Zwölftes Kapitel.

Schreckliche Pläne. – Die Flucht.

Zwölftes Kapitel.

Tom war nun fest entschlossen. Er war finsterer, verzweifelter Gedanken voll. Er kam sich als verlassener, freundloser Knabe vor, den niemand liebte. Wenn sie erst merkten, zu was ihre Lieblosigkeit ihn getrieben, würde es ihnen vielleicht leid sein. Er hatte versucht, das Rechte zu tun, gut zu sein, sie ließen’s ja nicht zu. Da sie ihn denn durchaus los sein wollten, so sollten sie ihren Willen haben; natürlich würden sie ihn allein für die Folgen verantwortlich machen, – aber so ist’s immer! Hat ein Freundloser und Verstoßener das Recht zu klagen? Jetzt, da sie ihn zum Äußersten getrieben, wollte er das Leben eines Verbrechers führen. Ihm blieb keine Wahl. Unter solchen Betrachtungen war er weit über die Wiesen geschritten und die Schulglocke, welche die Säumigen mahnte, klang ihm nur noch schwach ins Ohr. Er schluchzte jetzt beim Gedanken, daß er nie, nie wieder diesen anvertrauten Ton vernehmen solle, – es war hart, so furchtbar hart, aber – sie zwangen ihn ja dazu. Da sie ihn vertrieben hatten, hinausgestoßen in die kalte unbarmherzige Welt, so mußte er sich darein ergeben, – aber er verzieh ihnen, verzieh ihnen allen. Das Schluchzen wurde stärker, erschütternder.

In diesem Moment stieß er auf seines Herzens innigsten Freund – Joe Harper, der finster blickend dahertrottete, augenscheinlich einen schrecklichen, schwerwiegenden Entschluß in seiner Seele herumwälzend. Hier waren offenbar »zwei Seelen und ein Gedanke!« Tom, der sich die Augen mit seinem Ärmel wischte, fing an, etwas Unzusammenhängendes hervorzustottern, von einem Entschluß, sich den Mißhandlungen und dem Mangel an Verständnis daheim durch seine Flucht in die weite Welt zu entziehen, nie, niemals wiederzukehren, und schloß damit, daß er Joe bat, ihm ein treues Gedenken zu bewahren.

Da zeigte sich aber, daß Joe just eben um ganz dasselbe hatte bitten wollen und gerade zu dem Zweck gekommen war, Tom aufzuspüren. Seine Mutter hatte ihn geprügelt, weil er Rahm getrunken haben sollte, von dem er doch rein gar nichts wußte. Es sei klar, sie wolle nichts mehr von ihm wissen und ihn los sein. Solchen Empfindungen gegenüber – was bleibe ihm da anderes übrig, als sich darein zu ergeben? Möge es ihr wohl ergehen und sie niemals bereuen, ihren armen Jungen hinausgetrieben zu haben in die kalte, fühllose Welt, um da zu leiden und schließlich zu sterben.

Wie nun die zwei trauernden Jünglinge so dahin wandelten, schlossen sie einen Pakt, fest zusammenzustehen wie Brüder, nicht voneinander zu lassen, bis der Tod sie einst scheide und sie erlöse von ihrem Jammer. Dann begannen sie Pläne zu schmieden. Joe war dafür, ein Eremit zu werden, von harten Brotkrusten und Wasser in einer finsteren Höhle zu leben und eines Tages aus Not, Kälte und Kummer zu sterben. Nachdem er aber Toms Plan gehört, gab er zu, daß das Leben eines Verbrechers doch einige hervorragende Vorteile böte und willigte ein, als Seeräuber sein Heil zu probieren.

Drei Meilen unterhalb St. Petersburg, an einer Stelle, wo der Mississippi etwas mehr als eine Meile breit war, lag eine lange, schmale, bewaldete Insel mit einer seichten Sandbank an der Spitze. Diese Insel war nicht bewohnt, lag weit drüben gegen das andere Ufer zu, das mit einem ausgedehnten, menschenleeren, fast undurchdringlichen Walde bestanden war. Das schien ein Ort wie gemacht für das Unternehmen, und so wurde denn die Jacksoninsel gewählt. Welches die Opfer sein sollten für ihr Seeräubertum, das kam den Jungen nicht in den Sinn. Vor allem trieben sie nun Huckleberry Finn irgendwo auf, der sich ihnen sofort anschloß. Jegliche Laufbahn war ihm recht, er war nicht wählerisch. Nachdem sie alles verabredet hatten, trennten sie sich, um sich an einer einsamen Stelle des Flußufers, zwei Meilen oberhalb des Städtchens, wieder zu treffen, um Mitternacht, zu ihrer Lieblingsstunde. Dort wußten sie von einem kleinen Holzfloß, das sie sich anzueignen gedachten. Jeder von den dreien wollte eine Angelrute und Haken mitbringen, dazu solche Eßvorräte, deren er sich auf möglichst versteckte und geheimnisvolle Weise bemächtigen konnte, wie es Ausgestoßenen und Geächteten ihrer Art zukam. Bevor noch der Nachmittag verflossen, war es ihnen gelungen, heimlicher Wonne voll, im ganzen Städtchen das Gerücht zu verbreiten, es werde sich in Bälde etwas sehr Merkwürdiges ereignen. Alle, die diesen Wink erhielten, bekamen zugleich die Mahnung zu schweigen und abzuwarten.

Um Mitternacht erschien Tom mit einem gekochten Schinken und noch sonstigen Kleinigkeiten in dem dichten Untergehölz des steilen Uferabhanges, das zum Sammelplatz bestimmt worden. Es war sternklar und totenstill. Der mächtige Strom lag, ozeangleich, in friedlicher Ruhe da. Tom lauschte einen Moment, kein Laut unterbrach die feierliche Stille. Er ließ ein leises, langgezogenes Pfeifen ertönen, das von unten erwidert wurde; zweimal noch pfiff Tom, beide Male wurde das Signal in derselben Weise beantwortet. Nun fragte eine leise Stimme:

»Wer naht sich dort?«

»Tom Sawyer, der Schwarze, Rächer der spanischen Meere. Nennt eure Namen!«

»Huck Finn, die ›blutige Hand‹, und Joe Harper, ›der Schrecken der See‹.« Tom hatte diese Titel aus seiner Lieblingsliteratur geschöpft.

»Gebt das Feldgeschrei!«

In dumpfem, grauenvoll durchdringendem Flüsterton erklang von zwei Stimmen zugleich dasselbe schreckliche Wort in die brütende Nacht hinein:

» Blut

Nun kollerte Tom seinen Schinken über den Abhang und ließ sich selber nachgleiten, wobei er Haut und Kleider empfindlich verletzte. Wohl gab’s einen leichten, bequemen Pfad, den Abhang hinunter und am Ufer entlang, dem aber fehlten jene unerläßlichen Eigenschaften von Schwierigkeit und Gefahr, die ein Seeräuber vor allen anderen schätzt.

Der »Schrecken der See« hatte eine riesige Speckseite geliefert und sich halb krumm und lahm geschleppt, um sie herbeizubringen. Finn, der »Bluthändige«, hatte einen Kochkessel gestohlen, dazu eine Portion halbgetrocknete Tabaksblätter und einige Maiskolben, um Pfeifen daraus zu machen. Keiner der Piraten freilich rauchte oder kaute Tabak, als nur er selber. Der »Schwarze Rächer der spanischen Meere« meinte, man könnte nimmermehr das Unternehmen ins Werk setzen, ohne Feuer an Bord zu haben. Der Gedanke war weise, auch schritt man sofort zur Tat. In der Entfernung glimmte ein Feuer auf einem großen Flosse, dahin schlichen sie nun und verschafften sich einen Holzbrand. Aus dieser Expedition machten sie sich mit Wonne und umständlicher Wichtigkeit ein gefährliches Abenteuer zurecht. Unterwegs hielten sie fast jede Minute an, sagten »Pst« und legten den Finger auf die Lippen. Ihre Hände umfaßten eingebildete Schwertergriffe, leise Befehle wurden geflüstert, daß, wenn der »Feind« sich rege, er »kaltgemacht« werden müsse, denn »tote Menschen plaudern nichts mehr aus!« Die Jungen wußten freilich mit Bestimmtheit, daß die Flößer unten in der Stadt waren, entweder um Vorräte einzukaufen, oder um zu zechen; das war aber für sie kein Grund, sich weniger piratenmäßig bei der Sache zu benehmen.

Glücklich zurückgekehrt von dem gefahrvollen Feuerraubzeug, stießen sie alsbald vom Lande. Tom hatte den Oberbefehl, Huck saß am hinteren Ruder, Joe vorn. Tom stand mitten auf dem Floße. Finster blickend, mit über der Brust gekreuzten Armen, erteilte er seine Befehle in leisem, strengem Flüsterton.

»Luven! Vor den Wind!«

»Geluvt ist, Kap’tän.«

»Stet, Jungens, ste–e–et!«

»Stet ist’s, Kap’tän.«

»Einen Strich rechts abgehen!«

»Ein Strich ist’s!«

Während die Jungen das Floß unverweilt gegen die Mitte des Stromes zutreiben ließen, verstand es sich von selbst, daß alle diese Befehle nur der Form halber erteilt wurden und weiter gar nichts zu bedeuten hatten.

»Welche Segel führt das Boot?«

»Hauptsegel, Topsegel und fliegenden Klüver, Kap’tän.«

»Oberbramsegel auf! Ihr dort flink, ’n halb Dutzend an die Fockmarsleesegel! Lustig, Jungens, rührt euch!«

»Eh, eh, Kap’tän!«

»Marssegel vom Hauptmast! Schoten und Brassen! Vorwärts, Jungens.«

»Eh, Kap’tän!«

»Ruder nach Lee – hart an Backbord. Backbord – Backbord! Nun, Leute, frisch darauf los. Stet – ste–e–et!«

»Stet ist’s, Kap’tän!«

Das Floß begann die Mitte des Stromes zu kreuzen und auf das andere Ufer zuzuhalten. Die Jungen gaben der Spitze desselben die rechte Richtung und zogen dann die Ruder ein. Kaum ein Wort wurde gewechselt während der nächsten halben Stunde. Jetzt trieb das Floß am fernen Städtchen vorüber. Zwei oder drei schimmernde Lichter zeigten, wo dasselbe lag, in süßem, friedlichem Schlummer, jenseits dieser endlosen, ungeheuren, sternbeschienenen Wasserflut, ohne Ahnung von dem tief eingreifenden Ereignis, das soeben im Begriff war, sich abzuspielen. Der »Schwarze Rächer« stand da mit gekreuzten Armen, einen letzten Blick werfend auf den Schauplatz seiner früheren Freuden und späteren Leiden, und wünschte sehnlichst, »Sie« könnte ihn jetzt sehen, da draußen auf der wilden See, der Gefahr und dem Tode ins Antlitz schauend, unverzagten Herzens, mit einem grimmigen Lächeln auf den Lippen seinem Untergang entgegengehend. Seiner Einbildungskraft war es ein Geringes, die Jacksoninsel aus der Gesichtsweite des Städtchens wegzuversetzen, und so sandte er demselben denn seinen »letzten Blick«, zufriedenen, wenngleich gebrochenen Herzens. Die anderen Piraten sandten desgleichen ihre letzten Blicke und blickten so anhaltend und so lange, daß die Strömung sie beinahe aus dem Bereich der Insel fortgetrieben hätte. Diese Gefahr aber wurde noch beizeiten entdeckt und derselben mit Erfolg Einhalt getan. Etwa um zwei Uhr morgens trieb das Floß an der Sandbank auf, ungefähr hundert Meter oberhalb der Spitze der Insel, und die Jungen wateten nun durch das Wasser hin und zurück, bis sie ihre Ladung glücklich gelandet und in Sicherheit gebracht hatten. Zu dem kleinen Floß gehörte auch ein altes Segel, welches sie an einem heimlichen Plätzchen im Gebüsch als Zelt ausspannten, um die Vorräte darunter zu bergen. Sie selbst aber wollten unter freiem Himmel schlafen, in Wind und Wetter, wie es solchen Ausgestoßenen der Menschheit zukam.

