Mein Reisegefährte, der Reformator

Es war im Frühjahr 1893; ich reiste nach Chicago, um die Weltausstellung zu sehen, sah sie zwar nicht, aber mein Ausflug war doch nicht ganz fruchtlos – ich fand Ersatz für die Ausstellung. In New York machte ich die Bekanntschaft eines Majors von der Armee, der mir sagte, er wolle ebenfalls nach Chicago gehen; wir verabredeten uns, die Reise zusammen zu machen. Ich hatte vorher noch etwas in Boston zu tun, aber das machte ihm nichts; er sagte, er wolle den Umweg machen und mitkommen. Er war ein schöner Mann, von einem Körperbau wie ein Gladiator, indes seine Manieren waren ruhig, seine Sprache war sanft und hatte etwas Überzeugendes an sich. Er war ein unterhaltender Gesellschafter, aber ungemein ruhig; dazu ohne jeglichen Sinn für Humor. Er nahm Interesse an allem, was um ihn herum vorging, allein sein Gleichmut war unerschütterlich; nichts brachte ihn aus der Ruhe, nichts regte ihn auf.

Bevor indessen der Tag zu Ende war, bemerkte ich, daß er tief im Innern trotz all seiner Ruhe eine Leidenschaft hatte – eine Leidenschaft für die Abstellung kleiner Mißstände im öffentlichen Leben. Er schwärmte für Bürgerpflicht – das war sein Steckenpferd. Er war der Meinung, jeder Bürger der Republik müsse sich selber als nichtamtlichen und unbesoldeten Polizisten betrachten und über den Gesetzen und ihrer Beobachtung treue Wacht halten. Seiner Ansicht nach waren die Rechte der Allgemeinheit auf wirksame Weise nur zu wahren und zu schützen, wenn jeder Bürger für sein Teil dazu half, daß jeder Verstoß, der zu seiner persönlichen Kenntnis kam, verhindert oder bestraft wurde.

Der Gedanke war gut; mir wollte nur scheinen, als ob man dabei fortwährend Unannehmlichkeiten haben müsse und nichts andres mehr zu tun habe, als pflichtwidrig handelnde kleine Beamte absetzen zu lassen, um vielleicht zum Dank dafür bloß ausgelacht zu werden. Aber er sagte nein, ich wäre auf dem Holzweg; es läge keine Veranlassung vor, irgend jemand absetzen zu lassen, ja es dürfe überhaupt niemand entlassen werden; das wäre gänzlich verfehlt – nein, man müßte den Mann reformieren und für die von ihm bekleidete Stelle brauchbar machen.

»Da muß man also den Sünder erst zur Anzeige bringen und dann den Vorgesetzten bitten, ihn nicht zu entlassen, sondern ihm nur einen tüchtigen Rüffel zu geben und ihn zu behalten?«

»Nein, so ist es nicht gemeint; Sie dürfen ihn überhaupt nicht anzeigen, denn damit bringen Sie sein täglich Brot in Gefahr. Sie könnten so tun, als ob Sie ihn anzeigen wollten – wenn alles andre nichts hilft. Aber nur im äußersten Notfall. Das ist schon eine Art von Gewalt, und Gewalt taugt nicht. Diplomatie – das hilft! Wenn nun jemand Takt besitzt – wenn er Diplomatie anwendet …«

Seit zwei Minuten waren wir vor einem Telegraphenschalter gestanden, und die ganze Zeit über hatte der Major sich bemüht, die Aufmerksamkeit eines der jungen Beamten zu erregen; aber von denen hatte keiner Zeit, weil sie alle Maulaffen feil hielten. Schließlich machte sich der Major bemerklich und bat einen von ihnen, ihm sein Telegramm abzunehmen. Er bekam zur Antwort:

»Sie können wohl ’ne Minute warten, was?«

Und der junge Mann sah wieder aus dem Fenster.

Der Major sagte ja, er hätte es nicht so eilig. Dann schrieb er ein zweites Telegramm:

»Präsident der Western Union Telegraph Company. Bitte, speisen Sie heute abend bei mir. Kann Ihnen etwas davon erzählen, wie in einem Ihrer Büros der Dienst gehandhabt wird.«

Der junge Mann, der eben vorher so schnippisch geantwortet hatte, streckte die Hand aus und nahm das Telegramm; als er es las, wurde er ganz blaß und begann sich zu entschuldigen. Er sagte, er würde seine Stellung verlieren, wenn dieses furchtbare Telegramm abginge, und vielleicht bekäme er keine andre wieder. Wenn es ihm nur noch diesmal so hinginge, so würde er in Zukunft keinen Anlaß zur Klage mehr geben. Daraufhin wurde der Friede geschlossen.

