahnen, daß ich ihn noch einmal brauchen würde. Ich ließ mir nichts anmerken und sagte kühn:

»Joseph Wilhelm.«

Aber der Knabe neben mir verbesserte meinen Irrtum:

»Nein; Thomas Heinrich.«

Ich bedankte mich bei ihm und sagte: »Ach ja, ich habe es mit einem andern Kind verwechselt, richtig, Thomas Heinrich hieß das arme Kind; Thomas, hm – nach dem großen Thomas Carlyle, und Heinrich – hm – nach Heinrich VIII., die Eltern waren sehr zufrieden mit den Namen.«

»Dadurch wird es nur noch sonderbarer,« murmelte meine schöne Freundin.

»Warum denn?«

»Weil die Eltern es immer Amalie Susanne nennen, wenn sie von ihm sprechen.«

Jetzt war meine Weisheit zu Ende; ich war wie auf den Mund geschlagen und wußte weder aus noch ein. Um die Sache fortzusetzen, hätte ich lügen müssen, und das wollte ich nicht. So saß ich denn stumm und ergeben da, und ließ mich von dem Feuer meiner eigenen Beschämung langsam zu Tode braten. Plötzlich aber lachte meine Gegnerin hell auf und sagte:

»Mir haben die Erinnerungen an alte Zelten mehr Spaß gemacht als Ihnen. Ich merkte bald, daß Sie sich nur stellten, als ob Sie mich kennten, und nachdem ich mein Lob an Sie verschwendet hatte, beschloß ich, Sie zu strafen, was mir auch gelungen ist. Es war mir sehr angenehm, durch Sie Georg und Tom und Darley kennen zu lernen; denn ich hatte vorher nie etwas von ihnen gehört. Wenn man es nur richtig anzufangen weiß, kann man von Ihnen wirklich eine ganze Menge Neuigkeiten erfahren. Marie, und der Sturm, der die vorderen Boote wegriß, sind wahre Tatsachen, alles andere ist Dichtung. Marie war meine Schwester, ihr ganzer Name ist Marie X.; wissen Sie nun, wer ich bin?« »Ja, jetzt erinnere ich mich Ihrer, – Sie sind gerade noch so hartherzig wie vor dreizehn Jahren auf dem Schiff, sonst würden Sie mich nicht so bestraft haben. Sie sind noch ganz wie Sie waren, von innen und von außen. Sie sehen ebenso jung aus wie damals, Ihre Schönheit ist unverändert und findet ihr Abbild in Ihrem prächtigen Knaben! – Und nun – wenn diese Worte Sie gerührt haben, lassen Sie uns Frieden schließen, denn ich bekenne mich für besiegt und überwunden.«

Dies wurde zum Beschluß erhoben und auf der Stelle ausgeführt.

 

Als ich zu Harris zurückkam, sagte ich: »Nun siehst du, was Talent und Geschicklichkeit ausrichten können!«

»Bitte sehr, ich sehe, was riesige Unwissenheit und Einfalt zu tun imstande sind! Daß ein Mensch, der seine fünf Sinne bei sich hat, sich auf diese Weise fremden Leuten aufdrängt und eine halbe Stunde in sie hineinredet, so etwas ist noch nicht dagewesen! Was hast du ihnen nur gesagt?«

»Gar nichts Schlimmes! Ich habe das Mädchen gefragt, wie es hieße!«

»Meiner Treu, das sieht dir ähnlich! Du bist imstande, so etwas zu tun! Es war dumm von mir, – ich hätte nicht zugeben sollen, daß du hingehst, um dich zum Narren zu machen. Aber wie konnte ich mir vorstellen, daß du dich so weit vergessen würdest! Was werden die Leute von uns denken? Aber, wie hast du es gesagt? Auf welche Weise? Ich hoffe, nicht ganz ohne Einleitung!«

»O nein, ich sagte: Mein Freund und ich, wir möchten gern wissen, wie Sie heißen, – wenn Sie nichts dagegen haben!«

»Nein, das war wirklich nicht mit der Tür ins Haus gefallen! – Du warst in der Tat von einer Höflichkeit, die dir Ehre macht, und ich danke dir noch besonders, daß du mich auch hineingemischt hast! Was tat sie aber?«

»Gar nichts Ungewöhnliches! Sie nannte mir einfach ihren Namen.«

»Ist es möglich! – Und zeigte auch gar keine Überraschung?«

»Doch – etwas hat sie gezeigt – vielleicht war es Überraschung – mir kam es aber vor, als sei es Freude.«

»Sehr wahrscheinlich … es muß natürlich Freude gewesen sein – wie hätte sie sich auch nicht freuen sollen, von einem Fremden mit einer solchen Frage angefallen zu werden. – Was tatest du weiter?«

»Ich reichte ihr die Hand und sie schüttelte sie.«

»Das habe ich gesehen – ich traute meinen Augen kaum! Hat der Herr denn nicht gesagt, er würde dir den Hals umdrehen?«

»Nein, mir schien es, als ob sie sich alle freuten, meine Bekanntschaft zu machen.«

»Das wird auch wohl der Fall gewesen sein; sie werden bei sich gedacht haben: dieser Ausstellungsgegenstand muß seinem Wärter entlaufen sein, wir wollen uns einen Spaß mit ihm machen! Das ist die einzige Erklärung für ihre Sanftmütigkeit. – Du nahmst Platz – haben sie dich dazu aufgefordert?«

»Nein, ich dachte, sie hätten es vergessen.«

»Welchen sicheren Instinkt du hast! Was hast du noch getan? Wovon hast du denn gesprochen?«

»Ich fragte das Mädchen, wie alt es wäre.«

»Nein, wirklich, dein Zartgefühl ist über alles Lob erhaben! Weiter – weiter – kümmere dich nicht um meine traurige Miene, – so sehe ich immer aus, wenn ich eine tiefe innere Freude empfinde. Sprich weiter! Sie gab dir ihr Alter an?«

»Ja, und dann erzählte sie mir von ihrer Mutter, ihrer Großmutter, den übrigen Verwandten und von ihren eigenen Angelegenheiten.«

»Alles von selbst?«

»Nein, das nicht gerade. Ich stellte die Fragen und sie gab mir die Antworten.«

»Das ist ja himmlisch! Hast du nicht auch nach ihren politischen Ansichten gefragt?«

»Freilich – sie ist Demokratin und ihr Mann Republikaner.«

»Ihr Mann? Das Kind ist doch nicht verheiratet?«

»Sie ist kein Kind; sie ist verheiratet, und der Herr, der neben ihr sitzt, ist ihr Mann!«

»Hat sie auch Kinder?«

»Ja, sieben und ein halbes.«

»Das ist unmöglich!«

»Nein, es ist die reine Wahrheit. Sie hat es mir selbst gesagt.«

»Aber – sieben und ein halbes? – Was soll das halbe bedeuten?«

»Das ist aus einer anderen Ehe – solch ein Stiefkind wird nur halb gerechnet.«

»Aus einer anderen Ehe? So hat sie schon einmal einen Mann gehabt?«

»Ja, vier; dies ist der vierte.«

»Ich glaube kein Wort davon, die Unmöglichkeit liegt ja auf der Hand. Ist der Knabe ihr Bruder?«

»Nein, ihr Sohn und zwar der jüngste. Er ist nicht so alt wie er aussieht, erst elf und ein halbes Jahr.«

»Das ist alles vollständig unmöglich! Die Sache scheint mir ganz klar: sie haben gesehen, wen sie vor sich hatten, und dich zum Narren gehalten. Ich bin froh, daß ich nichts damit zu schaffen habe; hoffentlich denken sie nicht, wir zwei seien Leute vom gleichen Schlage. Wollen sie denn lange hier bleiben?«

»Nein, sie reisen noch vor Mittag ab.«

»Ich kenne jemand, der herzlich froh darüber ist. Wo hast du es erfahren? Du hast sie wahrscheinlich gefragt?«

»Nein, zuerst fragte ich im allgemeinen nach ihren Plänen, und sie sagten, sie würden eine Woche hier bleiben und Ausflüge in die Umgegend machen. Gegen das Ende der Unterhaltung äußerte ich dann, wir würden sie gern auf ihren Touren begleiten und schlug vor, dich zu holen und ihnen vorzustellen. Dann zögerten sie ein wenig und fragten, ob du aus derselben Anstalt seiest wie ich. Ich sagte ja, worauf sie bemerkten, sie hätten sich anders besonnen und wollten sofort nach Sibirien abreisen, um einen kranken Verwandten zu besuchen.«

»Das setzt deiner Dummheit die Krone auf! So weit hat es noch niemand gebracht. Wenn du vor mir stirbst, setze ich dir ein Denkmal von Eselsköpfen, so hoch wie der Straßburger Kirchturm! Sie wollten wirklich wissen, ob ich aus derselben Anstalt wäre wie du? – Was für eine Anstalt meinten sie denn?«

»Ich weiß nicht, es fiel mir nicht ein, danach zu fragen.«

»Aber ich weiß es! – Sie meinten ein Irrenhaus, eine Anstalt für Blödsinnige. Und jetzt halten sie uns doch für zwei gleiche Narren. – Siehst du nun, was du angerichtet hast? Schämst du dich gar nicht?« –

»Weshalb auch? – Meine Seele dachte an nichts Böses; was schadet es denn? Es waren sehr nette Leute und ich schien ihnen zu gefallen.«

Harris machte einige grobe Bemerkungen und begab sich in sein Schlafzimmer – um Tische und Stühle kurz und klein zu schlagen, wie er sagte. Er ist ein merkwürdig cholerischer Mensch und die geringste Kleinigkeit bringt ihn ganz außer sich. –

Die junge Dame hatte mich schön in die Klemme gebracht, aber an Harris habe ich mich wieder schadlos gehalten. Man muß sein Mütchen immer auf eine oder die andere Weise kühlen, sonst schmerzt die wunde Stelle noch lange.

Die Geschichte des Hausierers

Die Geschichte des Hausierers

Der arme, melancholisch blickende Fremde! Es lag etwas in seiner demütigen Miene, seinem müden Blick, seinen abgeschabten, ehemals feinen Kleidern, das mein Mitleid erregte. Ich bemerkte eine Mappe unter seinem Arm, wie sie Kolporteure und Hausierer zu tragen pflegen.

Nun, diese Leute flößen einem stets Interesse ein. Bevor ich mich dessen versah, war ich – ganz Ohr und Teilnahme – im Anhören seiner Lebensgeschichte versunken. Sie lautete ungefähr wie folgt:

»Meine Eltern starben, als ich noch ein kleines, unschuldiges Kind war. Mein Onkel Ithuriel gewann mich lieb und nahm mich an Kindesstatt an. Er war mein einziger Verwandter in der weiten Welt; er war so gut und großmütig und dabei reich. Er erzog mich im Schoß des Überflusses. Alle meine Wünsche, die mit Geld zu befriedigen waren, wurden erfüllt.

Nachdem ich auf der Universität studiert, ging ich mit zweien meiner Diener – meinem Kammerdiener und meinem Lakai – auf Reisen in fremde Länder. Vier Jahre lang flatterte ich auf sorglosen Schwingen in den prächtigen Gefilden der Fremde umher, – wenn Sie diese Sprache ihrem ergebenen Diener gestatten wollen, dessen Zunge stets poetisch gestimmt war; ja ich darf kühnlich also zu Ihnen sprechen, denn Ihre Augen verraten mir, daß auch in Ihren Adern das Feuer der holden Poesie glüht. In jenen fernen Landen schwelgte ich in der ambrosischen Speise, welche der Seele, dem Geiste, dem Herzen frommt. Was aber vor allen Dingen und am kräftigsten an meinen angeborenen ästhetischen Geschmack appellierte, war der dort unter den Reichen herrschende Brauch, Sammlungen von eleganten und kostbaren Seltenheiten und hübschen Liebhabereien anzulegen; und in einer verhängnisvollen Stunde versuchte ich es, in meinem Onkel Ithuriel Gefallen an dieser ausgezeichneten Beschäftigung zu erwecken.

Ich schrieb und erzählte ihm von der äußerst umfangreichen Muschelsammlung eines Herrn, von eines andern ausgezeichneter Sammlung von Meerschaumpfeifen, von eines dritten wunderbarer Sammlung von unentzifferbaren Autographen, eines vierten unschätzbarer Sammlung von chinesischem Porzellan, eines fünften bezaubernder Briefmarkensammlung – und so weiter und so weiter. Bald trugen meine Briefe Frucht: mein Onkel begann sich nach dem Gegenstand für eine Sammlung umzusehen. Sie wissen wohl, wie leidenschaftlich bald die Pflege einer Liebhaberei wird; die seinige wurde bald ein rasendes Fieber. Er begann sein großes Schweinegeschäft zu vernachlässigen; bald darauf zog er sich ganz von demselben zurück, und aus einem bequemen Lebemann wurde ein toller Raritätenjäger. Sein Reichtum war ungeheuer, und er sparte ihn nicht. Zuerst versuchte er es mit Kuhglocken. Er legte eine Sammlung an, die fünf große Säle füllte und alle Arten von solchen Glocken, von der Urzeit bis zur Gegenwart, in sich schloß – bis auf eine. Diese eine – eine Antike und das einzige noch vorhandene Exemplar dieser Art – war im Besitz eines andern Sammlers, dem mein Onkel enorme Summen dafür bot – vergebens. Sie können sich denken, was notwendigerweise folgte. Ein wahrer Sammler legt bekanntlich einer Sammlung, die nicht vollständig ist, nicht den mindesten Wert bei: sein glühendes Herz erkaltet, er verkauft seinen Schatz und wendet seinen Sinn einem andern Gebiet zu, das unausgebeutet zu sein scheint.

So machte es auch mein Onkel. Er versuchte es dann mit Ziegelsteinen. Nachdem er eine umfangreiche und äußerst interessante Sammlung davon angelegt hatte, stellte sich die alte Schwierigkeit ein. Mit blutendem Herzen verkaufte er seine abgöttisch geliebte Sammlung an einen früheren Bierbrauer, der den fehlenden Ziegel besaß. Dann versuchte er es mit steinernen Äxten und anderen Geräten des urweltlichen Menschen, entdeckte aber bald, daß die Fabrik, wo sie gemacht wurden, andere Sammler ebensowohl versorgte wie ihn selbst. Er versuchte es mit aztekischen Inschriften und ausgestopften Walfischen – wieder ein Mißerfolg, nach unglücklichen Mühen und Kosten. Denn als seine Sammlung endlich vollständig schien, kam ein ausgestopfter Walfisch aus Grönland und eine aztekische Inschrift aus der Cundurangogegend in Mittelamerika an, die alle früheren Exemplare gänzlich in den Schatten stellten. Mein Onkel beeilte sich, diese edlen Kleinodien für sich zu gewinnen: er bekam den ausgestopften Walfisch, ein anderer Sammler aber die Inschrift. Eine echte Cundurango aber ist, wie Sie vielleicht wissen, ein Besitz von so köstlichem Wert, daß ein Sammler, wenn er sie einmal erlangt hat, eher von seiner Familie sich trennt, als von ihr. So verkaufte denn mein Onkel aus; er sah seine Lieblinge scheiden auf Nimmerwiedersehen und sein kohlschwarzes Haar wurde weiß wie Schnee in einer einzigen Nacht.

Nun wartete er und überlegte: er wußte, daß eine weitere Enttäuschung ihn das Leben kosten könnte. Er war entschlossen, das nächstemal Dinge zu wählen, bei welchen die Konkurrenz weniger zu fürchten war. Er überlegte lange und reiflich; dann machte er sich noch einmal ans Werk – diesmal, um eine Sammlung von Echos zu gewinnen.«

»Von was?« rief ich erstaunt.

»Von Echos, mein Herr. Sein erster Kauf war ein Echo in Georgia, das viermal widerhallte, sein nächster ein sechsfaches Echo in Maryland, sein nächster ein dreizehnfaches in Maine, sein nächster ein neunfaches in Kansas, sein nächster ein zwölffaches Echo in Tennessee, das er billig bekam, weil es sozusagen baufällig war, denn ein Teil des Felsens, der es zurückwarf, war herabgefallen. Er glaubte es mit einem Aufwand von einigen Tausend Dollars reparieren lassen und durch Aufmauerung des Felsens die Repetierfähigkeit verdreifachen zu können; aber der Architekt, der die Arbeit übernahm, hatte nie zuvor ein Echo gebaut, und so verdarb er es denn gänzlich. Bevor er es verpfuschte, antwortete es wie ein keifendes Marktweib, nachher aber taugte es höchstens noch für ein Taubstummenasyl. Nun, nächstdem kaufte er eine Partie kleiner doppelläufiger Echos in verschiedenen Staaten und Territorien: man gewährte ihm 20% Rabatt, weil er die ganze Partie kaufte. Dann kaufte er ein Echo, das wie eine Kruppsche Kanone knallte; es kostete ein Heidengeld, das kann ich Ihnen sagen. Sie müssen nämlich wissen, daß auf dem Echomarkt die Preisskala ansteigt wie die Karatskala bei den Diamanten; im Handel gelten auch dieselben Ausdrücke für das eine wie das andere. Ein einkarätiges Echo ist nur zehn Dollars über den Preis des Grundes und Bodens, auf dem es ruht, wert, ein zweikarätiges oder doppelläufiges Echo ist dreißig Dollars darüber wert, ein fünfkarätiges über neunhundert, ein zehnkarätiges dreizehntausend Dollars. Meines Onkels Echo in Oregon, welches er das ›Echo des großen Pitt‹ nannte, war ein Kleinod von zweiundzwanzig Karaten und kostete zweihundertsechzehntausend Dollars – man gab ihm das Land drein, denn es war zweihundert Stunden von einer Niederlassung entfernt.

Nun, während dieser Zeit war mein Lebensweg ein Rosenpfad. Ich bewarb mich um die einzige und liebliche Tochter eines englischen Grafen und wurde geliebt bis zur Raserei. In ihrer teuren Nähe schwamm ich in einem Meer der Wonne. Da man wußte, daß ich der alleinige Erbe meines Onkels sei, den man auf fünf Millionen Dollars schätzte, gaben die Eltern um so bereitwilliger ihre Zustimmung. Sowohl ihnen wie mir war es unbekannt geblieben, daß mein Onkel unter die Sammler gegangen war – wenigstens wußten wir nicht, daß er anders als ganz nebenbei sammle.

Die Wolken zogen sich indes über meinem unschuldigen Haupt zusammen. Jenes göttliche Echo, das seitdem durch die ganze Welt als der große Koh–i–noor oder Berg der Wiederholungen bekannt wurde, war entdeckt worden: es war ein fünfundsechzigkarätiger Edelstein. Äußerte man nur ein Wort, so antwortete es einem fünfzehn Minuten lang, wenn das Wetter windstill war. Aber siehe da, zu gleicher Zeit machte mein Onkel die Entdeckung, daß ein zweiter Echosammler vorhanden war. Die beiden beeilten sich, den unvergleichlichen Kauf abzuschließen. Das Grundstück bestand aus zwei kleinen Hügeln mit einem seichten Tal dazwischen, hinten in den Ansiedlungen des Staates New York. Beide Männer kamen zu gleicher Zeit an Ort und Stelle an, doch wußte keiner, daß der andere auch da war. Das Grundstück mit dem Echo gehörte nicht einem Manne allein; ein gewisser Williamson Bolivar Jarvis besaß den einen Hügel, den anderen ein gewisser Harbison J. Bledso; das Tal bildete die Grenzlinie. Während nun mein Onkel Jarvis‘ Hügel für drei Millionen zweihundertundfünfundachtzigtausend Dollars kaufte, erwarb sein Konkurrent Bledso’s Hügel für etwas über drei Millionen.

Keiner von den beiden Männern war mit diesem geteilten Eigentumsrecht zufrieden, doch wollte keiner seinen Anteil an den andern verkaufen und schließlich schritt jener andere Sammler – mit einer Böswilligkeit, wie sie nur ein Sammler gegen einen Mitmenschen und Kollegen fühlen kann – dazu, seinen Hügel abzutragen!

Also, da er das Echo selbst nicht erlangen konnte, wollte er es auch keinem andern gönnen. Alle Vorstellungen meines Onkels waren vergeblich.

Es gelang ihm zwar einen Aufschubsbefehl gegen seinen Konkurrenten zu erwirken, der letztere appellierte jedoch und brachte die Sache vor eine höhere Instanz. Sie führten den Prozeß weiter bis zum obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten. Es entstand ein heilloser Wirrwarr. Zwei von den Richtern waren der Ansicht, ein Echo sei persönliches Eigentum. Obwohl nicht greifbar, sei es doch käuflich und verkäuflich und daher ein besteuerbarer Gegenstand; zwei andere Richter meinten, ein Echo sei ein Liegenschaftsobjekt, weil es offenbar am Grund und Boden hafte und nicht beweglich sei; andere Richter behaupteten, ein Echo sei überhaupt kein Eigentum.

Es wurde schließlich entschieden, daß ein Echo ein Eigentumsobjekt sei; daß die beiden Prozessierenden getrennte und unabhängige Eigentümer der beiden Hügel, aber gemeinsame Inhaber des Echos seien: es stehe deshalb dem Beklagten vollkommen frei, seinen Hügel abzutragen, da er ihm allein gehöre, aber er müsse eine Kaution von drei Millionen Dollars stellen als Ersatz für den Schaden, den meines Onkels halber Anteil an dem Echo erleiden könnte. Im weiteren verbot das Urteil meinem Onkel, ohne die Erlaubnis des Gegners, dessen Hügel zur Weckung des Echos zu benützen; er dürfe dazu nur seines eigenen Hügels sich bedienen; könne er unter diesen Umständen seinen Zweck nicht erreichen, so sei das sehr bedauerlich, aber der Gerichtshof könne daran nichts ändern. In derselben Weise wurde der Gegner in Bezug auf diesen Punkt beschieden. Sie können sich denken, was nun geschah. Keiner von beiden wollte dem andern die Einwilligung zur Benützung seines Eigentums geben, und so mußte das berühmte und erhabene Echo auf seine Betätigung verzichten; seit jenem Tage gleicht das wertvolle Besitztum einer verzauberten Prinzessin, die auf Erlösung harrt.

Eine Woche vor meinem Hochzeitstage, während ich noch in einem Meer der Wonne schwamm und der hohe Adel von Fern und Nah zur Verherrlichung des Ereignisses sich versammelte, traf die Nachricht von dem Tode meines Onkels und zugleich die Abschrift seines Testaments, das mich zu seinem alleinigen Erben einsetzte, ein. Er war dahin – ach! mein teurer Wohltäter war nicht mehr: der Gedanke daran belastet mein Herz noch heute, nach so langer Zeit. Ich händigte das Testament dem Grafen, meinem Schwiegervater, ein, da ich es meiner Tränen wegen nicht lesen konnte. Der Graf las es und sagte dann finster: ›Nennen Sie das Reichtum, Sir? Das kann man nur in Ihrem schwindelhaften Amerika. Sie sind nichts weiter als der alleinige Erbe einer umfangreichen Sammlung von Echos, wenn man das eine Sammlung nennen kann, was weit und breit über das ganze amerikanische Festland zerstreut ist. Und das ist nicht alles, Sir; Sie stecken bis über die Ohren in Schulden; nicht ein Echo unter der ganzen Partie, auf dem keine Hypothek ruhte. Ich bin nicht hartherzig, Sir, aber ich muß das Interesse meines Kindes wahren. Wenn Sie nur ein Echo hätten, das Sie mit Recht Ihr Eigentum nennen könnten, wenn Sie nur ein Echo hätten, das frei wäre von Lasten, so daß Sie sich mit meinem Kinde dorthin zurückziehen und es durch unverdrossenen Fleiß kultivieren und verbessern könnten, so würde ich nicht nein sagen; aber ich kann mein Kind an keinen Bettler verheiraten. Verlasse ihn, mein Liebling! Und Sie, Sir, nehmen Sie Ihre hypothekenbelasteten Echos und gehen Sie mir für immer aus den Augen.‹

Meine edle Cölestine klammerte sich in Tränen, mit liebenden Armen an mich und schwor, sie wolle gerne, ja mit tausend Freuden die Meine werden, auch wenn ich nicht ein Echo in der Welt hätte. Aber es durfte nicht sein; wir wurden auseinander gerissen – sie, um innerhalb eines Jahres sich langsam zu Tode zu härmen – ich, um allein mich hinzuschleppen auf des Lebens langem, beschwerlichem Pfad, täglich, stündlich betend um die Erlösung, die uns wieder vereinen soll in einem himmlischen Reich. Und nun, mein Herr, wenn Sie so freundlich sein wollen, die Karten und Pläne in meiner Mappe anzusehen; ich kann Ihnen gewiß ein Echo billiger ablassen als irgend jemand. Dieses hier zum Beispiel, welches meinen Onkel vor dreißig Jahren zehn Dollars kostete und eines der entzückendsten in Texas ist, will ich Ihnen für – –«

»Einen Augenblick, bitte!« sagte ich. »Mein Freund, ich habe heute vor lauter Hausierern noch keine Minute Ruhe gehabt. Ich habe eine Nähmaschine gekauft, die ich nicht brauchte; ich habe eine Landkarte gekauft, die voller Fehler ist; ich habe eine Uhr gekauft, die nicht gehen will, ich habe Mottengift gekauft, das die Motten jeder andern Nahrung vorziehen; ich habe eine endlose Menge nutzloser Erfindungen

gekauft, und jetzt bin ich dieser Torheit satt. Ich möchte keines von Ihren Echos auch nur geschenkt. Ich bin auf jeden wütend, der mir Echos zum Verkauf anbietet. Sehen Sie dieses Gewehr? Nun packen Sie Ihre Sammlung zusammen und sputen Sie sich; lassen Sie es nicht zum Blutvergießen kommen.«

Aber er lächelte nur – ein melancholisches, sanftes Lächeln – und zog weitere Pläne heraus. Sie kennen die Geschichte; hat man einmal einem Hausierer die Tür geöffnet, so zieht man immer den kürzeren.

Nach Verlauf einer unerträglichen Stunde waren wir handelseinig. Ich kaufte zwei doppelläufige Echos in gutem Zustand, ein drittes bekam ich drein, das, wie er sagte, unverkäuflich sei, weil es nur Deutsch spräche. »Es war einst vollkommen polyglott,« sagte er, »hat aber irgendwie den größten Teil seiner Sprachfertigkeit eingebüßt.«

Was mir der Professor erzählte

Was mir der Professor erzählte

Ich war noch jung an Jahren, mit bescheidenen Aussichten und von Beruf Feldmesser. Daß ich einmal Professor an einem Gymnasium werden würde, ahnte ich damals nicht. Vor mir lag die ganze Welt – ich war bereit sie zu vermessen, wenn mir irgend jemand den Auftrag erteilte. Jetzt führte mich mein Vertrag nach einem Bergwerksbezirk in Kalifornien; die Seereise sollte drei bis vier Wochen dauern.

Mit meinen Reisegefährten hatte ich wenig Verkehr; lesen und träumen war meine Hauptbeschäftigung, und um mich dem ganz hingeben zu können, wich ich soviel als möglich jeder Unterhaltung aus. An Bord waren drei Spieler von Profession, rohe, widerwärtige Gesellen; natürlich sprach ich nie ein Wort mit ihnen, doch konnte ich nicht umhin, sie häufig zu sehen, wenn ich meinen gewöhnlichen Spaziergang auf dem Vorderdeck machte. Sie saßen dort nämlich früh und spät bei den Karten in ihrer Kajüte, deren Tür offen blieb, um den Tabaksqualm samt den Flüchen und Kraftausdrücken hinauszulassen. Der Anblick war mir in hohem Grade zuwider, allein was half’s – ich mußte mich drein ergeben.

Ein anderer Passagier, der die Fahrt mitmachte, kam mir aber häufig in den Wurf, da er entschlossen schien, sich mit mir auf freundschaftlichen Fuß zu stellen. Ich hätte ihn nicht loswerden können, ohne ihn zu kränken, und das brachte ich nicht über’s Herz; auch nahm mich seine ländliche Einfalt und unaussprechliche Gutmütigkeit sehr für ihn ein. Als ich das erstemal seiner ansichtig wurde, hatte ich mir gleich gedacht, er müsse ein Wiesenbauer oder Farmer aus den Hinterwäldern im Westen sein – vielleicht aus Ohio – und bei näherer Bekanntschaft stellte sich richtig heraus, daß er Viehzüchter war und aus dem Innern von Ohio kam. Die Freude über meinen Scharfsinn, mit dem ich den Nagel auf den Kopf getroffen hatte, war wohl der Grund, daß ich sofort für John Backus, so hieß der Mann, ein warmes Interesse empfand.

Täglich pflegten wir nach dem Frühstück zusammenzutreffen und auf dem Deck spazieren zu gehen. Nach und nach teilte er mir in seiner harmlosen Redeseligkeit alles mit, was seine Person betraf, Geschäfts- und Familienangelegenheiten, Verwandtschaften, Aussichten, politische Anschauungen und dergleichen mehr. Daneben ließ er sich auch von mir erzählen; er fragte nach meinem Gewerbe, meiner Herkunft, wollte meine Pläne und Zwecke wissen und meine ganze Lebensgeschichte. Daß ich ihm so bereitwillig Auskunft gab, beweist die Macht seiner sanften Überredungskunst, denn es lag sonst gar nicht in meiner Natur, mit Fremden über meine Privatangelegenheiten zu reden. Einmal äußerte ich etwas über Trigonometrie; das lange Wort schien ihm angenehm aufzufallen und er erkundigte sich nach der Bedeutung, die ich ihm erklärte. Von da ab nannte er mich nie mehr bei meinem eigenen Namen, sondern immer nur ›Trigo‹ und zwar mit so unbefangener Vertraulichkeit, daß ich es ihm nicht übel nehmen konnte.

Für seine Viehzucht war er förmlich begeistert. Bei der bloßen Erwähnung eines Ochsen oder einer Kuh strahlten seine Augen und er geriet in den feurigsten Redefluß, der unaufhaltsam weiterströmte, solange ich ihm geduldig zuhörte. Er kannte und liebte eine jede Rasse und sprach von ihr in den zärtlichsten Ausdrücken. So oft die Unterhaltung auf sein Rindvieh kam, ging ich stumm und mißmutig neben ihm her, bis ich es nicht länger aushielt und die Rede geschickt auf irgend ein wissenschaftliches Thema brachte; dann leuchtete mein Auge auf und seines wurde matt; seine Zunge geriet ins Stocken, meine wurde beweglich; ich freute mich meines Lebens und er versank in Traurigkeit.

Eines Tages sagte er in etwas unsicherem, zögernden Tone:

»Würden Sie mir wohl den Gefallen tun, Trigo, einen Augenblick in meine Kajüte zu kommen, wegen einer gewissen Angelegenheit, die ich gern mit Ihnen besprechen wollte?«

Ich war sogleich bereit. Nachdem wir eingetreten waren, steckte er noch einmal den Kopf zur Türe hinaus und blickte vorsichtig nach allen Seiten; dann drehte er den Schlüssel um und wir nahmen auf dem Sofa Platz.