Sie schichteten Holz zu einem Feuer auf neben einem dicken, alten, abgestorbenen Baumstamm, der etwa zwanzig bis dreißig Schritte weit in der düsteren Tiefe des Waldes stand, brieten sich Speck zum Abendessen und ließen sich’s köstlich munden. Herrlich, unbeschreiblich schön war das wilde, freie Leben im jungfräulichen Walde einer unbekannten, unbewohnten Insel, weitab vom Getriebe der Menschen, und sie schwuren sich, nimmermehr zurückzukehren in die Fesseln der Zivilisation. Das aufglimmende Feuer beleuchtete ihre Gesichter und warf seinen roten Schein auf die säulenartigen Baumstämme dieses grünen Waldtempels, auf das schimmernde Laub und die alles umrankenden, wilden Reben. Als die letzte knusperige Speckschnitte verschwunden, die letzte Brotkrume ausgezehrt war, streckten sich die Jungen auf dem Moose aus, erfüllt von köstlichstem Behagen. Wohl hätten sie ein kühleres Plätzchen finden können, aber sie mochten sich das romantische Gefühl nicht versagen, am leise flackernden Lagerfeuer zu rösten.

»Ist das nun nicht lustig?« fragte Joe.

»Famos,« bestätigte Tom.

»Was würden die Jungen sagen, wenn sie uns so sehen könnten!«

»Sagen? Ei, die ließen sich totschlagen, wenn sie nur hier sein könnten, – he, Huckchen?«

»Das will ich meinen!« brummte Huckleberry, »mir wenigstens gefällt’s und ich wünsch mir nichts anderes. Für gewöhnlich krieg ich nicht satt – hier kann mich auch keiner herumstoßen und seine Stiefel an mir abputzen, danke!«

»Das ist just ein Leben für mich,« jubelte Tom, »morgens braucht man nicht aufzustehen, braucht nicht in die Schule, sich nicht zu waschen und all den anderen dummen Firlefanz. Siehst du nun, Joe, ein Pirat hat gar nichts zu tun, so lang er am Lande ist, ein Eremit aber, der muß beten, beten, beten bis er schwarz wird, und hat nie ein Vergnügen, immer so allein für sich.«

»Das ist auch wahr,« meinte Joe, »ich hab eben nicht weiter darüber nachgedacht. Jetzt will ich selber viel lieber Seeräuber sein, seit ich’s probiert hab.«

»Außerdem,« belehrte Tom, »gibt man heutzutage nicht mehr so viel auf Eremiten, wie früher, in alten Zeiten, während ein Pirat überall geachtet ist. Ein Eremit muß auch immer auf dem allerthärtesten Platz schlafen, den er finden kann, muß Asche auf sein Haupt streuen und –«

»Asche? Zu was denn die Asche auf den Kopf?« fragte Huck.

»Das weiß ich selber nicht. Aber das müssen sie – alle Eremiten tun’s. Du hättst’s auch zu tun, wenn du einer warst.«

»Die sollten mir kommen,« versetzte Huck.

»Na, was tätst du denn?«

»Das weiß ich noch nicht. Aber Asche auf den Kopf sicher nicht.«

»Aber Huck, das müßtest du einfach. Wie wolltest du da drum herumkommen?«

»Ei, ich würd’s eben nicht leiden. Ich risse aus!«

»Ausreißen! Na, du wärst ein nettes altes Gestell von einem Eremiten, weiß Gott, ein wahrer Schandfleck für die anderen!«

Der »Bluthändige« gab keine Antwort, da er Besseres zu tun hatte. Er war soeben damit fertig geworden, einen Maiskolben auszuhöhlen; nun befestigte er einen Binsenhalm daran, stopfte den Kolben mit Tabak, legte eine glühende Kohle darauf und hüllte sich in eine Wolke lieblich duftenden Dampfes. Man sah ihm ordentlich an, wie er sich im höchsten Stadium wollüstigen Behagens befand. Die anderen Piraten neideten ihm den Besitz solch imponierend lasterhafter Kunst und beschlossen heimlich, dieselbe in kürzester Frist sich anzueignen. Nach einer Weile fragte Huck:

»Was haben denn Seeräuber eigentlich zu tun?«

Worauf Tom erwiderte:

»O, die haben Zeitvertreib genug. Die kapern Schiffe und verbrennen sie, nehmen alles Geld weg und vergraben’s an ganz schrecklich gruseligen Plätzen auf ihrer Insel, wo’s Geister und solche Wesen gibt, die den Schatz bewachen. Dann töten sie jedermann auf den Schiffen – lassen alle über die Planken springen –«

»Und die Frauen schleppen sie ans Land,« vervollständigte Joe, »die töten sie nicht.«

»Nein,« stimmte Tom bei, »Frauen töten sie nicht, dazu sind sie zu edel. Die Frauen sind auch immer sehr schön.«

»Und was für Kleider sie tragen! ’s ist ’ne wahre Pracht; alles voll Gold und Silber und Diamanten,« fiel Joe ganz begeistert ein. »Wer?« fragte Huck.

»Nun die Piraten doch!«

Huck sah nachdenklich an seiner Gewandung hinunter.

»Na, meine Kleider sind dann schwerlich für einen Piraten geschaffen,« bemerkte er mit einer gewissen erhabenen Trauer in der Stimme, »ich habe aber keine anderen nicht!«

Seine beiden Kameraden trösteten ihn, die schönen Kleider würden schnell genug kommen, wenn man nur erst auf Abenteuer auszöge. Sie gaben ihm zu verstehen, daß seine ärmlichen Lumpen für den Anfang genügen sollten, obgleich gutgestellte Seeräuber für gewöhnlich in passender Garderobe auszögen.

Allmählich erstarb das Geplauder, Müdigkeit begann die Lider der kleinen Strolche schwer zu machen. Die Pfeife entglitt den Fingern des »Bluthändigen« und er schlief den tiefen Schlaf des Gerechten und – Müden. Der »Schrecken der See«, ebenso auch der »Schwarze Rächer der spanischen Meere« hatten größere Schwierigkeit im Erlangen des Schlafes. Sie sagten ihre Gebete nur innerlich her, da keine Autorität zugegen war, die sie zum Knien und lauten Aufsagen angehalten hätte. Zuerst hatten sie vorgehabt, gar nicht zu beten, vor solchem Wagnis aber schreckten sie schließlich doch zurück, aus Furcht, es könne ein ganz besonderer Donnerkeil vom Himmel auf ihre schuldigen Häupter niedersausen. Als sie endlich, endlich, ganz nahe am Rande des tiefen Abgrundes, Schlaf genannt, lagen und schon darein zu versinken dachten, da nahte wiederum ein Etwas, ein Störenfried, der sich nicht abweisen lassen wollte. Es war das Gewissen! Es überkam sie eine unbestimmte Ahnung des Unrechts, das sie begangen mit ihrem Davonlaufen, dann tauchte das gestohlene Fleisch auf und die Tortur begann. Sie versuchten dem Gewissen vorzuhalten, wie sie oft und oft Anlehen an die Speisekammer der Ihren gemacht in Äpfeln und anderen Süßigkeiten, das Gewissen aber gab sich mit solch durchsichtigen Ausflüchten nicht zufrieden. Es bewies ihnen klar und unbestreitbar, wie sich die Tatsache nicht umgehen lasse, daß das Einstecken von Äpfeln, Süßigkeiten usw. nur »krippsen« heiße, während das Wegnehmen von Speckseiten, Schinken und ähnlichen wertvolleren Gegenständen einfacher, gewöhnlicher Diebstahl genannt werden müsse, – wogegen es ein dräuendes Gebot in der Bibel gab. Demzufolge beschlossen sie innerlich, daß, solange sie das Piratengeschäft betrieben, ihre Raubzüge nicht wieder mit dem Verbrechen des Diebstahls besudelt werden dürften. Das Gewissen gab sich denn auch damit zufrieden, schloß einen Waffenstillstand und unsere merkwürdig inkonsequenten »Seeräuber« versanken in einen friedlichen, ungestörten Schlummer.

Dreizehntes Kapitel.

Piratenleben.

Dreizehntes Kapitel.

Als Tom am Morgen erwachte, konnte er sich kaum besinnen, wo er eigentlich sei. Er setzte sich auf, rieb sich die Augen und blickte um sich, dann überkam ihn die Erinnerung. Der Tag begann eben zu grauen, kühl und wonnig. Es lag ein köstliches Gefühl der Ruhe und des Friedens in der tiefen, alles umfangenden Stille, dem Schweigen des Waldes. Kein Blatt rührte sich, kein Ton unterbrach das sinnende Nachdenken der großen Natur. Tautropfen perlten auf Blättern und Gräsern. Eine Schicht weiser Asche bedeckte das Feuer, von dem sich ein dünnes, bläuliches Rauchwölkchen in die stille Luft emporkräuselte. Joe und Huck schliefen noch. Jetzt erklang, weit drüben im Walde, der Ruf eines Vogels, ein anderer antwortete, dann hörte man das Hämmern eines Spechtes. Allmählich lüftete sich das kühle, fahle Grau der Morgendämmerung, ebenso allmählich vermehrten sich die Töne, das neuerwachte Leben begann sich allenthalben kundzutun. Das große Wunder, wie die Natur den Schlaf abschüttelt und ihr Tagewerk aufnimmt, entfaltete sich vor den Augen des staunenden Knaben. Eine kleine, grüne Raupe kam über ein taufrisches Blatt dahergekrochen, von Zeit zu Zeit dreiviertel ihres Körperchens in die Luft hebend und herumschnüffelnd, dann wieder vorwärtsstrebend. »Aha, die kommt zum Anmessen,« dachte Tom, und als das Tierchen aus freien Stücken sich ihm näherte, saß er stockstill, hoffend und bangend, je nachdem das Geschöpf die Richtung auf ihn zu nehmen oder sich anderswo hinzuwenden schien. Als es aber zuletzt, nach einem bangen Moment des Zweifels, währenddessen es den gekrümmten Körper in der Luft hin und her bewegte, sich ganz entschieden auf Toms Bein gleiten ließ und die Reise längs desselben begann, da füllte Freude Toms Herz, denn das bedeutete, daß er einen neuen Anzug bekommen würde, – ohne Zweifel eine glänzende Piratenuniform. Jetzt erschien ein Zug von Ameisen, man wußte nicht woher, sie gingen auf Arbeit aus. Eine derselben schleppte sich mutig mit einer toten Spinne, fünfmal so groß als sie selber, und lotste dieselbe direkt einen Baumstamm hinauf. Ein schwarzgeflecktes Johanniskäferchen erklomm die steile Höhe eines Grashalmes, Tom beugte sich dicht zu demselben nieder und sang:

»Johanneskäferchen flieg‘,
Der Vater ist im Krieg;
Flieg, flieg, dein Häuschen brennt,
’s sitzen sieben Kinderchen drin!«

Und Johanniskäferchen entfaltete die kleinen Schwingen und flog davon, um zu Hause nachzusehen, was den Jungen keineswegs verwunderte, wußte er doch aus Erfahrung, wie leichtgläubig das dumme Ding sei, namentlich in betreff der Feuersbrünste, und er hatte der kleinen Einfalt schon oftmals denselben Streich gespielt. Die Vögel lärmten nun förmlich im Gezweige der Bäume. Ein Rotkehlchen saß in einem Aste über Toms Kopf und schmetterte seine Triller aus voller Brust hinaus in den lichten Morgen. Ein blauschwarzer Häher schoß nieder, gleich dem Strahl einer blauen Flamme, setzte sich auf einen Busch, ganz dicht im Bereich des Knaben, legte den Kopf auf die Seite und beäugelte die Fremden mit lebhafter Neugierde. Ein graues Eichhörnchen und ein stämmiger Bursch aus der »Fuchs«familie kamen angerannt, setzten sich auf die Hinterbeine und betrachteten furchtlos die Eindringlinge. Die harmlosen Geschöpfe hatten wohl noch niemals ein menschliches Wesen gesehen und wußten offenbar nicht, ob man sich fürchten müsse oder freuen. Die ganze Natur war jetzt völlig wach und in Bewegung. Gleich blitzenden Lanzen drangen die goldenen Strahlen des Sonnenlichtes durch das dichte Laubwerk nah und fern, auch kleine buntfarbige Schmetterlinge kamen herbeigeflogen.