Als wir weitergingen, sagte der Major:

»Nun, sehen Sie, das war Diplomatie – und Sie haben bemerkt, wie sie wirkte. Es hätte gar keinen Zweck gehabt, Lärm zu machen, wie die Leute fortwährend tun – der junge Mensch kann einem mit gleicher Münze heimzahlen, und man zieht fast immer den kürzeren dabei und ärgert sich bloß über sich selber. Aber, wie Sie gesehen haben, gegen Diplomatie kann er nichts machen. Freundliche Worte und Diplomatie – das sind die Werkzeuge, mit denen man arbeiten muß.«

»Ja, ich verstehe; aber nicht jeder ist in so günstiger Lage, wie Sie in diesem Fall. Es steht eben nicht jedermann auf so vertrautem Fuß mit dem Präsidenten der Western Union.«

»Ich kenne den Präsidenten gar nicht – ich benutzte ihn nur zu diplomatischen Zwecken. Es geschieht zu seinem und zum allgemeinen Besten. Also nichts Böses dabei.«

Ich fragte zögernd und mit bedenklichem Gesicht: »Ist es aber überhaupt wohl jemals recht oder anständig, zu lügen?«

Die gelinde Selbstüberhebung, die in der Frage lag, beachtete er nicht, sondern antwortete mit unerschütterlich ernster Einfachheit:

»Ja, zuweilen. Wenn man lügt, um jemand Schaden zu tun oder um sich selber einen Vorteil zu verschaffen, so ist das nicht zu rechtfertigen. Wenn man dagegen lügt, um einem Nebenmenschen beizustehen oder um des allgemeinen Besten willen – oh, das ist ganz was andres! Das weiß ja jedes Kind. Aber ganz abgesehen von den Methoden – Sie sehen das Ergebnis. Der junge Mensch wird jetzt ein brauchbarer und höflicher Beamter werden. Er hatte ein gutes Gesicht. Es lohnte sich, ihn zu retten, – um seiner Mutter, wenn nicht um seiner selbst willen. Natürlich hat er eine Mutter – auch Schwestern. Hol‘ der Henker die Leute, die das fortwährend vergessen. Wissen Sie, ich habe nie in meinem Leben ein Duell gehabt – nicht ein einzigesmal –, obwohl ich so gut wie andre Leute Herausforderungen erhielt. Ich sah immer meines Gegners unschuldige Frau oder Mutter oder Kinderchen zwischen ihm und mir stehen. Sie hatten ja nichts getan – ich konnte doch nicht ihre Herzen brechen.«

Er verbesserte im Lauf des Tages eine hübsche Menge Mißstände, und stets ohne Reibung, stets mit einer feinem und zartfühlenden ›Diplomatie‹, die keinen Stachel zurückließ. Seine Leistungen bereiteten ihm so viel Glückseligkeit und Zufriedenheit, daß ich ihn um seinen Beruf beneidete und mich vielleicht auch darin versucht haben würde, wenn ich die notwendigen Abweichungen von der Wahrheit mit ebensolcher Zuversicht aus meinem Munde hervorbringen könnte, wie es mir mittels einer Feder und hinter der Deckung einer Druckerpresse nach einiger Übung wohl möglich wäre.

Als wir am späten Abend mit der Straßenbahn wieder in die Stadt hineinfuhren, kamen drei Radaubrüder in den Wagen und begannen nach rechts und links mit unflätigen Späßen und Flüchen um sich zu werfen. Die Passagiere, zum Teil Frauen und Kinder, hatten Angst, und kein Mensch wagte, den Knoten entgegenzutreten oder ein Wort zu erwidern; der Schaffner versuchte es mit gütlichem Zureden, aber die Rauhbeine gaben ihm einfach Schimpfworte zurück und lachten ihn aus. Sehr bald sah ich dem Major an, daß er hier einen Fall seiner Spezialität vor sich hatte; augenscheinlich musterte er in Gedanken seinen Vorrat von diplomatischen Mitteln. Ich sah mit Bestimmtheit voraus, daß ein derartiger Versuch ihm nur Spott und Hohn, vielleicht sogar noch Schlimmeres einbringen würde; aber bevor ich ihm diese Bemerkung zuflüstern konnte, sagte er bereits in gleichmütigem und leidenschaftslosem Ton:

»Schaffner, Sie müssen die Schweine ’nausschmeißen. Ich will Ihnen dabei helfen.«

Das hatte ich nicht erwartet. Schnell wie der Blitz fuhren die drei Knoten auf ihn los, aber kein einziger kam an ihn heran. Er teilte drei Faustschläge aus, wie man sie außerhalb eines Preisboxerringes zu sehen nicht erwarten konnte, und die drei Kerle blieben liegen, wo sie hingefallen waren. Der Major schleifte sie hinaus und warf sie von der Plattform des einen Moment haltenden Wagens hinunter; hierauf fuhren wir weiter.

Ich war erstaunt; erstaunt darüber, daß ein Lamm so vorgehen konnte; erstaunt über die von ihm entfaltete Kraft und über das klare und allgemeinverständliche Ergebnis; erstaunt über die gewandte und geschäftsmäßige Art, wie er das Ganze gemacht hatte. Die Situation hatte ihre humoristische Seite, insofern ich den ganzen Tag über von diesem schlagfertigen Herrn fortwährend Vorträge über sanfte Überredung und freundliche Diplomatie angehört hatte. Ich hätte ihn gern darauf hingewiesen und einige Sarkasmen darüber angebracht; aber als ich ihn ansah, merkte ich, daß das keinen Zweck haben würde. Auf seinem ruhigen und zufriedenen Gesicht lag keine Ahnung von Humor; er würde mich nicht verstanden haben. Als wir auf einer der nächsten Haltestellen ausgestiegen waren, sagte ich zu ihm:

»Das war ein tüchtiger diplomatischer Streich, oder vielmehr es waren drei tüchtige diplomatische Streiche.«

