Peinliche Ohrenmusik
In den Gebirgsdörfern der Schweiz und sonst auf Weg und Steg schlägt einem fortwährend das Rauschen der Wasserbäche ans Ohr. Man bildet sich ein, es sei Musik und fühlt sich poetisch gestimmt; legt man sich ins Bett, so wird man davon in Schlaf gelullt. Aber allmählich wird es einem doch zu viel, man kann das Geräusch nicht mehr los werden; selbst in Einöden, wo die tiefste Stille herrscht, summt einem ein dumpfes, fernes Geräusch in den Ohren, ähnlich dem Gefühl, das man beim Anlegen einer großen Seemuschel ans Ohr empfindet. Man weiß anfangs gar nicht, wie es kommt, daß man so schläfrig und zerstreut ist, warum die Gedanken unfähig sind, einen Gegenstand festzuhalten oder zu verfolgen; setzt man sich zum Schreiben hin, so fallen einem die Wörter nicht ein; man vergißt, was man schreiben wollte, und sitzt da mit der Feder in der Hand, den Kopf zurückgebeugt, mit geschlossenen Augen und horcht peinlich auf ein dumpfes Brausen, wie das eines entfernten Eisenbahnzuges. Im festesten Schlaf läßt diese Spannung nicht nach, man horcht immer, horcht fortwährend, horcht mit ängstlicher Genauigkeit und endlich wacht man auf, gepeinigt, gereizt und unerfrischt.
Man kann sich diese Zustände gar nicht erklären. Tag für Tag ist es einem zu Mut, als wenn man die Nächte in einem Schlafwagen zugebracht hätte. Es dauert in der That wochenlang, bis man dahinterkommt, daß die ewigen Gießbäche und Gebirgsquellen an dieser Qual schuld sind. Jetzt ist es aber hohe Zeit, die Schweiz zu verlassen; denn sobald man die Ursache kennt, steigert sich die Qual um’s zehnfache. Das Rauschen ist zum wahnsinnig werden, sobald die Phantasie mitwirkt; man leidet dann die empfindlichsten physischen Schmerzen. Sobald man sich einem dieser rauschenden Bäche nur nähert, möchte man vor Angst schleunigst Reißaus nehmen und wie vor einem Feinde fliehen.
Acht oder neun Monate, nachdem ich die Qual jener Sturzbäche losgeworden war, wurde ich infolge des brausenden und donnernden Lärms in den Straßen von Paris von neuem davon ergriffen. Ich zog daher in den obersten Stock des Hotels, um Ruhe zu suchen. Gegen Mitternacht ließ das Getöse etwas nach und ich war schon im Begriff einzuschlafen, als ich ein neues sonderbares Geräusch vernahm. Ich horchte: offenbar führte irgend ein verrückter Mensch einen Matrosentanz in dem Zimmer über dem meinigen auf. Ich mußte natürlich warten, bis er fertig war. Während fünf langen, langen Minuten fuhr er mit dem schleifenden, walzenden Tanz fort, – dann erfolgte eine Pause, und dann fiel etwas mit einem schweren Plumps auf den Boden. Ich sagte mir: ›Jetzt zieht er die Stiefel aus, jetzt ist er – Gottlob! – fertig!‹
Wieder eine kleine Pause, und er setzte von neuem das Tanzen fort! Da sagte ich mir: ›Wahrscheinlich probiert er, ob es auch mit einem Stiefel am Fuß geht!‹ Bald kam wieder eine Pause, und wieder ein Plumps auf den Boden. Ich sagte mir: ›Gut; er hat den zweiten Stiefel ausgezogen, jetzt ist er fertig.‹ Aber er war nicht fertig; im nächsten Augenblick fing das Schleifen und Walzen wieder an.
›Hol‘ ihn der Kuckuck! jetzt geht es in den Pantoffeln weiter‹ Nach einiger Zeit trat wieder die alte Pause ein, und gleich darauf erfolgte der besagte Plumps auf den Boden noch einmal. ›Hol‘ ihn der Henker!‹ sagte ich, ›der hat zwei Paar Stiefel angehabt!‹
Während einer ganzen Stunde fuhr dieser Hexenmeister fort zu tanzen und Stiefel auszuziehen, bis er mindestens fünfundzwanzig Paar abgeworfen hatte, und mein Zustand schon an die äußersten Grenzen des Wahnsinns streifte.
Ich nahm mein Gewehr und schlich mich die Treppe hinauf. Der Kerl stand da, inmitten, eines ganz mit Stiefeln besäten Zimmers, er hatte noch einen Stiefel in der Hand, und er walzte – nein: – er wichste den Stiefel, wollte ich sagen. Er hatte nicht getanzt. – Er war der Hausknecht des Hotels und ging seinem Geschäfte nach.