Tom ermunterte nun die beiden anderen Piraten und eine Minute später trabten sie mit einem Freudengeheul dem Ufer zu, warfen die Kleider ab und jagten und überpurzelten sich in dem seichten, lauen Wasser bei der Sandbank. Keine Spur von Sehnsucht empfanden sie nach dem Städtchen da drüben, das jenseits der endlosen, majestätischen Wasserfläche noch im Schlafe lag. Eine verirrte Welle, oder auch eine leichte Schwellung des Stromes, hatte ihr Floß entführt, dies aber diente den Jungen nur zur Befriedigung, denn durch sein Verschwinden waren gleichsam die Brücken zwischen ihnen und der Zivilisation abgebrochen.

Wunderbar erfrischt kehrten sie in ihr Lager zurück, sorglos, glückstrahlend und mit einem Wolfshunger. Bald flackerte das Feuer auf in hellen Flammen; Huck entdeckte eine Quelle frischen, kalten Wassers dicht beim Lager, Die Jungen machten sich Becher aus großen Eichen- und Ahornblättern und fanden, daß Wasser, durch solch eigenartigen, wilden Waldeszauber versüßt, der beste Ersatz für Kaffee sei. Während Joe sich eben anschickte, Speckschnitten zum Frühstück abzuschneiden, riefen ihm Huck und Tom zu, er möge eine Minute warten, griffen zur Angel, liefen zum Flusse, warfen die Leine aus, und ehe noch Joe Zeit hatte, ungeduldig zu werden, waren sie schon zurück mit einem Vorrat an Fischen, der für eine ganze Familie ausgereicht haben würde. Sie brieten nun Fische zusamt dem Speck, und noch nie hatte ihnen ein Fisch so köstlich geschmeckt. Sie wußten ja nicht, daß ein Süßwasserfisch um so besser ist, je schneller er in die Pfanne kommt, auch dachten sie nicht daran, welche treffliche Würze Schlaf und Bewegung im Freien, das Bad und ein gehöriger Hunger abgaben.

Nach dem Frühstück lagen sie im Schatten herum, wahrend Huck sein Pfeifchen schmauchte, und dann rüsteten sie sich, eine Entdeckungsreise auf der Insel vorzunehmen. Lustig trabten sie dahin, über modernde Baumstämme, durch wirres Unterholz, zu Füßen der erhabenen Fürsten der Wälder, die von den Kronen bis zur Wurzel als Zeichen ihrer Würde mit dem Wundergerank der Reben gleich einem duftenden Krönungsmantel behangen waren. Hier und da trafen sie auf saftiggrüne, lauschige Plätzchen, die mit weichem Grase und Blumen wie ausgepolstert waren.

Massenhaft fanden sie Dinge, die sie entzückten, nichts, das ihnen seltsam vorkam. Sie entdeckten, daß die Insel vielleicht drei Meilen lang und eine Viertelstunde breit sei und daß das Ufer, dem sie zunächst lag, nur durch einen schmalen Kanal von etwa hundert Meter Breite von derselben geschieden war. Jede Stunde einmal erfrischten sie sich durch eine kleine Schwimmexkursion und so war der Nachmittag schon weit vorgerückt, als sie zum Lager zurückkehrten. Sie waren zu hungrig, um noch erst lange zu fischen, erquickten sich dagegen aufs beste am kalten Schinken und warfen sich dann in den Schatten auf das Moos, um zu plaudern. Das Gespräch erlahmte bald und hörte dann ganz auf. Die Stille, die Feierlichkeit, die über dem Walde lag, begann, zusamt dem Gefühl der Einsamkeit, die Gemüter der Knaben zu bedrücken. Sie verfielen in Nachdenken, Eine Art unbestimmter Sehnsucht beschlich sie, die alsbald leise Gestalt annahm, – es war aufkeimendes Heimweh. Selbst Finn, der »Bluthändige«, träumte von seinen heimatlichen Treppenstufen und leeren Schweineställen. Alle drei aber schämten sich ihrer Schwäche und keiner hatte das Herz, seinen Gedanken Worte zu geben.

Schon seit ein Paar Minuten waren die Jungen sich undeutlich bewußt, daß ein eigentümlicher Ton aus der Ferne zu ihnen herüberklang, gerade wie man das Ticken einer Uhr hört, ohne sich davon Rechenschaft zu geben. Jetzt aber gewann der geheimnisvolle Ton an Kraft und drängte sich förmlich der Wahrnehmung auf. Die Jungen fuhren zusammen, sahen sich an und richteten sich in lauschender Stellung empor. Ein langes Schweigen folgte, tief und ununterbrochen, dann ertönte ein dumpfes, dröhnendes »Bum« aus der Entfernung über das Wasser herüber.

»Was ist das?« rief Joe mit unterdrückter Stimme.

»Möcht’s selber wissen,« flüsterte Tom.

»Donner ist’s keiner,« meinte Huck in ängstlichem Ton, »denn Donner –«

»Still,« gebot Tom, »schwätz nicht; horch lieber!«

Wieder warteten sie eine Zeitlang, die eine Ewigkeit schien, dann unterbrach dasselbe dumpfe »Bum« die feierliche Stille.

»Laßt uns doch sehen, ob wir was entdecken können.«

Damit sprangen sie auf die Füße und rannten dem der Stadt gegenüberliegenden Ufer zu. Vorsichtig teilten sie die Büsche und lugten hinter denselben hervor auf das Wasser hinaus. Die kleine Dampffähre trieb, vielleicht eine Meile unterhalb der Stadt, mit der Strömung daher. Das breite Deck wimmelte von Menschen. Eine Menge Boote ruderten um dieselbe herum oder ließen sich von den Wellen der Fähre treiben, die Jungen aber konnten nicht sehen, was die Männer in den Booten taten. Alsbald brach eine dicke Wolke weißen Rauches aus der einen Seite der Fähre hervor, und als sie sich zu erheben und zu zerstreuen begann, erklang derselbe dumpfe Ton in den Ohren der lauschenden Knaben.

»Jetzt weiß ich’s,« rief Tom, »da ist einer ertrunken.«

»Das ist’s, weiß Gott,« stimmte Huck bei, »so haben sie’s vorigen Sommer grad auch gemacht, als der Bill Turner ertrunken war. Da haben sie ’ne Kanone losgefeuert und da kommt dann der Tote herauf aufs Wasser. Ja, und sie nehmen auch große Brote und stecken Quecksilber hinein und lassen die schwimmen, und die schwimmen dann grad darauf los, wo ein Ertrunkener liegt und halten da an, damit man ihn findet.«

»Ja, davon hab ich auch gehört,« bestätigte Joe, »woher das Brot das wohl tut?«

»Na, das Brot selber tut’s weniger, als das, was sie vorher darüber sprechen, der Zauber, mein ich,« sagte Tom.

»Aber sie sprechen gar nichts darüber,« versicherte Huck, »ich war ja ganz nah dabei und hab alles gesehen.«

»Das wär sonderbar,« meinte Tom, »vielleicht sagen sie’s nur leise. Natürlich ist’s so, das könnt ein Kind wissen,« fügte er geringschätzend bei.

Die anderen beiden gaben denn auch zu, daß Tom recht haben könne. Von einem unvernünftigen Brot, das, unbelehrt durch irgendeinen Zauberspruch, mit solch ernster, wichtiger Sendung betraut werde, könne man doch unmöglich viel Verstand erwarten.

»Weiß Gott, ich wollt, ich wär drüben dabei,« rief Joe.

»Ich auch,« bekräftigte Huck, »ich gäb alles darum, wenn ich wüßt, wer da gesucht wird.«

Wieder lauschten die Jungen und beobachteten. Plötzlich tauchte ein erleuchtender Gedanke blitzartig in Toms Hirn auf und er rief:

»Jungens, ich weiß, wer dort ertrunken ist – wir sind’s!«

Und sie fühlten sich als Helden im nächsten Augenblick. Das war ein glorreicher Triumph! Sie wurden vermißt, betrauert, Herzen brachen ihretwegen, Tränen flossen. Anklagende Erinnerungen an Unfreundlichkeiten gegen diese armen, nun verlorenen Knaben tauchten auf, Bedauern und Reue beschlich die betreffenden Herzen, und was noch das beste von allem war, die Verschwundenen bildeten das Gespräch der ganzen Stadt. Alle anderen Jungen mußten sie glühend beneiden um diese glänzende, öffentliche Berühmtheit, Das war herrlich! Dafür lohnte es sich wahrhaftig, Pirat zu sein!

Die Dämmerung begann, die Dampffähre kehrte zu ihrer gewöhnlichen Beschäftigung zurück, die Boote verschwanden und die Piraten begaben sich nach ihrem Lager, Sie strahlten förmlich vor Wonne und Eitelkeit über ihre neue Größe und die glorreiche Unruhe, die sie verursachten. Sie fingen die Fische, bereiteten ihr Abendessen, verzehrten es und vertrieben sich dann die Zeit damit, sich vorzustellen, was man zu Hause wohl über sie sagte und dachte. Sich die Bilder der allgemeinen Kümmernis, die ihretwegen herrschte, auszumalen und von ihrem Standpunkt zu betrachten, gewährte ihnen die höchste Befriedigung. Als aber die Schatten der Nacht sie zu umhüllen begannen, verstummte allmählich das Gespräch. Sie saßen und starrten ins Feuer, während ihre Gedanken offenbar ganz wo anders herumstreiften. Die Erregung war verflogen und Tom und Joe konnten sich der leise mahnenden Überzeugung nicht erwehren, daß gewisse Leute zu Hause weit weniger Vergnügen haben würden an dem lustigen Abenteuer, als sie selber. Böse Ahnungen tauchten auf, sie fühlten sich unruhig und unglücklich, ein Seufzer nach dem anderen entschlüpfte ihnen, ohne daß sie selber es merkten. Dann streckte Joe schüchtern einen tastenden »Fühler« vor, wie wohl die anderen dächten über eine Rückkehr zur Zivilisation, – nicht jetzt natürlich, aber –

Tom schmetterte ihn mit Verachtung nieder! Huck, der bis jetzt noch keine Anwandlung von Schwäche empfand, stimmte Tom bei und der Schwankende suchte sich alsbald herauszureden, um sich mit einem möglichst geringen Makel mattherzigen Heimwehs aus der Sache zu ziehen. Die Meuterei war für den Augenblick mit Erfolg unterdrückt.

Als die Nacht vollends hereinbrach, begann Huck einzunicken und schnarchte sofort, dann kam die Reihe an Joe. Regungslos lag Tom, auf seine Ellbogen gestützt, und beobachtete die zwei aufmerksam. Dann erhob er sich vorsichtig auf die Knie und kroch im Gras umher, beim schwach flackernden Schein des Feuers nach etwas suchend. Er las ein Stück weißer zylinderförmiger Sykomorenrinde nach dem andern auf, untersuchte sie und wählte schließlich zwei derselben, die ihm die besten schienen. Dann kniete er am Feuer nieder, kritzelte voll Anstrengung etwas mit seinem Rotstift auf jedes der Stücke, rollte eines zusammen, steckte es in seine Tasche und schob das andere in Joes Hut, den er etwas entfernt von dem Eigentümer hinlegte. Demselben Hut vertraute er dann noch einige Schuljungenkostbarkeiten von fast unschätzbarem Werte an, als da sind ein Klumpen Kreide, ein Gummiball, drei Fischhaken und eine kleine Glaskugel, die überall für »echtes Kristall« ging. Dann schlich er sich auf den Zehenspitzen unter den Bäumen hin, bis er außer Hörweite war, worauf er sich geradeswegs nach der Sandbank in Trab setzte.