»Das? Das war keine Diplomatie. Sie sind völlig auf dem Holzweg. Diplomatie ist ganz was andres. Damit ist bei der Sorte nichts auszurichten; sie würden’s nicht verstehen. Nein, das war keine Diplomatie, es war Gewalt.«

»Da Sie das Wort nennen, so – ja, ich glaube, Sie können vielleicht recht haben.«

»Vielleicht? Natürlich habe ich recht. Es war eben Gewalt!«

»Ich glaube selber, es hatte den äußeren Anschein. Versuchen Sie oft, Leute auf diese Art zu bessern?«

»O nein, das kommt beinahe nie vor. Nicht öfter, als jedes halbe Jahr einmal im Durchschnitt.«

»Die Leute werden doch mit dem Leben davonkommen?«

»Mit dem Leben davonkommen? Na, natürlich! Sie sind ganz außer Gefahr. Ich weiß, wie und wohin ich zu schlagen habe. Sie haben wohl bemerkt, daß ich nicht unter die Kinnlade schlug. Das würde sie getötet haben.«

Ich glaubte das. Ich bemerkte – und nach meiner Meinung war es ein ganz guter Witz –, er sei den ganzen Tag über ein Lamm gewesen, habe sich aber jetzt auf einmal zum Bock entwickelt, zum Sturmbock; aber er sagte mit freundlicher Offenheit und Unbefangenheit: nein, ein Sturmbock sei ganz was andres und jetzt nicht mehr im Gebrauch. Das war, um aus der Haut zu fahren, und ich wäre beinahe mit der Antwort herausgeplatzt, er habe von Witz nicht mehr Ahnung als ein Trampeltier. Ich hatte das Wort tatsächlich schon auf der Zunge, aber ich sagte es doch nicht, denn mir fiel ein, daß die Sache keine Eile habe, und ich es ebensogut ein andermal telephonisch abmachen könne.

Am nächsten Nachmittag fuhren wir nach Boston. Die Rauchabteilung im Salonwagen war voll, und wir gingen daher in das gewöhnliche Rauchcoupé. Drüben auf der andern Seite des Wagenganges, auf dem vordersten Sitz, saß ein bescheiden aussehender alter Mann – dem Anschein nach ein Landmann – mit bleichem, kränklichem Gesicht und hielt mit dem Fuß die Tür offen, um frische Luft zu bekommen. Auf einmal kam polternd ein großer Bremser herein; bei der Tür blieb er stehen, warf dem Landmann einen ganz wütenden Blick zu und schlug mit solcher Kraft die Tür zu, daß der alte Mann beinahe seine Stiefelsohle eingebüßt hätte. Dann machte er sich an seine Verrichtungen. Mehrere von den Passagieren lachten, und der alte Herr sah ganz beschämt und traurig drein.

Ein Weilchen darauf kam der Schaffner durch, und der Major hielt ihn an und stellte in seiner gewöhnlichen höflichen Weise die Frage:

»Schaffner, wo beschwert man sich über unangemessenes Betragen eines Bremsers? Bei Ihnen?«

»Sie können ihn in New Haven anzeigen, wenn Sie das wollen. Was hat er getan?«

Der Major erzählte die Geschichte. Sie schien den Schaffner zu amüsieren. Er sagte mit einer ganz kleinen Beimischung von Sarkasmus zu seinen köstlichen Worten:

»Wenn ich Sie recht verstehe, so sagte der Bremser nichts?«

»Nein, das tat er nicht.«

»Aber er sah den Herrn wütend an, sagten Sie?«

»Ja.«

»Und er warf in unhöflicher Weise die Tür zu?«

»Ja.«

»Und das ist alles, nicht wahr?«

»Ja, das ist alles.«

Der Schaffner lächelte freundlich und sagte:

»Na, wenn Sie ihn anzeigen wollen, meinetwegen; aber ich sehe nicht recht, wohin das führen könnte. Wenn ich recht begriffen habe, so wollen Sie vorbringen, der Bremser habe den alten Herrn hier beleidigt. Man wird Sie fragen, was er gesagt habe. Sie werden antworten, gesagt habe er überhaupt nichts. Dann wird man jedenfalls fragen, wie Sie von einer Beleidigung sprechen können, wenn der Mann, wie Sie selber zugeben, kein Wort gesagt hat.«

Ein Beifallsgemurmel belohnte den Schaffner für seine knappen und bündigen Schlußfolgerungen. Das machte ihm Vergnügen – man konnte es seinem Gesicht ansehen.

Aber der Major war unerschüttert. Er sagte:

»Ja, da haben Sie einen schreienden Übelstand im ganzen Beschwerdewesen berührt. Die Eisenbahnbehörden – wie übrigens auch das Publikum und allem Anschein nach Sie selber – wissen gar nicht, daß es auch Beleidigungen gibt, die nicht in Worten bestehen. Darum wendet sich niemand an die höchste Stelle und beschwert sich wegen Beleidigungen in Manieren, Gebärden, Blicken und so weiter, und trotzdem berühren solche zuweilen empfindlicher als Worte. Sie tun bitterlich weh, weil sie unfaßbar sind und weil der Beleidiger, wenn er von seinen Vorgesetzten zur Rede gestellt wird, immer sagen kann, es sei ihm nicht im Traum eingefallen, irgend jemand beleidigen zu wollen. Mir scheint, die Behörden sollten das Publikum dringend ersuchen, auch Beleidigungen und Unhöflichkeiten, die nicht in Worten ausgedrückt waren, zur Anzeige zu bringen.«