»Ich möchte Ihnen einen kleinen Vorschlag machen,« sagte er, »wenn der Ihnen einleuchtet, könnten wir beide unsern Vorteil dabei finden. Zum Spaß gehen Sie doch nicht nach Kalifornien – und ich auch nicht. Mir wollen beide Geschäfte machen, nicht wahr? Nun könnten wir einander gegenseitig recht nützlich sein, wenn es Ihnen paßt. Sehen Sie, ich habe viele Jahre lang gespart und zusammengescharrt und habe hier alles bei mir.« Er öffnete einen alten Lederkoffer, wühlte in einem Haufen schäbiger Kleider umher und zog einen kleinen wohlgefüllten Beutel hervor, den er mich einen Augenblick sehen ließ, worauf er ihn wieder in der Tiefe des Koffers begrub und diesen zuschloß. »Die ganze Summe ist darin,« fuhr er in leisem Flüsterton fort – »runde zehntausend Dollars in Goldfüchsen. Ich habe nun so gedacht: Die Viehzucht verstehe ich so gut wie Einer und in Kalifornien kann man Haufen Geld damit verdienen. Beim Landvermessen aber – das wissen wir beide – fallen bald rechts bald links auf der ganzen Linie kleine Dreiecke ab, die der Feldmesser gratis erhält. Alles, was Sie nun Ihrerseits zu tun haben, ist, die Sache so einzurichten, daß die Dreiecke auf gutes, fettes Weideland fallen. Dies überlassen Sie dann mir, ich bringe meine Herde hin, ich berechne Ihren Anteil sofort, zahle ihn regelmäßig aus und – –«

Es tat mir leid, ihn mitten in seinem begeisterten Redeschwall zu unterbrechen, allein es ließ sich nicht ändern.

»Das ist nicht die Art, wie ich mein Geschäft zu betreiben pflege,« sagte ich mit ernster Miene; »sprechen wir von etwas anderem, Herr Backus.«

Beschämt und verwirrt stammelte er Entschuldigungen; es ging mir ordentlich zu Herzen, seine peinliche Verlegenheit zu sehen, besonders da er keine Ahnung gehabt zu haben schien, daß man in seinem Vorschlag etwas Anstößiges finden könne. Um ihn über seinen Mißgriff zu trösten, wußte ich kein besseres Mittel, als ihm so rasch wie möglich den Genuß einer Unterhaltung über Rinderzucht und Viehhandel zu bereiten. Wir befanden uns gerade vor Acapulco und als wir auf Deck kamen, waren die Matrosen beschäftigt, einige Kühe mittelst Schlingen an Bord zu ziehen. Im Nu war Backus‘ schwermütige Stimmung verflossen, samt der Erinnerung an seinen mißlungenen Schachzug.

»Nein, sehen Sie nur das an!« rief er. »Du meine Güte, Trigo, was würden wir dazu in Ohio sagen! Wie würden unsere Leute die Augen aufsperren, wenn sie die Art von Behandlung sähen – es ist kaum zu glauben.«

Sämtliche Passagiere ergötzten sich an der Schaustellung; sogar die Spieler waren zugegen. Backus kannte sie alle und hatte schon jeden mit seinem Lieblingsthema gelangweilt. Im Weitergehen sah ich, wie einer der Spieler sich ihm näherte und ihn ansprach; diesem folgte der zweite und dann der dritte. Ich stand still, um zu sehen, was daraus werden würde; bald waren die vier Männer in eifrigem Gespräch, dann zog sich Backus allmählich von ihnen zurück, aber sie folgten ihm und wichen nicht von seiner Seite. Das war mir unbehaglich. Als sie jedoch gleich darauf an mir vorbeikamen, hörte ich, wie Backus in ärgerlichem, abweisenden Tone sagte:

»Sie machen sich ganz unnütze Mühe, meine Herren; ich kann Ihnen nur wiederholen, was ich Ihnen schon über ein Dutzendmal gesagt habe: ich bin das Ding nicht gewohnt und will mich nicht darauf einlassen.«

Ich atmete erleichtert auf. »Sein gesunder Sinn wird der beste Schutz für ihn sein,« sagte ich mir.

Während unserer vierzehntägigen Fahrt von Acapulco nach San Francisco sah ich die Spieler öfters eindringlich mit Backus reden. Endlich konnte ich es mir nicht länger versagen, im Gespräch darauf hinzudeuten, um ihn zu warnen. Er lachte wohlgefällig.

»Freilich,« sagte er, »sie zerren die ganze Zeit an mir herum, ich soll doch nur zum Spaß einmal ein Spielchen mit ihnen machen – aber, ich werd‘ mich wohl hüten. Meine Leute haben mir – wer weiß wie oft – eingeschärft, mich vor dergleichen Pack in acht zu nehmen.«

Die Reise ging weiter und wir näherten uns San Francisco. Es war eine dunkle, stürmische Nacht, doch ging die See nicht sehr hoch. Ich hatte den Abend allein auf Deck zugebracht und wollte mich gegen zehn Uhr eben in meine Kajüte begeben, als ich aus der Spielerhöhle eine Gestalt auftauchen und in der Finsternis verschwinden sah. Ich erschrak heftig, denn es war niemand anderes als Backus. Rasch sprang ich die Schiffstreppe hinunter und spähte überall nach ihm umher, konnte ihn jedoch nicht finden. Dann eilte ich wieder hinauf und kam gerade noch recht, um zu sehen, wie er in das verdammte Schurkennest hineinschlüpfte. Hatte er sich endlich doch verlocken lassen? Höchst wahrscheinlich. Vielleicht war er heruntergegangen, um seinen Beutel mit den Goldstücken zu holen. Voll böser Ahnungen näherte ich mich der Tür. Sie war nur angelehnt, und durch die Spalte sah ich mit bitterm Leidwesen meinen armen Freund am Spieltisch sitzen. Wie sehr bereute ich es jetzt, daß ich nicht eifriger bemüht gewesen war, ihn zu warnen und zu retten statt meinem törichten Zeitvertreib nachzuhängen und mich in meine Bücher und Träumereien zu vertiefen.

Backus spielte nicht nur, er hatte auch bereits dem Champagner fleißig zugesprochen, der anfing ihm zu Kopfe zu steigen. Laut verkündete er das Lob des ›Sekts‹, der ihm ganz vortrefflich mundete; so etwas Gutes sei ihm noch nicht über die Zunge gekommen, er wolle weiter trinken, trotz aller Mäßigkeitsvereinler. Ich sah wie die Schurken einander verstohlen zulächelten: sie schenkten alle Gläser voll, aber während Backus das seinige bis auf den Grund leerte, nippten sie nur und gossen den Wein heimlich über die Schulter. Mir war der Auftritt so widerwärtig, daß ich weiter ging, um mich durch den Anblick des Meeres und das Rauschen des Windes zu zerstreuen. Eine innere Unruhe trieb mich jedoch alle Viertelstunden wieder nach der Türspalte zurück; jedesmal sah ich, wie Backus seinen Wein austrank und die andern ihn fortgossen. In so peinlichen Gefühlen hatte ich noch nie eine Nacht verlebt.

Meine einzige Hoffnung war, daß wir recht bald vor Anker gehen würden – damit wäre zugleich dem Spiel ein Ende gemacht. Um den Lauf des Schiffes zu fördern, schickte ich ein Gebet gen Himmel und als wir endlich mit vollen Segeln durch das ›Goldene Tor‹ einfuhren, klopfte mein Herz vor Freude. Wieder eilte ich nach der Spalte und sah hinein. Ach – mein Hoffen war vergeblich gewesen; Backus saß da und lallte mit schwerer Zunge, seine schwimmenden Augen waren blutunterlaufen, sein dunkles Gesicht glühte und er wiegte sich trunken hin und her, mit der schwankenden Bewegung des Schiffes. Eben führte er wieder das Glas zum Munde, während die Karten ausgeteilt wurden. Als er seine Hand erhob, leuchteten seine glanzlosen Augen einen Moment in hellem Schein. Die Spieler sahen es und wechselten kaum merkliche Blicke des Einverständnisses.

»Wie viele Karten?«

»Keine« sagte Backus.

Einer der Schurken – Hank Wiley hieß er – warf eine Karte ab, die andern jeder drei. Dann fingen sie an zu bieten, anfangs nur kleine Summen, einen oder zwei Dollars, bis sich Backus auf zehn Dollars verstieg. Wiley zögerte einen Augenblick, dann ›hielt er mit‹ und bot zehn Dollars darüber. Die beiden andern ›paßten‹ und legten die Karten hin.

Backus bot zwanzig Dollars höher. Wiley sagte:

»Ich halte mit – hundert Dollars mehr!« lächelnd streckte er die Hand aus, um das Geld einzustreichen.

»Liegen lassen!« rief Backus in trunkenem Mut.

»Was – Sie wollen höher bieten?«

»Freilich will ich – ich halte mit, und hier sind noch hundert drüber.«

Er griff in seine Rocktasche und legte die erforderliche Summe auf den Tisch.

»Hoho! wollen Sie dahinaus – dann sage ich fünfhundert an,« versetzte Wiley.

»Und ich biete fünfhundert mehr!« schrie der betörte Viehzüchter, holte den Betrag heraus und türmte ihn auf den Goldhaufen. Die drei Verschworenen konnten ihre Freude kaum mehr verbergen. Jetzt war von Schlauheit und Verstellung nicht länger die Rede, das Bieten ging Schlag auf Schlag und die goldene Pyramide wuchs zusehends. Endlich lagen zehntausend Dollars beisammen. Wiley warf einen Beutel voll Gold auf den Tisch.

»Fünftausend Dollars drüber! – Nun, mein werter Freund vom Lande, wie steht es jetzt?«

»Aufdecken!« rief Backus und legte seinen Goldsack auf den Haufen. »Worauf haben Sie geboten?«

»Vier Könige, Sie verdammter Narr!« lachte Wiley ihm die Karten zeigend, während er zugleich mit beiden Armen den Einsatz schützte.

»Vier Asse, Sie Dummkopf!« schrie Backus mit Donnerstimme und hielt seinem Gegenüber einen gespannten Revolver vor. »Ich bin selbst ein Spieler von Profession und habe die ganze Reise über Sprenkel gestellt, um euch Gimpel zu fangen.«

Rumpeldipumpel! Der Anker sank in den Grund und die lange Reise war zu Ende.

Ja, ja, wir leben in einer bösen Welt! Einer von den Spielern war Backus‘ Spießgeselle. Er hatte die verhängnisvollen Karten auszuteilen und es war verabredet worden, er solle Backus vier Damen geben, aber ach – das hatte er nicht getan.

 

Eine Woche später stieß ich in der Montgomery-Straße auf Backus, der nach der feinsten Mode gekleidet war.

»Was ich Ihnen noch sagen wollte,« meinte er, als wir uns von einander verabschiedeten, »über die fetten Weideplätze – die Dreiecke, wissen Sie – von denen wir sprachen, brauchen Sie sich keine Gedanken mehr zu machen. Ich verstehe eigentlich nichts vom Viehbestand, als was ich in den letzten vierzehn Tagen vor der Abreise in Jersey aufgeschnappt habe. Meine Schwärmerei für Herden und Rinderzucht hat ihren Zweck erfüllt – jetzt ist sie mir nichts mehr nütze.«

Adams Tagebuch

Adams Tagebuch

Vorbemerkung:
Ich habe einen Teil dieses Tagebuches bereits vor mehreren Jahren übersetzt, und ein Freund von mir hat ein paar Exemplare meiner Arbeit in unvollständigem Zustand gedruckt; doch ist nichts davon ins Publikum gedrungen. Seitdem habe ich noch etwas mehr von Adams Hieroglyphen entziffert, und ich glaube, daß er nachgerade als öffentlicher Charakter eine genügende Bedeutung besitzt, um die Herausgabe dieser Uebersetzung zu rechtfertigen.
Mark Twain.

Montag. Dieses neue Geschöpf mit dem langen Haar fängt an, mir sehr im Wege zu sein. Es ist immer hinter mir her und lungert beständig um mich herum. Ich mag das nicht; ich bin nicht an Gesellschaft gewöhnt. Ich wünschte, es bliebe bei den übrigen Tieren … Es ist heute umwölkt; denke, wir werden Regen haben. Wir? Wer ist wir? Woher habe ich das Wort? Ich erinnere mich jetzt, – das neue Geschöpf braucht es immer.

Dienstag. Habe den großen Wasserfall untersucht. Er ist das Beste auf dem ganzen Grundstück, sollt‘ ich meinen. Das neue Geschöpf nennt ihn den ›Niagara-Fall‹, – habe auch nicht die blasseste Ahnung, weswegen. Wenn es sagt, das Ding sehe aus wie ›Niagara‹, so hat das keinen Sinn. Es ist nur so ein Einfall, nur leeres Geschwätz. Ich selber komme gar nicht mehr dazu, irgend etwas zu benennen. Das neue Geschöpf tauft alles, was uns gerade in die Quere kommt, ehe ich auch nur den geringsten Einwand dagegen erheben kann. Und das immer unter einem und demselben Vorwand, daß es so ›aussehe‹.

Mittwoch. Habe mir einen Unterschlupf gegen den Regen gebaut. Aber ich konnte ihn nicht friedlich für mich behalten. Das neue Geschöpf war gleichfalls sofort drinnen. Als ich es hinauszudrängen versuchte, vergoß es Wasser aus den beiden Löchern, mit welchen es sieht, wischte es mit dem Rücken seiner Pfoten fort und gab dabei Töne von sich, wie verschiedene der andern Tiere, sobald ihnen etwas weh tut oder sie sich fürchten. Wenn es nur nicht sprechen wollte! Es schwatzt beständig. Das klingt fast wie Hohn und Spott, als wollte ich mich über das arme Geschöpf lustig machen. Aber die Absicht liegt mir fern. Ich habe die menschliche Stimme nie zuvor gehört, und jeder neue und fremde Laut, welcher das feierliche Schweigen in dieser träumerischen Einsamkeit unterbricht, beleidigt mein Ohr, wie eine falsche Note. Und obendrein ist dieser neue Laut immer so nahe bei mir, er ist dicht an meiner Schulter, dicht an meinem Ohr, erst auf dieser, dann auf der andern Seite; und ich war nur gewöhnt Laute zu hören, die mehr oder weniger entfernt von mir sind.

Freitag. Das Benennen geht unaufhaltsam weiter, ich mag dagegen tun was ich will. Ich hatte für das große Grundstück hier einen sehr guten Namen erfunden, der hübsch war und musikalisch zugleich – Garten von Eden. Ich gebrauche den Namen jetzt noch, aber nicht öffentlich, nur verstohlen. Das neue Geschöpf sagt, man sehe in der ganzen Landschaft nur Wald, Felsen und Wasser; sie erinnere nicht im mindesten an einen Garten, sondern sehe aus wie ein Park und wie nichts anderes. So hat es ihm denn, ohne mich weiter zu fragen, den Namen Niagarafall-Park gegeben. Das ist eigenmächtig genug, sollte ich meinen. Und schon kann man auf dem Grase eine Tafel mit der bekannten Warnung sehen: »Es ist verboten den Rasen zu betreten!«

Mein Leben ist nicht mehr so glücklich wie früher.

Samstag. Das neue Geschöpf ißt zu viel Früchte. Wir werden wahrscheinlich bald Mangel daran haben. Schon wieder ›Wir‹ – das ist sein Wort und meins jetzt auch bereits vom ewigen Hören … Ziemlich neblig heute früh. Ich selbst gehe nicht in den Nebel hinaus. Aber das neue Geschöpf tut es. Es geht in allen Wettern aus und kommt dann mit schmutzigen Füßen wieder hereingehopst. Dabei spricht es fortwährend, und früher war es hier so angenehm und ruhig.

Sonntag. Hab ihn glücklich hinter mir. Dieser Tag wird immer ermüdender. Der Sonntag wurde im letzten November zum Ruhetag gewählt und abgesondert. Früher hatte ich in jeder Woche schon sechs solche Tage. Und heute? Heute morgen fand ich das neue Geschöpf, wie es mit Erdklumpen nach dem verbotenen Baum warf, um die Äpfel herunterzuholen.

Montag. Das neue Geschöpf sagt: sein Name sei Eva. Das ist ganz recht, und ich will nichts dagegen einwenden. Es sagt, der Name sei dazu da, damit ich es rufen könne, wenn ich es bei mir zu haben wünsche. Darauf erwiderte ich, daß der Name dann überflüssig sei. Dies Wort hob mich augenscheinlich in der Achtung des neuen Geschöpfs. Und wirklich das Wort ›überflüssig‹ ist sehr gut und von allgemeiner Bedeutung; es verdient bei jeder Gelegenheit wiederholt zu werden. Darauf sagte mir das Geschöpf, daß es gar kein ›Es‹, sondern eine ›Sie‹ sei. Das ist zum mindesten zweifelhaft; aber mir ist’s einerlei; sie mag sein was sie will, wenn sie nur ihrer Wege gehen und nicht beständig reden wollte!

Dienstag. Sie sagt, dieser Park würde eine äußerst erquickende und reinliche Sommerfrische abgeben, für den Fall sich Gäste dafür finden ließen. Sommerfrische – was heißt das? Offenbar wieder so ’ne neue Erfindung ihres rastlosen Hirns und ihres noch ruheloseren Mundes – Worte ohne jeden Sinn. Was ist eine Sommerfrische? Aber besser, ich frage sie gar nicht erst danach – sie hat ohnehin eine wahre Sucht alles zu erklären.

Freitag. Sie hat es für gut befunden, mich zu bitten, nicht mehr über den Wasserfall zu gehen, wie ich es mir angewöhnt hatte. Wem geschieht denn damit etwas zuleide? Sie sagt, es mache sie schaudern. Ich möchte nur wissen warum? Ich habe es immer getan, seit ich hier bin. Das Hineinspringen, das Untertauchen und die Aufregung dabei macht mir den größten Spaß. Und dann die Kühle, wenn es sonst heiß ist! Ich habe auch immer gedacht, daß der Fall gerade deswegen da wäre. Wenigstens hat er – soweit ich sehen kann – sonst keinen Zweck, und irgend einen Zweck muß er doch haben. Und jetzt kommt sie und sagt, die ganze Geschichte wäre nur um der malerischen Szenerie willen da – wie das Rhinozeros und das Mastodon.

Bin darauf in einem Faß über den Fall hinuntergesegelt, – auch das war nicht nach ihrem Geschmack. Dann in einer Waschbutte, – sie war noch immer nicht zufrieden. Ich schwamm durch den Strudel unterhalb des Falls und durch die Stromschnellen oberhalb des Falls in einem nagelneuen Schwimmanzug von Feigenblättern, der dabei fast in Fetzen ging. Da bekam ich endlose Vorwürfe wegen meiner Verschwendungssucht. Ich fühle mich hier von allen Seiten eingeengt. Ein Ortswechsel wird mir gut tun.

Samstag. Am Abend des letzten Dienstag bin ich durchgebrannt und habe mir dann, nachdem ich zwei Tage drauflosgewandert war, einen neuen Unterschlupf gebaut, an einer ganz abgelegenen Stelle. Aber wie sehr ich auch bemüht gewesen war, meine Spuren zu verwischen und zu verbergen, – sie hat mich doch aufgespürt, mit Hilfe eines Tieres, welches sie gezähmt hat und ›Wolf‹ nennt: sie stürzte plötzlich zu mir herein, machte wieder das klägliche Geräusch, das ich nicht hören mag, und ließ das Wasser aus den beiden Löchern, mit denen sie sieht, hervorschießen. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mit ihr zurückzugehen, – aber ich werde sofort wieder ausreißen, wenn sich die Gelegenheit bietet. Sie gibt sich mit allerlei ganz überflüssigen Dingen ab. Unter anderm versucht sie, herauszubekommen, warum die Tiere, welche Löwen und Tiger heißen, auf diesem großen Grundstück von Gras und Blumen leben, während sie doch nach ihrer Meinung eine Art Zähne haben, die deutlich beweist, daß sie bestimmt sind einander aufzufressen. Das ist einfach Narrheit.

Sonntag. Habe ihn glücklich hinter mir.

Montag. Ich glaube jetzt dahintergekommen zu sein, wozu die Woche da ist: sie soll einem Zeit geben, um sich von der Ermüdung des Sonntags zu erholen. Das ist gar keine schlechte Idee … Ich habe Eva schon wieder an dem verbotenen Baum erwischt. Sie war hinaufgeklettert und ich warf mit Erdklumpen nach ihr, bis sie herunterkam und sagte, es hätt‘ es ja niemand gesehen. Ich glaube, sie hält das für eine genügende Rechtfertigung, um die gefährlichsten Dinge zu tun. Sagte ihr es auch ins Gesicht. Das Wort Rechtfertigung erregte ihre Bewunderung und zugleich, wie mir schien, ihren Neid, der immer sehr leicht erregt ist. Es ist aber auch ein sehr gutes Wort.

Dienstag. Das Neueste, was sie mir gesagt hat, ist, daß sie aus einer von meinem Körper genommenen Rippe gemacht sei. Das scheint mir eine gewagte Behauptung. Mir hat doch nie eine Rippe gefehlt! Besonderes Kopfzerbrechen macht ihr seit einiger Zeit der junge Habicht, mit dem sie sich so viel abgibt. Sie sagt, er könne kein Gras vertragen, und fürchtet daher, ihn nicht aufziehen zu können, weil er, wie sie sich einbildet, verwestes Fleisch zur Nahrung haben müsse. Ein Habicht sollte sich, meiner Meinung, mit dem begnügen was vorhanden ist. Man kann doch nicht bloß dem Habicht zuliebe die ganze Ordnung der Dinge umkehren.

Samstag. Gestern fiel sie in den Teich, als sie sich zu weit vorbog, um sich im Wasser zu betrachten. Sie tut das immer, sobald sie an einen Teich kommt, nur ist sie bis jetzt noch nicht hineingefallen. Sie hat so viel Wasser geschluckt, daß sie beinahe erstickte. Das sei ein höchst unbehagliches Gefühl, erklärte sie, als sie wieder draußen war. Es machte sie auch traurig wegen der Geschöpfe, welche im Wasser leben müssen, und die sie Fische nennt. Sie hat nämlich noch immer nicht aufgehört, allen möglichen Dingen ganz unnütze Namen anzuhängen. Sie kommen gar nicht, wenn sie den Namen ruft, aber das verschlägt ihr nicht das geringste; sie ist nun einmal solche Törin! Die Folge war, daß sie gestern abend eine ganze Menge Fische einfing, hereinbrachte und, damit sie warm werden möchten, in mein Bett tat. Aber ich habe sie seitdem beobachtet und die Wahrnehmung gemacht, daß sie durchaus nicht glücklicher schienen als vordem. Nur viel stiller sind sie den ganzen Tag gewesen. Und wenn es wieder Nacht wird, werde ich sie einfach vor die Türe werfen und nicht wieder mit ihnen schlafen, denn sie sind unangenehm schleimig und naßkalt, und das Liegen zwischen ihnen ist, namentlich wenn man nichts anhat, höchst unbehaglich.

Sonntag. Habe ihn glücklich hinter mir.

Dienstag. Jetzt hat sie sich mit einer Schlange eingelassen. Die andern Tiere sind froh, weil sie beständig an ihnen herumhantierte und sie nicht in Ruhe ließ – auch ich freue mich darüber, weil die Schlange gleichfalls spricht und ich mich etwas erholen kann.

Freitag. Sie sagt mir, die Schlange habe ihr geraten, die Frucht von dem Baum zu kosten, und ihr versprochen, daß das Ergebnis eine große, schöne und edle Fortentwicklung sein werde. Ich sagte ihr, es würde noch etwas anderes daraus entstehen – der Tod würde in die Welt kommen. Aber das war ein großer Mißgriff von mir, und ich hätte ungleich besser getan, die Bemerkung für mich zu behalten. Es brachte sie nur auf den Gedanken, daß sie dann den kranken Habicht gesund machen und den trübselig einherschleichenden Löwen und Tigern frisches Fleisch zur Nahrung verschaffen könnte. Ich riet ihr noch einmal aufs dringendste, von dem Baum fortzubleiben. Sie sagte, sie wollte es nicht. Ich sehe allerlei Unannehmlichkeiten voraus und denke wieder ans Auswandern.

Mittwoch. Ich habe eine bunte Zeit hinter mir. An jenem Abend bin ich ausgerissen und die ganze Nacht hindurch geritten so schnell mein Pferd nur laufen konnte, in der Hoffnung, aus dem Park herauszukommen und ein anderes Land zu erreichen, bevor die ganze Not hereinbrach. Aber das sollte mir nicht gelingen. Eine Stunde nach Sonnenaufgang hatte ich die Grenze noch immer nicht erreicht. Dafür befand ich mich auf einer grasigen, mit Blumen bedeckten Ebene, auf der Tausende von Tieren versammelt waren, teils schlafend, teils weidend, teils miteinander spielend, wie das bei den Tieren Brauch war. Aber plötzlich stießen sie allesamt ein entsetzliches Gebrüll und Geheul aus, und schon im nächsten Augenblick lief auf der ganzen Ebene alles wirr durcheinander. Wie rasend fielen die Tiere über einander her und zerfleischten sich gegenseitig. Ich hätte so etwas nie für möglich gehalten, doch wußte ich sofort, was es zu bedeuten hatte – Eva hatte von der verbotenen Frucht gegessen, und im selben Augenblick war auch der Tod in die Welt gekommen! Die Tiger stürzten sich auf mein Pferd und zerrissen es, ohne sich weder an meine Bitten noch an meine Befehle zu kehren. Ja, sie würden mich selber gefressen haben, hätte ich mich nicht schnell aus dem Staube gemacht. Jenseits der Grenze des Parks fand ich diesen Platz und hier habe ich mich seitdem auch ein paar Tage äußerst behaglich befunden, bis – sie mich auch hier entdeckt hatte und plötzlich vor mir stand. Das Merkwürdigste dabei war, daß mir das eigentlich gar nicht so unangenehm schien, wie ich es mir vorher vielleicht vorgestellt hatte. Auch sie fand den Platz gar nicht übel und hatte natürlich wieder sofort einen Namen für ihn, – weil er gerade so aussah. Schließlich war ich sogar ganz froh, daß sie mich gefunden hatte, da es hier herum weder Früchte noch Beeren gab, wie drüben im Park, und sie ein paar von den Äpfeln des verbotenen Baumes mitgebracht hatte. Ich war so hungrig, daß ich mich genötigt sah, sie zu verspeisen. Eigentlich ging es gegen meine Grundsätze – aber ich habe damals entdeckt, daß der Mensch seinen Grundsätzen nur treu zu bleiben pflegt, wenn er genug zu essen hat.

Auch etwas Neues habe ich an ihr entdeckt. Sie kam in einer Art Umhüllung von Zweigen und Laubgewinden, und als ich sie fragte, was dieser neue Unsinn bedeuten solle, ihr das ganze grüne Zeug herunterriß und es auf die Erde warf, – da zitterte sie an allen Gliedern, und wurde rot im Gesicht. Ich hatte noch nie jemanden zittern und rot werden sehen, es schien mir nicht nur unschön, sondern geradezu blödsinnig. Sie sagte aber auf meine Frage nur: ich würde das bald an mir selbst erfahren. Und darin hatte sie recht. Denn trotz meines Hungers legte ich den Apfel halb angebissen beiseite – es war obendrein der feinste, den ich je gekostet habe, noch dazu bei so vorgeschrittener Jahreszeit – und fing an, mich selber mit dem Grünzeug zu behängen, das ich ihr eben vom Leibe gerissen hatte. Dann sah ich sie an, wie sie so dastand und befahl ihr mit Entrüstung, noch mehr Zweige und Blätter zu holen, weil es sonst ein wahrer Skandal sei. Sie gehorchte mir mit Eifer und dann schlichen wir beide nach dem Platz zurück, wo die wilden Tiere vorher die Vernichtungsschlacht gekämpft hatten und sammelten einige von den Fellen. Ich befahl ihr, daraus für uns ein paar Anzüge zusammenzunähen, in denen wir uns öffentlich zeigen könnten. Sie sind hart und unbequem, aber jedenfalls nach der neuesten Mode, und das ist ja schließlich bei Kleidern die Hauptsache.

Ich finde neuerdings auch, daß sie eine ganz gute Gesellschafterin ist. Ohne sie würde ich jetzt recht einsam und traurig sein, nachdem ich meinen Grundbesitz verloren habe. Uberdies hat sie mir eben gesagt, daß wir nach der neuen Ordnung der Dinge fortan für unsern Lebensunterhalt arbeiten müssen. Da kann sie sich nützlich machen. Sie wird arbeiten und ich werde die Aufsicht führen.

Nächstes Jahr. Wir haben es Kain getauft, sie hat es eingefangen, während ich weiter draußen im Land war, um zu jagen und Fallen zu stellen. Sie fing es, wie sie mir bei meiner Rückkehr erzählte, im Tannengehölz, ein paar Meilen südlich von der Erdwohnung, die wir uns angelegt haben. Es sieht uns gewissermaßen ähnlich und ist vielleicht irgendwie mit uns verwandt. Wenigstens glaubt dies Eva, aber meiner Meinung nach ist es ein Irrtum. Der gewaltige Unterschied in der Größe allein rechtfertigt schon die Annahme, daß es nur eine andere, noch neue Art Tier ist, – vielleicht ein Fisch. Als ich es aber ins Wasser warf, um mir Gewißheit zu schaffen, sank es sofort unter, worauf sie ihm nachsprang und es herauszog, ohne mir die nötige Zeit zu lassen, die Sache durch meinen Versuch zu entscheiden. Ich bin aber noch immer der Überzeugung, daß es ein Fisch ist, während es ihr so gleichgültig zu sein scheint, was es ist, daß sie es mir um keinen Preis zu einem neuen Versuch überlassen will. Das verstehe ich nicht. Mir ist an ihr neuerdings überhaupt mancherlei unverständlich. Seit sie das Geschöpf im Hause hat, scheint ihre Natur verändert. Auf Versuche läßt sie sich schlechterdings nicht mehr ein. Sie hat auch noch nie auf ein Tier so große Stücke gehalten, wie auf dieses, doch weiß sie mir keinen Grund dafür anzugeben. Ich glaube wirklich sie hat ihre fünf Sinne nicht mehr beisammen. Bisweilen trägt sie den Fisch halbe Nächte lang in ihren Armen umher, wenn er jammert und winselt, weil er ins Wasser will, und wenn ich ihn dann nach dem nächsten Teich tragen und hineinwerfen möchte, so wehrt sie sich so sehr dagegen, wie nur je, als sie noch bei Verstande war. Bei solchen Gelegenheiten kommt ihr dann wieder das Wasser aus den Gucklöchern in ihrem Gesicht; sie drückt den Fisch an ihre Brust, klopft ihn leise auf den Rücken, macht mit ihrem Munde allerlei Töne, die ihn beruhigen sollen, und ist ganz närrisch vor Sorge und Angst um das Geschöpf. Ich habe sie früher dergleichen nie mit einem andern Fisch, oder sonst irgend einem Tiere tun sehen, und ich mache mir viel Kopfzerbrechens darüber. Ehe wir von unserem Grundstück vertrieben wurden, hat sie wohl auch von Zeit zu Zeit junge Tiger herumgetragen und ihr Spiel mit ihnen getrieben, aber doch nicht immerfort und niemals bei Nacht. Auch hat sie sich’s nie so zu Herzen genommen, wenn ihnen das Frühstück nicht gut bekam.

Sonntag. Am Sonntag scheint sie sich’s zur Regel zu machen, nicht zu arbeiten, sondern ganz erschöpft von der Wochenarbeit dazuliegen und den Fisch auf sich herumkriechen zu lassen. Dabei bringt sie allerlei Töne mit dem Munde hervor und behauptet, das belustige ihn; sie steckt sich auch seine kleinen Pfoten oder Vorderflossen in den Mund und er fängt an zu lachen. Mein Lebtag habe noch keinen Fisch lachen sehen, und dabei kommen mir allerlei Zweifel. Der Sonntag gefällt mir jetzt selber ganz gut. Es ermüdet ja Körper und Geist zugleich, wenn man die Woche über fortwährend die Arbeit anderer beaufsichtigen muß. Da sollte es noch mehr Sonntage geben. In den früheren Zeiten, auf dem großen Grundstück, waren die Sonntage kaum zum Aushalten, jetzt fangen sie an, mir ganz gelegen zu kommen.