Erstes Kapitel.

Tom und die Tante. – Ein Zweikampf.

Erstes Kapitel.

»Tom!«

Keine Antwort.

»Tom!«

Tiefes Schweigen.

»Wo der Junge nun wieder steckt, möcht‘ ich wissen, Du – Tom!«

Die alte Dame zog ihre Brille gegen die Nasenspitze herunter und starrte drüber weg im Zimmer herum, dann schob sie sie rasch wieder empor und spähte drunterher nach allen Seiten aus. Nun und nimmer würde sie dieselbe so entweiht haben, daß sie durch die geheiligten Gläser hindurch nach solchem geringfügigen Gegenstand geschaut hätte, wie ein kleiner Junge einer ist. War es doch ihre Staatsbrille, der Stolz ihres Herzens, welche sie sich nur der Zierde und Würde halber zugelegt, keineswegs zur Benutzung, – ebenso gut hätte sie durch ein paar Kochherdringe sehen können. Einen Moment lang schien sie verblüfft, da sie nichts entdecken konnte, dann ertönte wiederum ihre Stimme, nicht gerade ärgerlich, aber doch laut genug, um von der Umgebung, dem Zimmergerät nämlich, gehört zu werden: »Wart, wenn ich dich kriege, ich – –«

Sie beendete den Satz nicht, denn sie war inzwischen ans Bett herangetreten, unter welchem sie energisch mit dem Besen herumstöberte, was ihre ganze Kraft, all ihren Atem in Anspruch nahm. Trotz der Anstrengung förderte sie jedoch nichts zutage, als die alte Katze, die ob der Störung sehr entrüstet schien.

»So was wie den Jungen gibt’s nicht wieder!«

Sie trat unter die offene Haustüre und ließ den Blick über die Tomaten und Kartoffeln schweifen, welche den Garten vorstellten. Kein Tom zu sehen! Jetzt erhob sich ihre Stimme zu einem Schall, der für eine ziemlich beträchtliche Entfernung berechnet war:

»Holla – du – To – om!«

Ein schwaches Geräusch hinter ihr veranlaßte sie, sich umzudrehen und zwar eben noch zu rechter Zeit, um einen kleinen, schmächtigen Jungen mit raschem Griff am Zipfel seiner Jacke zu erwischen und eine offenbar geplante Flucht zu verhindern.

»Na, natürlich! An die Speisekammer hätte ich denken müssen! Was hast du drinnen wieder angestellt?«

»Nichts.«

»Nichts? Na, seh‘ mal einer! Betracht‘ mal deine Hände, he, und was klebt denn da um deinen Mund?«

»Das weiß ich doch nicht, Tante!«

»So, aber ich weiß es. Marmelade ist’s, du Schlingel, und gar nichts anderes. Hab‘ ich dir nicht schon hundertmal gesagt, wenn du mir die nicht in Ruhe ließest, wollt‘ ich dich ordentlich gerben? Was? Hast du’s vergessen? Reich‘ mir mal das Stöckchen da!«

Schon schwebte die Gerte in der Luft, die Gefahr war dringend.

»Himmel, sieh doch mal hinter dich, Tante!«

Die alte Dame fuhr herum, wie von der Tarantel gestochen und packte instinktiv ihre Röcke, um sie in Sicherheit zu bringen. Gleichzeitig war der Junge mit einem Satz aus ihrem Bereich, kletterte wie ein Eichkätzchen über den hohen Bretterzaun und war im nächsten Moment verschwunden. Tante Polly sah ihm einen Augenblick verdutzt, wortlos nach, dann brach sie in ein leises Lachen aus.

»Hol‘ den Jungen der und jener! Kann ich denn nie gescheit werden? Hat er mir nicht schon Streiche genug gespielt, daß ich mich endlich einmal vor ihm in acht nehmen könnte! Aber, wahr ist’s, alte Narren sind die schlimmsten, die’s gebt, und ein alter Pudel lernt keine neuen Kunststückchen mehr, heißt’s schon im Sprichwort. Wie soll man aber auch wissen, was der Junge im Schild führt, wenn’s jeden Tag was andres ist! Weiß der Bengel doch genau, wie weit er bei mir gehen kann, bis ich wild werde, und ebenso gut weiß er, daß, wenn er mich durch irgendeinen Kniff dazu bringen kann, eine Minute zu zögern, ehe ich zuhaue, oder wenn ich gar lachen muß, es aus und vorbei ist mit den Prügeln. Weiß Gott, ich tu‘ meine Pflicht nicht an dem Jungen. ›Wer sein Kind lieb hat, der züchtiget es‹, heißt’s in der Bibel. Ich aber, ich – Sünde und Schande wird über uns kommen, über meinen Tom und mich, ich seh’s voraus, Herr, du mein Gott, ich seh’s kommen! Er steckt voller Satanspossen, aber, lieber Gott, er ist meiner toten Schwester einziger Junge und ich hab‘ nicht das Herz, ihn zu hauen. Jedesmal, wenn ich ihn durchlasse, zwickt mich mein Gewissen ganz grimmig, und hab‘ ich ihn einmal tüchtig vorgenommen, dann – ja dann will mir das alte, dumme Herz beinahe brechen. Ja, ja, der vom Weibe geborene Mensch ist arm und schwach, kurz nur währen seine Tage und sind voll Müh und Trübsal, so sagt die hl. Schrift und wahrhaftig, es ist so! Heut wird sich der Bengel nun wohl nicht mehr blicken lassen, wird die Schule schwänzen, denk‘ ich, und ich werd‘ ihm wohl für morgen irgendeine Strafarbeit geben müssen. Ihn am Sonnabend, wenn alle Jungen frei haben, arbeiten zu lassen, ist fürchterlich hart, namentlich für Tom, der die Arbeit mehr scheut, als irgendwas sonst, aber ich muß meine Pflicht tun an dem Jungen, wenigstens einigermaßen, ich muß, sonst bin ich sein Verderben!«

Tom, der, wie Tante Polly sehr richtig geraten, die Schule schwänzte, ließ sich am Nachmittag nicht mehr blicken, sondern trieb sich draußen herum und vergnügte sich königlich dabei. Gegen Abend erschien er dann wieder, kaum zur rechten Zeit vor dem Abendessen, um Jim, dem kleinen Niggerjungen, helfen zu können, das nötige Holz für den nächsten Tag klein zu machen. Dabei blieb ihm aber Zeit genug, Jim sein Abenteuer zu erzählen, während dieser neun Zehntel der Arbeit tat. Toms jüngerer Bruder, oder besser Halbbruder, Sid, hatte seinen Teil am Werke, das Zusammenlesen der Holzspäne, schon besorgt. Er war ein fleißiger, ruhiger Junge, nicht so unbändig und abenteuerlustig wie Tom. Während dieser sich das Abendessen schmecken ließ und dazwischen bei günstiger Gelegenheit Zuckerstückchen stibitzte, stellte Tante Polly ein, wie sie glaubte, äußerst schlaues und scharfes Kreuzverhör mit ihm an, um ihn zu verderbenbringenden Geständnissen zu verlocken. Wie so manche andere arglos-schlichte Seele glaubte sie an ihr Talent für die schwarze, geheimnisvolle Kunst der Diplomatie. Es war der stolzeste Traum ihres kindlichen Herzens, und die allerdurchsichtigsten kleinen Kniffe, deren sie sich bediente, schienen ihr wahre Wunder an Schlauheit und List. So fragte sie jetzt: »Tom, es war wohl ziemlich warm in der Schule?«

»Ja, Tante.«

»Sehr warm, nicht?«

»Ja, Tante.«

»Hast du nicht Lust gehabt, schwimmen zu gehen?«

Wie ein warnender Blitz durchzuckte es Tom, – hatte sie Verdacht? Er suchte in ihrem Gesichte zu lesen, das verriet nichts. So sagte er:

»N – nein. Tante – das heißt nicht viel.«

Die alte Dame streckte die Hand nach Toms Hemdkragen aus, befühlte den und meinte:

»Jetzt ist dir’s doch nicht mehr zu warm, oder?«

Und dabei bildete sie sich ein, bildete sich wirklich und wahrhaftig ein, sie habe den trockenen Zustand besagten Hemdes entdeckt, ohne daß eine menschliche Seele ahne, worauf sie ziele. Tom aber wußte genau, woher der Wind wehte, so kam er der mutmaßlich nächsten Wendung zuvor.

»Ein paar von uns haben die Köpfe unter die Pumpe gehalten – meiner ist noch naß, sieh!«

Tante Polly empfand es sehr unangenehm, daß sie diesen belastenden Beweis übersehen und sich so im voraus aus dem Felde hatte schlagen lassen. Ihr kam eine neue Eingebung.

»Tom, du hast doch wohl nicht deinen Hemdkragen abnehmen müssen, den ich dir angenäht habe, um dir auf den Kopf pumpen zu lassen, oder? Knöpf doch mal deine Jacke auf!«

Aus Toms Antlitz war jede Spur von Sorge verschwunden. Er öffnete die Jacke, der Kragen war fest und sicher angenäht.

»Daß dich! Na, mach‘ dich fort. Ich hätte Gift drauf genommen, daß du heut mittag schwimmen gegangen bist. Wollens gut sein lassen. Dir geht’s diesmal wie der verbrühten Katze, du bist besser, als du aussiehst – aber nur diesmal, Tom, nur diesmal!«

Halb war’s ihr leid, daß alle ihre angewandte Schlauheit so ganz umsonst gewesen, und halb freute sie sich, daß Tom doch einmal wenigstens, gleichsam unversehens, in den Gehorsam hineingestolpert war.

Da sagte Sidney:

»Ja aber, Tante, hast du denn den Kragen mit schwarzem Zwirn aufgenäht?«

»Schwarz? Nein, er war weiß, soviel ich mich erinnere, Tom!«

Tom aber wartete das Ende der Unterredung nicht ab. Wie der Wind war er an der Türe, rief beim Abgehen Sid noch ein freundschaftliches »wart‘, das sollst du mir büßen« zu und war verschwunden.

An sicherem Orte untersuchte er drauf zwei eingefädelte Nähnadeln, die er in das Futter seiner Jacke gesteckt trug, die eine mit weißem, die andre mit schwarzem Zwirn, und brummte vor sich hin:

»Sie hätt’s nie gemerkt, wenn’s der dumme Kerl, der Sid, nicht verraten hätte. Zum Kuckuck! Einmal nimmt sie weißen und einmal schwarzen Zwirn, wer kann das behalten. Aber Sid soll seine Keile schon kriegen; der soll mir nur kommen!«

Tom war mit nichten der Musterjunge seines Heimatortes, – es gab aber einen solchen und Tom kannte und verabscheute ihn rechtschaffen.

Zwei Minuten später, oder in noch kürzerer Zeit, hatte er alle seine Sorgen vergessen. Nicht, daß sie weniger schwer waren oder weniger auf ihm lasteten, wie eines Mannes Sorgen auf eines Mannes Schultern, nein durchaus nicht, aber ein neues mächtiges Interesse zog seine Gedanken ab, gerade wie ein Mann die alte Last und Not in der Erregung eines neuen Unternehmens vergessen kann. Dieses starke und mächtige Interesse war eine eben errungene, neue Methode im Pfeifen, die ihm ein befreundeter Nigger kürzlich beigebracht hatte, und die er nun ungestört üben wollte. Die Kunst bestand darin, daß man einen hellen, schmetternden Vogeltriller hervorzubringen sucht, indem man in kurzen Zwischenpausen während des Pfeifens mit der Zunge den Gaumen berührt. Wer von den Lesern jemals ein Junge gewesen ist, wird genau wissen, was ich meine, Tom hatte sich mit Fleiß und Aufmerksamkeit das Ding baldigst zu eigen gemacht und schritt nun die Hauptstraße hinunter, den Mund voll tönenden Wohllauts, die Seele voll stolzer Genugtuung. Ihm war ungefähr zumute, wie einem Astronomen, der einen neuen Stern entdeckt hat, doch glaube ich kaum, daß die Freude des glücklichen Entdeckers der seinen an Größe, Tiefe und ungetrübter Reinheit gleichkommt.