Der Schaffner lachte und sagte:

»Na, das hieße denn doch die Fürsorge fürs Publikum recht weit treiben!«

»Aber nicht zu weit, glaube ich. Ich will diesen Fall in New Haven zur Sprache bringen, und ich habe so eine Ahnung, daß man mir dankbar dafür sein wird.«

Des Kondukteurs Gesicht verlor etwas von seinem freundlichen Ausdruck, oder vielmehr es wurde vollkommen kühl und ernst, als der Mann wegging. Ich sagte:

»Sie wollen doch nicht wirklich wegen so einer Lappalie Lärm schlagen?«

»Es ist keine Lappalie. So etwas sollte stets angezeigt werden. Es ist eine öffentliche Angelegenheit, und kein Bürger hat das Recht, darüber hinwegzusehen. Aber ich werde mich über diesen Fall gar nicht zu beschweren brauchen.«

»Wieso?«

»Es wird nicht nötig sein. Diplomatie wird alles in Ordnung bringen. Sie werden schon sehen.«

Nach einiger Zeit kam der Schaffner wieder durch den Wagen; als er beim Major war, beugte er sich zu ihm herüber und sagte:

»’s ist alles in Ordnung. Sie brauchen den Mann nicht anzuzeigen. Er ist mir verantwortlich, und wenn er’s noch einmal tut, will ich ihm einen Rüffel geben.«

Der Major antwortete herzlich:

»Nun, so gefällt’s mir. Glauben Sie nicht, ich hätte aus Rachsucht so gesprochen, ich tat’s aus Pflichtgefühl, weiter nichts. Mein Schwager ist einer von den Direktoren der Bahn, und wenn er erfährt, daß Sie den Bremser das nächstemal, wenn er einen harmlosen alten Mann gröblich beleidigt, ganz gehörig vornehmen wollen, so wird ihn das freuen, darauf können Sie sich verlassen.«

Der Schaffner sah nicht so heiter drein, wie man vielleicht hätte erwarten können; er machte im Gegenteil den Eindruck, als ob ihm recht unbehaglich zu Mute wäre. Er dachte eine Weile nach, dann sagte er:

»Ich meine, irgend ‚was sollte gleich jetzt auf der Stelle mit ihm geschehen. Ich will ihn entlassen.«

»Ihn entlassen? Was sollte das für einen Zweck haben? Glauben Sie nicht, es wäre vernünftiger, ihm bessere Manieren beizubringen und ihn zu behalten?«

»Hm, da liegt was drin … Was würden Sie vorschlagen?«

»Er beleidigte den alten Herrn in Gegenwart all dieser Herrschaften. Wie wär’s, wenn Sie ihn hereinkommen ließen, daß er in ihrer Gegenwart Abbitte tut?«

»Ich werde ihn sofort schicken. Und ich möchte noch eins bemerken: Wenn alle Leute es so machten wie Sie und solche Sachen sofort bei mir meldeten, anstatt ihren Ärger bei sich zu behalten und nachher herumzulaufen und auf die Eisenbahnen zu schimpfen, so sollten Sie mal sehen, wie schnell sich alles ändern würde. Ich bin Ihnen sehr verbunden.«

Der Bremser kam und leistete Abbitte. Als er wieder hinaus war, sagte der Major:

»Sehen Sie wohl, wie einfach und leicht das war? Der gewöhnliche Bürger würde nichts ausgerichtet haben – der Schwager eines Direktors bringt alles fertig, was er nur will.«

»Aber sind Sie wirklich der Schwager von einem der Direktoren?«

»Immer. Immer, wenn das öffentliche Interesse es erfordert. Ich habe einen Schwager in allen Direktionen – überall. Das erspart mir endlose Verdrießlichkeiten.«

»Es ist eine recht ausgebreitete Verwandtschaft.«

»Ja; ich habe ihrer mehr als dreihundert.«

»Wird die Verwandtschaft niemals von einem Schaffner angezweifelt?«

»Es ist mir noch niemals vorgekommen; auf mein Ehrenwort: niemals!«

»Warum ließen Sie ihn denn nicht, wie er’s wollte, den Bremser fortjagen? Sie wissen, daß der Mensch es verdiente?«

Der Major antwortete – und in seinem Tone lag wirklich ein an ihm ganz ungewohnter Anflug von Ungeduld:

»Wenn Sie bloß mal einen Augenblick nachdenken wollten, so würden Sie eine solche Frage nicht stellen. Ist ein Bremser ein Hund, und kann man ihn nicht anders erziehen wie einen Hund? Er ist ein Mensch und hat wie ein Mensch um seinen Lebensunterhalt zu ringen. Und er hat stets eine Schwester oder eine Mutter oder Weib und Kinder zu erhalten. Immer – Ausnahmen gibt es nicht. Wenn Sie ihm seinen Lebensunterhalt nehmen, so nehmen Sie auch den ihrigen weg – und was haben sie Ihnen getan? Nichts. Und was hat es für Zweck, einen unhöflichen Bremser fortzujagen und einen andern anzustellen, der gerade so ist wie er? Es wäre eine Unklugheit. Sehen Sie denn nicht ein, daß es das einzig Vernünftige ist, den Bremser zu bessern und ihn zu behalten? Das ist doch klar.«