Mittwoch. Es ist kein Fisch. Das weiß ich jetzt – aber darum kann ich noch lange nicht begreifen, was es eigentlich ist. Wenn es was haben will und bekommt es nicht gleich, macht es den tollsten und abscheulichsten Lärm. Wenn es aber hat, was es will, oder sonst zufrieden ist, sagt es ›Gugu‹ oder etwas der Art. Es ist kein Mensch, denn es kann nicht gehen; es ist kein Vogel, sonst könnte es fliegen; es ist kein Frosch, denn es hüpft nicht; und auch keine Schlange, weil es nicht kriechen kann. Daß es kein Fisch ist, weiß ich ebenfalls ganz bestimmt, obgleich ich nicht dazu kommen kann, es schwimmen zu lassen. Wenn Eva es nicht auf den Armen hat, liegt es meist am Boden auf dem Rücken und streckt die Füße in die Luft. Das habe ich noch bei keinem Tier gesehen. Ich glaube es muß ein Riesenkäfer sein. Wenn es stirbt will ich es auseinandernehmen, um seine innere Einrichtung zu untersuchen. Ich muh der Sache doch auf den Grund kommen.

Drei Monate später. Die Geschichte wird immer rätselhafter. Ich kann kaum noch schlafen, weil sie mir so im Kopfe herumgeht. Das Geschöpf liegt nicht mehr am Boden, sondern kriecht nun auf seinen vier Füßen herum. Aber es unterscheidet sich wesentlich von den übrigen Vierfüßlern, denn seine Vorderbeine sind ungewöhnlich kurz. So ragt denn der Hauptteil seiner Person ganz unverhältnismäßig in die Höhe, was durchaus nichts Anziehendes hat. Im übrigen ist es ganz so gebaut wie wir, doch beweist schon die Art seiner Fortbewegung, daß es nicht zu unserer Gattung gehört. Die Kürze der Vorder- und die Länge der Hinterbeine deuten darauf hin, daß es aus der Känguruh-Familie stammt. Doch unterscheidet es sich auch hier wieder von dem wirklichen Känguruh, denn es kann nicht hüpfen wie dieses. Es muß eine seltsame und interessante Abart sein, die bisher noch nicht katalogisiert worden ist. Da ich dieselbe entdeckt habe, halte ich mich auch für berechtigt, mir den Ruhm dieser Entdeckung für alle Zeiten dadurch zu sichern, daß ich dem neuen Geschöpf meinen Namen beilege. Ich habe es Kaengurum Adamiensis getauft.

Es muß ein ganz junges Exemplar gewesen sein, als Eva es in dem Tannengehölz fing, denn es ist seitdem beständig gewachsen. Jetzt ist es wohl fünfmal so groß wie damals, und wenn es etwas haben will und es nicht gleich bekommt, macht es dreißigmal mehr Lärm als früher. Zwang und Gewalt vermögen nichts dagegen auszurichten, im Gegenteil, sie machen die Sache immer nur schlimmer. Darum habe ich das Zwangs-System, mit dem ich es eine Zeit lang versuchte, wieder aufgegeben, zumal ich ihr gegenüber ohnehin damit einen besonders schwierigen Stand hatte. Sie besänftigt es immer mit Zureden und Schöntun und meistens damit, daß sie ihm alles gibt, was sie ihm zuerst rundweg abgeschlagen hat.

Wie ich schon bemerkt habe, war ich nicht zu Hause, als sie es brachte. Sie sagte mir, sie habe es im Walde gefunden. Es ist unbegreiflich, daß es das einzige seiner Art sein sollte, aber ich habe mich die ganze Zeit über müde und lahm gesucht, um ein zweites Exemplar zu finden, teils um es unserer Sammlung hinzuzufügen, teils als Spielgefährten für unseres. Es würde dann gewiß stiller sein und sich leichter zähmen lassen. Aber ich kann keines entdecken; auch nicht die leiseste Spur habe ich aufgefunden. Merkwürdig! Es kann doch gar nicht anders leben als auf dem Erdboden und wenn es sich vorwärts bewegt, müßte es doch eine Fährte hinterlassen. Ich habe wohl ein Dutzend Fallen und Schlingen gelegt, aber nichts dadurch erreicht. Alle kleinen Tiere kann ich fangen, nur dieses nicht. Sie gehen meistens aus Neugierde in die Falle, nur um zu sehen, wozu die Milch eigentlich dort aufgestellt ist, glaube ich. Trinken tun sie die Milch nie, sie werfen sie höchstens um.

Drei Monate später. Unser adamitisches Känguruh wächst noch immer fort, was höchst seltsam und beunruhigend ist. Ich habe noch nie gesehen, daß ein Känguruh solange braucht, um seine volle Größe zu erreichen. Es hat jetzt einen Pelz auf dem Kopf; gar nicht wie ein Känguruhpelz, sondern viel eher wie unser eigenes Haar, nur daß es sich feiner und weicher anfühlt, und statt schwarz rot ist. Wenn das noch lang so fort geht, verliere ich nächstens den Verstand über die tollen und unberechenbaren Sprünge in der Entwicklung dieses unklassifizierten zoologischen Naturspiels. Könnte ich nur ein zweites fangen, – doch das ist eine ganz vergebliche Hoffnung. Es ist eine neue Art und von dieser das einzige Exemplar, – soviel steht jetzt fest. Seit vorgestern ist mir auch noch der letzte Zweifel geschwunden. Ich hatte ein wirkliches Känguruh gefangen und mit nach Hause gebracht, in dem Gedanken, daß das unserige in seiner Einsamkeit froh sein würde, wenigstens einem ihm einigermaßen verwandten Tier zu begegnen. Unter Wildfremden, die nichts von seiner Art und Weise und seinen Wünschen und Begierden verstehen, mußte es doch darin, wie ich glaubte, einen kleinen Trost finden. Aber welchen Mißgriff hatte ich begangen. Es fiel bei dem bloßen Anblick des eingefangenen Känguruhs in solche Krämpfe, daß ich sofort wußte, es habe noch kein derartiges Geschöpf gesehen. Mir tut das kleine Tier leid, denn es schreit bei der geringsten Gelegenheit und ich kann nichts tun, um es glücklich zu machen oder zu sorgen, daß es sich bei uns wie unter seinesgleichen fühlt – und doch möchte ich es selbst jetzt gar nicht mehr missen. Wenn ich es nur wenigstens zähmen könnte, – aber auch das ist ganz außer Frage. Und jemehr ich es versuche, um so schlimmer scheine ich es zu machen. Es schneidet mir geradezu ins Herz das kleine Ding bei seinen Anfällen von Kummer und stürmischer Leidenschaft zu sehen. Eigentlich möchte ich, wir wären es wieder los; doch wage ich gar nicht den Wunsch auszusprechen. Denn erstens ist es mir doch nicht ganz ernst damit und zweitens würde Eva von einem solchen Vorschlag kein Wort hören wollen. Das scheint sehr grausam und selbstsüchtig von ihr, – aber vielleicht hat sie doch recht. Es würde dann am Ende noch einsamer sein als vorher. Ist es mir nicht gelungen ein zweites Exemplar seiner Gattung zu finden, so müßte es selber gewiß auch vergebens danach suchen.

Fünf Monate später. Es ist kein Känguruh! Nein, es kann sich seit wenigen Tagen selbst auf den Hinterbeinen aufrecht erhalten, wenn es sich gleichzeitig mit einer seiner Vorderpfoten an ihrem hingestreckten Finger festhält. Über ein paar Schritte kommt es dabei freilich noch nicht hinaus, sondern fällt dabei jedesmal bald wieder auf alle Viere zurück. Aber das genügt, um uns die Gewißheit zu verschaffen, daß es kein Känguruh ist. Viel wahrscheinlicher, daß es eine Art Bär ist. Nur hat es keinen Schwanz und, – wenigstens bis jetzt, – kein haariges Fell, außer auf dem Kopf. Übrigens sind die Bären gefährlich – ich weiß das von jener Vernichtungsschlacht her. Ich werde diesem hier, so gerne ich ihn auch manchmal habe, nicht mehr lange erlauben, sich ohne Maulkorb herumzutreiben. Neulich habe ich wieder einen Versuch gemacht, Eva ein richtiges, ausgewachsenes Känguruh zu versprechen, für welches sie dann dieses laufen lassen könnte. Aber alles, was ich damit erreichte, war, daß es aus den Sehlöchern in ihrem Gesicht förmlich wie Feuer sprühte und sie seitdem den kleinen Bären noch weniger als je von der Hand läßt. Ich fürchte sie wird uns durch ihre Torheit in neue Gefahr bringen. Seit sie den Verstand verloren hat, ist sie wie umgewandelt.

Vierzehn Tage später. Ich habe seinen Mund untersucht. Noch ist es unschädlich; es hat erst einen Zahn. Auch einen Schwanz hat es noch immer nicht. Aber dafür macht es mehr Lärm als je zuvor. Und namentlich in der Nacht. In den letzten beiden Nächten war es so arg, daß ich ausgezogen bin. Aber morgen gehe ich zum Frühstück hinüber, und dann sehe ich nach, ob es noch mehr Zähne bekommen hat. Wenn es erst einmal den ganzen Mund voll Zähne hat, wird es die höchste Zeit sein, Maßregeln zu ergreifen, – Schwanz oder nicht Schwanz, denn ein Bär braucht keinen Schwanz, um gefährlich zu sein.

Vier Monate später. Ich bin wieder auf einem längeren Jagd- und Fischausflug fortgewesen. Etwa einen Monat lang. In der Zwischenzeit hatte der Bär gelernt, sich ohne Hilfe und auf den Hinterbeinen allein fortzuhelfen und etwas, das wie ›Poppa‹ und ›Momma‹ klang, zu sagen. Es ist sicherlich eine ganz neue Art. Diese Töne, die sich ganz wie Worte anhören, mögen etwas rein Zufälliges sein und an sich gar nichts zu bedeuten haben. Aber selbst dann ist die Sache noch immer merkwürdig genug, und jedenfalls etwas, was kein anderer Bär kann. Diese Ähnlichkeit mit menschlicher Rede, dazu das Fehlen des Pelzes und der vollständige Mangel eines Schwanzes, beweisen zur Genüge, daß es nicht nur eine besondere, sondern ganz neue Art Bär ist. Inzwischen beabsichtige ich, seinetwegen auf eine neue Forschungsexpedition auszugehen und die großen Wälder weiter im Norden nach einem zweiten Exemplar zu durchsuchen.

Drei Monate später. Es war ein langer und langweiliger Jagdausflug, von dem ich da eben zurückgekehrt bin. Aber er war ganz und gar erfolglos. Was hat sie aber in der Zwischenzeit getan? Ohne sich vom Platz zu rühren und sich im mindesten anzustrengen hat sie unterdessen gerade auf dem neuen Grundstück ein zweites Exemplar eingefangen! Hat man je von solchem Glück gehört?

Tags darauf. Ich habe das neue Geschöpf genau mit dem alten verglichen, und es ist gar kein Zweifel, daß sie vom gleichen Schlage sind. Ich äußerte den Wunsch, eines von ihnen für meine Sammlung auszustopfen. Aber sie ist gegen das Ausstopfen im allgemeinen eingenommen, und in diesem Falle wollte sie erst recht nichts davon wissen. So habe ich denn die Absicht wieder aufgeben müssen, obgleich ich denke, daß ich unter allen Umständen darauf hätte bestehen sollen. Man denke sich, daß sie plötzlich wieder abhanden kämen, und stelle sich den Verlust für die Wissenschaft vor, wenn nichts von ihnen zurückbliebe!

Das ältere von beiden ist auch das weitaus zahmere. Es kann sogar plappern und lachen, wie ein Papagei. Und da auch Papageien so viel um uns herum sind, bin ich überzeugt, daß es das alles, und die Gabe der Nachahmung überhaupt von ihnen gelernt hat. Na, wer weiß, – vielleicht kommt es zuletzt noch heraus, daß es selbst eine Art Papagei ist. Ich würde mich gar nicht darüber wundern, wenn ich bedenke, was es alles schon gewesen ist seit jenen ersten Tagen, als ich es für einen Fisch hielt. Das neue ist grade so häßlich wie das andere zuerst war; es hat gelblich-rote Fleischfarbe und auf dem Kopf nur hier und da einen ganz leisen Ansatz von Pelz. Sie hat ihm auch schon einen Namen gegeben – Abel nennt sie es.

Zehn Jahre später. Es sind Jungens! Wir wissen das jetzt seit geraumer Zeit. Nur ihre anfängliche Winzigkeit und Gestaltlosigkeit hat uns so lange irre geführt. Wir hatten es noch nicht erlebt, daher unsere lange Ungewißheit. Jetzt haben wir uns bereits daran gewöhnt – auch ein paar Mädel sind schon angekommen.

Abel ist ein guter Junge. Aber wenn Kain ein Bär geblieben wäre, so würde das besser für ihn gewesen sein.

Was mich anlangt, so sehe ich nach allen diesen Jahren ein, daß ich Eva im Anfang unrecht getan habe. Es ist besser, außerhalb des Gartens mit ihr zu leben, als im Garten ohne sie. Ich meinte zuerst, sie spräche zuviel. Aber jetzt würde es mich aufs tiefste betrüben, wenn diese Stimme verstummen und ich sie mein Lebtag nicht mehr hören sollte. Gesegnet sei der Apfelbiß, der uns zuerst einander so nahe gebracht hat, daß ich ihre Holdseligkeit und die Güte ihres Herzens erkennen lernte!

Der Roman einer Eskimo-Maid

Der Roman einer Eskimo-Maid

»Ja, Herr Twain, ich will Ihnen von meinem Leben alles erzählen, was Sie gerne hören möchten,« sagte sie mit ihrer sanften Stimme und dabei sah sie mir mit ihren unschuldigen Augen ruhig ins Gesicht; »denn es ist lieb und nett von Ihnen, daß Sie mich leiden mögen und etwas über mich wissen wollen.«

Sie hatte, in Gedanken versunken, mit einem beinernen Messerchen Walfischfett von ihren Wangen geschabt und es an ihrem Pelzärmel abgewischt und dabei auf das Nordlicht am Himmel geblickt, das seine flammenden Strahlen in reichen Regenbogenfarben über die einsame Schneeebene und die Dome der Eisberge ergoß – ein Schauspiel von fast unerträglich glänzender Schönheit. Aber jetzt schüttelte sie die träumerische Stimmung von sich ab und schickte sich an, mir die einfache kleine Geschichte zu erzählen, um die ich sie gebeten hatte. Sie setzte sich bequem auf dem Eisblock zurecht, der uns als Sofa diente, und ich nahm die Haltung eines aufmerksamen Zuhörers an.

Sie war ein schönes Geschöpf. Ich spreche vom Eskimostandpunkt. Andere hätten sie für ein bißchen reichlich fett halten mögen. Sie war gerade zwanzig Jahre alt und galt für das weitaus bezauberndste Mädchen ihres Stammes. Sogar hier in der freien Luft, in ihren schwerfälligen und unförmlichen Pelzröcken, Pelzhosen und Pelzstiefeln und unter der großen Kapuze war wenigstens die Schönheit ihres Gesichtes erkennbar; die Schönheit ihrer Gestalt mußte man allerdings auf Treu und Glauben annehmen. Unter allen aus- und eingehenden Gästen hatte ich an ihres Vaters gastlichem Eßtrog kein Mädchen gesehen, das man ihrer ebenbürtig hätte nennen können. Und dabei war sie unverdorben! Sie war lieblich und natürlich und aufrichtig, und wenn sie wußte, daß sie eine Schönheit war, so ließ doch nichts in ihrem Gehaben darauf schließen, daß sie diese Kenntnis besaß.

Sie war nun seit einer Woche meine tägliche Kameradin gewesen, und je besser ich sie kennen lernte, desto besser gefiel sie mir. Sie war zärtlich und sorgfältig aufgezogen worden, in einer Lebensluft, die in den Polargegenden als eine außerordentlich verfeinerte gelten konnte, denn ihr Vater war der einflußreichste Mann seines Stammes und stand auf der Höhe der Eskimokultur. Ich machte mit Lasca – so hieß sie – lange Spazierfahrten im Hundeschlitten über die mächtigen Eisfelder und fand ihre Gesellschaft stets liebenswürdig und ihre Unterhaltung angenehm. Ich ging mit ihr auf den Fischfang, aber nicht in ihrem lebensgefährlich schwachen Boot, sondern ich spazierte bloß am Eisrande entlang und sah zu, wie sie mit ihrem unfehlbar treffenden Speer ihr Wild erlegte. Wir segelten miteinander; mehreremale stand ich dabei, wenn sie und ihre Familie von einem gestrandeten Wal den Speck ernteten, und einmal begleitete ich sie ein Stück Weges auf die Bärenjagd; ich kehrte aber um, ehe es zum Schuß kam, denn im Grunde habe ich Angst vor Bären.

Nun, wie gesagt, sie wollte mir ihre Geschichte erzählen. Hier ist sie:

»Unser Stamm war nach uraltem Brauch wie die anderen Stämme über das gefrorene Meer von Ort zu Ort gewandert, aber vor zwei Jahren wurde mein Vater des Wanderns müde und baute sich dieses große Schloß aus Schneeblöcken – sehen Sie es nur an! Es ist sieben Fuß hoch und drei- oder viermal so lang als irgend ein andres Haus. Hier haben wir seither immer gewohnt. Er war sehr stolz auf sein Haus und das mit Recht; denn wenn Sie es sich aufmerksam ansahen, so müssen Sie bemerkt haben, wieviel schöner und vollständiger es ist als die üblichen Wohnungen. Haben Sie noch nicht darauf geachtet, so müssen Sie es unbedingt tun, denn Sie werden darin eine luxuriöse Ausstattung finden, die sich hoch über das Gewöhnliche erhebt. Zum Beispiel, an dem Ende, das Sie den ›Empfangssalon‹ genannt haben, da ist die erhöhte Plattform, woran meine Familie und ihre Gäste es sich beim Essen bequem machen. Diese Plattform ist die größte, die Sie je in einem Hause gesehen haben – nicht wahr?«

»Ja, Sie haben vollkommen recht, Lasca; es ist die größte. Wir haben selbst in den schönsten Häusern der Vereinigten Staaten nichts Ähnliches.«

Bei dieser Anerkennung funkelten ihre Augen voll Stolz. Ich bemerkte es und schrieb es mir hinter die Ohren.

»Ich dachte mir’s, daß die Plattform Sie überrascht hätte,« sagte sie. »Und noch eins: Der Boden ist viel dicker mit Pelzen belegt als sonst üblich ist. Alle Arten Pelzwerk – vom Seehund, Seeotter, Silberfuchs, Bär, Marder, Zobel – alle Arten Pelzwerk sind im Überfluß vorhanden. Dasselbe gilt von den Eisblockschlafbänken an der Wand, die Sie ›Betten‹ nennen. Sind bei Ihnen zu Hause Plattformen und Schlafbänke besser ausgestattet?«

»Das sind sie wirklich nicht, Lasca – man denkt noch gar nicht mal daran.« Das gefiel ihr wieder. Sie dachte bloß an die Zahl der Pelze, die ihr feinsinniger Vater sich die Mühe nahm aufzubewahren, nicht an deren Wert. Ich hätte ihr sagen können, daß diese Massen von kostbarem Pelzwerk ein Vermögen bedeuteten – oder wenigstens in meiner Heimat bedeuten würden – aber sie hätte das nicht verstanden; solche Sachen galten bei ihrem Volk nicht als Reichtümer. Ich hätte ihr sagen können, daß die Kleider, die sie anhatte, oder die Alltagskleider der gewöhnlichsten Person ihrer Umgebung, zwölf- oder fünfzehnhundert Dollars wert seien, und daß ich bei uns zu Hause keine Dame kenne, die in Zwölfhundert-Dollars-Toiletten fischen ginge. Aber auch dies hätte sie nicht verstanden. Deshalb sagte ich nichts. Sie fuhr fort:

»Und dann die Spülzuber! Wir haben zwei im Empfangssalon und außerdem noch zwei andere im Hause. Es kommt sehr selten vor, daß jemand zwei im Empfangssalon hat. Haben Sie zwei in Ihrem Salon daheim?«

Der bloße Gedanke an diese Spülzuber benahm mir den Atem; ich sammelte mich aber wieder, bevor sie etwas merkte, und sagte voll Wärme:

»Hören Sie, Lasca, es ist schlecht von mir, daß ich meine Heimat bloßstelle, und Sie dürfen es nicht weiter sagen, denn ich spreche zu Ihnen im Vertrauen – ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß nicht mal der reichste Mann in der Stadt New York zwei Spülzuber in seinem Salon hat.«

Sie schlug in unschuldigem Entzücken ihre pelzbekleideten Hände zusammen und rief:

»O, das kann doch nicht Ihr Ernst sein, das kann nicht Ihr Ernst sein!«

»Ja, es ist wirklich mein Ernst, Liebste! Da ist Vanderbilt. Vanderbilt ist ungefähr der reichste Mann auf der ganzen Welt. Nun, und wenn ich auf dem Totenbett läge, so könnte ich Ihnen sagen, daß nicht mal er zwei in seinem Salon hat. Ja, nicht mal einen hat er – ich will auf der Stelle sterben, wenn’s nicht wahr ist!«

Ihre lieblichen Augen standen vor Erstaunen weit aufgerissen, und sie sagte langsam, mit einem gewissen Beben in der Stimme: »Wie seltsam – wie unglaublich – man kann es sich gar nicht vorstellen. Ist er geizig?«

»Nein – das ist er nicht. Auf die Ausgabe kommt’s ihm nicht an, aber – hm – wissen Sie, es würde protzig aussehen. Ja, das ist es – so denkt er. Er ist ein einfacher Mann auf seine Art und hat eine Abneigung gegen Entfaltung von Pomp und Prunk.«

»Nun, solche Demut ist ja recht anerkennenswert,« sagte Lasca, »wenn man sie nicht zu weit treibt – aber wie sieht denn nun der Salon aus?«

»Na, natürlich ziemlich kahl und unvollständig, aber …«

»Das kann ich mir denken. So was habe ich noch nie gehört! Ist es ein schönes Haus – ich meine, abgesehen davon?«

»Ziemlich schön, ja. Man hat ’ne sehr gute Meinung davon.«

Das Mädchen saß eine Weile schweigend da und knabberte träumerisch an einem Lichtstumpf. Augenscheinlich versuchte sie sich auf das Gehörte einen Vers zu machen. Zuletzt schüttelte sie leise den Kopf und sprach frank und frei ihre Meinung aus:

»Nun, nach meiner Ansicht gibt es eine Art von Demut, die, wenn man ihr auf den Grund geht, doch nur eine Prahlerei ist. Und wenn ein Mann, der sich zwei Spülzuber in seinem Salon leisten kann, es nicht tut, so ist er vielleicht wirklich demütig, aber hundertmal wahrscheinlicher ist es, daß er gerade die Blicke der Welt dadurch auf sich lenken will. Nach meiner Meinung weiß Herr Vanderbilt genau, was er damit bezweckt.«

Ich versuchte diesen Urteilsspruch zu mildern, denn ich fühlte, daß der Besitz von zwei Spülzubern nicht für jedermann der richtige Prüfstein sei, obgleich man in der Eskimogegend nichts dagegen einwenden kann. Aber das Mädchen hatte seinen eigenen Kopf und ließ sich nichts einreden. Plötzlich fragte sie: »Haben die reichen Leute bei Ihnen auch so gute Schlafbänke wie wir, aus so hübschen breiten Eisblöcken gemacht?«

»Na, sie sind ziemlich gut – gut genug – aber aus Eisblöcken sind sie nicht gemacht.«

»Ach gar! Warum sind sie denn nicht aus Eisblöcken?«

Ich erklärte ihr die Schwierigkeiten und machte sie darauf aufmerksam, wie teuer das Eis in einem Lande ist, wo man auf seinen Eismann scharf aufpassen muß, damit die Eisrechnung nicht schwerer wird als das Eis selber. Da rief sie:

»Herrje! Kaufen Sie Ihr Eis?«

»Ganz gewiß, mein liebes Kind.«

Sie brach in ein stürmisches, harmloses Lachen aus und sagte: »O, so was Albernes habe ich noch nie gehört! Es ist ja doch massenhaft vorhanden, ist kein kleinstes bißchen wert! Ich gäbe keine Fischblase für das Ganze!«

»Nun, Sie wissen eben den Wert nicht zu beurteilen, Sie kleine Provinzpflanze Sie! Wenn Sie das Eis hier im Hochsommer in New York hätten, so könnten Sie alle Walfische dafür kaufen, die am Markt sind.«

Sie sah mich zweifelnd an und sagte:

»Sprechen Sie die Wahrheit?«

»Die reinste! Ich leiste meinen Eid darauf.«

Das machte sie nachdenklich. Auf einmal sagte sie mit einem kleinen Seufzer:

»Ich wollte, da könnte ich wohnen!«

Ich hatte ihr nur zum Vergleich Werte nennen wollen, von denen sie sich einen Begriff machen konnte; aber meine Meinung war mißgedeutet. Ich hatte ihr damit nur den Eindruck erweckt, daß in New York Walfische reichlich vorhanden und billig seien, und hatte ihr den Mund wässern gemacht. Es schien am besten zu sein, wenn ich den begangenen Fehler zu mildern versuchte; so sagte ich denn:

»Aber Sie würden sich aus Walfischfleisch nichts machen, wenn Sie in New York wohnten. Kein Mensch dort fragt etwas danach.«

»Was?!«

»Nein, wirklich nicht.«

»Aber warum denn nicht?«

»T–scha, das weiß ich nicht recht. Es ist ein Vorurteil, denke ich. Ja, das ist’s – einfach ein Vorurteil. Wahrscheinlich hat mal irgendwo und irgendwann irgend einer, der nichts Besseres zu tun hatte, ein Vorurteil dagegen aufgebracht, und Sie wissen ja, wenn so eine Einbildung mal eingewurzelt ist, so dauert es eine endlose Zeit, bis sie wieder ausgetrieben wird.«

»Das stimmt – das stimmt vollkommen!« sagte das Mädchen nachdenklich. »Gerade so war es hier mit unserem Vorurteil gegen Seife – wissen Sie, unsere Stämme hatten anfangs ein Vorurteil gegen Seife.«

Ich sah sie an. Sprach sie im Ernst? Augenscheinlich ja. Ich zögerte einen Augenblick, dann fragte ich vorsichtig, mit einer gewissen Betonung:

»Entschuldigen Sie: Sie hatten ein Vorurteil gegen Seife? Hatten?«

»Ja. Aber das war bloß im Anfang. Kein Mensch wollte sie essen.«

»Ach so, ich verstehe. Ich wußte nur nicht gleich, was Sie meinten.«

Sie fuhr fort: »Es war einfach ein Vorurteil. Als zum erstenmal Seife von den Fremdländischen hierhergebracht wurde, da mochte keiner sie. Sobald sie aber in Mode kam, hatte jeder sie gern und jetzt hat jeder welche, der es sich nur leisten kann. Lieben Sie Seife?«

»O ja, gewiß! Ich würde umkommen, wenn ich keine haben könnte – besonders hier. Haben Sie sie gerne?«

»Ich bete sie geradezu an. Mögen Sie Lichte?«

»Ich betrachte sie als unentbehrliche Notwendigkeit. Lieben Sie sie?«

Ihre Augen tanzten geradezu und sie rief:

»O, sprechen Sie nicht davon! … Lichte! … und Seife!«

»Und Fischeingeweide …!«

»Und Lebertran …!«

»Und Bratenfett …!«

»Und Walfischspeck …!«

»Und recht altes Fleisch von gestrandetem Wal! und Sauerkraut! und Bienenwachs! und Teer! und Terpentin! und Syrup! und …«

»O bitte, nicht mehr! Halten Sie ein! Mir bleibt die Luft weg vor Wonne …«

»Und dann alles zusammen in einer Trantonne angerichtet und die Nachbarn dazu eingeladen und dann …«

Aber dieses Zauberbild eines idealen Festes war zu viel für sie, und sie fiel in Ohnmacht, das arme Ding. Ich rieb ihr das Gesicht mit Schnee und brachte sie wieder zu sich, und nach einer Weile kühlte ihre Erregung sich ab. Allmählich kam sie wieder so weit, daß sie in ihrer Geschichte fortfahren konnte:

»So begannen wir also hier in dem schönen Hause zu wohnen. Aber ich war nicht glücklich. Der Grund war dieser: Ich war zur Liebe geschaffen; ohne Liebe konnte es für mich kein wahres Glück geben. Ich wollte um meiner selbst willen geliebt sein. Ich wollte anbeten und wollte von meinem Angebeteten angebetet werden; nichts Geringeres als gegenseitige Anbetung konnte meine glühende Natur befriedigen. Ich hatte Freier genug – ja übergenug – aber in allem und jedem Fall hatten sie einen verhängnisvollen Mangel; früher oder später entdeckte ich diesen Mangel – kein einziger von ihnen vermochte ihn vor mir zu verhehlen: sie wollten nicht mich, sondern meinen Reichtum!«

»Ihren Reichtum?«

»Ja; mein Vater ist der allerreichste Mann in unserem Stamm – und überhaupt unter allen Stämmen dieser Gegend.«

Ich fragte mich neugierig, worin wohl ihres Vaters Reichtum bestehen möchte. Das Haus konnte es nicht sein – ein jeder konnte sich so eins bauen. Die Pelze waren’s auch nicht – denn die waren hier nichts wert. Der Schlitten, die Hunde, die Harpunen, das Boot, die beinernen Fischhaken, Nadeln usw., das alles konnte es nicht sein – nein, das war alles kein Reichtum. Was konnte es denn also sein, das diesen Mann so reich machte und den Schwärm von habgierigen Freiern in sein Haus brachte? Schließlich dünkte mich, es wäre, um dies herauszufinden, das beste, wenn ich sie fragte. Ich tat es. Das Mädchen war durch diese Frage so augenscheinlich geschmeichelt, daß ich sah, sie hatte sich schmerzlich danach gesehnt. Ihr Mitteilungsbedürfnis brannte sie ebenso sehr wie mich meine Neugier. Sie schmiegte sich traulich an mich an und sagte:

»Raten Sie, wie schwerreich er ist – Sie kriegen es niemals heraus!«

Ich tat, als dächte ich tief über die Sache nach, und sie beobachtete den Ausdruck meiner Denkanstrengungen auf meinem Gesicht mit atemlosem und entzücktem Interesse. Und als ich es endlich aufgab und sie bat, meine Sehnsucht zu stillen und zu mir selbst zu sagen, wieviel dieser Vanderbilt des Nordpols wert sei, da legte sie ihren Mund dicht an mein Ohr und wisperte eindrucksvoll:

»Zweiundzwanzig Angelhaken – keine beinernen, sondern fremdländische – aus echtem Eisen!«

Dann sprang sie mit dramatischer Gebärde zurück, um die Wirkung zu beobachten. Ich gab mir die allergrößte Mühe, sie nicht zu enttäuschen. Ich erbleichte und murmelte:

»Gott Strambach!«

»Es ist so wahr, wie Sie leben, Herr Twain!«

»Lasca, Sie machen mir was weis – Sie können es nicht im Ernst meinen!«

Sie wurde furchtsam und verwirrt und rief aus:

»Herr Twain, jedes Wort davon ist wahr – jedes Wort. Sie glauben mir – Sie glauben mir doch, bitte, nicht wahr? Sagen Sie, daß Sie mir glauben – bitte, bitte, sagen Sie, daß Sie’s glauben.«

»Ich … hm … na ja, ich glaube – ich bemühe mich, es zu glauben. Aber es kam gar so plötzlich. So plötzlich und so verblüffend. Sie sollten so was nicht so mit einemmal machen. Es …«

»O, es tut mir so leid! Hätte ich nur gedacht …«

»Nun, es ist schon gut … und ich mache Ihnen keine Vorwürfe mehr, denn Sie sind jung und gedankenlos, und natürlich konnten Sie nicht voraussehen, was für ’ne Wirkung …«

»Ach ja. Bester, ich hätte ganz gewiß besser daran denken sollen. Aber wie …«

»Sehen Sie, Lasca, wenn Sie mit fünf oder sechs Angelhaken angefangen hätten und dann allmählich …«

»O, ich verstehe, ich verstehe … dann allmählich einen hinzufügen, und dann zwei und dann … Ach, warum habe ich denn auch nicht daran gedacht!«

»Nun, gleichviel, Kind; es ist schon recht. Ich fühle mich jetzt besser … binnen kurzem werde ich darüber weg sein. Aber … einem unvorbereiteten und gar nicht sehr kräftigen Menschen mit sämtlichen zweiundzwanzig auf einmal ins Gesicht springen …!«

»O … es war eine Sünde! Aber Sie verzeihen mir – sagen Sie, daß Sie mir verzeihen! Bitte!«

Nachdem ich ein gut Teil sehr niedlichen Streichelns und Hätschelns und Zuredens eingeheimst hatte, vergab ich ihr, und sie war wieder glücklich und kam nach und nach wieder in ihre Geschichte hinein. Auf einmal entdeckte ich, daß der Familienschatz noch irgend was anderes Ausgezeichnetes enthalten mußte – augenscheinlich irgend ein Kleinod – und daß sie versuchte in Andeutungen davon zu sprechen, damit es mich nicht abermals umwürfe. Doch ich wünschte auch von diesen Dingen genau Bescheid zu wissen und drang in sie, mir zu sagen, was es sei. Sie hatte Angst. Aber ich bestand darauf und sagte, diesmal würde ich mich zusammennehmen und den Stoß aushalten. Sie war voll böser Ahnungen, aber die Versuchung, mir das Wunder zu enthüllen und sich an meinem Erstaunen und meiner Bewunderung zu weiden, war zu stark für sie, und sie gestand mir, sie trüge es bei sich, und sagte, wenn sie sicher wäre, daß ich gefaßt sei – usw. usw. – und damit griff sie in ihren Busen und brachte ein verbeultes viereckiges Messingstück zum Vorschein, wobei ihr Blick erwartungsvoll an meinem Auge hing. Ich sank an ihren Busen in einer ganz vorzüglich gespielten Ohnmacht, die ihr Herz entzückte und zugleich in höchsten Schrecken versetzte. Als ich wieder zu mir kam, erkundigte sie sich begierig, was ich zu ihrem Kleinod sagte.