Die Sommerabende waren lang. Noch war’s nicht dunkel geworden. Toms Pfeifen verstummte plötzlich. Ein Fremder stand vor ihm, ein Junge, nur vielleicht einen Zoll größer als er selbst. Die Erscheinung eines Fremden irgendwelchen Alters oder Geschlechtes war ein Ereignis in dem armen, kleinen Städtchen St. Petersburg. Und dieser Junge war noch dazu sauber gekleidet, – sauber gekleidet an einem Wochentage! Das war einfach geradezu unfaßlich, überwältigend! Seine Mütze war ein niedliches, zierliches Ding, seine dunkelblaue, dicht zugeknöpfte Tuchjacke nett und tadellos: auch die Hosen waren ohne Flecken. Schuhe hatte er an, Schuhe, und es war doch heute erst Freitag, noch zwei ganze Tage bis zum Sonntag! Um den Hals trug er ein seidenes Tuch geschlungen. Er hatte so etwas Zivilisiertes, so etwas Städtisches an sich, das Tom in die innerste Seele schnitt. Je mehr er dieses Wunder von Eleganz anstarrte, je mehr er die Nase rümpfte über den »erbärmlichen Schwindel«, wie er sich innerlich ausdrückte, desto schäbiger und ruppiger dünkte ihn seine eigene Ausstattung. Keiner der Jungen sprach. Wenn der eine sich bewegte, bewegte sich auch der andere, aber immer nur seitwärts im Kreise herum. So standen sie einander gegenüber, Angesicht zu Angesicht, Auge in Auge. Schließlich sagt Tom:

»Ich kann dich unterkriegen!«

»Probier’s einmal!«

»N – ja, ich kann.«

»Nein, du kannst nicht.«

»Und doch!«

»Und doch nicht!«

»Ich kann’s.«

»Du kannst’s nicht.«

»Kann’s.«

»Kannst’s nicht.«

Ungemütliche Pause. Dann fängt Tom wieder an:

»Wie heißt du?«

»Geht dich nichts an.«

»Will dir schon zeigen, daß mich’s angeht.«

»Nun, so zeig’s doch.«

»Wenn du noch viel sagst, tu‘ ich’s.«

»Viel – viel – viel! Da! Nun komm ‚ran!«

»Ach, du hältst dich wohl für furchtbar gescheit, gelt du? Du Putzaff‘! Ich könnt‘ dich ja unterkriegen mit einer Hand, auf den Rücken gebunden, – wenn ich nur wollt‘!«

»Na, warum tust du’s denn nicht? Du sagst’s doch immer nur!« »Wart, ich tu’s, wenn du dich mausig machst!«

»Ja, ja, sagen kann das jeder, aber tun – tun ist was andres.«

»Aff‘ du! Gelt du meinst, du seist was Rechtes? – Puh, was für ein Hut!«

»Guck‘ wo anders hin, wenn er dir nicht gefällt. Schlag‘ ihn doch runter! Der aber, der ’s tut, wird den Himmel für ’ne Baßgeig‘ ansehen!«

»Lügner, Prahlhans!«

»Selber!«

»Maulheld! Gelt, du willst dir die Hände schonen?«

»Oh – geh heim!«

»Wart, wenn du noch mehr von deinem Blödsinn verzapfst, so nehm‘ ich einen Stein und schmeiß ihn dir an deinem Kopf entzwei.«

»Ei, natürlich, – schmeiß nur!«

»Ja, ich tu’s!«

»Na, warum denn nicht gleich? Warum wartst du denn noch? Warum tust du ’s nicht? Ätsch, du hast Angst!«

»Ich Hab‘ keine Angst.«

»Doch, doch!«

»Nein, ich hab‘ keine.«

»Du hast welche!«

Erneute Pause, verstärktes Anstarren und langsames Umkreisen. Plötzlich stehen sie Schulter an Schulter. Tom sagt:

»Mach‘ dich weg von hier!«

»Mach‘ dich selber weg!«

»Ich nicht!«

»Ich gewiß nicht!«

So stehen sie nun fest gegeneinander gepreßt, jeder als Stütze ein Bein im Winkel vor sich gegen den Boden stemmend, und schieben, stoßen und drängen sich gegenseitig mit aller Gewalt, einander mit wutschnaubenden, haßerfüllten Augen anstarrend. Keiner aber vermag dem andern einen Vorteil abzugewinnen. Nachdem sie so schweigend gerungen, bis beide ganz heiß und glühendrot geworden, lassen sie wie auf Verabredung langsam und vorsichtig nach und Tom sagt:

»Du bist ein Feigling und ein Aff‘ dazu. Ich sag’s meinem großen Bruder, der haut dich mit seinem kleinen Finger krumm und lahm, wart nur!«

»Was liegt mir an deinem großen Bruder! Meiner ist noch viel größer, wenn der ihn nur anbläst, fliegt er über den Zaun, ohne daß er weiß wie!« (Beide Brüder existierten nur in der Einbildung,)

»Das ist gelogen!«

»Was weißt denn du?«

Tom zieht nun mit seiner großen Zehe eine Linie in den Staub und sagt:

»Da spring‘ rüber und ich hau dich, daß du deinen Vater nicht von einem Kirchturm unterscheiden kannst!«

Der neue Junge springt sofort, ohne sich zu besinnen, hinüber und ruft:

»Jetzt komm endlich ‚ran und tu’s und hau‘, aber prahl‘ nicht länger!«

»Reiz‘ mich nicht, nimm dich in acht!«

»Na, nun mach aber, jetzt bin ich’s müde! Warum kommst du nicht!«

»Weiß Gott, jetzt tu‘ ich’s für zwei Pfennig!«

Flink zieht der fremde Junge zwei Pfennige aus der Tasche und hält sie Tom herausfordernd unter die Nase.

Tom schlägt sie zu Boden.

Im nächsten Moment wälzen sich die Jungen fest umschlungen im Staube, krallen einander wie Katzen, reißen und zerren sich an den Haaren und Kleidern, bläuen und zerkratzen sich die Gesichter und Nasen und bedecken sich mit Schmutz und Ruhm. Nach ein paar Minuten etwa nimmt der sich wälzende Klumpen Gestalt an und in dem Staub des Kampfes wird Tom sichtbar, der rittlings auf dem neuen Jungen sitzt und denselben mit den Fäusten bearbeitet.

»Schrei ›genug‹«, mahnte er.

Der Junge ringt nur stumm, sich zu befreien, er weint vor Zorn und Wut.

»Schrei ›genug‹«, mahnt Tom noch einmal und drischt lustig weiter.

Endlich stößt der Fremde ein halb ersticktes »genug« hervor, Tom läßt ihn alsbald los und sagt: »Jetzt hast du’s, das nächstemal paß auf, mit wem du anbindst!«

Der fremde Junge rannte heulend davon, sich den Staub von den Kleidern klopfend. Gelegentlich sah er sich um, ballte wütend die Faust und drohte, was er Tom alles tun wolle, »wenn er ihn wieder erwische«. Tom antwortete darauf nur mit Hohngelächter und machte sich, wonnetrunken ob der vollbrachten Heldentat, in entgegengesetzter Richtung auf. Sobald er aber den Rücken gewandt hatte, hob der besiegte Junge einen Stein, schleuderte ihn Tom nach und traf ihn gerade zwischen den Schultern, dann gab er schleunigst Fersengeld und lief davon wie ein Hase. Tom wandte sich und setzte hinter dem Verräter her, bis zu dessen Hause, wodurch er herausfand, wo dieser wohnte. Er pflanzte sich vor das Gitter hin und forderte den Feind auf, herauszukommen und den Streit aufzunehmen, der aber weigerte sich und schnitt ihm nur Grimassen durch das Fenster. Endlich kam die Mutter des Feindes zum Vorschein, schalt Tom einen bösen, ungezogenen, gemeinen Buben und hieß ihn sich fortmachen. Tom trollte sich also, brummte aber, er wollte es dem Affen schon noch zeigen.

Erst sehr spät kam er nach Hause, und als er vorsichtig zum Fenster hineinklettern wollte, stieß er auf einen Hinterhalt in Gestalt der Tante. Als diese dann den Zustand seiner Kleider gewahrte, gedieh ihr Entschluß, seinen freien Sonnabend in einen Sträflingstag bei harter Arbeit zu verwandeln, zu eiserner Festigkeit.

  1. In Amerika, sowie in England, ist stets der Sonnabend ein schulfreier Tag.
  2. Abkürzung von Sidney.

Der große Rindfleisch-Kontrakt

Der große Rindfleisch-Kontrakt

Mit so wenigen Worten wie möglich will ich der Nation über meine Beteiligung an einer Sache berichten, welche die öffentliche Meinung in hohem Grade beschäftigt und viel böses Blut erregt hat.

Die traurige Angelegenheit ist von den Zeitungen der alten und der neuen Welt mit den schrecklichsten Übertreibungen und Verzerrungen dargestellt worden; für alle Tatsachen, welche ich anführe, finden sich aber – das kann ich versichern – mehr als genügende urkundliche Beweise in den Staatsarchiven der Union vor. Der Verlauf der Sache war ursprünglich folgender:

John Wilson Mackenzie aus Rotterdam in der Grafschaft Chemung im Staate New Jersey, jetzt verstorben, schloß etwa am 10. Oktober 1861 mit der Regierung der Vereinigten Staaten einen Kontrakt ab, nach welchem er dem General Sherman dreißig Faß eingepökeltes Rindfleisch zu liefern hatte.

Nun gut.

Er machte sich auf, um Sherman das Rindfleisch zu bringen, aber als er in Washington ankam, war der General nach Manassas unterwegs; er zog ihm daher mit dem Rindfleisch nach, kam aber zu spät. Nun folgte er ihm nach Nashville, von Nashville nach Chatanooga, von Chatanooga nach Atlanta – einholen konnte er ihn jedoch nicht. In Atlanta nahm er einen neuen Anlauf und zog auf dem ganzen Marsch nach der Meeresküste hinter Sherman drein. Wieder kam er um einige Tage zu spät; da er aber erfuhr, der General habe sich in der ›Quaker-City‹ nach dem Heiligen Lande eingeschifft, ging er nach Beirut unter Segel, überzeugt, er werde

das andere Schiff einholen können. In Jerusalem angekommen, erhielt er die Nachricht, der General sei nicht mit der ›Quaker-City‹ abgesegelt, sondern nach der Prairie aufgebrochen, um gegen die Indianer zu kämpfen. Er kehrte daher nach Amerika zurück und zog in das Felsengebirge. Nach achtundsechzigtägiger, mühseliger Wanderung durch die Prairie, nur noch vier Meilen von Shermans Hauptquartier entfernt, fiel er den Indianern in die Hände, die ihn mit dem Tomahawk erschlugen, ihm die Kopfhaut abzogen und sich des Rindfleischs bemächtigten. Sie nahmen das ganze bis auf ein Faß, welches Shermans Armee eroberte. Der kühne Reisende erfüllte also sogar im Tode noch seinen Kontrakt wenigstens zum Teil. In seinem Testament, das er wie ein Tagebuch führte, vermachte er den Kontrakt seinem Sohn Bartholomäus W. Dieser schrieb die folgende Rechnung auf – dann starb er:

  Rechnung für die Ver. Staaten.
In Rechnung für John Wilson Mackenzie
von New Jersey, jetzt verstorben, 30 Faß eingepökeltes Rindfleisch
für General Sherman
à 100 Dollars 3 000 Doll.
Reisespesen und Transport des Fleisches 14 000 Doll.
__________________
Summa 17 000 Doll.
Den Betrag empfangen zu haben bescheinigt

Bei seinem Ableben hinterließ er den Kontrakt dem Wm. J. Martin, welcher sich bemühte, die Summe zu erheben, aber darüber starb und seine Forderung an Barker J. Allen vermachte. Auch dieser erhielt bei seinen Lebzeiten keine Bezahlung und hinterließ die Schriftstücke Anson G. Rogers, der bei seinem Versuch, den Betrag einzukassieren, eben bis zum neunten Rechnungsführer gelangt war, als der Tod, der alles zum Abschluß bringt, ungerufen erschien, und ihm die ferneren Verhandlungen abschnitt. Die Papiere hinterließ er einem Verwandten in Connecticut, namens Vengeance Hopkins, welcher es vier Wochen und zwei Tage aushielt und unerhörten Erfolg hatte, denn fast wäre er bis zum zwölften Rechnungsführer gelangt. Er vermachte den Kontrakt testamentarisch seinem Onkel, der Freudenreich Johnson hieß. Aber Freudenreich ertrug es nicht lange. Seine letzten Worte waren: »Ich sterbe gern – weinet nicht über mich!« Und er starb wirklich gern, der arme Mann. Nach seinem Tode erbten noch sieben andere Leute Kontrakt und Rechnung, die alle bald starben. So kamen die Papiere zuletzt in meinen Besitz. Ich erhielt sie von meinem Verwandten Betlehem Hubbard aus Indiana, der schon lange einen Groll gegen mich hegte. Auf seinem Totenbette schickte er nach mir und übergab mir tränenden Auges den Rindfleisch-Kontrakt.