Während der ferneren Fahrt hatten wir bloß noch ein Erlebnis. Zwischen Hartfort und Springfield kam mit dem üblichen Gebrüll der Buchhandlungsjunge durch den Wagen; er hatte einen ganzen Arm voll Bücher und Zeitungen und ließ ein dickes Heft einem schlafenden Herrn in den Schoß fallen, so daß er ganz erschrocken emporfuhr. Er war sehr ärgerlich, und er sowie zwei Freunde ergingen sich in sehr hitzigen Reden über den Frevel. Sie ließen den Salonwagenschaffner kommen, trugen ihm den Fall vor und verlangten, der Junge müsse durchaus fortgejagt werden. Die drei Beschwerdeführer waren reiche Holyoker Kaufleute, und der Schaffner hatte offenbar ziemliche Angst vor ihnen. Er suchte sie zu beschwichtigen und setzte ihnen auseinander, der Junge stehe nicht unter seiner Machtbefugnis, sondern sei Angestellter der Eisenbahnbuchhandlung. Aber all sein Reden nutzte ihm nichts.

Hierauf erbot sich der Major freiwillig, für den Beschuldigten zu zeugen. Er sagte:

»Ich habe alles mitangesehen. Sie, meine Herren, haben nicht übertreiben wollen, haben es aber doch getan. Der Junge hat nichts weiter getan, als was die Bahnzugjungen alle tun. Wenn Sie wünschen, daß er anständigere Manieren annimmt und sich bessert, so bin ich mit Ihnen einverstanden und bereit, Ihnen bei diesen Bemühungen zu helfen; aber es ist nicht recht, ihn einfach wegzujagen, ohne ihm eine Möglichkeit der Besserung zu geben.«

Aber sie waren ärgerlich und wollten von einem Vergleich nichts wissen. Sie wären gut bekannt mit dem Präsidenten der Boston- und Albany-Gesellschaft, sagten sie, und wollten den nächsten Tag alles andere liegen lassen, um nach Boston zu gehen und dem Jungen zu zeigen, wer sie wären.

Der Major sagte, da wollte er auch dabei sein, und er würde alles tun, was in seinen Kräften stände, um den Jungen zu retten. Einer von den Herren sah ihn von oben bis unten an und sagte:

»Da kommt es also offenbar darauf hinaus, wer den größten Einfluß beim Präsidenten der Gesellschaft hat. Kennen Sie Herrn Bliß persönlich?«

Der Major sagte in aller Ruhe:

»Ja; er ist mein Oheim.«

Die Wirkung war zufriedenstellend. Ein paar Minuten lang herrschte ein peinliches Schweigen. Dann fingen sie an einzulenken und halbe Zugeständnisse zu machen, daß sie wohl etwas zu hastig und überempfindlich gewesen seien. Und bald war alles wieder friedlich und gemütlich, und es wurde beschlossen, die Sache fallen zu lassen und dem Jungen sein Brot (mit Butter) zu lassen.

Der Präsident der Eisenbahngesellschaft war natürlich nicht des Majors Oheim – nur für diesen Tag und diesen Zug adoptiert!

Auf der Rückreise erlebten wir gar nichts: wahrscheinlich, weil wir mit einem Nachtzug fuhren und den ganzen Weg über schliefen.

Am Samstagabend fuhren wir mit der Pennsylvaniabahn von New York ab. Nach dem Frühstück am andern Morgen gingen wir in den Salonwagen, fanden es aber dort öde und ungemütlich. Es waren nur ein paar Leute drin und nichts los. Hierauf gingen wir in den kleinen Rauchabteil des Salonwagens und fanden dort drei Herren. Zwei von ihnen schimpften über eine Vorschrift der Bahnverwaltung: daß nämlich Sonntags in den Zügen nicht Karten gespielt werden dürfte. Sie hatten ein unschuldiges Spielchen gemacht, und es war ihnen verboten worden, weiter zu spielen. Der Fall interessierte unsern Major. Er sagte zu dem dritten Herrn:

»Hatten Sie etwas gegen das Spielen einzuwenden?«

»Durchaus nicht. Ich bin Professor an der Yale-Universität und ein religiöser Mann, aber das geht mir zu weit.«

Hierauf sagte der Major zu den beiden andern:

»Sie können ganz nach freiem Belieben Ihr Spiel wieder aufnehmen, meine Herren; niemand hier hat etwas dagegen einzuwenden.«

Einer von ihnen wollte es nicht riskieren; aber der andere meinte, er wolle gern wieder anfangen, wenn der Major mit ihm spiele. Sie legten also einen Überzieher über ihre Knie, und das Spiel nahm seinen Fortgang. Ziemlich bald nachher kam der Salonwagenschaffner herein und sagte in scharfem Tone:

»Hoho, meine Herren, das geht nicht! Stecken Sie die Karten ein – es ist nicht erlaubt.«

Der Major war gerade beim Mischen. Er mischte ruhig weiter und sagte:

»Auf wessen Befehl ist es verboten?«

»Das ist mein Befehl. Ich verbiete es.«

Der Major fing an zu geben und fragte:

»Ist die Idee von Ihnen?«

»Was für ’ne Idee?«

»Die Idee, das Kartenspielen an Sonntagen zu verbieten.«

»Nein, natürlich nicht.«

»Von wem dann?«

»Von der Gesellschaft.«

»Dann geht ja eigentlich der Befehl nicht von Ihnen, sondern von der Gesellschaft aus. Stimmt das?«

»Ja. Aber Sie hören ja nicht auf zu spielen; ich muß Sie ersuchen, daß Sie augenblicklich aufhören.«

»Übereilung ist zu nichts gut und tut oft Schaden. Wer ermächtigte die Gesellschaft, einen solchen Befehl zu erlassen?«

»Mein werter Herr, das geht mich gar nichts an, und …«

»Aber Sie vergessen, daß Sie nicht der einzige sind, der hier in Betracht kommt. Vielleicht geht es mich sehr nahe an. Ja, es ist in der Tat für mich eine Sache von sehr großer Bedeutung. Ich kann eine gesetzmäßige Vorschrift meines Landes nicht verletzen, ohne mich selber zu entehren; ich kann keinen Menschen und keiner Gesellschaft erlauben, meine Freiheit mit ungesetzlichen Vorschriften einzuschränken – was Eisenbahnverwaltungen fortwährend zu tun versuchen – ohne meine Bürgerwürde zu entehren. Ich komme daher auf meine Frage zurück: auf welche Autorität hin hat die Verwaltung diesen Befehl erlassen?«

»Das weiß ich nicht. Das ist ihre Sache!«

»Meine auch. Ich zweifle, ob die Gesellschaft überhaupt ein Recht hat, eine derartige Vorschrift zu erlassen. Die Bahn führt durch verschiedene Staaten. Wissen Sie, in welchem Staat wir augenblicklich sind, und wie die gesetzlichen Vorschriften dieses Staates in Bezug auf das Kartenspielen am Sonntag lauten?«

»Diese gesetzlichen Vorschriften gehen mich nichts an, wohl aber die Befehle meiner Gesellschaft. Es ist meine Pflicht, dafür zu sorgen, daß dies Spielen aufhört, meine Herren, und es muß aufhören!«

»Kann sein; aber trotzdem brauchen wir uns nicht zu übereilen. In Gasthäusern schlagen sie gewisse Vorschriften in den Zimmern an, aber stets führen sie dabei Paragraphen aus den Staatsgesetzen an. Hier sehe ich nichts derart angeschlagen. Bitte, weisen Sie Ihre Berechtigung nach und lassen Sie uns zum Schluß kommen, denn Sie sehen selber, daß Sie das Spiel aufhalten.«

»So etwas habe ich nicht, aber ich habe meine Befehle, und das genügt. Diesen Befehlen muß gehorcht werden.«

»Wir wollen nicht zu hastig in unsern Folgerungen sein. Es wird besser sein, wenn wir die Sache ohne Hitze und ohne Hast untersuchen und uns erst mal ansehen, wie es steht, bevor einer von uns einen Mißgriff macht – denn wenn die Freiheiten eines Bürgers der Vereinigten Staaten beschnitten werden, so ist das ein viel ernsteres Ding, als Sie und die Bahnverwaltungen zu ahnen scheinen, und ich für meine Person lasse es mir nicht gefallen, wenn der Betreffende mir nicht die Berechtigung seines Vorgehens nachweist. Nu …«

»Mein werter Herr, wollen Sie Ihre Karten hinlegen?«

»Alles zu seiner Zeit – vielleicht. Es kommt darauf an. Sie sagen, diesem Befehl muß gehorcht werden. Muß. Das ist ein starkes Wort. Sie sehen selber, wie stark es ist. Eine vernünftige Verwaltung wird Sie – natürlich! – nicht mit einem so drastischen Befehl bewaffnen, ohne eine Buße auf jede Verletzung der Vorschrift zu legen. Sonst könnte es leicht ein toter Buchstabe und ein lächerlicher Befehl bleiben. Wieviel beträgt die Buße für Übertretung dieses Gesetzes?«

»Buße? Davon habe ich niemals etwas gehört.«

»Unfraglich müssen Sie sich irren. Ihre Gesellschaft befiehlt Ihnen, hier hereinzukommen und in schroffer Weise eine unschuldige Unterhaltung zu verbieten, und gibt Ihnen kein Mittel an die Hand, um dem Befehl Geltung zu verschaffen? Sehen Sie nicht ein, daß das Unsinn ist? Was tun Sie denn, wenn Leute sich weigern, dem Befehl zu gehorchen? Nehmen Sie ihnen die Karten weg?«

»Nein.«

»Weisen Sie den Frevler auf der nächsten Haltestelle aus dem Zug?«

»Na, das können wir doch natürlich nicht, wenn einer seine Fahrkarte hat!«

»Verklagen Sie ihn vor Gericht?«

Der Schaffner schwieg: augenscheinlich war er verwirrt. Der Major gab neue Karten und sagte:

»Sie sehen selber, daß Sie hilflos sind und daß die Gesellschaft Sie in eine lächerliche Stellung gebracht hat. Man überträgt Ihnen das Amt, eine anmaßende Vorschrift durchzuführen, Sie machen das mit Lärmen und Toben, und wenn Sie näher zusehen, so finden Sie, daß Sie kein Mittel haben, sich Gehorsam zu erzwingen.«

Hierauf sagte der Schaffner mit kühler Würde:

»Meine Herren, Sie haben den Befehl gehört, und damit habe ich meine Schuldigkeit getan. Ob Sie dem Befehl nachkommen oder nicht, das werden Sie machen, wie’s Ihnen gutdünkt.« Damit wandte er sich zum Gehen.