»Was ich dazu sage? Ich denke, es ist das köstlichste Ding, das ich jemals sah.«

»Denken Sie das wirklich? Wie nett von Ihnen, daß Sie das sagen. Aber es ist auch herzig – ist es nicht?«

»Gewiß, das will ich meinen! Ich wollte es lieber mein eigen nennen, als den ganzen Äquator!«

»Ich dachte mir’s, daß Sie’s bewundern würden,« sagte sie. »Ich meine, es ist so herzig! Und es gibt kein zweites in diesen ganzen Gegenden! – Es sind Leute ganz vom offenen Polarmeer hierher gereist, um sich’s anzusehen. Sahen Sie jemals früher so was?«

Ich sagte nein; es wäre das erste derartige Juwel, das ich je gesehen hätte. Es gab mir einen schmerzlichen Knax, diese großmütige Lüge zu sagen, denn ich hatte in meinem Leben eine Million solcher Dinger gesehen – da ihr Kleinod nichts anderes war, als eine verbogene alte New Yorker Bahnhofsgepäckmarke.

»Alle Wetter!« sagte ich. »Sie gehen doch nicht mit diesem Juwel auf Ihrem Leibe so allein und ohne Schutz herum, und ohne auch nur ’nen Hund mitzunehmen?«

»Pßt! Nicht so laut!« sagte sie. »Niemand weiß, daß ich’s bei mir habe. Sie denken, es liegt bei Papas Schatz. Und da liegt es auch für gewöhnlich.«

»Wo ist der Schatz?«

Das war eine plumpe Frage, und einen Augenblick lang sah sie verdutzt und ein wenig mißtrauisch drein; aber ich sagte:

»O, o! Haben Sie doch keine Angst vor mir. Zu Hause sind wir siebzig Millionen Menschen, und – ich sollte es eigentlich nicht selber von mir sagen, aber da ist kein einziger unter ihnen allen, der mir nicht unzählbare Angelhaken anvertrauen würde.«

Dies beruhigte sie wieder und sie erzählte mir, wo die Angelhaken im Hause versteckt lägen. Dann machte sie eine kleine Abschweifung, um ein bißchen mit der Größe der durchscheinenden Eisplatten zu renommieren, die die Fenster ihres Schlosses bildeten, und fragte mich, ob ich zu Hause je ihresgleichen gesehen, und ich bekannte frei und offen, das hätte ich nicht, und das machte ihr solche Freude, daß sie keine Worte finden konnte, ihre Dankbarkeit darin zu kleiden. Es war so leicht ihr Freude zu machen, und eine solche Freude, dies zu tun, daß ich fortfuhr und sagte:

»O, Lasca, Sie sind wirklich ein glückliches Mädchen! Dieses schöne Haus, dies köstliche Juwel, der reiche Schatz, all dieser elegante Schnee und die prachtvollen Eisberge und die grenzenlose Wüste, und die jagdfreien Bären und Walrosse, und edle Freiheit und weite Natur! Und jedermanns Augen ruhen bewundernd auf Ihnen, und jedermanns Ehrfurcht steht Ihnen ungesucht zu Gebote! Jung, reich, schön, umworben, gefeiert, beneidet – von jedem Luxus sind Sie umgeben, jeder Wunsch wird Ihnen erfüllt, ja es gibt nicht einmal etwas, was Sie wünschen könnten – was für ein unermeßliches Glück! Ich habe Myriaden von Mädchen gesehen, aber keine, der man alle diese außerordentlichen Dinge mit Recht nachsagen konnte, außer Ihnen. Und Sie sind ihrer würdig, – sind ihrer aller würdig, Lasca – das glaube ich in meines Herzens Grunde!«

Es machte sie unendlich stolz und glücklich, mich dies sagen zu hören und sie dankte mir immer und immer wieder für die Schlußbemerkung, und an ihrer Stimme und ihren Augen merkte ich, daß sie wirklich gerührt war. Aber plötzlich sagte sie:

»Und doch, es ist nicht alles Sonnenschein – es sind auch düstere Wolken vorhanden. Die Bürde des Reichtums ist schwer zu tragen. Oftmals habe ich zweifelnd bei mir gedacht, ob es nicht besser wäre, arm zu sein – oder wenigstens nicht so über alle Maßen reich. Es schmerzt mich, wenn Leute von Nachbarstämmen mich anstarren, wenn sie bei mir vorüber kommen, und wenn ich sie ehrfurchtsvoll zu einander sagen höre: ›Da! Das ist sie – die Millionärstochter!‹ Und manchmal sagt einer kummervoll: ›Sie wälzt sich in Angelhaken, und ich – ich habe nichts!‹ Das bricht mir das Herz. Als ich ein Kind war und wir arm waren, da schliefen wir bei offener Tür, wenn wir wollten, aber jetzt – jetzt müssen wir einen Nachtwächter haben. Früher war mein Vater freundlich und höflich zu allen; aber jetzt ist er streng und hochfahrend und kann’s nicht leiden, wenn ihm einer vertraulich kommt. Einst war seine Familie sein einziger Gedanke, aber jetzt denkt er, wo er geht und steht, an seine Angelhaken. Und sein Reichtum macht, daß ein jeder untertänigst vor ihm katzbuckelt. Früher lachte niemand über seine Spaße, denn sie sind immer fade und weithergeholt und armselig und mangeln des einzigen Elements, das wirklich einen Spaß rechtfertigen kann – des Humors. Aber nun lacht und kichert ein jeder über diese greulichen Dinger, und wenn’s einer ‚mal nicht tut, so ärgert mein Vater sich tief und läßt es sich merken. Früher fragte kein Mensch nach seiner Meinung, und sie taugte auch wirklich nichts, wenn er sie ‚mal ungefragt abgab; diesen Fehler haben seine Meinungen auch jetzt noch, trotzdem wollen alle sie hören und geben ihren Beifall dazu – und er selbst stimmt in den Beifall ein, denn echtes Zartgefühl hat er gar nicht, dafür aber eine große Masse Taktlosigkeit. Er hat den Ton unseres ganzen Stammes heruntergebracht. Einst war’s ein freimütiges, mannhaftes Geschlecht, jetzt sind sie jämmerliche Heuchler und aufgedunsene Liebediener. Von ganzem Herzensgrunde hasse ich all dies Millionärsgetue. Unsere Stammesgenossen waren einst schlichtes, einfaches Volk, zufrieden mit den beinernen Angelhaken ihrer Väter; jetzt sind sie von Habsucht zerfressen und würden jedes Gefühl von Ehre und Würde opfern, um des Fremdlings entwürdigende eiserne Angelhaken zu erlangen. Aber ich darf bei diesen traurigen Geschichten nicht verweilen … Wie ich gesagt, es war mein Traum, um meiner selbst willen geliebt zu werden.

Endlich schien dieser Traum in Erfüllung gehen zu sollen. Eines Tages kam ein Fremder durch, der sagte, sein Name sei Kalula. Ich nannte ihm meinen Namen, und er sagte, er liebe mich. Mein Herz hüpfte hoch vor Dankbarkeit und Glück, denn ich hatte ihn auf den ersten Blick geliebt, und nun sagte ich ihm das. Er zog mich an seine Brust und sagte, er wünschte niemals glücklicher zu sein, als in dem Augenblick. Wir lustwandelten miteinander weit über die Eisfelder, sprachen immerfort von uns selber und planten, ach, die lieblichste Zukunft. Als wir endlich müde wurden, setzten wir uns nieder und aßen, denn er hatte Seife und Lichte bei sich, und ich hatte ein bißchen Walfischtran mitgenommen. Wir waren hungrig und niemals schmeckte uns etwas so gut.

Er gehörte zu einem Stamm, dessen Jagdgründe fern im Norden lagen, und ich fand heraus, daß er niemals was von meinem Vater gehört hatte, und das machte mich über alle Maßen froh. Das heißt, er hatte wohl von dem Millionär gehört, kannte aber dessen Namen nicht – so konnte er also, verstehen Sie, nicht wissen, daß ich die Erbin war. Sie können sich denken, daß ich ihm nichts davon sagte. Endlich war ich um meiner selbst willen geliebt, und wie zufrieden machte mich das! Ich war so glücklich – o, glücklicher, als Sie sich vorstellen können.

Allmählich wurde es Zeit zum Abendessen, und ich führte ihn nach unserm Hause. Als wir in dessen Nähe kamen, war er erstaunt und rief:

›Wie prachtvoll! Ist das deines Vaters Haus?‹

Es gab mir einen Stich durchs Herz, als ich diesen Ton hörte und den bewundernden Glanz in seinem Auge sah, aber dies Gefühl schwand bald hinweg, denn ich liebte ihn so sehr, und er sah so schmuck und vornehm aus. Meiner ganzen Familie, Tanten, Onkeln, Vettern und Cousinen gefiel er gut, viele Gäste wurden eingeladen, das Haus wurde dicht verschlossen, die Tranlampen angezündet, und als alles heiß und recht zum Ersticken gemütlich war, da begannen wir ein fröhliches Festmahl zur Feier meiner Verlobung.

Als der Schmaus vorüber war, da erlag mein Vater seiner Eitelkeit und konnte der Versuchung nicht widerstehen, mit seinen Reichtümern zu protzen und Kalula sehen zu lassen, in was für ein großes Glück er hineingetappt wäre – und vor allem natürlich wollte er sich an des armen Mannes Erstaunen weiden. Ich hätte weinen mögen – aber es hätte nichts genützt, wenn ich versucht hätte, meinem Vater abzureden; so sagte ich denn nichts, sondern saß nur da und litt schweigend.

Mein Vater ging im Angesicht aller Leute geradeswegs auf das Versteck los und holte die Angelhaken hervor und brachte sie herbei und warf sie streuend über meinen Kopf weg, so daß sie in glitzerndem Durcheinander vor meines Liebsten Knieen auf die Plattform niederfielen. Natürlich stand bei dem erstaunlichen Schauspiel dem armen Burschen der Atem still. Er konnte nur in stumpfsinniger Verblüfftheit auf die Angelhaken starren und sich wundern, wie ein einzelner Mensch so unglaubliche Reichtümer besitzen könne. Dann auf einmal leuchtete sein Antlitz auf und er rief aus:

›Ah, so bist du der berühmte Millionär!‹

Mein Vater und alle übrigen brachen lärmend in ein glückliches Gelächter aus, und als mein Vater nachlässig den Schatz zusammenkehrte, als wäre es ein gewöhnlicher Plunder ohne alle Bedeutung, und ihn wieder an seinen Platz trug, da war Kalulas Überraschung zum Malen. Er sagte:

›Ist es möglich, daß du solche Sachen forträumst ohne sie zu zählen?‹

Mein Vater ließ ein prahlerisch wieherndes Lachen erschallen und sagte:

›Gewiß und wahrhaftig, da kann ein Toter sehen, daß du niemals reich gewesen bist, wenn eine Lapalie von einem oder zwei Angelhaken in deinen Augen ein so mächtiges Ding ist!‹

Kalula war verwirrt und senkte den Kopf; dann sagte er:

›Ach, in der Tat, Herr, ich besaß niemals auch nur soviel, wie der Widerhaken an einer solchen kostbaren Angel wert ist, und ich habe niemals einen Mann gesehen, der so reich war, daß es sich verlohnt hätte, seinen Hort zu zählen, denn der Wohlhabendste, den ich bis jetzt gekannt, besaß nur drei.‹

Mein törichter Vater brüllte wieder in albernem Entzücken und mußte dadurch den Eindruck noch vertiefen, daß er nicht gewöhnt sei, seine Angelhaken zu zählen und scharf zu bewachen. Sehen Sie, das war Renommisterei. Ob er sie zählte? Ei ja, er zählte sie jeden Tag!

Ich hatte meinen Liebling in der ersten Morgendämmerung getroffen und kennengelernt; nach unserem Hause gebracht hatte ich ihn genau drei Stunden später, bei Einbruch der Nacht – denn die Tage waren kurz, da wir uns damals der sechsmonatlichen Nacht näherten. Viele Stunden dauerte unser festliches Gelage; endlich gingen die Gäste fort, und wir Zurückbleibenden verteilten uns die Wände entlang auf die Schlafbänke und bald waren alle in Träume versunken – außer mir. Ich war zu glücklich, zu erregt, um schlafen zu können. Nachdem ich lange, lange Zeit still dagelegen hatte, kam bei mir eine undeutliche Gestalt vorbei, die in dem Dunst am anderen Ende des Raumes verschwand. Ich konnte nicht unterscheiden wer es war und ob es ein Mann oder eine Frau sein mochte. Plötzlich kam dieselbe Figur oder eine andere in der entgegengesetzten Richtung an mir vorüber. Ich grübelte in mir darüber nach, was wohl dies alles bedeuten könnte; aber das Grübeln half mir nichts, und während ich noch grübelte, schlief ich ein.

Ich weiß nicht wie lange ich schlief – aber plötzlich war ich hell wach und hörte meinen Vater mit schrecklicher Stimme rufen: ›Beim großen Schneegott! Es fehlt ein Angelhaken!‹ Eine innere Stimme sagte mir, dies bedeute Kummer und Sorge für mich – und das Blut in meinen Adern erstarrte vor Kälte. Mein Vorgefühl fand sich im selben Augenblick bestätigt; mein Vater schrie: ›Auf, ihr alle miteinander und packt mir den Fremden!‹ Dann ein Ausbruch von Geschrei und Flüchen auf allen Seiten und ein wildes Rennen schattenhafter Gestalten durch die Dunkelheit. Ich eilte meinem Geliebten zu Hilfe, aber was konnte ich anders tun als warten und die Hände ringen?

Er war bereits durch einen lebenden Wall von mir getrennt, und man war dabei, ihm Hände und Füße zu binden. Erst als sie sich seiner versichert hatten, ließen sie mich zu ihm. Ich warf mich auf seine arme mißhandelte Gestalt und weinte meinen Schmerz an seiner Brust aus, während mein Vater und meine ganze Familie auf mich schalten und ihn mit Drohungen und schmählichen Schimpfworten überhäuften. Er ertrug diese schnöde Behandlung mit einer ruhigen Würde, die ihn mir teurer denn je machte und mich mit glücklichem Stolz erfüllte, daß ich mit ihm und für ihn leiden durfte. Ich hörte, wie mein Vater befahl, die Ältesten des Stammes sollten zusammengerufen werden, um über Kalula auf Leben und Tod zu richten.

›Was?!‹ rief ich. ›Bevor überhaupt nach dem verlorenen Haken gesucht worden ist?‹

›Nach dem verlorenen Haken!‹ riefen sie alle höhnisch, und mein Vater fügte spöttisch hinzu: ›Tretet alle beiseite und seid recht ernst, wie sich’s gehört – sie geht auf die Jagd nach dem ›verlorenen‹ Haken! O, ohne Zweifel wird sie ihn finden!‹ – worauf sie wieder alle lachten.

Auf mich machte dies keinen Eindruck – ich hatte keine Befürchtungen, keine Zweifel. Ich sagte:

›Jetzt seid ihr daran zu lachen; aber wir kommen auch noch an die Reihe. Wartet ab und seht!‹

Ich ergriff eine Tranlampe. Ich dachte, ich würde das elende kleine Ding in einem Augenblick finden; und ich begab mich mit solcher Zuversicht auf die Suche, daß meine Leute ernst wurden. Es dämmerte ihnen der Gedanke, sie wären doch vielleicht zu voreilig gewesen. Aber ach und je! O, wie bitter war dieses Suchen. Eine Zeitlang, während welcher man zehn- oder zwölfmal seine Finger hätte zählen können, herrschte tiefes Schweigen, dann begann mir das Herz zu sinken, und um mich herum fingen wieder die Spottreden an und wurden immer lauter, bis zuletzt, als ich es aufgab, Salve auf Salve von grausamem Gelächter erscholl.

Kein Mensch kann jemals ahnen, was ich da litt. Aber meine Liebe war mir Stütze und gab mir Kraft, ich stellte mich auf den mir zukommenden Platz an meines Kalula Seite, schlang meinen Arm um seinen Nacken und flüsterte ihm ins Ohr:

›Du bist unschuldig, mein Herzlieb – das weiß ich. Aber sage es selber mir zum Trost. Dann kann ich alles tragen, was immer uns beschieden sein mag.‹

Er antwortete:

›So gewiß ich in diesem Augenblick auf der Schwelle des Todes stehe: ich bin unschuldig. Tröste dich also, o zertretenes Herz. Sei im Frieden, o du Atemzug meiner Nüstern, Leben meines Lebens!‹

›Nun, so laßt die Ältesten kommen!‹ Und als ich diese Worte sprach, da kam von draußen ein verworrenes Geräusch von knirschendem Schnee, und dann huschten wie Geister gebeugte Gestalten zur Tür herein – die Ältesten!

Mein Vater klagte den Fremden in aller Form an und schilderte die Vorgänge der Nacht in allen ihren Einzelheiten. Er sagte, der Nachtwächter habe vor der Tür gestanden und drinnen sei kein Mensch gewesen außer der Familie und dem Fremden. ›Würde die Familie ihr eigenes Eigentum stehlen?‹ Er hielt inne. Die Ältesten sahen viele Minuten lang schweigend da; zuletzt sagte einer nach dem andern zu seinem Nachbarn: ›Das sieht schlimm aus für den Fremden.‹ Kummer bringende Worte für mich zu hören! Dann setzte mein Vater sich hin. O, ich Elende – Elende ich! In demselben Augenblick hätte ich meines Lieblings Unschuld beweisen können – aber ich wußte es nicht!

Der Vorsitzende des Gerichtes fragte:

›Ist hier jemand, der den Angeklagten verteidigen will?‹

Ich stand auf und sagte:

›Warum sollte er denn den Haken stehlen – einen einzelnen oder sie alle zusammen? Einen Tag darauf wäre er ja der Erbe des ganzen Schatzes gewesen!‹

Ich stand und wartete. Es trat ein langes Schweigen ein; der Atemdampf von den vielen Menschen umwallte mich wie ein Nebel. Endlich nickte ein Ältester nach dem anderen mehreremale langsam mit dem Kopf und murmelte: ›Es liegt Beweiskraft in dem, was das Kind gesagt hat.‹ O was für eine Herzerleichterung lag in diesen Worten! Wenn auch flüchtig – wie köstlich war sie doch. Ich setzte mich.

›Wenn einer noch etwas zu sagen wünscht, so möge er jetzt sprechen – später aber schweige er,‹ sagte der Vorsitzende.

Mein Vater stand auf und sprach:

›Während der Nacht kam in dem trüben Dämmer eine Gestalt bei mir vorüber, ging zum Schatz und kam plötzlich wieder zurück. Ich glaube jetzt, es war der Fremde.‹

O, ich war einer Ohnmacht nahe! Ich hatte gedacht, es sei mein Geheimnis; nicht der große Eisgott selber hätte es mir aus dem Herzen reißen sollen. Der Vorsitzende Richter sagte ernst zu meinem armen Kalula:

›Sprich!‹

Kalula zauderte, dann antwortete er:

›Ich war’s! Die Gedanken an die schönen Angelhaken ließen mich nicht schlafen. Ich ging hin und küßte sie und streichelte sie, um meinen Geist zu beruhigen und mit einer harmlosen Freude einzulullen. Dann legte ich mich wieder hin. Ich habe vielleicht einen fallen lassen, aber gestohlen habe ich keinen!‹

O, was für ein verhängnisvolles Eingeständnis an solchem Ort! Schauerliches Schweigen herrschte! Ich wußte, er hatte sein eigenes Urteil gesprochen, und es war alles vorüber. Auf jedem Antlitz konnte man die Worte eingegraben lesen: ›Es ist ein Geständnis – und ein armseliges, schwächliches!‹

Ich sah und hielt meine schwachen Atemzüge an – und wartete. Auf einmal hörte ich die feierlichen Worte, die, wie ich wußte, kommen mußten. Und jedes Wort, wie es ertönte, fuhr mir wie ein Messer ins Herz:

›Es ist der Befehl des Gerichtshofes, daß der Angeklagte der ›Wasserprobe‹ unterworfen werde.‹

O, Fluch auf das Haupt des Menschen, der die Wasserprobe in unser Land brachte! Sie kam vor Menschenaltern aus irgend einem fernen Lande – wo es liegt, weiß keine Seele. Vorher benutzten unsere Väter Zeichendeutung und andere unsichere Beweismittel, und ohne Zweifel kam dann und wann ein armes Geschöpf trotz seiner Schuld mit dem Leben davon. Nicht so ist es mit der Wasserprobe; denn diese ist von weiseren Männern erfunden worden, als wir armen unwissenden Wilden sind. Durch sie werden die Unschuldigen zweifellos und fraglos für unschuldig befunden, denn sie ertrinken; die Schuldigen aber werden mit derselben Sicherheit als schuldig erkannt, denn sie gehen nicht unter. Das Herz brach mir im Busen, denn ich sagte mir: ›Er ist unschuldig und er wird in die Wogen versinken und ich werde ihn niemals wiedersehen.‹

Von diesem Augenblick an wich ich nicht mehr von seiner Seite. Ich trauerte in seinen Armen all die kostbaren Stunden lang, und er übergoß mich mit dem tiefen Strom seiner Liebe. Zuletzt rissen sie ihn von mir und ich folgte ihnen schluchzend und sah sie ihn in die See schleudern – dann verhüllte ich mein Antlitz mit den Händen. Todesqual? O, ich kenne die tiefsten Tiefen dieses Wortes!

Im nächsten Augenblick brachen die Leute in ein hämisches Freudengeschrei aus; vor Schreck zusammenfahrend nahm ich meine Hände vom Gesicht. O bitterer Anblick: er schwamm! Augenblicklich wurde mein Herz zu Stein, zu Eis. Ich sagte:›Er war schuldig – und er log mir!‹ Voll Verachtung wandte ich meinen Rücken und ging meines Weges – nach Hause.

Sie fuhren mit ihm weit hinaus in die See und setzten ihn auf einen Eisberg, der nach Süden trieb – nach Süden zu den großen Gewässern. Dann kam meine Familie heim und mein Vater sprach zu mir:

›Dein Dieb sendet dir seine Todesbotschaft. Er sagt: »Sage ihr, ich bin unschuldig und alle Tage und alle Stunden und alle Minuten, während ich verhungere und verkomme, werde ich sie lieben und an sie denken und den Tag segnen, da ich ihr süßes Antlitz zuerst erblickte.« – Ganz reizend, geradezu poetisch!‹

Ich sagte: ›Pfui, wie schmutzig – laßt mich niemals wieder ihn nennen hören.‹

Und ach – denken zu müssen: Er war unschuldig!

Neun Monate – neun öde traurige Monate gingen dahin und endlich kam der Tag des großen Jahresopfers, wo alle Jungfrauen des Stammes ihr Antlitz waschen und ihr Haar kämmen. Mit dem ersten Strich meines Kammes kam zum Vorschein der verhängnisvolle Angelhaken, kam heraus aus seinem Versteck, wo er diese ganzen neun Monate genistet hatte – und ich fiel ohnmächtig in die Arme meines von Reue gequälten Vaters! Stöhnend sagte er: ›Wir mordeten ihn, und ich werde niemals wieder lächeln.‹ Er hat sein Wort gehalten … Höre: von diesem Tage bis heute verging kein Monat, daß ich nicht mein Haar kämmte! Aber ach, was nützt das alles jetzt! …«

 

So endete der armen Jungfrau bescheidene kleine Geschichte – und wir lernen daraus: Sintemalen hundert Millionen Dollars in New York und zweiundzwanzig Angelhaken am Rande der arktischen Zone dieselbe finanzielle Übermacht darstellen, so ist ein Mann in bedrängten Verhältnissen ein Narr, wenn er in New York bleibt, da er doch nur für zehn Cents Angelhaken zu kaufen und auszuwandern braucht.

Tom Sawyer als Detektiv

Tom Sawyer als Detektiv

Von Huck Finn erzählt

Erstes Kapitel

Ein Jahr war herum, seitdem Tom Sawyer und ich unsern alten Neger Jim befreit hatten, der auf der Farm von Toms Onkel Silas in Arkansas als fortgelaufener Sklave in Ketten gelegt worden war. Nun wurde es Frühling; der gefrorene Boden taute auf und mildere Lüfte wehten. Immer näher winkte die Zeit, wo man wieder barfuß gehen konnte; dann kam das Murmelspiel an die Reihe, später Kreisel und Reifen oder man ließ den Drachen steigen, und wenn es endlich Sommer geworden war ging’s zum Schwimmen. Doch das lag unabsehbar fern, und der Gedanke, wie lange es noch dauern muß, bis der Sommer kommt, macht unsereinen ganz schwermütig. Dann schleicht so ein armer Junge trübselig umher; er seufzt und stöhnt und weiß nicht was ihm fehlt. Er sucht sich ein einsames Fleckchen hoch oben am Berghang, wo er weit hinausschauen kann, wie der große Mississippi sich um eine Landzunge nach der andern windet, bis er mit der dämmerigen Ferne verschwimmt. Alles ist so still und feierlich wie beim Begräbnis, und man wünscht, man wäre selber tot und begraben, damit das Erdenleid ein Ende hätte.

Wißt ihr, wie die Krankheit heißt? Man nennt sie Frühlingsfieber. Und wenn sie einen befällt, hat man immerzu Herzweh, man weiß nicht wonach. Man möchte weit weg von dem ewigen Einerlei der alltäglichen Dinge, die einem zum Überdruß sind. Etwas Neues sehen und als Wanderer in fremde Länder ziehen, wo alles wunderschön, geheimnisvoll und noch nie dagewesen ist – ja, danach sehnt man sich. Doch nimmt man allenfalls auch mit einer kleinen Wanderschaft fürlieb und ist froh, wenn man überhaupt fort kann.

Also, wir beide litten stark am Frühlingsfieber, Tom Sawyer und ich. Aber es war gar keine Aussicht vorhanden, daß Tom etwa die Schule versäumen und über Land gehen durfte; seine Tante Polly hielt das für Zeitverschwendung und hätte es nie zugegeben. Recht mutlos und niedergeschlagen saßen wir eines Tages gegen Sonnenuntergang draußen auf den Steinstufen und bliesen Trübsal; da kam Tante Dolly mit einem Brief in der Hand gegangen.

»Tom,« sagte sie, »du wirst wohl dein Bündel schnüren müssen, um dich nach Arkansas auf den Weg zu machen – Tante Sally verlangt nach dir.«

Ich hätte vor Freude aus der Haut springen mögen und glaubte nicht anders, als daß Tom seiner Tante um den Hals fallen und sie halbtot herzen würde; aber er saß stockstill da und tat keinen Mucks. Warum er nur solch ein Narr war, die herrliche Gelegenheit, die sich ihm bot, nicht beim Schopf zu fassen? Sie konnte ihm leicht entgehen, wenn er jetzt nicht bald den Mund auftat und sagte, wie froh und dankbar er wäre. Ich war ganz außer mir und dem Weinen nahe, als er immer weiter lernte und lernte und zuletzt ganz gelassen sagte:

»Es tut mir sehr leid, Tante, aber davon kann wirklich jetzt keine Rede sein!« – Da hält‘ ich ihn totschießen können.

Tante Polly war wie vor den Kopf geschlagen und so voll Zorn über die freche Antwort, daß sie eine ganze Minute lang sprachlos dastand und mir Zeit ließ, Tom einen Puff zu geben und ihm zuzuflüstern:

»Bist du denn übergeschnappt? Wie kannst du ein solches Glück wegwerfen und mit Füßen treten?«

Aber das machte ihm keinen Eindruck. »Schweig still, Huck Finn,« brummte er, »soll sie’s etwa merken, daß ich für mein Leben gern hin möchte? Gleich würden ihr tausend Zweifel kommen – lauter eingebildete Krankheiten, Gefahren und Hindernisse. Im Handumkehren hätte sie die Erlaubnis zurückgenommen. Laß mich nur machen, ich weiß schon, wie man sie behandeln muß.«

Na, so was wäre mir nie eingefallen; aber Tom hatte recht, wie immer. Ein Schlaukopf erster Sorte und nie unbesonnen – der läßt sich nicht verblüffen. Jetzt hatte Tante Polly sich vom Schreck erholt, und nun ging’s los:

»So – davon kann nicht die Rede sein? Hat man je so was gehört! Und das sagst du mir ins Gesicht? – Auf der Stelle gehst du hinauf und packst deine Siebensachen. Kein Wort mehr, das bitt‘ ich mir aus – sonst setzt’s Hiebe.«

Sie gab ihm noch eine Kopfnuß mit dem Fingerhut als wir uns duckten und rasch an ihr vorbeiliefen. Tom fing an zu flennen und wir sprangen die Treppe hinauf. Oben in seinem Zimmer fiel er mir um den Hals und war wie wahnsinnig vor Freude, weil’s nun auf die Reise ging.