Dies ist die Vorgeschichte desselben, bis zu der Zeit, da er mein Eigentum wurde. Jetzt will ich den Versuch machen, mich angesichts der ganzen Nation wegen meines Anteils an der Sache zu rechtfertigen. Mit dem Kontrakt und der Rechnung über Reisespesen und Transport der gelieferten Ware begab ich mich zu dem Präsidenten der Vereinigten Staaten.

»Was wünschen Sie, mein Herr?« fragte er mich. Ich erwiderte: »Majestät, etwa am 10. Oktober des Jahres 1861 schloß John Wilson Mackenzie aus Rotterdam in der Grafschaft Chemung im Staate New Jersey, jetzt verstorben, mit der Regierung der Vereinigten Staaten einen Kontrakt ab, nach welchem er dem General Sherman dreißig Faß eingepökeltes Rindfleisch – –«

Hier fiel er mir ins Wort, freundlich, aber mit fester Stimme, und entließ mich. Am nächsten Tage machte ich dem Staatssekretär meine Aufwartung.

»Ihr Begehr, mein Herr?« fragte dieser.

»Königliche Hoheit,« begann ich, »etwa am 19. Oktober des Jahres 1861 schloß John Wilson Mackenzie aus Rotterdam in der Grafschaft Chemung im Staate New Jersey, jetzt verstorben, mit der Regierung der Vereinigten Staaten einen Kontrakt ab, nach welchem er dem General Sherman dreißig Faß eingepökeltes Rindfleisch – –«

»Genug, mein Herr – genug, sage ich. Wir haben in diesem Ministerium nichts mit Kontrakten über Rindfleisch zu schaffen.« Ich wurde hinauskomplimentiert. Nachdem ich mir die Sache reiflich überlegt hatte, stattete ich tags darauf dem Marineminister einen Besuch ab. Der sagte: »Rasch, mein Herr, bringen Sie Ihr Anliegen vor; lassen Sie mich nicht warten!«

»Königliche Hoheit,« sagte ich, »etwa am 19. Oktober des Jahres 1861 schloß John Wilson Mackenzie aus Rotterdam in der Grafschaft Chemung im Staate New Jersey, jetzt verstorben, mit der Regierung der Vereinigten Staaten einen Kontrakt ab, nach welchem er dem General Sherman dreißig Faß eingepökeltes Rindfleisch – –«

Weiter kam ich nicht. Auch ihn gingen die Rindfleischlieferungen für General Sherman nichts an. Ich dachte, das sei doch eine recht kuriose Regierung! Es hatte ja fast den Anschein, als habe sie überhaupt keine Lust, das Rindfleisch zu bezahlen. Am nächsten Tage ging ich zum Minister des Innern.

»Kaiserliche Hoheit,« sagte ich, »etwa am 10. Oktober des –«

»Sparen Sie sich die Mühe, mein Herr,« fuhr er auf; »ich habe schon von Ihnen gehört. Machen Sie, daß Sie mit Ihrem niederträchtigen Kontrakt aus dem Hause kommen. Mit der Verproviantierung der Armeen hat das Ministerium des Innern durchaus nichts zu tun.«

Ich entfernte mich: aber jetzt war ich wirklich aufgebracht. So leichten Kaufs sollten sie mich nicht los werden: ich nahm mir vor, jedes Departement dieser gottlosen Regierung heimzusuchen, bis das Geschäft mit dem Kontrakt geordnet sei. Entweder wollte ich das Geld einkassieren oder das Leben lassen bei dem Versuch, wie alle meine Vorgänger. Ich ging dem Generalpostmeister zu Leibe, ich belagerte das Ackerbauministerium, ich lauerte dem Sprecher des Repräsentantenhauses auf. Sie alle hatten nichts mit Armeelieferungen von Rindfleisch zu schaffen. Darauf wandte ich mich an den Vorsitzenden des Patentamts.

»Hochwohlgeborene Excellenz,« sagte ich, »etwa am – –«

»Zum Henker, sind Sie mit Ihrem verfluchten Rindfleisch-Kontrakt endlich auch hierher gelangt! Ich versichere Sie, werter Herr, uns gehen weder die Armeelieferungen etwas an, noch Ihr Kontrakt.«

»O, das kann jeder sagen – – irgend jemand muß das Fleisch doch bezahlen! Die Sache wird jetzt auf der Stelle ins reine gebracht, sonst lege ich Beschlag auf dies alte Patentamt, mit allem was darin ist.«

»Aber bester Herr! –«

»Es ist mir alles einerlei. Das Patentamt ist verpflichtet, das Rindfleisch zu bezahlen. Darauf bestehe ich. Alle Ausreden sind umsonst; ich wanke und weiche nicht vom Platze, bis das Patentamt bezahlt hat.«

Die weiteren Einzelheiten tun nichts zur Sache. Sie endete in einer Prügelei und das Patentamt behielt die Oberhand. Aber etwas hatte ich bei der Gelegenheit doch erfahren, was mir Vorteil brachte, nämlich, daß, wenn ich zur richtigen Behörde gehen wolle, ich mich an das Schatzamt wenden müsse. Ich begab mich dorthin und wartete drittehalb Stunden, dann ward ich beim ersten Lord der Schatzkammer vorgelassen.

»Alleredelster, würdigster und hochgeschätztester Signor,« sagte ich, »etwa am 10. Oktober des Jahres 1861 schloß John Wilson Macken – –«

»Nicht weiter, mein Herr – ich weiß, ich weiß! Gehen Sie zum ersten Rechnungsführer.«

Das tat ich und er schickte mich zum zweiten Rechnungsführer. Der schickte mich zum Oberregistrator der Abteilung für Pökelfleisch. Das fing doch an geschäftsmäßig auszusehen! Er ging die Bücher durch, auch alle noch ungehefteten Akten, fand aber den Rindfleisch-Kontrakt nirgends eingetragen und schickte mich zum zweiten Registrator. Auch dieser sah seine Bücher und Papiere durch, aber ohne Erfolg. Jetzt schöpfte ich neuen Mut und kam im Laufe der Woche bis zum sechsten Registrator der Pökelfleisch-Abteilung. In der zweiten Woche machte ich die Abteilung für Schuldforderungen durch, in der dritten erledigte ich die Abteilung für unerfüllte Kontrakte und faßte Fuß in der Abteilung für unbezahlte Rechnungen. Dort waren meine Erkundigungen schon nach drei Tagen zu Ende.

Es gab jetzt nur noch einen Ort, wo ich nachfragen konnte. Ich belagerte den Kommissionär für Bagatellsachen. Das heißt, er selbst war nicht da, ich hielt mich an einen Schreiber. In dem Zimmer befanden sich sechzehn wunderhübsche Damen, welche die Bücher führten, und sieben Schreiber von wohlgefälligem Äußeren, die ihnen zeigten, wie sie es machen müßten. Die jungen Damen wandten den Kopf und lächelten über ihre Schultern nach oben, die Schreiber lächelten zu ihnen hinab und es ging so lustig her, wie wenn die Glocke zur Hochzeit läutet. Zwei oder drei andere Schreiber, welche die Zeitung lasen, sahen mich mit scharfen Blicken an, fuhren aber fort zu lesen und niemand sprach ein Wort. An solche Zuvorkommenheit und bereitwillige Bedienung war ich aber in meiner ereignisreichen Laufbahn schon gewöhnt, da ich sie seit dem Tage, als ich das erste Büro der Pökelfleisch-Abteilung betrat, bis ich das letzte verließ, um mich in die Abteilung für Bagatellsachen zu begeben, bei allen Schreibergehilfen der Registratoren angetroffen hatte. Durch viele Übung war ich schon so weit gekommen, daß ich, von meinem Eintritt ins Büro an, bis zu dem Augenblick, daß der Schreiber mich anredete, auf einem Bein stehen konnte, ohne dasselbe mehr als zwei- oder höchstens dreimal zu wechseln.

Jetzt stand ich hier, bis ich das Bein viermal gewechselt hatte. Dann sagte ich zu einem der Schreiber, welche lasen:

»Erlauchter Bummler, wo ist der Großtürke?«

»Was meinen Sie, mein Herr? Wen meinen Sie? – Wenn Sie den Bürochef meinen – der ist ausgegangen.«

»Wird er heute noch den Harem besuchen?«

Der junge Mann sah mich eine Weile grimmig an und vertiefte sich dann wieder in seine Zeitung. Aber das kümmerte mich nicht, ich kannte die Art dieser Schreiber und wußte, daß Hoffnung für mich vorhanden sei, wenn er eher fertig wurde, als die neuen Zeitungen aus New York eintrafen. Er war jetzt schon bei dem vorvorletzten Tageblatt angekommen. Er gähnte und fragte nach meinem Begehr.

»Weltberühmter und hochverehrter Staatsmann, etwa am 10. –«

»Ah, Sie sind der Mann mit dem Rindfleisch-Kontrakt. Geben Sie mir Ihre Papiere.«

Er nahm sie in Empfang und wühlte dann lange Zeit in seinen Bagatellsachen herum. Endlich fand er die Nordwestpassage, oder was für mich dasselbe bedeutete, den lange verlorenen Vermerk über den Rindfleisch-Kontrakt – die Klippe, an welcher so viele meiner Vorgänger gescheitert waren, ohne sie je zu erreichen. Meine Rührung war groß und doch frohlockte ich im Herzen – denn ich lebte ja noch. Ich sagte mit bewegter Stimme:

»Geben Sie mir das Dokument! Die Regierung wird jetzt sicherlich die Schuld abtragen.«

Er bedeutete mir jedoch, ich solle mich gedulden, es sei vorher noch etwas zu erledigen.

»Wo ist jener John Wilson Mackenzie?« fragte er.