»Bitte, warten Sie doch noch. Die Sache ist noch nicht zu Ende. Ich glaube, Sie irren sich, wenn Sie meinen, Ihre Schuldigkeit getan zu haben; aber wenn das wirklich der Fall ist, so habe ich jetzt selber eine Schuldigkeit zu erfüllen.«

»Wie meinen Sie das?«

»Werden Sie meinen Ungehorsam bei der Direktion in Pittsburg zur Anzeige bringen?«

»Nein. Wozu auch?«

»Sie müssen mich anzeigen, oder ich werde Sie anzeigen!«

»Anzeigen – weswegen?«

»Wegen Ungehorsams gegen die Befehle Ihrer Gesellschaft, indem Sie nicht unserm Spiel Einhalt getan haben. Als Bürger habe ich die Pflicht, den Eisenbahngesellschaften beizustehen, daß ihre Angestellten den Dienst ordentlich versehen.«

»Meinen Sie das im Ernst?«

»Ja, in vollem Ernst. Ich habe nichts gegen Sie als Menschen, aber ich muß Ihnen als Beamten den Vorwurf machen, daß Sie Ihren Befehl nicht ausgeführt haben, und wenn Sie mich nicht anzeigen, muß ich Sie anzeigen. Und das werde ich auch tun.«

Der Schaffner sah ganz verblüfft drein und dachte einen Augenblick nach; dann rief er:

»Ich habe mich da, wie’s scheint, selber in eine nette Patsche gebracht. Das Ganze ist ja ein großer Kuddelmuddel; ich werde absolut nicht mehr klug daraus. So was ist mir noch niemals vorgekommen. Die Leute haben sich stets gefügt und nie ein Wort gesagt, daher habe ich auch gar nicht bemerkt, wie lächerlich der dumme Befehl ohne Strafbestimmungen ist. Ich wünsche niemand anzuzeigen, wünsche aber auch selber nicht angezeigt zu werden – um Gottes willen, davon könnte ich ja endlose Scherereien haben! Bitte, spielen Sie nur ruhig weiter – spielen Sie den ganzen Tag, wenn Sie Lust haben –, und reden wir nicht mehr davon!«

»Nein, ich habe bloß diesen Platz hier eingenommen, um die Rechte dieses Herrn hier zu vertreten – jetzt kann er selbst weiterspielen. Doch bevor Sie gehen – wollen Sie mir nicht vielleicht sagen, weshalb nach ihrer Meinung die Gesellschaft diese Vorschrift erlassen hat?«

»Der Grund für die Vorschrift ist vollkommen klar und einfach; sie ist erlassen aus Rücksicht auf die Gefühle, ich meine die religiösen Gefühle der Mitfahrenden. Es ist vielen unter ihnen peinlich, wenn durch Kartenspielen auf den Eisenbahnen der Sonntag entheiligt wird.«

»So dachte ich mir’s auch. Sie finden nichts dabei, den Sonntag durch Reisen zu entheiligen, aber sie wollen nicht dulden, daß andre Leute …«

»Wahrhaftig, Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Auf diesen Gedanken war ich noch nie gekommen. Aber es ist wirklich eine alberne Vorschrift, wenn man genauer zusieht.«

In diesem Augenblick kam der Zugführer herzu und wollte sehr von oben herab das Kartenspielen untersagen, aber der Schaffner nahm ihn auf die Seite, um ihm den Fall auseinanderzusetzen. Wir hörten kein Wort mehr von der Geschichte.

In Chicago lag ich elf Tage lang krank zu Bett und bekam daher von der Weltausstellung keinen Schimmer zu sehen, denn ich war genötigt, nach dem Osten zurückzukehren, sobald ich wieder reisefertig war. Am Tage vor unserer Abreise bestellte der Major eine Salonabteilung in einem Schlafwagen und bezahlte den Preis dafür. Ich hatte also einen bequemen großen Raum zur Verfügung; als wir aber auf dem Bahnhof ankamen, stellte sichs heraus, daß aus Versehen unser Wagen nicht angehängt worden war. Der Schaffner hatte einen Abteil für uns freigehalten – mehr könne er nicht tun, sagte er. Aber der Major sagte, wir hätten es nicht so eilig und wollten warten, bis der Wagen angehängt sei. Hierauf antwortete der Schaffner mit freundlicher Ironie:

»Mag sein, daß Sie es nicht eilig haben, wie Sie soeben sagten, aber wir haben’s eilig. Bitte, einsteigen, meine Herren, einsteigen! Lassen Sie uns nicht warten!«

Aber der Major wollte nicht einsteigen und ließ auch nicht zu, daß ich es tat. Er verlangte seinen Wagen und sagte, er müsse ihn haben. Dies machte den vor Geschäftigkeit schwitzenden Schaffner ungeduldig, und er rief:

»Wir haben unser möglichstes getan – Unmögliches können wir nicht fertig bringen. Sie werden diesen Abteil nehmen oder gar keinen. Es ist ein Versehen vorgekommen, und das kann nicht in diesem letzten Augenblick wieder gutgemacht werden. So etwas kommt ab und zu vor, und man kann nichts andres tun, als sich so gut wie möglich darein zu finden. Andre Leute machend auch so.«