»Sie wird’s bald bereuen, daß sie mich fortgelassen hat,« sagte er. »Aber nun weiß sie keinen Ausweg und kann’s nicht wieder rückgängig machen, dazu ist sie viel zu stolz.«

In zehn Minuten war Tom mit Packen fertig, bis auf das, was seine Tante und Mary an Sachen dazu tun würden; dann wartete er noch zehn Minuten, damit sich ihr Zorn abkühlen und sie wieder sanft und freundlich werden sollte. »Wenn sie nur halb aus dem Häuschen ist,« sagte er, »braucht sie zehn Minuten sich zu erholen: habe ich sie aber ganz wild gemacht, dann dauert es zwanzig Minuten, und das ist jetzt so ein Fall.« Nun gingen wir rasch hinunter, weil wir vor Neugierde brannten zu hören, was Tante Sally eigentlich geschrieben hatte.

Der Brief lag auf Tante Pollys Schoß und sie saß ganz in Gedanken versunken da. Als wir Platz genommen hatten, sagte sie:

»Unsere Leute dort unten sind in großer Trübsal; sie hoffen, ihr werdet sie zerstreuen, du und Huck Finn, und ein rechter Trost für sie sein. Na, ihr beide seid mir ein paar nette Tröster! – Die Sache ist nämlich so: Ein Nachbar von ihnen, Brace Dunlap, hat vor drei Monaten um die Hand ihrer Benny angehalten. Sie haben lange mit der Antwort gezögert und ihm endlich geradeheraus erklärt, daß aus der Heirat nichts werden könnte. Das hat er ihnen sehr übel genommen, und nun machen sie sich Kummer darüber. Mir scheint, sie wollen es nicht ganz mit dem Nachbar verderben, denn um ihn zu versöhnen haben sie seinen nichtsnutzigen Bruder als Gehilfen auf der Farm in Dienst genommen, obgleich ihre Mittel das kaum erlauben und der Mensch ihnen sowieso nur im Wege ist. Wer sind denn diese Dunlaps?«

»Sie wohnen etwa eine Meile von Onkel Silas‘ Besitzung, Tante – alle Farmen dort in der Gegend sind gleich weit von einander entfernt. Brace Dunlap ist viel reicher als die andern Nachbarn und hat einen ganzen Haufen Neger. Er ist ein kinderloser Witwer, sechsunddreißig Jahre alt, dabei sehr stolz und hochfahrend, so daß alle Welt vor ihm zu Kreuze kriecht. Vermutlich hat er gedacht, er brauchte nur bei irgend einem Mädchen anzuklopfen, das er zur Frau wollte; es wird ihn nicht wenig gewundert haben, daß er Benny nicht bekommen kann. Sie ist nur halb so alt wie er und das süßeste, reizendste – – na, du kennst Benny ja selbst. Mir tut nur der arme alte Onkel Silas leid, der sich aufs äußerste einschränken muß und einen Tunichtgut wie den Jupiter Dunlap in Dienst nimmt, bloß um seinem hochnasigen Bruder einen Gefallen zu tun.«

»Ist das ein Name – Jupiter! Wo hat er den her?«

»Es ist nur ein Spitzname; wie er eigentlich heißt, weiß wohl kein Mensch mehr. Man nennt ihn schon siebenundzwanzig Jahre lang so, seit er zum erstenmal baden ging. Da steht der Schulmeister, daß er am linken Bein über dem Knie ein rundes braunes Mal hat, so groß wie ein Centsstück und vier kleinere Maler drum herum und sagt, es erinnere ihn an Jupiter und seine Monde. Den Kindern kam das komisch vor, sie fingen an ihn Jupiter zu nennen, und der Name ist ihm geblieben bis auf den heutigen Tag. Er ist groß und faul, verschmitzt, hinterhältig und feige, dabei aber doch wieder gutmütig. Keinen roten Heller nennt er sein eigen; Brace gibt ihm das Gnadenbrot und seine abgelegten Kleider, auch seine Verachtung obendrein. Jupiter trägt langes Haar, aber keinen Bart; er ist ein Zwilling.«

»So? Wie sieht denn der andere Zwillingsbruder aus?«

»Man sagt, er gleicht Jupiter auf ein Haar; wenigstens früher – jetzt hat man ihn seit sieben Jahren nicht gesehen. Als er neunzehn oder zwanzig Jahre alt war, wurde er bei einem Einbruchsdiebstahl ertappt und ins Gefängnis gesteckt. Aber er entkam nach dem Norden und beging bald hier bald dort Raub oder Diebstahl; doch das ist lange her. Jetzt ist er tot; das heißt, die Leute behaupten es – man hört eben nichts mehr von ihm.«

»Wie heißt denn der?«

»Jack.«

Es entstand eine Pause; die alte Dame war offenbar mit ihren Gedanken beschäftigt. Endlich sagte sie:

»Am meisten macht sich Tante Sally Sorge darüber, daß der Onkel immer in so furchtbaren Zorn gerät über diesen Jupiter.«

»Was,« rief Tom verwundert, »Onkel Silas! Das ist wohl nur ein Scherz – der kann ja gar nicht zornig werden!«

»Die Tante schreibt, er wird oft so wütend, daß sie immer fürchtet, er könnte sich tätlich an dem Mann vergreifen.«

»Da hört aber alles auf! – Onkel ist ja so sanft wie ein Lamm.«

»Er soll wie ausgewechselt sein durch das ewige Zanken und Streiten. Die Nachbarn reden schon darüber und schieben alle Schuld auf den Onkel, weil er ein Prediger ist und Frieden halten müßte. Tante Sally sagt, er schämt sich ordentlich, auf die Kanzel zu steigen; auch hat die Gemeinde das Vertrauen zu ihm verloren und er ist gar nicht mehr so beliebt wie früher.«

»Wie sonderbar! Onkel war doch immer so sanft und freundlich, so zerstreut, so träumerisch, so voller Einfalt und Herzensgüte, kurz ein wahrer Engel. Wie kann das nur zugegangen sein?«

Zweites Kapitel

Wir hatten riesiges Glück. Auf einem Raddampfer, der vom Norden her gerade nach der Sumpfgegend von Louisiana steuerte, kamen wir den ganzen Mississippi bis zur Farm in Arkansas hinunter und brauchten nicht einmal in St. Louis das Boot zu wechseln. Eine Fahrt von fast tausend Meilen in einem Zug.

Man fühlte sich recht einsam auf dem Dampfer, denn die wenigen Passagiere waren alte Männer, die weit von einander auf Deck saßen und schliefen oder sich still verhielten. Vier Tage dauerte die Fahrt auf dem Oberen Mississippi, weil wir so oft auf den Grund gerieten, aber langweilig fanden wir Jungen es gar nicht – wie kann man sich langweilen, wenn man auf Reisen ist! –

Gleich nach der Abfahrt hatten Tom und ich herausgebracht, daß in der Kajüte neben unserer jemand krank liegen müsse, weil das Essen immer hineingetragen wurde. Wir erkundigten uns danach, und der Kellner sagte, der Mann da drinnen sähe gar nicht krank aus.

»Aber, er muß doch krank sein.«

»Wohl möglich – ich weiß nicht – mir scheint, er stellt sich nur an.«

»Woher glaubt Ihr das?«

»Na, wenn er krank wäre, würde er sich doch mal ausziehen, aber das tut er nicht. Wenigstens seine Stiefel behält er immer an.«

»Ist das möglich? Auch wenn er zu Bett geht?«

»Auch dann.«

Ein Geheimnis! Das war Wasser auf Toms Mühle.

»Wie heißt denn der Mann?«

»Phillips; in Alexandria ist er an Bord gekommen.«

»Und hat er noch andere Eigenheiten?«

»Nein – nur schrecklich ängstlich ist er. Tag und Nacht hält er seine Tür verschlossen, und wenn man klopft macht er nur ein Ritzchen auf und guckt erst wer da ist.«

»Wahrhaftig, den möchte ich gern zu sehen bekommen. Sagt mal – könntet Ihr nicht die Tür weit aufmachen, wenn Ihr wieder hineingeht, so daß – –«

»Bewahre. Das würde auch wenig nützen. Er stellt sich immer hinter die Tür.«

Tom dachte eine Weile nach.

»Wißt Ihr was? Gebt mir Eure Schürze und laßt mich morgen das Frühstück hineintragen. Ihr bekommt auch einen Vierteldollar.«

Der Kellner war es zufrieden, wenn der Oberkellner nichts dagegen hätte.

»Mit dem will ich’s schon abmachen,« sagte Tom. Und richtig, am nächsten Morgen hatten wir jeder eine Schürze um und trugen die Speisen hinein. Tom hatte die ganze Nacht wach gelegen und sich den Kopf zerbrochen über Phillips und sein Geheimnis. Das war verlorene Müh nach meiner Ansicht; viel besser, wir kamen selbst dahinter wie die Sachen wirklich standen, statt uns erst allerlei Falsches auszudenken. »Ich kann’s ja abwarten,« dachte ich und ließ mich im Schlaf nicht stören.

Als Tom morgens an die Tür klopfte, guckte der Mann durch die Spalte, ließ uns herein und schloß rasch hinter uns zu. Aber, Donnerwetter – als wir ihn ansahen, hätten wir vor Schreck fast die Kaffeebretter fallen lassen.

»Du meine Güte – Jupiter Dunlap – wo kommt Ihr denn her?« rief Tom.

Natürlich war der Mann überrascht und zuerst sah er aus als ob er nicht wüßte, sollte er sich fürchten oder freuen. Er war ganz bleich geworden, doch bald bekam er wieder Farbe im Gesicht und fing an mit uns zu plaudern, während er sein Frühstück aß.

Nach einer Weile sagte er: »Ich bin gar nicht Jupiter Dunlap; doch heiß‘ ich auch nicht Phillips. Wenn ihr schwören wollt reinen Mund zu halten, will ich euch offenbaren wer ich bin.«

»Wir verraten nichts,« rief Tom; »aber wenn Ihr nicht Jupiter Dunlap seid, braucht Ihr mir Euren Namen nicht erst zu sagen.«

»Wieso?«

»Weil Ihr ihm gleicht wie ein Ei dem andern. Ihr seid sein Zwillingsbruder Jack.«

»Da kannst du recht haben. Aber, sag‘ mal, Junge, woher kennst du uns denn alle beide?«

Nun erzählte ihm Tom, was wir im vergangenen Sommer für Abenteuer auf Onkel Silas‘ Farm erlebt hatten. Als er hörte, daß wir alle seine Familienverhältnisse und seine eigene Lebensgeschichte kannten, wurde er ganz offenherzig und mitteilsam. Er sagte, er wäre von jeher ein Tunichtgut gewesen, auch jetzt sei er ein schlechter Kerl und würde wohl sein Lebtag ein Taugenichts bleiben. Freilich sei es ein gefährliches Ding und – –

Er brach plötzlich ab und hielt die Hand ans Ohr um zu lauschen. Wir sprachen kein Wort; ein paar Sekunden blieb alles mäuschenstill. Man hörte nichts als das Knarren des Holzwerks und das Bumbum der Maschine im Schiffsraum.

Um ihn zu beruhigen fingen wir an, ihm allerlei von seiner Familie zu berichten: daß Brace seine Frau vor drei Jahren verloren hätte und als er Benny heiraten wollte von ihr einen Korb bekommen habe, daß Jupiter bei Onkel Silas in Arbeit stehe, der immer in Streit mit ihm sei, und dergleichen mehr. Auf einmal lachte er laut auf.

»Jungens,« rief er, »euer Geplapper versetzt mich ganz in alte Zeiten zurück; mir wird ordentlich wohl dabei. Seit länger als sieben Jahren hab‘ ich so was nicht mit angehört. Was spricht man denn aber von mir in der Nachbarschaft?«

»Von Euch spricht man schon lange nicht mehr; höchstens alle Jubeljahr wird Euer Name einmal erwähnt.«

»Ist’s möglich! Und wie kommt denn das?«

»Weil man Euch für längst gestorben hält.«

»Wirklich? Sprichst du auch die Wahrheit?« Er war in großer Erregung aufgesprungen.

»Mein Wort zum Pfande. Kein Mensch glaubt, daß Ihr noch am Leben seid.«

»Hurra, dann bin ich gerettet! Ich kann mich nach Hause wagen. Gewiß werden mir meine Verwandten beistehen und mich verbergen. Nicht wahr, ihr haltet reinen Mund! Schwört mir’s noch einmal. Schwört, daß ihr mich nun und nimmermehr verraten werdet. Jungens, habt Erbarmen mit mir armem Teufel, der Tag und Nacht keine Ruhe findet und sich nirgends sehen lassen darf. Ich hab‘ euch nie etwas zuleide getan und meine es nur gut mit euch, so wahr Gott im Himmel ist. Schwört, daß ihr schweigen wollt, und rettet mir das Leben.«

Natürlich taten wir ihm den Willen und leisteten den Schwur. Er dankte uns von ganzem Herzen, der arme Kerl, ich glaube, er hätte uns am liebsten umarmt und geküßt.

Wir plauderten noch lange zusammen; dann holte er einen kleinen Reisesack herbei, öffnete ihn und bat, wir möchten nicht hinsehen. Wir drehten ihm den Rücken zu, und als wir uns wieder umwenden durften, war er ganz und gar verändert. Er hatte eine blaue Brille auf und einen langen braunen Knebel- und Schnauzbart, der ihm sehr natürlich zu Gesicht stand. Seine eigene Mutter hätte ihn nicht wiedererkannt. »Sehe ich jetzt noch meinem Bruder Jupiter ähnlich?« fragte er.

»Nein,« sagte Tom, »nichts erinnert mehr an ihn, außer Euer langes Haar.«

»Das lasse ich mir kurz scheren, ehe ich nach Hause komme. Er und Brace werden mein Geheimnis bewahren und ich kann als Fremder bei ihnen wohnen, ohne daß die Nachbarn Argwohn schöpfen. Wie gefällt euch mein Plan?«

Tom dachte eine Weile nach, dann sagte er:

»Huck und ich, wir werden natürlich kein Wort verraten, aber wenn Ihr nicht selber schweigt, so lauft Ihr doch Gefahr, erkannt zu werden. Es würde den Leuten auffallen, daß Eure Stimme genau so klingt, wie die von Jupiter, und dann erinnern sie sich vielleicht an den Zwillingsbruder, den sie für tot gehalten haben und der sich die ganze Zeit unter einem falschen Namen verborgen haben kann.«

»Alle Wetter, bist du klug!« rief er; »aber recht hast du. Ich muß mich taubstumm stellen, sobald ein Nachbar in meine Nähe kommt. Es hätte eine schöne Geschichte gegeben, wäre mir das nicht eingefallen. Aber ich wollte ja eigentlich gar nicht nach Hause, sondern nur an irgend einen Ort, wo ich vor den Burschen sicher bin, die mich verfolgen. Dann dachte ich den Bart und die Brille anzulegen, auch andere Kleider und – –«

Mit einmal lief er nach der Tür, hielt das Ohr daran und horchte. Er war bleich geworden und sein Atem flog.

»Es klang ganz als würde der Hahn einer Flinte gespannt,« flüsterte er. »Herr des Himmels, ist das ein erbärmliches Leben!« Matt und kraftlos sank er auf einen Stuhl und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Drittes Kapitel

Von da ab waren wir fast immer bei ihm; meist schlief einer von uns in seiner obern Koje. Er hatte sich so schrecklich einsam gefühlt und es war ihm ein Trost in seiner Not, jemand um sich zu haben, mit dem er reden konnte. Wir brannten natürlich vor Neugier, hinter das Geheimnis zu kommen; aber Tom sagte, wir sollten uns ja nichts merken lassen, dann würde er einmal ganz von selbst anfangen davon zu sprechen. Wollten wir ihn ausfragen, so würde er gleich Argwohn schöpfen und verschwiegen sein wie eine Auster. Es traf auch genau so ein. Daß er uns alles gern erzählt hätte, merkte man ihm leicht an, aber jedesmal wenn wir dachten: jetzt kommt’s, überfiel ihn die Angst und er lenkte das Gespräch auf etwas anderes. Wir erfuhren’s aber doch noch und das ging so zu: Er hatte angefangen, uns in scheinbar gleichgültigem Ton nach den Passagieren im Zwischendeck zu fragen, die heraufkamen, um sich am Schenktisch Branntwein zu kaufen; wir versuchten sie zu beschreiben, aber das genügte ihm nicht, er wollte alle Einzelheiten wissen. Tom gab sich die größte Mühe und als er bei der Schilderung eines der rohesten und zerlumptesten Kerle angekommen war, fuhr Jack Dunlap schaudernd zusammen.

»O Jemine, das ist einer von ihnen! Sie sind wahrhaftig an Bord – dachte ich mir’s doch! Ich hoffte, ich wäre ihnen entwischt, aber zweifelhaft war mir’s immer. Nur weiter!«

Als Tom nun noch einen andern groben und schäbigen Zwischendecks-Passagier beschrieb, ward Dunlap schreckensbleich. »O weh, das ist der zweite, was fang‘ ich nur an? Hätten wir doch eine stürmische pechfinstere Nacht und ich könnte das Ufer erreichen. Aber sie haben gewiß jemand bestochen, den Stiefelputzer oder den Kofferträger, um mich zu bewachen. Gelänge es mir auch unbemerkt fortzukommen, so würde keine Stunde vergehen, bis sie es wüßten.«

Unruhig ging er auf und ab. Es dauerte gar nicht lange, da fing er an zu erzählen, wie es ihm bald gut bald schlecht ergangen sei, und ehe wir’s uns versahen, kam er ins rechte Fahrwasser.

»Wir hatten alles genau verabredet,« sagte er. »Es handelte sich um zwei wunderschone Diamanten, so groß wie Haselnüsse, in einem Juwelierladen zu St. Louis, die von jedermann bewundert wurden. Wir zogen seine Kleider an und spielten den Streich bei hellem Tage. Die Diamanten ließen wir uns ins Hotel kommen, als ob wir sie kaufen wollten, wenn sie uns gefielen, und schickten dem Juwelier statt dessen zwei Glaspasten, die wir in Bereitschaft gehalten hatten, mit dem Bescheid zurück, die Diamanten seien nicht vom reinsten Wasser und wir fänden den Preis von zwölftausend Dollars zu hoch.«

»Zwölf – tausend – Dollars!« rief Tom. »Waren sie denn wirklich so viel Geld wert?«

»Keinen Cent weniger.«

»Und ihr habt euch damit aus dem Staube gemacht?«

»Ohne alles weitere. Der Juwelier weiß vielleicht heutigen Tages noch nicht, daß er bestohlen worden ist. Aber wir hielten es doch für unklug, in St. Louis zu bleiben. Wir überlegten hin und her und beschlossen nach dem Obern Mississippi zu reisen. Vorher aber wickelten wir die Diamanten in ein Papier, schrieben unsere Namen darauf und übergaben das Päckchen dem Hoteldiener mit der Anweisung, es keinem von uns wieder einzuhändigen, wenn nicht die beiden andern als Zeugen zugegen wären. Dann machten wir einen Gang in die Stadt, aber jeder für sich allein; ich glaube, wir hatten alle den gleichen Plan, obgleich ich es nicht gewiß behaupten will.«

»Welchen Plan?« fragte Tom.

»Die andern zu berauben.«

»Was – einer sollte alles nehmen, nachdem er es erst mit Hilfe der andern bekommen hatte?«

»So meine ich’s.«

Tom war ganz empört darüber; er sagte, es wäre der schändlichste, niederträchtigste Streich, von dem er je gehört hätte. Aber Jack Dunlap versicherte ihm, daß es in seiner Zunft nichts Ungewöhnliches sei. Wer sich einmal diesem Beruf gewidmet hätte, mußte selber auf seinen Vorteil bedacht sein, weil kein anderer Mensch das für ihn besorgen würde. Dann fuhr er in seinem Bericht fort:

»Es war natürlich schwierig, zwei Diamanten unter drei Leute zu teilen, das werdet ihr wohl einsehen. Hätten wir drei Diamanten gehabt, ja dann – – Aber, wozu noch weiter darüber reden; mehr als zwei waren es nun einmal nicht. So trieb ich mich denn in den Hintergassen umher und dachte nach, wie ich es wohl anstellen könnte, der Diamanten habhaft zu werden. War mir dies geglückt, dann wollte ich mich so verkleiden, daß mich niemand erkennen sollte, und auf und davon gehen. Ich kaufte mir zu diesem Zweck den falschen Bart, die blaue Brille und den bäuerischen Anzug, in dem ihr mich hier seht, und tat alles in einen Reisesack, den ich mitgenommen hatte. Als ich vor einem Laden vorbeikam, in dem allerlei Waren feilgeboten wurden, sah ich durchs Fenster. Drinnen stand Bud Dixon, einer von meinen Spießgesellen. ›Ich will doch mal sehen, was der kauft‹ dachte ich bei mir und verbarg mich, beobachtete aber alles genau. Na, was glaubt ihr wohl, daß er gekauft hat? – Doch das ratet ihr euer Lebtag nicht, Jungens. Nichts als einen winzig kleinen Schraubenzieher.«

»Wie sonderbar. Was wollte er denn damit?«

»Das fragte ich mich auch. Ich zerbrach mir den Kopf, konnte aber nicht ins reine kommen. Bei einem Trödler erstand er nun noch ein rotes Flanellhemd und zerlumpte Kleider; dieselben, die er jetzt anhat nach eurer Beschreibung. Nachdem ich das gesehen hatte, ging ich nach der Werft und versteckte meine Sachen auf dem Flußboot, mit dem wir fahren wollten. Als ich dann abermals durch die Straßen schlenderte, sah ich auch meinen andern Kameraden seine Einkäufe machen. Gegen Abend holten wir uns die Diamanten aus dem Hotel und gingen an Bord.

Jetzt waren wir alle übel daran, denn wir durften uns nicht zu Bette legen; wie hätten wir sonst ein wachsames Auge aufeinander haben können. Es war nämlich schon seit ein paar Wochen böses Blut zwischen uns, und wir hielten nur zusammen, solange es das Geschäft erforderte. Zwei Diamanten für drei Personen, das war eben die Verlegenheit. Erst aßen wir zu Abend, dann rauchten wir und schlenderten dabei auf dem Deck umher bis gegen Mitternacht. Endlich gingen wir in meine Kajüte, schlossen die Tür zu, überzeugten uns, ob die Diamanten wirklich noch im Papier waren und legten sie auf die untere Koje, wo wir sie alle drei im Auge behalten konnten. Nun saßen wir stockstill und wurden immer schläfriger. Bud Dixon ließ sich endlich von der Müdigkeit übermannen; der Kopf sank ihm auf die Brust und er schnarchte, daß es eine Art hatte. Da deutete Hal Clayton zuerst auf die Diamanten und dann nach der Tür. Ich verstand ihn, streckte die Hand nach dem Papier aus und nahm es an mich. Wir warteten nun eine Weile, aber Bud schlief fort und regte sich nicht. Leise drehte ich den Schlüssel um und drückte auf die Klinke, dann schlichen wir auf den Zehen hinaus und machten die Tür geräuschlos hinter uns zu.

Das Boot glitt ruhig durch die Flut, Wolken verbargen den Mond und wir wurden von niemand bemerkt. Ohne ein Wort zu reden schritten wir geradeswegs hinauf nach dem Sturmdeck und setzten uns am äußersten Ende neben das Deckfenster. Was das zu bedeuten hatte, wußten wir beide; es bedurfte keiner Erklärung. Wenn Bud Dixon aufwachte und sah, daß die Diamanten fort waren, würde er gleich hinter uns dreinkommen, denn er kannte keine Furcht. Dann wollten wir ihn über Bord werfen, oder bei dem Versuch unser Leben lassen. Mir schauderte, wenn ich nur daran dachte, denn ich bin nicht so mutig wie mancher andere; doch durfte ich meine Angst nicht zeigen, das wäre mir schlecht bekommen. Ich hoffte immer noch, das Boot würde irgendwo anlegen, so daß wir ans Land springen und allen Skandal vermeiden könnten, denn mit Bud Dixon war nicht zu spaßen.

Aber eine Stunde nach der andern verging, wir schifften immer weiter und der Mensch kam nicht auf Deck. Als der Morgen zu dämmern anfing und Bud sich noch nicht sehen ließ, erwachte unser Argwohn: ›Er hält uns vielleicht zum Narren, meinte Hal, mach‘ das Papier auf!‹ Das tat ich und meiner Seel‘, es war nichts darin, als ein paar Zuckerkrümel. Deshalb also hatte er die ganze Nacht so ruhig schnarchen können. Ein schlauer Kerl, so wahr ich lebe. Er muß zwei ganz gleiche Papiere bereitgehalten und sie vor unserer Nase vertauscht haben.

Wir waren nicht wenig verblüfft, doch hatten wir bald einen neuen Plan fertig. Es schien uns am klügsten, leise in die Kajüte zurückzuschleichen, das Papier wieder an Ort und Stelle zu legen und zu tun, als hätten wir nicht gemerkt, daß er uns mit seinem verstellten Schnarchen nur zum Besten hielt. Wir wollten ihm nicht von der Seite gehen und ihn am ersten Abend nach der Landung betrunken machen, seine Kleider durchsuchen, die Diamanten nehmen und ihm womöglich den Garaus machen; denn er würde uns immer auf den Fersen sein, um uns die Beute wieder abzujagen, und wir wären keinen Augenblick unseres Lebens sicher. Das Gelingen des Plans war mir jedoch sehr zweifelhaft. Bud betrunken zu machen, hatte keine Schwierigkeit, aber was nützte es, wenn wir hernach suchten und suchten und doch nichts fanden.

Plötzlich fuhr mir ein Gedanke durch den Kopf, der mir fast den Atem benahm; doch dann wurde mir auf einmal ganz froh und leicht zu Mute. Ich hatte nämlich gerade meinen Stiefel in der Hand, um ihn anzuziehen, und als ich einen Blick auf die Sohle warf, mußte ich an den rätselhaften kleinen Schraubenzieher denken. Erinnert ihr euch noch daran?«

»Das will ich meinen,« rief Tom ganz aufgeregt.

»Na, wie ich den Absatz ansah, wußte ich auf einmal, wo Bud die Diamanten versteckt hatte. Schaut her – das Stahlplättchen hier ist mit kleinen Schrauben festgemacht; die einzigen Schrauben, die der Mensch an sich trug, waren an seinem Stiefelabsatz, und wenn er einen Schraubenzieher brauchte, so wußte ich wohl wozu.«

»Ist das nicht famos, Huck?« rief Tom dazwischen.

»Als wir in die Kajüte kamen, schnarchte Bud Dixon noch immer, und auch Hal Clayton schlief bald ein, aber ich nicht – in meinem Leben war ich noch nicht so wach gewesen; ich spähte auf dem Boden umher nach einem Stückchen Leder. Lange konnte ich nichts entdecken, aber endlich fand ich’s. Es war ein rundes, kleines Pflöckchen, fast von der Farbe des Teppichs und etwa so dick wie die Spitze meines kleinen Fingers. ›Aha,‹ dachte ich, ›in dem Nest, wo das herausgekommen ist, liegt jetzt ein Diamant.‹ Auch das zweite Pflöckchen fand ich nach einigem Suchen.

Nun stellt euch einmal diese Unverschämtheit vor! Der Kerl hatte sich ganz genau überlegt, was wir tun würden und wir Dummköpfe waren blindlings in die Falle gerannt. Während wir ihn oben auf dem Sturmdeck erwarteten, um ihn ins Wasser zu werfen, saß er unten, schraubte sich in aller Gemütsruhe die Stahlplättchen ab, schnitt Löcher in seine Absätze, steckte die Diamanten hinein und schraubte die Plättchen wieder fest. Ein Schlaufuchs erster Sorte, nicht wahr?«

»Nein, so was ist mir noch nicht vorgekommen!« rief Tom.

Viertes Kapitel

»Es war ein saueres Stück Arbeit, den ganzen Tag über noch zu tun, als ob wir einander beobachteten, das versichere ich euch. Gegen Abend landeten wir bei einem Städtchen in Missouri, kehrten in einer Schenke ein und ließen uns nach dem Nachtessen ein Schlafzimmer zu dreien im obern Stock geben. Der Wirt ging mit dem Licht voran und wir im Gänsemarsch hinterdrein, die Treppe hinauf. Ich kam zuletzt und schob meinen Reisesack unter den tannenen Tisch auf dem dunkeln Vorplatz. Wir ließen uns eine tüchtige Portion Whisky bringen und spielten Karten um Fünfcentstücke. Als wir die Wirkung des Whisky spürten, hörten wir beide auf zu trinken, schenkten aber Bud immer wieder ein, bis er toll und voll war. Er fiel vom Stuhl, lag am Boden und schnarchte.

Nun ging es ans Geschäft. Ich schlug vor, wir wollten ihm die Stiefel ausziehen und unsere auch, damit es keinen Lärm machte, wenn wir ihn um und um kehrten und ihn durchsuchten. Das geschah, und ich stellte meine Stiefel neben Buds, damit ich sie bei der Hand hätte. Wir zogen ihn aus, befühlten alle Nähte seiner Kleider, suchten in seinen Taschen und Socken, auch inwendig in seinen Stiefeln, kurz überall; auch sein Bündel machten wir auf, fanden aber keine Diamanten. Als der Schraubenzieher zum Vorschein kam, fragte Hal: ›Was kann er wohl damit wollen?‹ Ich sagte, das wüßte ich nicht, aber sobald er sich abwandte steckte ich ihn ein. Endlich sah Hal ganz niedergeschlagen aus und meinte, wir müßten es aufgeben. Darauf hatte ich nur gewartet.

›Etwas haben wir noch nicht durchsucht.‹

›Was denn?‹ fragte er.

›Seinen Magen.‹

›Wahrhaftig, daran habe ich nicht gedacht. Das ist die Lösung des Rätsels, so wahr ich lebe. Wie wollen wir’s anfangen?‹

›Na,‹ sagte ich, ›bleib‘ du hier bei ihm, und ich will in die Apotheke gehen und ein Mittel holen, das die Diamanten rasch ans Tageslicht fördern soll.‹

Er war’s zufrieden, und ich zog vor seiner Nase Buds Stiefel an statt meiner eigenen, ohne daß er’s merkte. Ein wenig zu groß waren sie mir freilich, aber das schadete nicht so viel, als wenn sie zu klein gewesen wären. Ich tappte im Dunkeln durch den Vorplatz, nahm den Reisesack mit und war in der nächsten Minute zur Hintertür hinaus.

Mit Siebenmeilenschritten ging’s nun am Fluß entlang; mir war dabei gar nicht schlecht zu Mut, ich marschierte ja auf Diamanten. Nach der ersten Viertelstunde hatte ich schon eine große Strecke zurückgelegt. Alle fünf Minuten dachte ich daran, wie Hal Clayton auf meine Rückkehr wartete und immer unruhiger wurde. ›Jetzt fängt er an zu fluchen,‹ sagte ich zu mir, ›und allmählich geht ihm ein Licht auf. Er bildet sich ein, ich hätte die Diamanten gefunden, als wir Bud durchsuchten, sie heimlich in die Tasche geschoben und mir nichts merken lassen. Natürlich wird er gleich meiner Spur folgen, aber ich habe doch wenigstens einen guten Vorsprung.‹

Indem kam ein Mann auf einem Maultier dahergeritten, und ohne zu überlegen sprang ich ins nächste Gebüsch. Das war dumm! Eine Weile hielt der Mann still, um zu sehen, ob ich wieder herauskäme, dann ritt er weiter. Das konnte mir sehr zum Nachteil gereichen, wenn er etwa auf Hal Clayton stieß und der ihn ausfragte.