»Tot.«

»Wann ist er gestorben?«

»Gestorben ist er überhaupt nicht – man hat ihn totgeschlagen.«

»Wie das?«

»Mit einem Tomahawk erschlagen.«

»Wer hat ihn mit dem Tomahawk erschlagen?«

»Natürlich doch ein Indianer. Sie glaubten doch nicht, der Superintendent einer Sonntagsschule hätte es getan?«

»Nein. Also ein Indianer war es?«

»Jawohl.«

»Sein Name?«

»Sein Name? – Ich werde doch nicht seinen Namen wissen sollen!«

»Name unbedingt erforderlich. Wer hat denn gesehen, daß er mit dem Tomahawk erschlagen wurde?«

»Das weiß ich nicht.«

»Sie selbst waren also nicht zugegen?«

»Nein – wie Sie an meinen Haaren sehen können.«

»Woher wissen Sie denn, daß Mackenzie tot ist?«

»Weil er zu jener Zeit wirklich gestorben und seitdem auch tot geblieben ist, wie ich allen Grund habe zu glauben. Ja, ich weiß es ganz bestimmt.«

»Wir müssen Beweise haben. Ist der Indianer zur Stelle?«

»Natürlich nicht.«

»Den müssen Sie herbeischaffen. Haben Sie den Tomahawk hier?«

»Bewahre, ich denke gar nicht daran.«

»Sie müssen den Tomahawk beibringen und ihn uns zusamt dem Indianer vorführen. Wenn sich hierdurch Mackenzies Tod beweisen läßt, haben Sie sich an die Kommission zu wenden, welche eingesetzt ist, um schwebende Forderungen zu prüfen. Vielleicht kommt dann Ihre Sache so in den Zug, daß Ihre Kinder die Bezahlung der Rechnung noch erleben und das Geld verzehren können. Aber vor allem muß der Tod jenes Mannes bewiesen werden. Übrigens kann ich Ihnen gleich noch sagen, daß die Regierung die Transport- und Reisespesen des seligen Mackenzie nimmermehr bezahlen wird. Möglicherweise wird sie das Faß Pökelfleisch bezahlen, welches Shermans Soldaten erobert haben, wenn Sie auf Schadenersatz klagen und der Kongreß Ihre Forderung anerkennt; aber die neunundzwanzig Faß, welche die Indianer aufgegessen haben, wird sie Ihnen nicht bezahlen.«

»Demnach hätte ich nur hundert Dollars zu beanspruchen und selbst diese sind mir nicht sicher! Und das nach Mackenzies endlosem Hin- und Herreisen mit dem Pökelfleisch in Europa, Asien und Amerika, nach allen Beschwerden, Prüfungen und Plackereien, die er erduldet hat, nach dem Hinsterben so vieler Unschuldiger, die bei dem Versuch, die Rechnung einzukassieren, ums Leben gekommen sind! Junger Mann, warum hat mir der Oberregistrator der Pökelfleisch-Abteilung das nicht gleich gesagt?«

»Er wußte nicht, daß Ihr Anspruch begründet war.«

»Warum hat es mir der zweite, der dritte nicht gesagt – warum erfuhr ich es in keiner einzigen der Abteilungen und Unterabteilungen?«

»Weil man nirgends etwas davon wußte. Bei uns geschieht alles nach dem Geschäftsgang. Dem sind Sie gefolgt und haben in Erfahrung gebracht, was Sie zu wissen wünschten. Es ist das der beste Weg. Er ist ganz ordnungsmäßig, man kommt dabei sehr langsam, aber sehr sicher zum Ziel.«

»Jawohl, zum sichern Tode. Dahin hat er die meisten der Unsrigen geführt. Ich fühle, daß es auch mit mir zu Ende geht. – Junger Mann, Sie lieben jenes fröhliche Geschöpf da drüben mit den sanften, blauen Augen und dem Federhalter hinter dem Ohr – ich sehe das an Ihren schmachtenden Blicken. Sie wünschen sie zu heiraten – aber Sie sind arm. Hier – strecken Sie die Hand aus, hier ist der Rindfleisch-Kontrakt! Wohlan, nehmt euch, seid glücklich! Gott segne euch, meine Kinder!«

 

Das ist alles, was ich von dem großen Rindfleisch-Kontrakt weiß, der so viel Aufsehen in der Welt gemacht hat. Der Schreiber, dem ich ihn abgetreten habe, ist gestorben. Was weiter aus dem Kontrakt und seinen späteren Besitzern geworden ist, vermag ich nicht zu sagen. Nur soviel weiß ich, daß, wenn jemand lange genug am Leben bleibt, um seine Sache durch das ganze Umständlichkeitsamt in Washington hindurch zu verfolgen, er zuletzt, nach vieler Mühe, Arbeit und Verzögerung, das herausfinden wird, was er am ersten Tage hätte erfahren können, wenn der Geschäftsgang im Umständlichkeitsamt so geschickt und zweckentsprechend geregelt wäre, wie in jedem großen kaufmännischen Institut.

Der gestohlene weiße Elefant

Der gestohlene weiße Elefant

I.

Die folgende merkwürdige Geschichte wurde mir von einem Manne erzählt, den ich zufällig auf der Eisenbahn kennen lernte. Er war ein alter Herr von mehr als siebzig Jahren, dessen gutmütiges Gesicht und aufrichtiges Wesen jedem seiner Worte den unverkennbaren Stempel der Wahrhaftigkeit aufdrückte. Er sagte:

 

Sie wissen, welche Verehrung der königliche weiße Elefant von Siam bei der Bevölkerung jenes Landes genießt. Sie wissen, daß er den Königen geweiht ist, daß nur Könige ihn besitzen dürfen und daß er in einer Hinsicht selbst den Königen überlegen ist, indem er nicht bloß geehrt, sondern auch angebetet wird. Nun gut; als sich vor fünf Jahren Streitigkeiten über die Grenzlinie zwischen Britisch-Indien und Siam erhoben, stellte sich alsbald heraus, daß Siam Unrecht hatte. So wurde denn die Sache rasch und zur Zufriedenheit des Vertreters von England geregelt. Teils zum Zeichen seiner Dankbarkeit, teils auch wohl, um jede noch etwa vorhandene Spur von Mißstimmung auf englischer Seite zu verwischen, beabsichtigte der König von Siam der Königin Viktoria ein Geschenk zu senden – nach orientalischen Begriffen der einzig sichere Weg, einen Feind zu beschwichtigen. Dieses Geschenk sollte nicht nur ein königliches, sondern auch in jeder Beziehung einzig sein. Was konnte sich dazu besser eignen, als ein weißer Elefant? Da ich eine angesehene Stellung im indischen Zivildienst einnahm, ward ich der Ehre gewürdigt, Ihrer Majestät das Geschenk zu überbringen. Man rüstete für mich und meine Dienerschaft nebst den Wärtern des Elefanten ein Schiff aus. Ich gelangte zur gehörigen Zeit im Hafen von New-York an und brachte meinen königlichen Schutzbefohlenen in einem prächtigen Quartiere zu Jersey-City unter. Wir mußten notgedrungen einige Zeit rasten, bevor wir die Reise fortsetzten, denn die Kräfte des Tieres verlangten Schonung.

Vierzehn Tage lang ging alles gut – dann begannen meine Nöte. Der weiße Elefant war gestohlen worden! Man hatte mich mitten in der Nacht aufgeweckt und von dem entsetzlichen Verlust benachrichtigt. Ich war einige Augenblicke außer mir vor Schreck und Angst; dann wurde ich ruhiger und sammelte meine fünf Sinne. Ich sah bald, welchen Weg ich einzuschlagen hatte – für einen vernünftigen Menschen konnte es in der Tat nur einen geben. Trotz der späten Stunde eilte ich sogleich nach New York und ließ mich von einem Schutzmann nach dem Hauptquartier der Geheimpolizei führen. Ich langte noch zur rechten Zeit an, gerade als der Chef, der berühmte Inspektor Blunt, im Begriff war, nach Hause zu gehen. Er war ein Mann von mittlerer Größe und gedrungenem Körperbau. Schon sein Anblick flößte mir Hoffnung und Vertrauen ein. Wenn er in tiefes Nachdenken versunken war, hatte er eine Art, die Brauen zusammenzuziehen und sich mit dem Zeigefinger nachdenklich auf die Stirn zu klopfen, die mich sofort überzeugte, es mit keiner gewöhnlichen Persönlichkeit zu tun zu haben. Ich trug ihm meine Sache vor: sie brachte ihn nicht im geringsten aus der Fassung; ja – machte sichtlich nicht mehr Eindruck auf seine eherne Selbstbeherrschung, als wenn es sich um einen gestohlenen Hund handelte. Er wies mir einen Sitz an und sagte ruhig:

»Bitte, lassen Sie mich ein wenig nachdenken.«

Indem er das sagte, setzte er sich an seinen Schreibtisch und stützte den Kopf mit der Hand. Einige Schreiber arbeiteten am andern Ende des Zimmers; das Kratzen ihrer Federn war das einzige Geräusch, das ich während der nächsten sechs oder sieben Minuten hörte. Mittlerweile blieb der Inspektor in tiefe Gedanken versunken; endlich erhob er das Haupt, und in den festen Zügen seines Gesichts lag etwas, was mir anzeigte, daß sein Gehirn seine Schuldigkeit getan habe und daß sein Plan fertig sei. Er sprach – seine Stimme war leise und eindringlich –:

»Kein gewöhnlicher Fall das! Jeder Schritt muß vorsichtig geschehen; jeder Schritt muß sicher gemacht werden, bevor der nächste gewagt wird. Und die Sache muß verschwiegen bleiben – tiefes, unverbrüchliches Geheimnis. Sprechen Sie mit niemand darüber, nicht einmal mit den Reportern: ich will dafür sorgen, daß sie nur erfahren und berichten, was meinen Zwecken dient.« Er schellte; ein Jüngling erschien. »Alarich, sagen Sie den Reportern, sie sollen vorläufig dableiben.« Der Jüngling verschwand. »Und nun zur Sache – und das systematisch. In meinem Beruf kann man es zu nichts bringen, ohne strenge und genaue Methode.«

Er ergriff eine Feder und legte sich einen Bogen Papier zurecht. »Nun! – der Name des Elefanten?«

»Hassan Ben Ali Ben Selim Abdallah Mohamed Moisé Alhammal Jamtsetjejeebhoy Dhulepp Sultan Ebu Bhudpoor.«

»Sehr gut. Rufname?«

»Jumbo.«

»Sehr gut. Geburtsort?«

»Die Hauptstadt von Siam.«

»Eltern lebend?«

»Nein – tot.«

»Hatten sie noch andere Nachkommenschaft?«

»Nein, er war der einzige Sohn.«

»Gut! Diese Personalien genügen für diese Rubrik. Und nun, bitte, beschreiben Sie den Elefanten und lassen Sie keine Einzelheit aus, sei sie auch noch so unbedeutend – d. h. unbedeutend von Ihrem Gesichtspunkt aus. Für Leute meines Berufs gibt es keine unbedeutenden Einzelheiten.«

Ich beschrieb und er schrieb nieder; als ich zu Ende war, sagte er:

»Hören Sie zu und berichtigen Sie mich, wenn ich einen Fehler gemacht habe.«

Er las wie folgt:

»Höhe 19 Fuß; Länge von der Stirn bis zum Schwanzansatz 26 Fuß; Länge des Rüssels 16 Fuß; Länge des Schwanzes 6 Fuß; Totallänge einschließlich Rüssel und Schwanz 48 Fuß; Länge der Fangzähne 9 1/2 Fuß; Ohren, im Verhältnis zu diesen Dimensionen; Fußspur gleicht der Spur eines Fasses, das man im Schnee aufrecht stellt: Farbe des Elefanten ein schmutziges Weiß; hat in jedem Ohr ein Loch von der Größe eines Tellers zum Einhängen von Schmucksachen; besitzt in hohem Grade die Gewohnheit, Gaffer mit Wasser zu bespritzen und mit seinem Rüssel nicht nur Leute, mit denen er bekannt ist, sondern selbst Fremde zu mißhandeln; hat eine Narbe unter der Achselhöhle, hinkt ein wenig auf dem rechten Hinterbein und hatte, als er gestohlen wurde, auf dem Rücken einen Turm mit Sitzen für fünfzehn Personen und eine Satteldecke aus Goldbrokat von der Größe eines gewöhnlichen Teppichs.«

Das Signalement war tadellos; der Inspektor schellte, händigte Alarich die Beschreibung ein und sagte:

»Lassen Sie sogleich fünfzigtausend Exemplare von diesem Signalement drucken und per Bahn an alle Polizeiämter und Pfandleiher in Nordamerika versenden.« Alarich zog sich zurück. »So, damit wären wir fertig. Nun muß ich eine Photographie des gestohlenen Eigentums haben.«

Ich gab ihm eine; er betrachtete sie kritisch und fragte:

»Sie muß genügen, da wir keine bessere haben; aber er hat den Rüssel aufgerollt und in den Mund gesteckt. Das ist schade, denn es kann leicht irre führen, weil er natürlich den Rüssel für gewöhnlich nicht so trägt.« Er schellte.