»Ach ja, das ist es eben! Hätten sie auf ihren Rechten bestanden, so würden Sie jetzt nicht versuchen, die meinigen so mir nichts dir nichts unter die Füße zu treten. Ich habe durchaus nicht den Wunsch, Ihnen unnötiger Weise Verlegenheiten zu bereiten, aber es ist meine Pflicht, den nächsten, dem das Gleiche passieren könnte, vor derartigem zu bewahren. Ich muß also meinen Wagen haben. Sonst werde ich in Chicago warten und die Eisenbahngesellschaft wegen Verletzung des mit mir abgeschlossenen Vertrages verklagen.«

»Die Gesellschaft verklagen? Wegen so einer Kleinigkeit?«

»Gewiß.«

»Ist das wirklich Ihre Absicht?«

»Allerdings.«

Der Schaffner sah den Major mit einem erstaunt prüfenden Blick an; dann sagte er:

»Donnerwetter, so ‚was! Das war noch nicht da – ist mir noch niemals vorgekommen. Aber ich will darauf schwören, Sie täten’s. Hören Sie, ich will den Bahnhofsvorsteher holen.«

Der Bahnhofsvorsteher war nicht wenig ärgerlich – auf den Major, nicht auf den Mann der das Versehen gemacht hatte. Er war ziemlich kurz angebunden und stellte sich auf den gleichen Standpunkt wie anfangs der Schaffner; aber das rührte den Artilleristen durchaus nicht; er bestand mit seiner freundlichen Ruhe darauf, er müsse seinen Wagen haben. Offenbar lag in diesem Fall der ganze Vorteil des Rechts nur auf der einen Seite, und zwar auf der des Majors. Der Stationsvorsteher gab sein ärgerliches Wesen auf und wurde höflich; er bat sogar halb und halb um Entschuldigung. Dies war eine gute Eröffnung von Vergleichshandlungen, und der Major gab nun auch etwas nach. Er sagte, er wolle auf die bestellte und bezahlte Salonabteilung verzichten, aber eine Salonabteilung müsse er haben. Nach einigem Suchen wurde eine gefunden, deren Inhaber sich überreden ließ; er vertauschte sie mit unserm Sonderabteil und wir fuhren endlich ab.

Am Abend besuchte der Schaffner uns und war freundlich und höflich und zuvorkommend. Wir hatten ein langes Gespräch miteinander und wurden schließlich gut Freund. Er sagte, er wünsche, das Publikum beschwerte sich öfter – das würde von guter Wirkung sein. Man könnte nicht erwarten, daß die Bahnverwaltungen den Reisenden gegenüber ihre Schuldigkeit täten, solange nicht die Reisenden sich selber darum bekümmerten.

Ich hoffte, wir hätten jetzt auf unsrer Reise genug reformiert, aber dem war nicht so. Am andern Morgen bestellte der Major, als wir im Speisewagen saßen, ein gebratenes Huhn. Der Kellner sagte:

»Es steht nicht auf der Speisekarte, Herr; wir servieren nichts, was nicht auf der Karte steht.«

»Der Herr da drüben ißt Huhn.«

»Ja, das ist aber ‚was andres. Er ist Betriebsdirektor bei der Gesellschaft.«

»Dann muß ich erst recht gebratenes Huhn haben. Solche Unterscheidung liebe ich nicht. Bitte schnell – bringen Sie mir ein gebratenes Huhn!«

Der Kellner kam mit dem Steward, und dieser setzte leise und höflich dem Major auseinander, es ließe sich unmöglich machen – es wäre gegen die Vorschrift, und die Vorschrift laute auf das strengste.

»Sehr wohl; dann müssen Sie sie entweder unparteiisch anwenden oder sie unparteiisch brechen. Sie müssen dem Herrn sein Huhn wegnehmen oder mir auch eins bringen.«

Der Steward wußte nicht, was er machen sollte. Er begann eine unzusammenhängende Erklärung vom Stapel zu lassen, und in diesem Augenblick kam der Schaffner vorbei und fragte, wo’s fehle. Der Steward setzte ihm auseinander, da wäre ein Herr, der durchaus ein Huhn haben wollte, obwohl das doch gegen die Vorschrift wäre und jenes Gericht nicht auf der Speisekarte stände. Der Schaffner sagte:

»Halten Sie sich an Ihre Vorschrift – eine andre Wahl gibts nicht für Sie. Aber warten Sie ‚mal ’nen Augenblick – ist das der Herr?« Dann lachte er und fuhr fort: »Lassen Sie lieber Ihre Vorschriften – ich rate Ihnen – und ich weiß warum –, geben Sie ihm alles, was er verlangt, und wenn Sie’s nicht haben, so lassen Sie den Zug halten und besorgen Sie’s.«

Der Major aß das Huhn, aber er sagte mir, er täte es nur aus Pflichtgefühl und des Prinzips wegen, denn eigentlich möge er Huhn gar nicht.

Ich verfehlte allerdings die Weltausstellung, aber ich lernte dafür ein paar diplomatische Kunstgriffe kennen, die sich mir und dem Leser vielleicht im Laufe der Zeit als bequem und praktisch erweisen werden.