Um drei Uhr morgens kam ich nach Alexandria und als ich den Raddampfer vor Anker liegen sah, war ich heilfroh und glaubte, jetzt sei ich gerettet. Es dämmerte bereits und ich ging an Bord, ließ mir die Kajüte hier geben, zog diese Kleider an und setzte mich neben das Ruderhaus, damit mir nichts entgehen könne. Ich wartete mit großer Ungeduld auf die Abfahrt des Bootes, aber es rührte sich nicht. Die Maschine wurde erst ausgebessert, doch davon hatte ich keine Ahnung.

Es wurde Mittag bis wir absegelten und ich hatte mich längst in der Kajüte eingeschlossen. Schon vor dem Frühstück sah ich nämlich von fern einen Mann herankommen, dessen Gang mich an Hal Clayton erinnerte und mir wurde übel und weh. Wenn er mich hier auf dem Boot ausfindig machte, so saß ich wie eine Ratte in der Falle. Er brauchte nur zu warten bis ich ans Land ging und mir zu folgen. An einem abgelegenen Ort würde er mich zwingen die Diamanten herauszugeben und dann – ja dann war’s um mich geschehen. O, es ist gräßlich – entsetzlich! Und wenn ich mir nun vorstelle, daß der andere auch an Bord ist! Sagt selbst, Jungens, ist das nicht ein schreckliches Mißgeschick? – Aber, nicht wahr, ihr verlaßt mich nicht! Ihr helft einem armen Teufel durch, den man zu Tode hetzen will. Auf den Knien will ich euch verehren, wenn ihr mir beisteht und mich rettet.«

Wir taten was wir konnten, um ihn zu beruhigen: wir versprachen ihm unsere Hilfe, machten allerlei Pläne und redeten ihm seine übergroße Furcht aus. Da wurde er bald wieder zuversichtlicher und zuletzt schraubte er gar die Plättchen von seinen Absätzen und hielt die Diamanten bald so bald so gegen das Licht. Nein, wie sie funkelten und glitzerten und ihr Feuer nach allen Seiten ausstrahlten! Es war schön, das muß ich sagen. Aber er kam mir doch vor wie ein rechter Narr. Ich an seiner Stelle hätte den beiden Spießgesellen die Diamanten ausgeliefert und ihnen gesagt, nun sollten sie ans Land gehen und mich in Ruhe lassen. Doch das fiel ihm gar nicht ein. Er meinte, es wäre ein ganzes Vermögen; der Gedanke es zu verlieren schien ihm unerträglich.

Zweimal mußten wir anlegen, um die Maschine in Ordnung zu bringen, was eine ganze Weile dauerte. Die Nacht war aber nicht dunkel genug; er hätte sich schwerlich unbemerkt aus dem Staube machen können. Gegen ein Uhr nachts kamen schwarze Wolken am Himmel herauf, ein Gewitter war im Anzug. Wir hatten an einem Holzhof angelegt, noch etwa vierzig Meilen von Onkel Silas‘ Farm, und Jack hielt die Gelegenheit für günstig. Es regnete stark, der Sturm brach los, und die Leute, die das Holz einluden, zogen sich zum Schutz grobe Säcke über den Kopf. Auch Jack verschafften wir einen. Er nahm seine Reisetasche, lief aufs Hinterdeck, kam dann wie die andern Matrosen nach vorn marschiert und ging mit ihnen ans Land. Als er aus dem Bereich der Fackeln war und in der Finsternis verschwand, holten wir tief Atem und waren voller Dank und Freude. Allein das Vergnügen dauerte nicht lange. Kaum zehn Minuten vergingen, da stürmten die beiden schlimmen Gesellen auf Deck; sie sprangen ans Ufer und wir sahen sie nicht wieder. Bis zum Morgengrauen warteten wir und hofften sie würden zurückkommen, allein vergebens. Vielleicht hatten sie aber doch Jack nicht mehr einholen können und seine Spur verloren; darauf setzten wir unser ganzes Vertrauen.

Er wollte am Fluß entlang gehen und sich in dem Ahornwäldchen hinter Onkel Silas‘ Tabakfeld verbergen. Dort hatten wir versprochen ihn zu treffen, sobald es dämmerig würde und ihm Nachricht zu bringen, ob seine Brüder Brace und Jupiter zu Hause wären und keinen Besuch hätten.

Tom und ich sprachen lange darüber, wie es ihm wohl ergehen würde. Rannten seine Verfolger flußaufwärts statt abwärts, dann war er gerettet. Aber das ließ sich kaum erwarten. Wahrscheinlich, meinte Tom, würden sie ihm tagsüber auf den Fersen bleiben, ohne daß er Argwohn schöpfte, und sobald es dunkelte ihn umbringen und ihm die Stiefel fortnehmen. – Das betrübte uns sehr.

Fünftes Kapitel

Erst spät am Nachmittag war die Maschine fertig ausgebessert. Als wir nicht weit von Onkel Silas‘ Farm anlegten, ging die Sonne bereits unter. So liefen wir denn zuerst spornstreichs nach dem Ahornwäldchen, um Jack den Grund der Verzögerung mitzuteilen, damit er auf uns wartete, bis wir bei Brace gewesen wären und wüßten, wie die Sachen standen. Gerade als wir keuchend um die Ecke bogen und die Ahornbäume schon von fern sahen, kamen zwei Männer quer über den Weg in das Wäldchen gesprungen und wir hörten einen gräßlichen Hilfeschrei, der sich mehrmals wiederholte. »Jetzt haben sie den armen Jack umgebracht,« sagten wir und flohen voll Todesangst nach dem Tabakfeld. Kaum hatten wir uns dort versteckt und zitterten noch wie Espenlaub, als wir abermals zwei Männer an uns vorbeilaufen und in dem Wäldchen verschwinden sahen. Schon im nächsten Augenblick kamen ihrer vier wieder heraus: zwei hatten die Flucht ergriffen und zwei verfolgten sie.

Kalter Angstschweiß perlte uns auf der Stirn, während wir auf dem Boden lagen und horchten; doch vernahmen wir keinen anderen Laut als das Pochen unserer Herzen. Immer mußten wir an den Ermordeten drüben im Wäldchen denken und uns gruselte als wäre uns ein Gespenst in nächster Nähe. Plötzlich kam der Mond hinter den Baumwipfeln hervor, groß, rund und glänzend, wie ein Gesicht, das durch die Eisenstäbe der Gefängniszelle guckt. Schwarze Schatten und weiße Flecken huschten hierhin und dorthin; es war unheimlich still ringsum, nur der Nachtwind stöhnte in den Zweigen. Da flüsterte Tom auf einmal: »Sieh! – was ist das?«

»Du brauchst mich nicht noch unnötig zu erschrecken; ich bin sowieso schon halb tot,« rief ich.

»Aber, so sieh doch, was da aus dem Ahornwäldchen herauskommt!«

»Hör‘ auf, Tom!«

»Eine riesige Gestalt; sie kommt auf uns zu!«

Er hatte vor Erregung kaum Atem genug zum Flüstern. Ich wollte nicht hinsehen und doch tat ich’s. Wir knieten jetzt beide auf der Erde, stützten das Kinn auf den Lattenzaun und starrten in Schweiß gebadet die Straße ‚runter. Die Gestalt ging im Schatten der Bäume, man konnte sie erst ordentlich sehen, als sie dicht in unserer Nähe war und ins helle Mondlicht hinaustrat. Da fielen wir um wie vom Donner gerührt – kein Zweifel, es war Jack Dunlaps Geist! –

Ein paar Minuten lagen wir regungslos da; als wir wieder aufsahen, war das Gespenst verschwunden.

»Du,« flüsterte Tom, »Gespenster sehen doch immer grau und neblig aus, als ob sie lauter Dunst wären; aber dieses gar nicht.«

»Nein; ich hab‘ seine Brille und den Schnurrbart ganz deutlich erkannt.«

»Ja, und den Anzug – die grün und schwarz gewürfelten Hosen –«

»Die feuerrote Weste von Baumwollsammet mit den gelben Punkten –«

»Die ledernen Stege unten am Hosenbein – einer war nicht angeknüpft –«

»Ja, und der Hut – eine richtige hohe Angströhre mit breiter Krempe.«

»Glaubst du, Huck, daß es ebensolches Haar hatte wie er?«

»Ja – doch bin ich nicht ganz sicher.«

»Ich auch nicht; aber den Reisesack hab‘ ich in seiner Hand gesehen.«

»Haben denn Gespenster einen Reisesack, Tom?«

»Warum nicht, Huck? Aber natürlich aus Gespensterstoff, wie die Kleider und alles. Stell‘ dich doch nicht so dumm an!«

Jetzt kamen Bill Withers und sein Bruder Hans an uns vorüber. Sie waren in ihr Gespräch vertieft, wir verstanden aber alles, was sie sagten:

»Es sah aus als konnte er es kaum mehr schleppen,« meinte Bill.

»Jawohl, schwer schien es zu sein. Es war gewiß ein Neger, der dem alten Pfarrer Silas Korn gestohlen hat,« sagte Hans.

»Das dachte ich gleich und tat, als bemerkte ich ihn nicht.«

»So hab‘ ich’s auch gemacht. Hahaha!«

Also, Onkel Silas war so unbeliebt geworden, daß die Leute lachten, wenn ihm ein Dieb sein Korn stahl! Wie war das nur möglich?

Bald hörten wir wieder Stimmen; je näher sie kamen, um so lauter wurde das Gespräch. Es waren zwei Nachbarn, Lem Beebe und Jim Lane.

»Wer?« fragte Jim, – »Jupiter Dunlap?«

»Ja, ganz gewiß,« entgegnete Lem.

»Hm. Vor etwa einer Stunde, eben als die Sonne unterging, hab‘ ich ihn mit dem Spaten gesehen; sie gruben ein Stück Land um, er und der Pfarrer. Seinen Hund wollte er uns leihen, sagte er, aber er selber käme heute abend wahrscheinlich nicht.«

»Er wird wohl zu müde sein von der schweren Arbeit.«

»Verlaß dich drauf. Haha!«

Sie gingen lachend weiter; Tom sprang auf und wir folgten ihnen von fern. Dem Gespenst ganz allein zu begegnen, wäre doch gar zu unbehaglich gewesen.

Dies alles geschah am 2. September, einem Sonnabend. Den Tag werde ich nie vergessen; man wird bald erfahren weshalb.

Sechstes Kapitel

Schon sahen wir die Lichter vom Hause zu uns herüberscheinen, und die Hunde kamen alle herbeigelaufen, uns zu begrüßen. Da sagte Tom:

»Warte noch ’nen Augenblick. Wenn wir jetzt ‚reinkommen, meinst du wohl, ich müßte gleich unser ganzes Abenteuer erzählen, daß alle Mund und Nase aufsperren vor Verwunderung?«

»Versteht sich, solche Gelegenheit wirst du dir doch nicht entgehen lassen, Tom.«

»Na, da irrst du dich gewaltig. Kein Sterbenswörtchen verraten wir davon und zwar aus sehr naheliegenden Gründen. Sag ‚mal Huck – ging das Gespenst barfuß?«

»Bewahre, es hatte ja Stiefel an.«

»Hast du das wirklich gesehen? Kannst du ’nen Eid darauf leisten?«

»Jawohl, das kann ich.«

»Ich auch. Und das ist der beste Beweis dafür, daß die Diebe die Diamanten nicht gefunden haben. Natürlich nicht – die zwei andern Männer haben sie ja vertrieben, ehe sie der Leiche die Stiefel ausziehen konnten; deshalb trug sie das Gespenst auch noch.«

»Stiefel aus dem Geisterstoff wie die andern Kleider, nicht wahr, Tom?«

»Freilich. Und weißt du, Huck, was nun geschieht? Die zwei Männer erzählen, sie hätten das Geschrei gehört, die Mörder verjagt, aber den Fremden nicht retten können. Nun kommt die Totenschau, besichtigt alles an Ort und Stelle, und ehe man die Leiche begräbt, werden ihre Sachen versteigert, um die Kosten herauszuschlagen. Dann ist unser Glück gemacht.«

»Wieso?«

»Na, das ist doch klar: Wir kaufen die Stiefel für zwei Dollars.«

»Und kriegen die Diamanten?«

»Versteht sich. Eines schönen Tages wird man eine hohe Belohnung dafür bieten – wenigstens tausend Dollars. Und das ist unser Geld. – Jetzt komm ins Haus; aber von den Räubern, den Diamanten und dem Mord weißt du keine Silbe – das merke dir.«

»Wie sollen wir es aber Tante Sally erklären, wenn sie fragt, wo wir so lange geblieben sind?«

»Das überlasse ich dir; du wirst schon eine Ausrede finden.«

Das sah Tom ganz gleich. Er war viel zu wahrheitsliebend um selbst eine Lüge zu sagen.

Wir gingen nun quer über den Hof, wo wir zu unserer Freude alles unverändert fanden, und kamen in den bedeckten Gang zwischen dem Holzschuppen und der Küche. Da hingen noch mancherlei Gegenstände, die wir kannten, unter anderm auch Onkel Silas‘ grüner Arbeitskittel mit der Kaputze und dem weißen Flicken zwischen den Schultern, der immer aussah, als hätte ihn jemand mit ’nem Schneeball geworfen. Rasch drückten wir auf die Klinke der Stubentür und traten ein.

Tante Sally wirtschaftete im Zimmer herum; in einer Ecke saßen die Kinder auf einem Häufchen, in der andern las der Onkel im Gebetbuch. Tante fiel uns gleich vor Freuden um den Hals, dann zauste sie uns bald an den Haaren, bald drückte sie uns ans Herz, während ihr helle Tränen über die Backen liefen, so froh war sie, uns wiederzusehen.

»Wo habt ihr Taugenichtse euch denn so lange herumgetrieben?« rief sie. »Ich hab‘ mir um euch schier die Seele aus dem Leib geängstigt. Eure Siebensachen sind schon vor ’ner Ewigkeit angekommen, und viermal hab‘ ich das Essen wieder aufgewärmt, damit ihr nicht zu warten braucht. Die Haut sollte man euch über die Ohren ziehen. Aber nun setzt euch nur, ihr müßt ja halb verhungert sein; setzt euch, ihr armen Jungen, und laßt’s euch schmecken.«

O, wie behaglich saß sich’s dort an der reich besetzten Tafel! Onkel Silas sprach sein längstes Tischgebet und bald stand ein aufgehäufter Teller an meinem Platz. Als ich gerade im besten Schmausen war, fragte die Tante plötzlich, wo wir denn gewesen wären.

Ich hatte mir’s schon zum voraus überlegt:

»Wir sind zu Fuß durch den Wald gegangen,« sagte ich, »da sind uns Lem Beebe und Jim Lane begegnet und haben uns aufgefordert mit ihnen Heidelbeeren zu suchen; Jupiter Dunlap wollte ihnen seinen Hund dazu leihen, das hatte er ihnen gerade versprochen – –«

»Wo haben sie ihn gesehen?« fiel mir der alte Silas auf einmal so hastig in die Rede, daß ich verwundert dreinschaute und ganz verwirrt wurde, weil er mich mit durchbohrenden Blicken ansah. Aber ich nahm mich zusammen und antwortete: »Als Ihr mit ihm das Stück Land umgrubet, bei Sonnenuntergang.«

»Hm,« sagte er mit enttäuschter Miene und nahm weiter keine Notiz von mir, während ich fortfuhr: »Wir gingen mit, und – –«

»Schweig still mit deinem Unsinn, Huck Finn,« rief jetzt Tante Sally entrüstet; »wer hat je davon gehört, daß man bei uns im September Heidelbeeren pflückt und obendrein zur Nachtzeit? Was soll der Hund dabei – vielleicht die Heidelbeeren aufspüren?« –

»Sie sagten – sie hätten eine Laterne – –« stammelte ich.

»An dem allen ist kein wahres Wort. Ich weiß, ihr habt irgend einen dummen Streich gemacht, da müßte ich euch beide nicht kennen. Na, Tom, heraus mit der Sprache, nicht erst lange gefackelt.«

Tom nahm eine gekränkte Miene an. »Wie kannst du nur den armen Huck schelten, Tante, bloß weil er sich versprochen hat. Er meint natürlich Erdbeeren, wenn er Heidelbeeren sagt. Das weiß doch jedes Kind, daß man in der ganzen Welt – nur nicht hier in Arkansas – einen Hund und eine Laterne mitnimmt, wenn man Erdbeeren suchen geht.«

Nun riß aber Tante Sally der Geduldsfaden; sie wurde ernstlich böse und schüttete einen ganzen Schwall von Worten, die sie gar nicht schnell genug heraussprudeln konnte, über unsere schuldigen Häupter aus. Darauf hatte Tom aber wie gewöhnlich gerechnet. Er ließ sie sich immer in Zorn reden und schwieg mäuschenstill, bis ihre Hitze verflogen war; dann wollte sie meist vor Ärger keine Silbe mehr über die ganze Angelegenheit hören. So kam es auch diesmal. Als sie sich heiser gesprochen hatte und einen Augenblick Atem schöpfen mußte, sagte Tom in aller Seelenruhe:

»Und trotzdem weiß ich doch, Tante –«

»Schweig’« still,« rief sie; »du tust den Mund nicht mehr auf, das sage ich dir!«

So kamen wir aus aller Verlegenheit und von der Verzögerung unserer Ankunft war nicht mehr die Rede. Das hatte Tom wirklich schlau eingerichtet.

Siebentes Kapitel

Benny machte ein sehr ernstes Gesicht und seufzte auch hin und wieder; aber bald fing sie an sich nach Toms Geschwistern Mary und Sid zu erkundigen und besonders nach Tante Polly. Allmählich erheiterte sich auch Tante Sallys Miene, ihre gute Laune kehrte zurück, sie fragte uns dieses und jenes und war wieder so gut und lieb wie immer, so daß unser Abendessen noch einen ganz lustigen Verlauf nahm. Nur der alte Silas beteiligte sich nicht an der Unterhaltung; er war unruhig und zerstreut, auch stieß er oft so tiefe Seufzer aus, daß es einem in der Seele weh tat, ihn so verstört und bekümmert zu sehen.

Eine Weile nach dem Abendessen klopfte es an die Tür; ein Neger steckte den Kopf herein, er trug seinen alten Strohhut in der Hand und sagte unter vielen Bücklingen und Kratzfüßen, sein Herr, Massa Brace, warte draußen am Zaun und lasse den Massa Silas fragen, wo sein Bruder wäre, der zum Essen nicht nach Hause gekommen sei.

Da fuhr Onkel Silas so heftig auf, wie ich es noch nie von ihm gehört hatte: »Bin ich etwa seines Bruders Hüter?« Gleich nachher war es ihm aber wieder leid, er sank in sich zusammen und sprach im sanftesten Ton:

»Du brauchst ihm das nicht zu wiederholen, Billy, ich bin seit einigen Tagen gar nicht wohl und so reizbar, daß ich meine Worte nicht wägen kann. Er ist nicht hier, sage ihm das.«

Als der Neger fort war, ging der alte Mann ruhelos in der Stube auf und ab, wobei er fortwährend unverständliche Worte murmelte und sich mit den Händen ins Haar fuhr. Es war recht jämmerlich anzusehen; doch Tante Sally flüsterte uns zu, nicht acht auf ihn zu geben. Sie sagte, seit so viel Mißgeschick über ihn gekommen sei, gerate er oft tief in Gedanken und wisse kaum mehr, was er tue und treibe. Auch bei Nacht wandle er viel häufiger als früher im Schlaf, entweder nur im Hause oder auch draußen im Freien. Wenn wir ihn einmal dabei beträfen, sollten wir ihn ruhig gehen lassen und ihn ja nicht aufwecken. Es könne ihm niemand helfen, außer Benny, die ihn am besten zu behandeln verstehe.

Auch diesmal schlich sie sich an seine Seite, als er anfing müde zu werden von dem ewigen Hin- und Herwandern. Sie schlang ihren Arm um ihn und ging mit, bis er lächelnd auf sie herabschaute und sich niederbeugte um sie zu küssen. Allmählich wich der gequälte Ausdruck aus seinem Gesicht und er ließ sich von ihr auf sein Zimmer geleiten. Es war eine Freude, den liebevollen Verkehr von Vater und Tochter zu sehen.

Tante Sally mußte nun die Kinder zu Bett bringen und da Tom und ich anfingen uns zu langweilen, machten wir noch einen Gang bei Mondschein in das Feld, wo die reifen Wassermelonen standen. Wir aßen nach Herzenslust und besprachen dabei mancherlei. Tom meinte, er hege nicht den geringsten Zweifel, daß Jupiter ganz allein an dem Streit schuld sei. Bei erster Gelegenheit werde er sich Gewißheit darüber verschaffen und dann Onkel Silas nach Kräften bereden ihn fortzuschicken.

Wohl zwei Stunden lang schwatzten, rauchten und schmausten wir dort. Als wir ins Haus zurückkehrten war es ganz still und dunkel; alle hatten sich zur Ruhe begeben.

Tom, dem nichts entging, bemerkte jetzt, daß der alte grüne Arbeitskittel seltsamerweise von dem Nagel verschwunden war, wo er ihn noch vorhin hatte hängen sehen. Dann suchten wir unsere Schlafkammer auf.

Im Nebenzimmer hörten wir Benny noch lange herumhantieren; sie sorgte sich gewiß um ihren Vater und fand keinen Schlaf. Auch wir waren viel zu aufgeregt, um zu Bette zu gehen; so blieben wir denn wach, unterhielten uns im Flüsterton und waren in recht trübseliger Stimmung. Wir sprachen immer wieder von dem Ermordeten und dem Gespenst, bis uns so unheimlich und gruselig zu Mute wurde, daß von Einschlafen keine Rede sein konnte.

Es war schon spät in der Nacht, als mich Tom plötzlich mit dem Ellenbogen stieß und nach dem Fenster deutete. Ich sah hin; drunten im Hof trieb sich ein Mann hemm, doch konnte ich ihn bei der Dunkelheit nicht erkennen. Jetzt kletterte er über den Zaun und da kam gerade der Mond heraus und schien auf den weißen Flicken des alten Arbeitskittels.

»Siehst du den Nachtwandler,« sagte Tom. »Ich wollte wir dürften ihm folgen und sehen, wo er hingeht mit der langen Schaufel, die er über der Schulter trägt. Er biegt nach dem Tabakfeld ein – nun ist er verschwunden. Der arme Onkel, – es tut mir so leid, daß er gar keine Ruhe findet.«

Wir warteten lange, aber er kam nicht zurück; vermutlich hatte er einen anderen Heimweg eingeschlagen. So legten wir uns denn endlich nieder und verfielen in einen unruhigen Schlaf, der uns mit tausenderlei Beängstigungen quälte. Im Morgengrauen waren wir schon wieder wach; ein Gewitter war heraufgezogen, Blitze zuckten, der Donner krachte, der Wind schüttelte die Bäume, der Regen fuhr in Strömen nieder und die Rinnsteine wurden zu rauschenden Bächen.

»Höre mal, Huck,« sagte Tom, »mir kommt’s sehr seltsam vor, daß man noch gar nichts von Jack Dunlaps Ermordung gehört hat. Die Männer, von denen Hal Clayton und Bud Dixon verjagt wurden, haben die Sache doch in der nächsten halben Stunde sicherlich überall erzählt und sie muß sich wie ein Lauffeuer von Farm zu Farm verbreitet haben. Solche große Neuigkeit kommt doch alle dreißig Jahr höchstens zweimal vor. Es ist wirklich merkwürdig, Huck, ich kann es nicht begreifen. Wäre nur erst das Gewitter vorüber, damit wir hinauskönnten um zu sehen, ob nicht irgend jemand auf der Straße davon anfängt. Wir müssen dann natürlich sehr überrascht und entsetzt sein.«

Es war schon heller lichter Tag, als der Regen aufhörte. Wir schlenderten die Straße hinunter, begrüßten jeden, der uns begegnete, sagten wann wir angekommen wären, wie wir die unsrigen verlassen hätten, wie lange wir zu bleiben gedächten, und dergleichen mehr; aber kein Mensch äußerte eine Silbe über den Mord, was uns höchlich wundernahm. Tom meinte, wenn wir in das Ahornwäldchen gingen, würde die Leiche ganz einsam und verlassen daliegen und keine Menschenseele weit und breit zu sehen sein. Wahrscheinlich hätten die Verfolger die Mörder tief in den Wald hinein gejagt, diese hätten sich endlich umgewendet und sich auf sie geworfen. Nachdem sie einander alle umgebracht, wäre natürlich niemand mehr am Leben gewesen, um die Nachricht zu verbreiten.

Während dieser Reden waren wir unversehens nach dem Ahornwäldchen gekommen. Mir lief der kalte Schweiß den Rücken hinunter und ich wäre um nichts in der Welt auch nur einen Schritt weiter gegangen. Doch Tom ließ es keine Ruhe – er mußte wissen, ob der Ermordete die Stiefel noch anhatte. So kroch er denn ins Dickicht, kam aber schon im nächsten Augenblick in größter Erregung wieder heraus.

»Huck, er ist fort,« rief er.

»Im Ernst, Tom?« fragte ich starr vor Staunen.

»Jawohl, er ist wirklich fort; es ist nichts mehr von ihm zu sehen. Der Boden ist nur etwas zertrampelt und wenn blutige Spuren da waren, hat sie der Regen verwaschen; es ist lauter Schmutz und Morast da drinnen.«

Nun faßte ich mir ein Herz und überzeugte mich mit eigenen Augen, daß kein Leichnam mehr da war.

»Verwünscht,« rief ich, »die Diamanten sind weg!«

»Glaubst du nicht, daß die Mörder zurückgekommen sind und ihn fortgeschleppt haben?«

»Höchst wahrscheinlich. Wo meinst du wohl, daß sie ihn versteckt haben können?«

»Wie soll ich das wissen?« sagte er ärgerlich. »Es ist mir auch einerlei. Mir war nur an den Stiefeln etwas gelegen. Nach der Leiche werde ich den Wald nicht durchsuchen; meinetwegen mag sie sein wo sie will. Die Hunde werden sie sowieso bald aufspüren.«

Wir schlichen betrübt und enttäuscht nach Hause zurück. Mein Lebtag hatte mich noch keine Leiche so geärgert und betrogen wie diese.

Achtes Kapitel

Beim Frühstück ging es nicht sehr munter zu. Tante Sally sah alt und müde aus; sie ließ die Kinder untereinander zanken und streiten ohne ihnen zu wehren, wie sie es sonst immer tat. Tom und ich waren so voller Gedanken, daß wir gar nicht sprachen, und Benny mochte wohl die ganze Nacht kein Auge zugetan haben. So oft sie den Kopf ein wenig hob und nach ihrem Vater hinschaute, mußte sie mit den Tränen kämpfen. Der Alte ließ das Essen auf seinem Teller kalt werden, er rührte keinen Bissen an, redete kein Wort, sondern sann und sann nur immer vor sich hin.

Als die Stille am allerdrückendsten war, steckte der Neger wieder den Kopf durch die Tür und sagte, Massa Brace hätte schrecklich Angst um seinen Bruder Jupiter, der noch immer nicht heimgekommen wäre. Massa Silas sollte doch so gut sein und – –

Das Wort erstarb ihm auf den Lippen, denn Onkel Silas hatte sich plötzlich aufgerichtet. Er sah den Neger an und zitterte dabei so, daß er sich am Tisch festhalten mußte. Die Kehle war ihm wie zugeschnürt; erst nach einer Weile stammelte er mühsam:

»Er glaubt wohl – er glaubt wohl – was denkt er sich eigentlich? – Sag‘ ihm – sag‘ ihm –« kraftlos sank er wieder in seinen Stuhl zurück. »Geh fort – geh fort!« murmelte er so leise, daß man es kaum verstehen konnte.

Der Neger machte sich erschrocken aus dem Staube, während Onkel Silas die Hände rang und seine Augen verdrehte, als läge er im Sterben; es war ein schrecklicher Anblick. Wir sahen alle da, wie festgebannt, nur Benny erhob sich leise, Tränen liefen ihr die Wangen herunter, sie trat neben den Stuhl ihres Vaters, bettete sein graues Haupt an ihrer Brust und streichelte ihn sanft und liebevoll. Dann winkte sie uns, wir sollten fortgehen, und wir verließen das Zimmer so still, als läge ein Toter darin.

In furchtbar ernster Stimmung schlugen Tom und ich den Weg nach dem Walde ein. Wie ganz anders war es doch hier bei unserm Besuch letzten Sommer gewesen: alles so glücklich und friedevoll, Onkel Silas so heiter, so wunderlich und voll kindlicher Einfalt und dabei so hochgeachtet von jedermann. Jetzt hat er entweder den Verstand schon verloren, oder man mußte doch jeden Augenblick fürchten, daß er von Sinnen käme.

Es war ein sonniger, herrlicher Tag; weiter und weiter gingen wir über die Hügel nach der Ebene zu und konnten uns nicht satt sehen an den Bäumen und Blumen ringsum. Daß es in dieser schönen Welt auch Unglück gab, schien uns unbegreiflich. Traurig zu sein, kam uns wie ein Unrecht vor.

Auf einmal fühlte ich, daß mir der Atem stockte; ich hielt Tom am Arm fest und mein Herz pochte wie ein Schmiedehammer.

»Da ist es!« rief ich; wir sprangen hinter einen Busch und Tom flüsterte:

»St! – Mach‘ keinen Lärm.«

Es saß gerade am Ende der kleinen Waldwiese auf einem Holzblock und stützte den Kopf in die Hand. Vergebens bemühte ich mich, Tom zur Flucht zu überreden; er rührte sich nicht vom Fleck, denn er meinte, vielleicht würde er sein Lebtag keine so günstige Gelegenheit mehr haben, ein Gespenst zu sehen, deshalb wollte er dieses nach Herzenslust betrachten und wenn es sein Tod wäre. So blieb ich denn auch da und riß die Augen auf, obgleich mir’s gar nicht wohl dabei zu Mute war.

»Der arme Jack,« raunte mir Tom zu, denn schweigen konnte er nicht; »alle seine Sachen hat er an, wie er’s uns vorausgesagt hat. Auch das Haar hat er sich kurz geschoren. Daß ein Gespenst so natürlich aussehen könnte, hätte ich nie gedacht.«

»Ich auch nicht; man würde es überall wiedererkennen.«

»Ganz wie bei Lebzeiten. Und am meisten wundert mich noch, daß es bei Tage umgeht. Die andern kommen immer erst nach Mitternacht zum Vorschein. Du, Huck, mit dem ist’s nicht ganz richtig; es hat kein Recht, sich jetzt hier herumzutreiben, das kannst du mir glauben. Jack wollte sich taubstumm stellen, weil ihn die Nachbarn sonst an der Stimme erkannt hätten. Meinst du, das Gespenst würde das auch tun, wenn ich’s jetzt anriefe?«

»Tom, ums Himmels willen, du wirst doch so was nicht wagen!«

»Sei nur ganz ruhig, ich denke nicht dran. Aber, was ist das – jetzt kratzt es sich am Kopf – ein Gespenst kann’s doch nicht jucken, das ist ja aus lauter Dunst! Wahrhaftig, Huck, ich glaube, es ist gar kein wirkliches Gespenst, es müßte doch sonst –«

»Was denn, Tom?«

» Durchsichtig sein, so daß man die Büsche dahinter sehen könnte.«

»Du hast recht, sein Körper ist so fest wie der einer Kuh. Weißt du, ich fange an zu glauben –«

»Jetzt nimmt es den Mund voll Tabak und fängt an zu kauen, – das ist ja unmöglich, es hat doch keine Zähne. Höre, Huck!«

»So sprich doch!«

»Es ist gar kein Gespenst, sondern Jack Dunlap, wie er leibt und lebt! – Haben wir etwa eine Leiche im Ahornwäldchen gefunden?«

»Nein, keine Spur.«

»Weißt du auch warum? – Weil nie eine da war.«

»Aber Tom, wir haben doch das Geschrei gehört!«

»Ist das etwa ein Beweis, daß jemand umgebracht worden ist? – Erst sahen wir vier Männer laufen und dann kam dieser aus dem Wald gegangen. Mir hielten ihn für einen Geist, aber es war so wenig ein Geist wie du einer bist. Es war Jack Dunlap selbst und der sitzt jetzt dort drüben und spielt den Fremden und Taubstummen, ganz wie er’s mit uns verabredet hatte. Der – ein Gespenst! Nein, Fleisch und Bein ist er, da wett‘ ich alles drauf.«

Ich sah nun auch unsern Irrtum ein, und wir waren beide herzlich froh, daß Jack nicht umgebracht worden war. Was sollten wir aber jetzt tun? Ihn anreden oder vorgeben, ihn nicht zu kennen? Tom hielt es für das beste, ihn selber zu fragen, wie er es haben wolle. Also ging er geradenwegs auf ihn zu, während ich mich etwas im Hintergrund hielt, für den Fall, daß es doch ein Gespenst wäre.

Als Tom ganz nahe bei ihm war, sagte er: »Guten Tag! Wir freuen uns sehr, Euch wiederzusehen, Huck und ich. – Fürchtet nur nicht, daß wir Euch verraten. Wenn Ihr es für besser haltet, wollen wir tun, als hätten wir Euch nie gekannt. Sagt nur, ob Euch das recht ist. Ihr könnt Euch dann fest auf uns verlassen; wir würden uns eher die Hand abhacken als Euch Schaden tun.«

Zuerst zeigte er sich sehr überrascht uns zu sehen und keineswegs erfreut; aber bei Toms Rede erhellte sich sein Gesicht und zuletzt lächelte er, nickte mehrmals mit dem Kopf, machte allerlei Zeichen mit den Händen und sagte: »Goo – goo – goo – goo,« ganz wie ein Taubstummer.

Indessen sahen wir ein paar von Steffen Nickersons Angehörigen, die jenseits der Wiese wohnten, daherkommen. »Ihr macht Eure Sache ganz ausgezeichnet,« sagte Tom, »natürlich müßt Ihr Euch üben so viel Ihr könnt, an uns so gut wie an den andern, damit Ihr auf Eurer Hut seid und niemals aus der Rolle fallt. Wir wollen Euch auch so wenig wie möglich in den Weg kommen und keiner Seele verraten, daß wir Euch kennen. Laßt es uns aber ja wissen, wenn Ihr einmal Hilfe braucht.«

Als wir den Nickersons begegneten, hielten sie uns natürlich an und wollten wissen, wer der Fremde dort drüben sei, wie er heiße, woher er komme, ob er Baptist oder Methodist, liberal oder konservativ wäre und was dergleichen Fragen mehr sind, die wir Amerikaner bei jeder neuen Erscheinung gleich auf der Zunge haben. Tom erwiderte jedoch, er hätte aus den Zeichen des Taubstummen und seinen Naturlauten nicht klug werden können. Mit großer Spannung beobachteten wir nun von ferne, wie sie Jack auszuforschen begannen. Erst als wir ihn seine Zeichen machen sahen und wußten, daß alles gut ablaufen würde, beruhigten wir uns wieder und machten, daß wir weiter kamen, weil wir gern während der Zwischenstunde beim Schulhaus sein wollten.

Es war recht ärgerlich, daß uns Jack nicht erzählen konnte, was sich in dem Ahornwäldchen zugetragen hatte und ob er fast umgebracht worden wäre; aber Tom bemerkte ganz richtig, daß ein Mensch in Jacks Lage nicht vorsichtig genug sein könne und am besten täte still zu schweigen, um sich keiner Gefahr auszusetzen.

In der Zwischenstunde ging es sehr lustig zu, alle Knaben und Mädchen freuten sich, uns wiederzusehen. Die beiden Hendersons waren auf ihrem Schulweg dem Taubstummen begegnet und wurden deshalb von den übrigen sehr beneidet, da alle vor Neugier brannten, ihn zu sehen, und von gar nichts anderm reden mochten.

Es kostete Tom keine kleine Überwindung, nichts zu verraten. Hätten wir alles erzählen dürfen, wie würde man uns bewundert haben! Aber viel heldenhafter war es doch noch, Stillschweigen zu bewahren. Unter Millionen Jungen hätte man nicht zwei finden können, die das fertig brachten. Davon war Tom wenigstens überzeugt und schließlich mußte er es doch am besten wissen.

Neuntes Kapitel

In den nächsten zwei oder drei Tagen ging der Taubstumme bei den Nachbarn aus und ein und war bald allgemein

beliebt. Jeder war stolz, mit einer so merkwürdigen Persönlichkeit zu verkehren; man lud ihn zum Frühstück, zu Mittag und zum Abendessen ein, bewirtete ihn aufs beste und wurde nicht müde, ihn anzustarren. Gern hätten die Leute mehr über ihn erfahren, aber seine Zeichen verstanden sie nicht – er wußte wohl selbst nicht, was sie bedeuteten. Seine Naturlaute bewunderten sie dagegen sehr und freuten sich, so oft er sie hören ließ. Auch reichte er eine Tafel herum nebst Schieferstift, damit man Fragen an ihn stellen könne; die Antworten, die er aufschrieb, konnte aber niemand lesen, außer Brace Dunlap, dem es freilich auch Mühe machte; doch fand er häufig wenigstens den Sinn heraus. Er sagte, der Taubstumme käme von weit her und habe früher im Wohlstand gelebt, dann sei er Schwindlern in die Hände gefallen, die sein Vertrauen mißbraucht hätten. Jetzt sei er arm und wüßte nicht, wie er sein Brot erwerben solle.

Man lobte Brace allgemein, daß er sich des Fremden so hilfreich annahm. Er hatte ihm ein kleines Blockhaus zur Wohnung angewiesen, seine Neger mußten es in Ordnung halten und ihm zu essen bringen so viel er wollte.

Auch in unser Haus kam der Taubstumme öfters, weil es Onkel Silas Trost gewährte, einen Menschen zu sehen, der auch von Trübsal heimgesucht war wie er. Tom und ich taten, als hätten wir ihn noch nie erblickt, und auch er stellte sich uns gegenüber ganz fremd. Der Familienkummer wurde in seiner Gegenwart ohne Scheu besprochen, was ja im Grunde nichts schadete. Gewöhnlich schien er gar nicht acht darauf zu geben, aber manchmal tat er es doch.

Als drei Tage vergangen waren, fingen die Nachbarn an, sich über Jupiter Dunlaps Ausbleiben zu beunruhigen. Einer fragte den andern, wo er wohl hingeraten sein könne; man schüttelte den Kopf und fand es höchst seltsam und unerklärlich. Abermals verstrichen ein paar Tage; da entstand ein Gerücht, daß er vielleicht ermordet wäre. Das machte natürlich großes Aufsehen und ein endloses Gerede. Am Samstag zogen die Leute truppweise in den Wald, um die Leiche aufzustöbern. Tom und ich gingen auch mit und halfen suchen. Tom konnte vor Aufregung tagelang weder essen noch schlafen und glühte vor Eifer, weil er meinte, wenn wir den Leichnam fänden, würden wir berühmt werden und unser Name in aller Munde sein.

Die andern bekamen es zuletzt satt und gaben das Suchen auf. Aber Tom Sawyer dachte nicht daran, er war unermüdlich. Die ganze Nacht schloß er kein Auge, er sann über einen Plan nach und als der Morgen dämmerte, war ihm ein Licht aufgegangen. In größter Hast kam er und holte mich aus dem Bette.

»Rasch Huck, wirf deine Kleider über,« rief er, »ich hab’s! Wir brauchen einen Schweißhund.«

Zwei Minuten später liefen wir im Dunkeln am Fluß entlang nach dem Dorfe zu. Der alte Schmied Jeff Hooker hatte einen Hund, den wollte sich Tom von ihm borgen.

»Die Spur ist zu alt,« sagte ich, »und geregnet hat es auch.«

»Das schadet nichts, Huck. Wenn der Leichnam irgendwo im Walde steckt, findet ihn der Hund gewiß. Er wird es schon wittern, an welcher Stelle man den Ermordeten verscharrt hat. Auch auf die Spur des Mörders wird er uns helfen, und wenn wir die erst haben, verfolgen wir sie ohne Unterlaß, bis wir den Kerl fangen. Dann werden wir berühmt, so wahr ich lebe.«

»Na, laß uns nur erst die Leiche finden,« sagte ich, um sein Feuer etwas zu dämpfen, »daran werden wir wohl für heute genug haben. Wer weiß, ob überhaupt eine da ist; vielleicht ist der faule Jupiter einfach durchgebrannt und gar nicht ermordet worden.«

Doch davon wollte Tom nichts hören. »Wie kannst du nur so reden, Huck, das ist ganz abscheulich. Schämst du dich nicht, ein solcher Spielverderber zu sein, wenn wir gerade die beste Gelegenheit haben uns auszuzeichnen und unsern Ruhm zu begründen.«

»Ach was, ich nehme alles zurück; mache es nur ganz wie du willst, Tom. Ob Jupiter tot ist oder lebendig, kümmert mich im Grunde wenig.«

Bald war Tom wieder Feuer und Flamme für das Unternehmen, bis wir vor die Schmiede des alten Jeff Hooker kamen, der seine Begeisterung gewaltig abkühlte.

»Den Hund könnt ihr haben,« sagte er, »aber ihr werdet keinen Leichnam finden, weil keiner da ist. Die Leute haben ganz recht, daß sie nicht weiter suchen. Sobald sie anfingen nachzudenken, mußte sich eben jeder sagen, daß von einem Mord gar keine Rede sein kann. Ich will euch auch sagen weshalb: Wenn jemand einen Menschen umbringt, tut er es doch nicht ganz ohne Grund, das werdet ihr mir zugeben. Na, und warum sollte man wohl dem Jupiter Dunlap, diesem Schafskopf, nach dem Leben trachten? Etwa aus Rache? Meint ihr, daß irgend jemand einen Groll gegen solchen Menschen hat?«

Tom fand kein Wort der Erwiderung; von diesem Gesichtspunkt aus hatte er sich die Sache noch nicht überlegt.

»Oder glaubt ihr, man hätte ihn berauben wollen? Haha! Das wird’s wohl sein. Die Hosenschnallen hat man ihm gestohlen und deshalb – –«

Der Alte wollte sich vor Lachen ausschütten; er mußte sich die Seiten halten, um nicht zu bersten. Tom machte ein ganz verblüfftes Gesicht; ich sah’s ihm an, daß er sich meilenweit weg wünschte, während Jeff Hooker von neuem anhub: »Wer irgend Grütze im Kopf hat, mußte sich’s ja gleich sagen, daß der Faulpelz nur ausgekniffen ist, weil er nach seiner schweren Arbeit eine Weile herumbummeln wollte. Paßt auf, nach ein paar Wochen kommt er wieder und lacht sich ins Fäustchen. – Wenn du aber nach seinem Leichnam suchen willst, Tom, so nimm den Hund und tu’s, ich werd‘ dich nicht hindern.«

Tom war zu weit gegangen, er konnte nicht mehr zurück. »Na, also, macht ihn nur von der Kette los,« sagte er. Der Alte tat es und sah uns lachend nach, während wir beschämt abzogen.

Der Hund kannte uns, wedelte mit dem Schwanz und sprang mit lustigen Sätzen vor uns her, im Genuß seiner Freiheit. Aber Tom verzog keine Miene, er war tief gekränkt, daß der alte Hooker ihn lächerlich gemacht hatte, und verwünschte das ganze Abenteuer.

In düsterm Schweigen schlichen wir durch die Hintergassen heim. Als wir eben um die Ecke unseres Tabakfeldes bogen, stieß der Hund ein klägliches Geheul aus. Wir eilten herzu und sahen, wie er mit aller Macht die Erde aufwühlte und dann und wann den Kopf laut heulend zur Seite wandte.

In dem vom Regen durchweichten Boden ließ sich deutlich ein eingesunkenes längliches Viereck erkennen, das aussah wie ein Grab. Stumm standen wir da und sahen einander an. Der Hund hatte kaum ein paar Zoll tief gegraben, als er einen Gegenstand zu packen bekam und ihn herauszerrte; es war ein Männerarm, der im Ärmel steckte.

»Komm fort, Huck,« stieß Tom keuchend heraus, »die Leiche ist gefunden.«

Mich durchrieselte es kalt. Rasch liefen wir nach der Landstraße und holten die ersten besten Leute, die uns begegneten. Sie nahmen einen Spaten mit und gruben den Leichnam aus. Nein, war das eine Aufregung! Sein Gesicht konnte man nicht mehr erkennen, aber das war auch nicht nötig. Alle riefen:

»Der arme Jupiter; das sind die Kleider, die er zuletzt getragen hat.«

Ein paar Männer eilten ins Dorf, um die Nachricht zu verbreiten und dem Friedensrichter Anzeige zu machen, damit die Totenschau gehalten werden könnte. Auch Tom und ich liefen spornstreichs nach Hause; ganz atemlos kamen wir zu Onkel Silas, Tante Sally und Benny hereingestürzt und Tom rief:

»Wir zwei, ich und Huck, haben ganz allein mit einem Schweißhund Jupiter Dunlaps Leiche gefunden. Alle hatten es aufgegeben; ohne uns hätte man sie niemals entdeckt. Er ist doch ermordet worden, mit einem Knüttel hat man ihn totgeschlagen; aber ich will den Mörder schon finden, er soll mir nicht entgehen, so wahr ich Tom heiße.«

Tante Sally und Benny sprangen bleich und erschrocken auf, aber Onkel Silas fiel vorn über vom Stuhl auf den Boden und rief ächzend: »Gott erbarme sich meiner – du hast ihn schon gefunden!« –

Zehntes Kapitel

Bei diesen gräßlichen Worten standen wir wie zu Stein erstarrt und konnten wohl eine Minute lang kein Glied rühren. Sobald wir uns etwas von dem Schreck erholt hatten, hoben wir den alten Mann auf und setzten ihn wieder in seinen Stuhl; er ließ sich von Benny streicheln und küssen, auch die arme Tante versuchte ihn zu beruhigen. Doch waren sie beide so verwirrt und außer sich, daß sie kaum wußten, was sie taten. Am allerunglücklichsten war aber Tom selbst. Daß er seinen Onkel vielleicht ins Verderben gestürzt hatte, war ihm fürchterlich. Hätte er nicht solchen Ehrgeiz gehabt, berühmt zu werden und hätte das Suchen nach der Leiche aufgegeben, wie die andern Leute, so wäre es ja am Ende nie herausgekommen. Doch nicht lange, da besann er sich und änderte seine Gedanken:

»Sag‘ das nicht noch einmal, Onkel Silas; solche Reden sind gefährlich und es ist auch kein Körnchen Wahrheit daran,« versicherte er mit Bestimmtheit.

Tante Sally und Benny atmeten erleichtert auf bei diesen Worten; aber der Onkel schüttelte traurig den Kopf.

»Nein, nein – ich hab’s getan – der arme Jupiter – ich hab’s getan!« sagte er im Ton der Verzweiflung, während ihm die Tränen über die Backen liefen. Es war schrecklich mit anzuhören.

Dann erzählte er weiter, es sei an dem Tage geschehen, als Tom und ich ankamen, bei Sonnenuntergang. Jupiter hatte ihn gequält und geärgert, bis ihn der Zorn übermannte und er ihm mit seinem Stock über den Kopf schlug, daß er zu Boden stürzte. Sofort bereute er seine Hitze; er kniete neben Jupiter hin, hob ihm den Kopf auf und bat, er solle doch sprechen und sagen, daß er nicht tot sei. Der kam auch bald wieder zu sich; doch als er sah, wer ihm den Kopf hielt, sprang er, wie zu Tode erschrocken, auf, war mit einem Satz über den Zaun, lief nach dem Walde zu und verschwand. Da hoffte Onkel natürlich, er hätte ihm keinen Schaden getan.

»Aber ach,« fuhr er fort, »nur die Furcht hatte ihm dies letzte Fünkchen Lebenskraft eingeflößt, das rasch erlosch; im Gebüsch ist er dann zusammengebrochen, wo ihm niemand beistehen konnte, und ist gestorben.«

Der alte Mann jammerte und weinte, er sagte, er sei ein Mörder, er trüge das Kainszeichen und brächte seine Familie in Schande und Schmach. Seine Missetat würde entdeckt werden und ihn an den Galgen bringen.

»Davon ist gar keine Rede,« sagte Tom. »Du hast ihn gar nicht umgebracht. Ein einziger Schlag ist nicht gleich tödlich. Den Mord hat ein anderer begangen.«

»Nein, ich habe es getan, sonst niemand. Wer hätte auch außer mir etwas gegen ihn haben sollen?«

Er sah uns an als hoffte er, wir würden jemand nennen können, der dem harmlosen Menschen grollte; allein das war vergebens, wir mußten alle verstummen. Als er das sah, überfiel ihn die Trauer von neuem; seine jammervolle Miene war zum Erbarmen.

»Aber halt,« rief Tom plötzlich, »jemand muß ihn doch begraben haben. Wer kann das denn –«

Weiter kam er nicht. Ich wußte wohl warum, und es überlief mich kalt. Hatten wir doch beide Onkel Silas in jener Nacht mit der langen Schaufel über der Schulter gesehen. Auch Benny mußte ihn bemerkt haben; sie hatte einmal etwas davon erwähnt. Tom war nun eifrig bemüht, Onkel zu überreden, daß er sich nicht verraten solle; wir andern stimmten ihm bei und sagten, wenn Onkel schwiege, würde man es nie erfahren und er dürfe sich nicht selbst anklagen, weil es uns allen das Herz brechen würde, wenn ihm ein Leid geschähe. Es würde niemand Nutzen bringen und die Seinigen nur unglücklich machen. Zuletzt versprach er es denn auch und wir suchten ihn nun nach Kräften zu trösten und aufzuheitern. Über der ganzen Sache würde bald Gras wachsen, sagten wir, und kein Mensch würde mehr daran denken. Gegen Onkel Silas Verdacht zu schöpfen, könne niemand auch nur im Traum einfallen; er stehe in viel zu gutem Ruf und sei so lieb und freundlich gegen jedermann.

»Überlegt es doch nur,« sagte Tom mit großem Nachdruck, »es liegt ja auf der Hand: Seit so und so vielen Jahren ist Onkel Silas hier Prediger gewesen ohne einen Pfennig Gehalt; alles mögliche Gute hat er getan, von alt und jung wird er geliebt und geachtet. Wie sollte er, der friedliebendste Mensch von der Welt, der sich nie in fremde Angelegenheiten gemischt hat, dazu kommen, sich tätlich an jemand zu vergreifen? Es kann gar kein Argwohn gegen ihn entstehen; das ist ebenso gut ein Ding der Unmöglichkeit wie – –«

»Im Namen und Auftrag des Staates Arkansas verhafte ich Euch als den Mörder des Jupiter Dunlap,« rief in diesem Augenblick der Sheriff an der Tür.

Es war furchtbar. Tante Sally und Benny klammerten sich weinend und schreiend an Onkel Silas und wollten ihn nicht fortlassen; auch die Neger liefen heulend herbei, es war ein herzzerreißender Auftritt und ich verschwand.

Als er nach dem kleinen Dorfgefängnis geführt wurde, begleiteten wir ihn alle, um ihm Lebewohl zu sagen. Tom hatte schon einen Plan fix und fertig im Kopf, wie wir ihn in einer dunklen Nacht heldenmütig befreien wollten. Aber als er gegen Onkel etwas davon verlauten ließ, kam er übel an. Der arme Alte meinte, es sei seine Pflicht, zu dulden, was das Gesetz über ihn verhänge; selbst wenn die Tür des Gefängnisses offen stünde, würde er von dort nicht wanken und weichen. Natürlich war Tom sehr enttäuscht, doch mußte er sich drein ergeben. Den Gedanken, seinen Onkel zu befreien, gab er aber deshalb noch lange nicht auf; er betrachtete das als seine Schuldigkeit, denn er fühlte sich gewissermaßen verantwortlich für ihn.

Er versprach auch Tante Sally, daß er Tag und Nacht nicht ruhen würde, bis er Onkels Unschuld ans Licht gebracht hätte, sie solle sich nur keinen Kummer machen. Tante umarmte ihn zärtlich, dankte ihm und sagte, sie sei überzeugt, er werde alles tun, was in seinen Kräften stehe. Dann bat sie uns noch, wir möchten Benny helfen das Haus und die Kinder zu versorgen, und nachdem wir mit Tränen von ihr Abschied genommen hatten, kehrten wir nach der Farm zurück. Tante wollte bei der Frau des Gefängniswärters bleiben, bis im Oktober die Gerichtsverhandlung stattfand.

Elftes Kapitel

Der nächste Monat war für uns alle sehr traurig. Die arme Benny nahm sich zusammen, so gut sie konnte; auch Tom und ich trugen unser möglichstes zur allgemeinen Aufheiterung bei, aber das half wenig. Wir besuchten die alten Leute jeden Tag, was furchtbar trübselig war. Onkel Silas hatte meist schlaflose Nächte oder er wandelte im Schlaf; sein Aussehen war erbärmlich, auch nahm er körperlich und geistig so sehr ab, daß wir alle fürchteten, er würde vor Kummer krank werden und sterben.

Wenn wir ihm Mut zusprachen, schüttelte er nur den Kopf und meinte, wir wüßten nicht, welche Last es wäre, einen Mord auf der Seele zu tragen, sonst würden wir anders reden. Wie oft wir ihm auch wiederholten, daß es kein Mord, sondern fahrlässiger Todschlag wäre, er ließ sich nicht davon abbringen. Ja, als der Tag der Verhandlung näher rückte, war er ganz bereit einzugestehen, er habe den Mann mit Vorbedacht getötet. Das verschlimmerte die Sache natürlich hundertfach; Tante Sally und Benny verzehrten sich fast vor Angst. Doch nahmen wir Onkel das Versprechen ab, daß er im Beisein anderer keine Silbe von dem Mord sagen wolle und das war wenigstens ein Trost.

Den ganzen Monat über zerbrach sich Tom den Kopf, um einen Ausweg zu finden. Viele Nächte mußte ich mit ihm aufbleiben und Pläne schmieden, aber wir arbeiteten uns nur unnütz ab, es führte alles zu nichts. Ich war zuletzt so mutlos und niedergeschlagen, daß ich Tom riet es aufzugeben; doch er war anderer Meinung und ließ nicht nach, sich mit immer neuen Entwürfen das Hirn zu zermartern.

So kam Mitte Oktober der Tag der Gerichtsverhandlung. Wir waren alle da und der Saal natürlich gedrängt voll. Der arme alte Onkel Silas sah selbst fast aus wie ein Toter, so hohläugig, abgezehrt und jämmerlich. Benny und Tante Sally saßen ihm rechts und links zur Seite, tief verschleiert und gramerfüllt. Aber Tom saß bei unserm Verteidiger und redete in alles mit herein; der Anwalt ließ ihn gewähren und der Richter auch. Manchmal hielt er’s für besser, dem Verteidiger die Sache ganz aus der Hand zu nehmen, denn der war nur ein Winkeladvokat und verstand so gut wie gar nichts.

Die Vereidigung der Geschworenen war vorüber und der öffentliche Ankläger hielt seine Rede. Er sagte so schreckliche Dinge von Onkel Silas, daß Tante Sally und Benny zu weinen anfingen. Was er über den Mord berichtete, nahm uns fast den Atem, es war so ganz anders als Onkels Erzählung. Er sagte, er werde beweisen, daß zwei zuverlässige Zeugen gesehen hätten, wie Onkel Silas den Jupiter Dunlap umgebracht habe. Es sei mit Vorbedacht geschehen, denn er habe gerufen, er wolle ihn kalt machen, während er mit dem Knüttel zuschlug, dann habe er Jupiter ins Gebüsch geschleppt, der sei aber schon ganz tot gewesen. Später sei Onkel Silas wiedergekommen und habe die Leiche ins Tabakfeld geschafft, was zwei Männer bezeugen könnten. In der Nacht habe er sie dann begraben und sei auch dabei von jemand beobachtet worden.

Ich sagte mir, der arme alte Onkel müsse uns belogen haben, weil er sich darauf verließ, daß ihn niemand gesehen hätte und er Tante Sally und Benny nicht das Herz brechen wollte. Daran hatte er ganz recht getan; jeder, der nur das geringste Gefühl im Leibe hatte, würde auch gelogen haben, um den beiden, die doch gar nichts dafür konnten, Kummer und Herzeleid zu ersparen. Unser Verteidiger machte ein bedenkliches Gesicht und auch Tom war einen Augenblick wie auf den Mund geschlagen, doch nahm er sich rasch wieder zusammen und tat ganz zuversichtlich – aber es war ihm schlecht dabei zu Mute, das weiß ich. Unter den Zuhörern entstand eine furchtbare Aufregung während der Rede.

Als der Ankläger fertig war, setzte er sich und die Zeugen wurden aufgerufen. Zuerst kamen mehrere um zu beweisen, daß Onkel Silas dem Ermordeten feindlich gesinnt gewesen war. Sie sagten, sie hätten ihn öfters Drohungen gegen Jupiter ausstoßen hören; es sei zuletzt so schlimm geworden, daß alle Welt darüber gesprochen habe. Der Ermordete, dem um sein Leben bangte, habe mehrmals geäußert, Onkel Silas würde ihn gewiß noch einmal umbringen.

Das Kreuzverhör, das Tom und unser Verteidiger mit diesen Zeugen anstellten, nützte nichts; sie beharrten bei ihrer Aussage.

Zunächst betrat Lem Beebe den Zeugenstand. Das rief mir den Tag unserer Ankunft ins Gedächtnis, wie Lem mit Jim Lane an uns vorbeigegangen war und gesagt hatte, er wollte sich einen Hund von Jupiter Dunlap borgen. Alles zog wieder an meiner Erinnerung vorüber: Bill und Hans Withers, die von einem Neger redeten, der Onkel Silas Korn gestohlen hatte, und unser Geist, der aus dem Ahornwäldchen kam und uns so erschreckte. Der saß jetzt leibhaftig vor mir und nahm als Taubstummer und Fremder obendrein einen besonderen Stuhl innerhalb der Schranken ein; da konnte er gemütlich die Beine übereinander schlagen, während die übrigen Zuhörer so zusammengepfercht waren, daß sie kaum Platz zum Atemholen hatten.

Lem Beebe leistete den Eid und begann: »Am zweiten September gegen Sonnenuntergang ging ich mit Jim Lane am Zaun des Angeklagten vorbei. Da hörten wir lautes Reden und Schreien, ganz in unserer Nähe, nur das Haselgebüsch war dazwischen. Wir erkannten die Stimme des Angeklagten, welche rief: ›Ich hab‘ dir’s oft gesagt, ich bringe dich noch um!‹ dann sahen wir einen Knüttel, der hoch emporgehoben wurde und wieder hinter dem Gebüsch verschwand; wir hörten einen dumpfen Schlag und gleich darauf ein Ächzen. Nun krochen wir leise näher und als wir durch den Zaun guckten, sahen wir Jupiter Dunlap tot am Boden liegen und neben ihm stand der Angeklagte mit dem Knüttel in der Hand. Er schleppte die Leiche fort, um sie zu verbergen; wir aber duckten uns, damit wir nicht gesehen würden und machten, daß wir wegkamen.«

Es war schrecklich. Den Zuhörern erstarrte fast das Blut in den Adern und im ganzen Saal herrschte lautlose Stille. Erst als der Zeuge fertig war, hörte man die Leute seufzen und stöhnen und sie sahen einander mit entsetzten Mienen an.

Am meisten mußte ich mich aber über Tom verwundern. Bei den ersten Zeugen hatte er aufgepaßt wie ein Schweißhund und sobald einer mit seiner Aussage zu Ende war, fuhr er drauflos und tat alles, was er konnte, um ihn auf Unwahrheiten zu ertappen und sein Zeugnis zu entkräftigen. Auch jetzt, als Lem anfing und nichts davon sagte, daß er mit Jupiter gesprochen hatte und sich seinen Hund borgen wollte, glühte Tom vor Eifer und ich merkte, wie er nur darauf lauerte, Lem ins Kreuzverhör zu nehmen. Dann dachte ich, würden wir beide als Zeugen auftreten und erzählen, was wir aus Lems eigenem Munde gehört hatten. Ich sah wieder zu Tom hin, aber der war auf einmal wie ausgewechselt. Er hörte gar nicht mehr auf das, was Lem sagte, sondern saß ganz in sich versunken da, als schweiften seine Gedanken in weiter, weiter Ferne. Als Lem fertig war, stieß unser Verteidiger Tom mit dem Ellenbogen an; einen Augenblick sah er verwirrt auf und meinte: »Nehmen Sie den Zeugen ins Verhör, wenn Sie wollen; aber mich lassen Sie in Ruhe – ich muß nachdenken.«

Na, da hörte doch alles auf; es ging über meine Begriffe. Ich sah auch wie Benny und ihre Mutter den Schleier zurückschoben und mit angstvoller Miene nach Tom hinschauten, um seinem Blick zu begegnen, aber sie bemühten sich vergebens, er starrte immer nur auf einen Fleck. Der Winkeladvokat nahm zwar den Zeugen vor, brachte aber nichts heraus und verdarb die Geschichte noch vollends.

Dann wurde Jim Lane aufgerufen; er erzählte den Vorgang genau ebenso. Tom aber gab gar nicht acht; er saß noch immer in tiefen Gedanken da und merkte nicht, was um ihn her vorging. Der Verteidiger mußte wieder ganz allein fragen, und auch das Ergebnis war das gleiche. Nun schaute der öffentliche Ankläger sehr befriedigt drein, aber der Richter machte ein verdrießliches Gesicht, denn Tom versah fast die Stelle eines richtigen Advokaten. In Arkansas durfte der Angeklagte nämlich nach dem Gesetz wen er wollte, zum Beistand seines Verteidigers wählen. Tom hatte Onkel Silas überredet, ihm den Fall anzuvertrauen, und nun tat er nichts zur Sache, was dem Richter natürlich unangenehm war.

Schließlich fragte der Verteidiger Lem und Jim: »Warum habt ihr nicht gleich angezeigt, was ihr gesehen hattet?«

»Wir fürchteten, selbst in die Sache verwickelt zu werden,« lautete die Antwort. »Als wir aber hörten, daß nach dem Leichnam gesucht wurde, sind wir gleich zu Brace Dunlap gegangen und haben ihm alles erzählt.«

»Wann war das?«

»Samstag abend, den 9. September.«

Hier ließ sich der Richter vernehmen:

»Sheriff,« sagte er, »verhaften Sie diese beiden Zeugen als Hehler des Mordes.«

»Herr Richter,« rief der Ankläger in großer Erregung, »ich erhebe Einspruch gegen dieses außergewöhnliche – –«

»Setzen Sie sich,« erwiderte der Richter und legte sein Dolchmesser vor sich auf den Tisch. »Ich bitte, daß Sie dem Gerichtshof die schuldige Achtung erweisen.«

Der nächste Zeuge war Bill Withers.

Nach seiner Vereidigung sagte er aus: »Ich kam am Samstag, den 2. September gegen Sonnenuntergang mit meinem Bruder Hans am Feld des Gefangenen vorbei, da sahen wir einen Mann, der eine schwere Last auf dem Rücken trug. Wir konnten ihn nur undeutlich sehen, aber es schien, als schleppe er einen Menschen, dessen Glieder so schlaff herabhingen, daß wir meinten, er müsse wohl betrunken sein. Nach dem Gang des Mannes zu urteilen, war es Pastor Silas und wir dachten, er hätte vielleicht den Trunkenbold Sam Cooper, den er schon lange zu bessern versucht, im Straßengraben gefunden und schaffte ihn nun nach Hause.«

Den Leuten grauste, als sie sich vorstellten, wie der alte Onkel Silas den Ermordeten in seine Tabakpflanzung geschleppt hatte, wo der Hund hernach die Leiche aufwühlte. Viel Mitgefühl war aber nicht in den Gesichtern zu lesen, und einer sagte zu seinem Nachbar: »Schauderhaft, den Toten so herumzutragen und dann im Boden zu verscharren, wie das erste beste Tier – und so was kann ein Pastor tun!«

Auch diesen Zeugen mußte der Verteidiger allein vornehmen; Tom war wie blind und taub, er rührte sich nicht.

Nach Bill kam Hans Withers und wiederholte alles, was sein Bruder gesagt hatte.

Dann wurde Brace Dunlap aufgerufen. Der sah so kummervoll aus, als ob ihm das Weinen nahe wäre. Im Saal entstand eine große Bewegung; alle horchten auf, um ja kein Wort zu verlieren; die Weiber flüsterten: »Der arme Mensch!« und viele sah man sich die Augen trocknen.

Brace Dunlap leistete den Eid, dann sagte er:

»Ich war schon lange in Sorge um meinen armen Bruder, doch hoffte ich immer noch, die Sachen stünden nicht so schlimm wie er sie schilderte. Wie hätte ich auch denken sollen, daß es irgend jemand übers Herz bringen würde, einem so harmlosen Geschöpf ein Leid anzutun. Und daß gar der Pastor ihm nach dem Leben trachtete, konnte mir gar nicht in den Sinn kommen. Aber nie, nie werde ich mir vergeben, daß ich der Sache nicht gleich ein Ende gemacht habe; hätte ich das getan, so wäre mein armer unschuldiger Bruder heute noch am Leben, und nun liegt er dort drüben – grausam ermordet.« Die Rührung übermannte ihn; er mußte eine Weile warten, weil ihm die Stimme versagte. Von allen Seiten wurden teilnahmvolle Worte laut und die Weiber weinten. Dann entstand eine feierliche Stille; nur der arme alte Onkel Silas stöhnte aus tiefster Brust, so daß es jedermann hörte.

Brace fuhr fort: »Samstag, den 2. September kam er nicht zum Nachtessen heim. Als es spät wurde, schickte ich einen meiner Neger nach der Wohnung des Angeklagten; aber dort war mein Bruder nicht. Meine Unruhe wuchs; zwar legte ich mich zu Bette, aber an Schlaf war nicht zu denken. In der Nacht stand ich noch einmal auf, ging nach dem Hause des Angeklagten und irrte da lange umher in der Hoffnung, meinen armen Bruder zu treffen. Ach, ich wußte ja nicht, daß er schon aus aller Not in ein besseres Jenseits entrückt war.« Wieder versagte ihm die Stimme und man hörte die Weiber schluchzen. Bald nahm Brace einen neuen Anlauf: »Das Warten war vergebens. Ich ging heim und legte mich nieder. Ein paar Tage später gerieten die Nachbarn auch in Sorge und fingen an, von den Drohungen zu reden, die der Angeklagte ausgestoßen hatte. Ihre Ansicht, daß mein Bruder ermordet sei, teilte ich nicht; aber das Gerücht verbreitete sich, man fing an, nach der Leiche zu suchen. Ich war der Meinung, mein Bruder habe sich irgendwohin geflüchtet, um etwas Ruhe zu haben und er werde über kurz oder lang zurückkehren. Da kamen am Samstag, den 9. Lem Beebe und Jim Lane noch spät abends zu mir und erzählten mir alles – so erfuhr ich den gräßlichen Mord, der mir fast das Herz brach. Zugleich erinnerte ich mich an einen Umstand, auf den ich vorher kein großes Gewicht legte, weil ich gehört hatte, der Angeklagte sei ein Nachtwandler und tue im Schlaf allerlei, wovon er kein Bewußtsein habe. In jener schrecklichen Nacht, am Sonnabend nämlich, als ich voll Sorge und Kummer umherirrte, kam ich auch an die Tabakpflanzung des Angeklagten und hörte ein Geräusch, als ob der Boden aufgegraben würde. Ich schlich näher und sah durch die Hecke einen Mann, der Erde in ein Loch schaufelte, das schon fast zugefüllt war. Er stand mit dem Rücken nach mir, aber im Mondlicht erkannte ich den Angeklagten an seinem alten grünen Arbeitskittel mit dem weißen Flicken zwischen den Schultern, der aussieht, als hätte ihn jemand mit einem Schneeball geworfen. Er war gerade beschäftigt, den Mann, den er erschlagen hatte, im Boden zu verscharren.«

Weinend und schluchzend sank Brace auf seinen Stuhl nieder und durch den ganzen Saal ging ein Klagegestöhn. »Wie schauderhaft, wie gräßlich!« klang es von allen Seiten; die Unruhe nahm mit jeder Minute zu. Da auf einmal erhob sich der alte Onkel Silas; er sah so weiß aus, wie ein Tuch und rief:

»Es ist alles buchstäblich wahr – ich habe ihn mit kaltem Blute umgebracht!«

Die Leute waren erst starr vor Schrecken, dann entstand ein wilder Lärm. Jeder sprang von seinem Sitze auf und reckte den Hals, um besser sehen zu können. Der Richter schlug mit dem Hammer auf den Tisch und der Sheriff kreischte: »Ruhe und Ordnung im Gerichtssaal – Ruhe!«

Von alledem schien Tom Sawyer nicht das mindeste zu merken. Wahrhaftig, da saß er, starrte ins Leere und schaute auch nicht ein einzigesmal nach Onkel Silas hin.

Unterdessen stand der alte Mann noch immer hoch aufgerichtet, mit glühenden Blicken und an allen Gliedern bebend da. Er wehrte seine Frau und Tochter ab, die sich an ihn klammerten und flehten, er solle schweigen. Nein, er wollte das Verbrechen nicht mehr auf der Seele haben, er wollte die Last abwälzen, unter der er erliegen mußte, keine Stunde länger wollte er sie tragen. Und während alle Zuschauer ihn entsetzt anstarrten, während der Richter, die Geschworenen, die Anwälte nach Atem rangen, während Benny und Tante Sally schluchzten, daß es einen Stein erbarmen konnte, floß dem alten Mann sein grausiges Bekenntnis über die Lippen, wie ein Strom, der aus seinen Ufern bricht:

»Ich habe ihn umgebracht. Ich bin der Schuldige! Doch hatte ich noch nie im Leben daran gedacht, ihm Schaden oder Leid zuzufügen, bis zu dem Augenblick, als ich den Stock erhob. Daß ich ihm schon früher gedroht haben soll, ist nicht wahr. Ganz plötzlich ward es mir eiskalt ums Herz, alles Mitleid war verflogen, ich wollte ihn töten und schlug zu. In dem Moment kam mir alles zum Bewußtsein, was ich erlitten hatte, aller Schimpf, den mir der Mann und sein schurkischer Bruder dort angetan, die zusammen darauf ausgegangen waren, mich bei den Leuten in Verruf zu bringen, mir den guten Namen abzuschneiden und mich solange zu quälen, bis ich eine Tat beging, die mich und die Meinigen ins Verderben stürzte, während wir ihnen doch, weiß Gott, nie etwas zuleide getan hatten. Es war nichts, als gemeine Rache von ihnen. Und wofür? – Bloß weil meine arme unschuldige Tochter hier den reichen, frechen und feigen Nichtsnutz, den Brace Dunlap, nicht heiraten wollte, der jetzt solchen Schmerz um seinen Bruder heuchelt, dem er sein Lebtag nichts Gutes gegönnt hat. – In jenem Augenblick vergaß ich mein Seelenheil und dachte nur an meinen bittern Groll – ich schlug zu, um meinen Feind zu töten – verzeih mir’s Gott! – Sofort tat mir’s von Herzen leid, mich überfiel die Reue; doch dachte ich an die Meinigen und um ihretwillen wollte ich meine Missetat verbergen. Erst schleppte ich die Leiche ins Gebüsch und später in das Tabakfeld. Im nächtlichen Dunkel schlich ich mich dorthin und begrub den Erschlagenen – –«

Auf einmal schnellte Tom von seinem Sitz in die Höhe: »Jetzt hab‘ ich’s,« rief er triumphierend und streckte die Hand mit förmlich hoheitsvoller Gebärde nach dem alten Mann aus.

»Setz‘ dich, Onkel! Es ist zwar ein Mord verübt worden, aber du bist’s nicht gewesen, der ihn begangen hat.«

Im Nu wurde es totenstill im Saal. Der Alte sank verwirrt auf seinen Stuhl; Tante Sally und Benny starrten Tom mit offenem Munde an und auch die übrigen Anwesenden wußten kaum, wo ihnen der Kopf stand, vor maßlosem Staunen und unbeschreiblicher Überraschung.

»Darf ich reden, Herr Präsident?«

»Um Gottes willen ja – so sprich doch!« rief der Richter, der seinen Ohren nicht traute.

Tom stand und wartete noch ein paar Sekunden – um die Wirkung zu erhöhen, wie er es nennt – dann begann er mit größter Gelassenheit:

»Seit etwa zwei Wochen ist hier vorn am Gerichtshause eine Bekanntmachung angeschlagen, in der eine Belohnung von 2000 Dollars für Wiedererlangung von zwei großen Diamanten geboten wird, die in St. Louis gestohlen worden sind. Die Diamanten sind zwölftausend Dollars wert. Doch darauf komme ich später zurück. Jetzt will ich von dem Mord reden und sagen, wie es dazu kam, wer ihn begangen hat – und alle Einzelheiten.«

Nein, wie sie alle die Köpfe vorstreckten und horchten, damit ihnen kein Wort entginge! –

»Der Mann hier, der jetzt so um seinen toten Bruder jammert, für den er, solange er lebte, keinen Pfifferling gegeben hätte, wie ihr recht wohl wißt – dieser Brace Dunlap wollte das junge Mädchen dort heiraten, aber sie nahm ihn nicht. Da drohte er Onkel Silas, das sollte ihnen noch allen teuer zu stehen kommen. Onkel wußte, daß er gegen solchen Mann nichts auszurichten vermochte; das ängstigte ihn sehr und er tat alles Erdenkliche, um ihn zu besänftigen und wieder zu versöhnen. Er nahm sogar seinen nichtsnutzigen Bruder Jupiter als Arbeiter auf die Farm und sparte sich und den Seinigen den Lohn, den er ihm zahlte, am eigenen Leibe ab. Jupiter aber tat alles, was sein Bruder nur ersinnen konnte, um Onkel Silas zu beleidigen, zu ärgern und zu quälen, damit Onkel sich vom Zorn fortreißen ließe und so um seinen guten Ruf kam. Der Plan gelang. Alle wandten sich von Onkel ab und glaubten den ausgestreuten Verleumdungen. Das nahm sich der alte Mann so zu Herzen, daß er vor lauter Kummer und Trübsal oft gar nicht recht bei Sinnen war.

An jenem schrecklichen Sonnabend nun, kamen die zwei Zeugen Lem Beebe und Jim Lane an dem Acker vorüber, wo Onkel Silas und Jupiter bei der Arbeit waren – so viel von ihrer Aussage ist wahr, das übrige sind lauter Lügen. Sie haben weder Onkel Silas sagen hören, daß er Jupiter umbringen wollte, noch haben sie ihn den Schlag führen sehen. Den Leichnam haben sie auch nicht erblickt und ebenso wenig, daß Onkel etwas im Gebüsch verborgen hat. – Seht sie nur an, wie sie jetzt dasitzen und wünschen, sie hätten ihre Zungen besser im Zaum gehalten. Sie werden noch ganz andere Gesichter machen, wenn ich alles erst ins reine gebracht habe.

An dem nämlichen Sonnabend abend haben Bill und Hans Withers gesehen, wie ein Mann den andern auf der Schulter fortschleppte. Soweit haben sie die Wahrheit gesprochen, das andere ist erlogen. Zuerst glaubten sie, ein Neger hätte dem Onkel Silas Korn gestohlen. – Seht nur, wie verdutzt sie jetzt dreinschauen, weil sie erfahren, daß jemand sie das hat sagen hören. Später ist’s ihnen sonnenklar geworden, wer die Leiche fortgeschafft hat, und sie wissen recht gut, warum sie hier vor Gericht geschworen haben, sie hätten Onkel Silas am Gang erkannt. Er war’s aber doch nicht, und das wußten die meineidigen Zeugen ebenfalls.

Es ist möglich, daß ein Mann beim Mondenschein gesehen hat, wie der Leichnam in der Tabakpflanzung vergraben wurde – aber Onkel Silas hat nichts damit zu tun gehabt. Der lag zu selbiger Zeit daheim in seinem Bett.

Ehe ich weiter erzähle, möchte ich die Anwesenden noch daran erinnern, daß viele Menschen, wenn sie tief in Gedanken geraten oder innerlich erregt sind, die Gewohnheit haben, irgend etwas mit ihren Händen zu tun, ohne es zu wissen. Sie fassen sich ans Kinn oder an die Nase, drehen an einem Knopf oder ihrer Uhrkette, streichen sich übers Haar oder den Bart. Manche zeichnen sich auch mit dem Finger ein Bild oder einen Buchstaben ins Gesicht. Das ist meine Manier. Wenn mich etwas quält oder ärgert, oder wenn ich recht nachdenke, male ich mir immerfort ein großes V auf die Backe oder das Kinn und meistens merke ich selbst gar nichts davon.«

Komisch! Mir geht das ebenso. Nur mache ich ein O. Ich sah auch, wie die Leute im Saal einander anstießen und zunickten, was so viel heißen sollte, wie: Ja, so ist’s!

»Am selben Sonnabend – nein, es war am Abend vorher –« fuhr Tom fort, »lag ein Dampfboot an der Landungsbrücke vierzig Meilen flußaufwärts von hier; es stürmte und regnete, was nur vom Himmel wollte. An Bord war der Dieb, der die zwei großen Diamanten gestohlen hatte, von denen die Bekanntmachung hier am Gerichtshaus redet. Er schlich sich mit seinem Reisesack ans Land, ging in die dunkle Sturmnacht hinaus und hoffte, diese Stadt mit heiler Haut zu erreichen. Allein auf dem Dampfboot hielten sich auch zwei seiner Genossen verborgen, welche, wie er wußte, nur auf die Gelegenheit lauerten, ihn umzubringen, um die Diamanten zu bekommen. Die drei Spießgesellen hatten die Edelsteine nämlich miteinander gestohlen, jener erste Dieb aber hatte sie eingesteckt und sich damit aus dem Staube gemacht.

Na, er war kaum zehn Minuten fort, als seine Genossen Lunte rochen. Sie sprangen ans Land und jagten hinter ihm drein. Wie sie seine Spur gefunden haben, weiß ich nicht, aber den ganzen Sonnabend über blieben sie ihm auf den Fersen und gaben dabei acht, daß er sie nicht zu Gesicht bekam. Gegen Sonnenuntergang erreichte er das Ahornwäldchen bei Onkel Silas‘ Tabakpflanzung und schlich hinein, um die Verkleidung anzulegen, die er im Reisesack trug und in der er sich den Leuten zeigen wollte. – Das geschah ungefähr zur selben Zeit, als Onkel Silas den Jupiter Dunlap mit dem Knüttel schlug – denn, daß er ihn geschlagen hat, ist richtig. Kaum hatten aber die Verfolger ihren Diebsgenossen in das Wäldchen treten sehen, als sie aus dem Gebüsch sprangen und ihm nachliefen. Ohne Gnade und Barmherzigkeit fielen sie über ihn her und schlugen ihn tot, wie laut er auch heulte und schrie.

Zwei Männer, die auf der Straße gelaufen kamen, hatten das Angstgeschrei gehört; sie drangen in das Wäldchen ein, – das ohnehin ihr Ziel gewesen war – verjagten die Mörder und verfolgten sie in atemloser Hast. Aber nur eine Strecke weit; dann kehrten die zwei Männer verstohlen nach dem Ahornwäldchen zurück.

Was taten sie aber dort? – Das will ich euch sagen: Sie fanden den Ermordeten samt dem Reisesack, der alles enthielt, was zu der Verkleidung gehörte. Die legte nun einer der Männer an, nachdem er seine eigenen Kleider ausgezogen hatte.«

Hier machte Tom eine kleine Pause – natürlich wegen der Wirkung – dann sagte er mit Nachdruck: »Der Mann, welcher die Verkleidung des Erschlagenen anlegte, war – Jupiter Dunlap!«

»Gerechter Himmel!« Ein Schrei der Überraschung ging durch den Saal und in Onkel Silas‘ Gesicht spiegelte sich maßloses Erstaunen.

»Ja, es war Jupiter Dunlap, der folglich nicht tot sein konnte. Er zog dem Ermordeten die Stiefel aus und vertauschte sie gegen seine eigenen abgetragenen Schuhe; diese, sowie seine übrigen Sachen wurden der Leiche angelegt. Jupiter Dunlap blieb nun wo er war, der andere Mann aber schleppte den Leichnam im Dämmerlicht nach der Tabakpflanzung; um Mitternacht schlich er sich dann in Onkel Silas‘ Haus, nahm den grünen Arbeitskittel von dem Nagel im Gang zwischen dem Haus und der Küche, wo er immer hängt, zog ihn an, holte die große Schaufel und ging damit nach dem Feld, wo er den Toten begrub.«

Jetzt stand Tom wohl eine Minute schweigend da. Dann fuhr er fort: »Wer aber glaubt ihr, daß der Ermordete war? – Kein anderer, als Jack Dunlap, der längst verschollene Einbrecher!«

»Gerechter Himmel!«

»Und der Mann, der ihn begraben hat, war sein Bruder – Brace Dunlap.«

»Gerechter Himmel!«

»Der Fremde dort aber, der jetzt ein so blödsinniges Gesicht macht und sich seit Wochen gestellt hat, als ob er taub und stumm wäre, das ist – Jupiter Dunlap!«

Solches Gebrüll, solcher Wirrwarr wie jetzt entstand, ist mir all mein Lebtag nicht vorgekommen. Tom sprang auf Jupiter zu, er riß ihm die Brille samt dem falschen Bart herunter und siehe, da stand der Ermordete leibhaftig da

und war ganz und gar nicht tot. Tante Sally und Benny fielen Onkel Silas um den Hals und erstickten ihn fast mit ihren Küssen und Liebkosungen, so daß der alte Mann noch erstaunter und verwirrter dreinschaute, als je zuvor.

Nun aber fing die ganze Versammlung an zu schreien: »Tom Sawyer, Tom Sawyer! Er soll weiter reden! Stille! Stille! Tom Sawyer soll uns alles berichten!«

Na, das schmeichelte Tom nicht wenig. Ich weiß, ihm ist nichts lieber, als wenn er in der Öffentlichkeit auftreten und eine Heldenrolle spielen kann, wie er’s nennt. Als sich der Lärm wieder gelegt hatte, sagte er:

»Der Rest ist bald erzählt. Es war dem Brace Dunlap gelungen, Onkel Silas durch seine Quälereien so zur Verzweiflung zu bringen, daß er fast von Sinnen kam und seinem nichtsnutzigen Bruder den Schlag versetzte. Nun lief Jupiter nach dem Wald, um sich da zu verstecken, und der Plan war vermutlich, daß er bei Nacht außer Landes gehen sollte. Dann konnte Brace das Gerücht verbreiten, Onkel Silas habe seinen Bruder umgebracht und die Leiche irgendwo versteckt. Dadurch war Onkel zu Grunde gerichtet; er mußte den Ort verlassen, ja er kam vielleicht an den Galgen. Als die beiden aber den Toten im Wäldchen fanden – ohne zu wissen, daß es ihr Bruder war, denn die Mörder hatten ihn arg zugerichtet – da änderten sie den Plan. Sie verkleideten alle beide, begruben Jack und als die Leiche aufgefunden wurde, hatte sie Jupiters Kleider an. Jim Lane und die andern Zeugen ließen sich bestechen, ein paar Lügen zu beschwören, die in Brace Dunlaps Kram paßten. Seht nur, wie übel ihnen jetzt zu Mute ist – ich hab’s ja vorausgesagt.

Wir sind nämlich auf dem Dampfboot mit den Dieben flußabwärts gefahren, Huck Finn und ich. Da erzählte uns der Tote von den Diamanten und sagte, seine Genossen würden ihn umbringen, sobald sie könnten und wir versprachen ihm nach Kräften beizustehen. Eben wollten wir nach dem Ahornwäldchen, da hörten wir sein Todesgeschrei; als wir aber am frühen Morgen nach dem Gewitter wieder hinkamen, fanden wir keine Leiche und meinten, es wäre am Ende gar kein Mord begangen worden. Wir sahen Jupiter in derselben Verkleidung herumstolzieren, die Jack uns gezeigt hatte und die er anziehen wollte. Natürlich glaubten wir, es wäre Jack selbst, der sich taubstumm stellte, wie verabredet war.

Nun suchten wir, Huck und ich, nach der Leiche, als die andern es aufgaben; wir fanden sie auch und waren zuerst stolz darauf. Aber Onkel Silas jagte uns einen furchtbaren Schreck ein mit der Behauptung, er hätte Jupiter totgeschlagen.

Da der Leichnam durch uns ans Tageslicht gekommen war, fühlten wir uns verpflichtet, für Onkels Rettung zu sorgen; aber das war ein schweres Stück Arbeit, denn Onkel wollte sich nicht aus dem Gefängnis befreien lassen, wie damals unser alter Neger Jim.

Den ganzen Monat lang dachte ich über ein Mittel nach, Onkel Silas loszukriegen, doch mir fiel nichts ein. Als ich heute zur Gerichtsverhandlung ging, wußte ich weder Rat noch Hilfe, mir kam kein rettender Gedanke. Nicht lange aber, da beobachtete ich etwas, nur eine winzige Kleinigkeit, aber sie brachte mich zum Nachdenken. Während ich nun scheinbar im Sinnen verloren dasaß, war ich fortwährend auf der Lauer und richtig, gerade als Onkel Silas uns all den Unsinn auftischte, wie er Jupiter Dunlap umgebracht hatte, sah ich das Ding wieder. Da sprang ich auf und unterbrach die Verhandlung, weil ich wußte, daß Jupiter Dunlap dort leibhaftig vor mir saß. Ich erkannte ihn an etwas, das er zu tun pflegte, als ich letztes Jahr hier war und das er jetzt wieder tat.«

Tom wartete die Wirkung ein Weilchen ab, machte dann eine Bewegung, als ob er sich setzen wollte und sagte in gleichgültigem Ton: »Na, ich glaube, das ist alles!«

Ein Geschrei aus hundert Kehlen ging durch den Saal: »Was hat er getan? Was war es, das du gesehen hast? Bleib‘ stehen, du Teufelsjunge und sag‘ es uns. Denkst du, wir lassen uns so abspeisen, nachdem du uns den Mund wässerig gemacht hast!«

»O, es war gar nicht viel. Ich sah, wie er immer ängstlicher und aufgeregter wurde, während sich Onkel Silas um den Hals redete, wegen eines Mordes, der gar nicht begangen worden war – auf einmal fuhr er mit den Händen hin und her, hob seine Linke in die Höhe und zeichnete sich mit dem Finger ein Kreuz auf die Backe – da war ich meiner Sache sicher.«

Nun begann ein Beifallklatschen, ein Stampfen und Hochrufen, bis Tom Sawyer sich kaum zu lassen wußte, vor lauter Stolz und Glück. Der Richter blickte über den Tisch nach ihm hin und sagte:

»Mein Sohn, hast du denn die verschiedenen Einzelheiten dieser seltsamen Verschwörung und Tragödie, die du uns schilderst, alle selbst gesehen?«

»Nein, Herr Präsident, gesehen habe ich nichts davon!«

»Nichts gesehen? – Aber du hast uns ja die ganze Geschichte von Anfang bis zu Ende erzählt, als ob du Augenzeuge gewesen wärest. Wie ist das möglich?«

»Ich habe nur die Tatsachen zusammengestellt, und dies und jenes daraus gefolgert,« erwiderte Tom leichthin. »Es war ein kleines Stück gewöhnliche Detektiv-Arbeit, die jedermann ausführen könnte.«

»Ganz und gar nicht! Unter Millionen hätten das nicht zwei fertig gebracht. Du bist wirklich ein merkwürdiger Junge!«

»Tom Sawyer hoch! Hurra Tom Sawyer!« klang es wieder durch den Saal, und Tom hätte den Triumph nicht für eine ganze Silbermine hergegeben. Dann sagte der Richter:

»Bist du denn aber auch sicher, daß sich die Geschichte ganz so verhält, wie du sagst?«

»Jawohl, Herr Richter. Da sitzen ja die Zeugen und niemand weiß ein Wort dagegen zu sagen, weder Brace Dunlap noch sein Bruder. Auch die andern, die sich ihre Lügen haben bezahlen lassen, sind jetzt muckstill. Falls aber Onkel Silas Widerspruch erheben sollte, so würde ich ihm nicht glauben und wenn er es eidlich versicherte.«

Das kam den Zuhörern sehr komisch vor; sogar der Richter gab seine würdevolle Haltung auf und lachte. Tom strahlte ordentlich vor Freude, und als alle sich wieder gefaßt hatten, sagte er:

»Herr Präsident, hier im Saal ist ein Dieb.«

»Was, ein Dieb?«

»Ja. Er hat die Diamanten für zwölftausend Dollars bei sich.«

»Wo – wo ist er? – Wer ist es? – Zeige ihn uns!« schrien alle durcheinander.

»Nenne ihn mir, mein Sohn, der Sheriff soll ihn festnehmen. Wer ist es?« sagte der Richter.

»Jupiter Dunlap, der Totgeglaubte.«

Wieder entstand die grenzenloseste Aufregung; aber Jupiter, der vorher schon ganz verdutzt gewesen war, schien jetzt förmlich versteinert vor Überraschung. Endlich rief er in weinerlichem Ton:

»Herr Präsident, das ist wirklich erlogen. Ich bin ja schon schlecht genug ohne das. Alles andere habe ich getan und bereue es jetzt sehr. Brace hat mich dazu überredet und mir versprochen, er wollte mich über kurz oder lang zum reichen Manne machen. Aber die Diamanten habe ich nicht gestohlen. Gewiß und wahrhaftig, ich habe keine Diamanten, der Sheriff kann mich durchsuchen soviel er will.«

»Herr Präsident,« warf Tom ein, »es war vielleicht nicht richtig, daß ich ihn einen Dieb genannt habe. Er hat die Diamanten gestohlen, ohne es zu wissen. Sein Bruder Jack stahl sie den andern Dieben und Jupiter stahl sie seinem Bruder Jack, als er tot am Boden lag. Seit einem Monat läuft er mit den Zwölftausend-Dollar-Diamanten hier herum, als wenn er ein armer Mann wäre. Auch jetzt trägt er diesen ganzen Reichtum bei sich.«

»Durchsucht ihn, Sheriff,« sagte der Richter.

Der Sheriff durchsuchte ihn von Kopf bis zu Fuß: seinen Hut, die Socken, die Nähte seiner Kleider, die Stiefel, kurz, alles. Tom stand ruhig dabei und paßte auf den geeigneten Moment. Endlich gab es der Sheriff auf. Enttäuschung malte sich in allen Mienen und Jupiter sagte:

»Da seht ihr doch, daß ich recht hatte!«

»Diesmal hast du dich wohl geirrt, mein Sohn,« äußerte der Richter.

Tom nahm eine nachdenkliche Stellung an; er schien sich aus allen Kräften zu besinnen und kratzte sich verlegen den Kopf. Plötzlich machte er ein vergnügtes Gesicht.

»Jetzt hab‘ ich’s,« sagte er aufschauend. »Ich hatte es bloß vergessen.«

Tom sprach nicht die Wahrheit, das wußte ich; doch er fuhr ruhig fort:

»Will jemand so gut sein mir einen kleinen Schraubenzieher zu leihen? In dem Reisesack Eures Bruders, den Ihr Euch angeeignet habt, Jupiter, ist einer gewesen, aber den habt Ihr wohl nicht mitgenommen?«

»Nein, ich konnte ihn nicht brauchen und hab‘ ihn weggegeben.«

»Weil Ihr nicht wußtet, wozu er dienen sollte.«

Sobald Tom den Schraubenzieher bekam, forderte er Jupiter auf, der nach der Durchsuchung die Stiefel wieder angezogen hatte, einen Fuß auf den Stuhl zu stellen; dann kniete er nieder und schraubte das Plättchen vom Absatz ab. Als er den großen Diamanten zum Vorschein brachte und ihn im Sonnenschein funkeln ließ, waren die Leute ganz außer sich vor Verwunderung. Nun holte Tom auch den Diamanten aus dem andern Absatz und Jupiters Miene wurde immer trübseliger. Er mochte wohl denken, daß er hätte auf und davongehen und als ein reicher, gemachter Mann im Ausland leben können, wäre er klug genug gewesen, zu erraten, wozu der Schraubenzieher im Reisesack steckte. Jetzt erntete Tom Lob und Ruhm nach Herzenslust. Der Richter nahm die Diamanten an sich, stand auf, schob seine Brille in die Höhe, räusperte sich und sagte:

»Ich werde sie verwahren und dem Eigentümer Anzeige machen. Wenn er sie dann abholen läßt, wird es mir ein großes Vergnügen bereiten, dir, mein Sohn, die zweitausend Dollars Belohnung einzuhändigen. Du hast aber nicht nur dies Geld verdient, sondern auch den aufrichtigen Dank der ganzen Bürgerschaft. Durch dich ist eine unschuldige Familie vor Schmach und Verderben gerettet worden und ein ehrenwerter Mann vor dem Verbrechertode. Obendrein ist es dir gelungen, die Schändlichkeit eines grausamen, verruchten Schurken und seiner elenden Helfershelfer ans Licht zu ziehen und der Gerechtigkeit einen großen Dienst zu erweisen.«

Wäre nur noch ein Musikchor zur Stelle gewesen, um einen Tusch zu blasen, so hätte nach meiner Meinung die Sache gar keinen schöneren Abschluß finden können; darin stimmte Tom Sawyer ganz mit mir überein.

Der Sheriff nahm nun Brace Dunlap und seine Spießgesellen in Haft; einige Wochen später ward ihnen der Prozeß gemacht und sie erhielten ihre gerechte Strafe. Onkel Silas und die Seinigen aber standen von jetzt ab wieder in hohem Ansehen bei der Gemeinde; seine kleine alte Kirche war immer gedrängt voll und man erwies ihnen so viel Liebes und Gutes, als man nur konnte. Mit der Zeit kam der alte Mann auch wieder zu Verstande und seine Predigten waren nicht besser und nicht schlechter, als sie früher waren. So war denn die ganze Familie seelenvergnügt und Tom Sawyer wurde aus lauter Dankbarkeit gepflegt und verhätschelt, wie noch nie; ich aber auch, obgleich ich nichts getan hatte. Als dann die zweitausend Dollars kamen, gab mir Tom die Hälfte ab und sagte keinem ein Wort davon, worüber ich mich gar nicht verwunderte, denn ich kannte ihn ja.

  1. Die Leser von Mark Twains Knabengeschichten: »Tom Sawyers Abenteuer und Streiche« und »Huckleberry Finns Abenteuer und Fahrten« werden die hier folgende Erzählung: »Tom Sawyer als Detektiv« mit Freuden begrüßen, in der die beiden Helden Tom Sawyer und Huck Finn wiederkehren.