»Alarich, lassen Sie sogleich fünfzigtausend Abdrücke dieser Photographie anfertigen und mit dem Signalement versenden.«

Alarich ging, um seine Befehle zu vollziehen. Der Inspektor sagte:

»Man wird natürlich eine Belohnung aussetzen müssen. Wie hoch meinen Sie?«

»Welche Summe würden Sie mir raten?«

»Vorerst würde ich sagen – nun, fünfundzwanzigtausend Dollars. Es ist eine verwickelte und schwierige Arbeit; es gibt tausend Gelegenheiten zum Entkommen und zum Verbergen. Diese Diebe haben überall Freunde und Helfershelfer – –.«

»Lieber Himmel, wissen Sie denn, wer sie sind?«

Das kluge Gesicht, geübt im Verbergen der Gedanken und Gefühle, verriet mir nicht das mindeste, ebensowenig die vollkommen ruhig geäußerte Erwiderung:

»Lassen Sie’s gut sein! Vielleicht weiß ich’s, vielleicht auch nicht. Wir gewinnen gewöhnlich einen ziemlich deutlichen Hinweis auf die Täter aus der Art und Weise, wie sie zu Werk gehen und aus der Größe ihres Raubes. Wir haben es hier nicht mit einem Taschendieb oder Uhrenabzwicker zu tun, darauf können Sie Gift nehmen – dieser Gegenstand wurde von keinem Anfänger ›aufgehoben‹. Aber, was ich sagen wollte, in Anbetracht der vielen Reisen, die gemacht werden müssen, und des Eifers, mit dem die Diebe ihre Spuren verwischen werden, mögen fünfundzwanzigtausend Dollars fast zu wenig sein; doch kann man immerhin damit anfangen.«

So einigten wir uns denn über diese Summe für den Anfang. Dann sagte der Inspektor, dem nichts entging, was nur irgendwie als Fingerzeig dienen konnte:

»Es gibt in der Polizeigeschichte Fälle, die beweisen, daß Verbrecher durch Eigentümlichkeiten in ihrer Geschmacksrichtung entdeckt worden sind. Sagen Sie, was ißt Ihr Elefant, und wieviel?«

»Was er ißt? – einfach alles! Er ißt einen Menschen, er ißt eine Bibel – er ißt alles, was zwischen Mensch und Bibel liegt.«

»Gut, wirklich sehr gut, aber zu allgemein. Ich brauche Details – Details haben in unserem Berufe allein Wert. Also, die Menschen betreffend: wie viele davon wird er, wenn sie frisch sind, zu einer Mahlzeit oder – sagen wir – während eines Tages verzehren?«

»Er wird keinen großen Unterschied machen, ob frisch oder nicht; und ich denke, daß fünf Menschen eine gewöhnliche Mahlzeit für ihn sind.«

»Sehr gut – fünf Menschen; wir wollen das notieren. Welche Rassen hat er am liebsten?«

»In dieser Beziehung ist er nicht sehr wählerisch. Er zieht Bekannte vor, hat aber keinerlei Voreingenommenheit gegen Fremde.«

»Sehr gut – nun zu den Bibeln. Wie viele Bibeln würde er zu einer Mahlzeit brauchen?«

»Eine ganze Auflage.«

»Das ist kaum genau genug. Meinen Sie die gewöhnliche Oktavbibel oder die illustrierte Familienbibel?«

»Ich glaube nicht, daß ihm an den Illustrationen viel liegen würde – d. h. er wird sie nicht höher schätzen als einfachen Druck.«

»Sie haben mich nicht recht verstanden. Es kommt auf das Gewicht an. Die gewöhnliche Oktavbibel wiegt etwa zwei und ein halbes Pfund, während die Großquartbibel mit den Illustrationen von Doré zehn bis zwölf Pfund wiegt. Wie viel Dorébibeln würde er wohl auf einmal verzehren?«

»Man sieht, daß Sie den Elefanten nicht kennen, sonst würden Sie nicht fragen. Er frißt ganz einfach soviel, als man ihm gibt.«

»Gut, drücken Sie es in Dollars und Cents aus; wir müssen uns bestimmt fassen. Die Dorébibel kostet hundert Dollars pro Exemplar, in Juchtenleder gebunden …«

»Er würde für etwa fünfzigtausend Dollars brauchen – sagen wir, eine Auflage von fünfhundert Exemplaren.«

»So, das ist genauer; ich will’s notieren. Also, er ißt gerne Menschen und Bibeln – das hätten wir! Was ißt er sonst? Ich brauche Details.«

»Hat er keine Bibeln, so ißt er Backsteine: hat er keine Backsteine, so ißt er Flaschen; hat er keine Flaschen, so ißt er Kleider; hat er keine Kleider, so ißt er Katzen; hat er keine Katzen, so ißt er Austern; er ißt ferner Schinken, Zucker, Pasteten, Kartoffeln, Kleie, Heu, Hafer und besonders Reis, denn damit wurde er hauptsächlich aufgezogen, kurzum er frißt alles, was er kriegen kann.«

»Sehr gut. – Gewöhnliche Menge zu einer Mahlzeit?«

»Nun, so zwischen sieben und acht Zentner.«

»Und er trinkt – –«

»Alles, was flüssig ist: Milch, Wasser, Schnaps, Syrup, Kastoröl, Kamphergeist, Karbolsäure – es ist unnütz, auf Einzelheiten einzugehen; was Ihnen Flüssiges einfällt, notieren Sie getrost.«

»Sehr gut. Quantität?«

»Notieren Sie acht bis fünfundzwanzig Hektoliter – sein Durst schwankt, sein Appetit wenig.«

»Das sind alles sehr bemerkenswerte Anhaltspunkte, und sehr dienlich zu seiner Aufspürung.«

Er schellte.

»Alarich, senden Sie Kapitän Burns herein.«

Burns erschien; Inspektor Blunt enthüllte ihm die ganze Angelegenheit Punkt für Punkt. Dann sagte er in der klaren, entschiedenen Weise eines Mannes, der sich seinen Plan genau vorgezeichnet hat und ans Befehlen gewöhnt ist:

»Kapitän Burns, weisen Sie die Detektivpolizisten Jones, Davis, Halsey, Bates und Hackett an, den Elefanten aufzuspüren.«

»Sehr wohl, Sir.«

»Weisen Sie die Detektivpolizisten Moses, Dakin, Murphy, Rogers, Tupper, Higgins und Bartholomey an, die Diebe aufzuspüren.«

»Sehr wohl, Sir.«

»Senden Sie eine starke Wache – eine Wache von dreißig auserlesenen Leuten mit einer Ablösung von dreißig Mann – an den Ort, wo der Elefant gestohlen wurde; sie sollen dort scharfe Wache halten Tag und Nacht und niemand – Reporter ausgenommen – ohne schriftliche Ermächtigung von mir in die Nähe kommen lassen.«

»Sehr wohl, Sir.«

»Verteilen Sie Detektivs in gewöhnlicher Kleidung auf den Bahnhöfen, Dampfschiffen und Landungsdepots und auf allen Wegen, die aus Jersey-City führen, mit dem Befehle, alle verdächtigen Personen zu durchsuchen.«

»Sehr wohl, Sir.«

»Versehen Sie alle diese Leute mit der Photographie und dem Signalement des Elefanten und instruieren Sie diese, alle Züge und abgehenden Fahrzeuge genau zu visitieren.«

»Sehr wohl, Sir.«

»Wenn der Elefant gefunden werden sollte, so ergreife man ihn und benachrichtige mich telegraphisch.«

»Sehr wohl, Sir.«

»Lassen Sie mich sogleich benachrichtigen, wenn eine Spur gefunden werden sollte – Fußspuren oder dergleichen.«

»Sehr wohl, Sir.«

»Erlassen Sie einen Befehl an die Hafenpolizei, fleißig am Ufer zu patrouillieren.«

»Sehr wohl, Sir.«

»Senden Sie Detektivs in gewöhnlicher Kleidung mit allen Bahnzügen ab – nördlich bis Kanada, westlich bis Ohio, südlich bis Washington.«

»Sehr wohl, Sir.« »Stellen Sie Sachverständige in allen Telegraphenämtern auf; dieselben sollen auf alle Telegramme achten und sich die chiffrierten Depeschen entziffern lassen.«

»Sehr wohl, Sir.«

»Lassen Sie dieses alles mit der äußersten Heimlichkeit ausführen – hören Sie, mit der undurchdringlichsten Heimlichkeit.«

»Sehr wohl, Sir.«

»Rapportieren Sie mir pünktlich zur gewöhnlichen Stunde.«

»Sehr wohl, Sir.«

»Nun können Sie gehen!«

»Sehr wohl, Sir« – und fort war er.

Inspektor Blunt war einen Augenblick still und nachdenklich, dann ließ das Feuer in seinen Augen nach und verlosch. Hierauf wandte er sich zu mir und sagte in ruhigem Ton:

»Ich rühme mich nicht gern, es ist das nicht meine Sache; aber wir werden den Elefanten finden.«

Ich schüttelte ihm warm die Hand und dankte ihm – der Dank kam von Herzen. Je mehr ich von dem Manne gesehen hatte, desto mehr schätzte und bewunderte ich ihn, desto mehr staunte ich über die mysteriösen Wunder seines Berufs. Dann trennten wir uns für die Nacht und ich ging nach Hause – mit viel leichterem Herzen als ich gekommen war.

II.

Am nächsten Morgen stand alles haarklein in den Zeitungen, sogar mit Zusätzen – bestehend aus Detektiv A’s, Detektiv B’s und Detektiv N. N’s ›Theorie‹ in bezug auf die Ausführung des Diebstahls, auf die Person der Diebe und auf die Richtung, in der sie mit ihrer Beute entflohen waren. Es waren elf solcher Theorien zu lesen, welche alle Möglichkeiten erschöpften, ein Beweis, was für verständige Denker die Geheimpolizisten sind. Nicht zwei von den elf Theorien stimmten überein oder glichen sich auch nur halbwegs, außer in einem einzigen auffallenden Punkt, in dem alle elf Theorien einander gleich waren. Obgleich nämlich die Rückwand des Gebäudes herausgerissen und die einzige Türe verschlossen geblieben war, stellten alle elf Theorien die Behauptung auf, daß der Elefant nicht durch jene Bresche, sondern auf irgend einem andern (noch unentdeckten) Wege entfernt worden sei, und daß die Diebe jene Öffnung nur gemacht hätten, um die Polizei irre zu führen. Daran würde ich oder irgend ein anderer Laie vielleicht nie gedacht haben, die Detektivs aber hatten den Umstand auch nicht einen Augenblick verkannt. So war das einzige Moment, hinter dem ich kein Geheimnis vermutet hatte, gerade dasjenige, worin ich am weitesten fehlgegangen war. Alle elf Theorien nannten die vermutlichen Diebe, keine zwei aber dieselben; die Totalsumme der verdächtigen Personen war siebenunddreißig. Die verschiedenen Zeitungen schlossen alle mit der wichtigsten Ansicht von allen – der des Inspektors Blunt. Dieselbe lautete im Auszug wie folgt:

»Der Chef weiß, wer die zwei Haupttäter sind – nämlich Brick Duffy und der ›rote‹ McFadden. Zehn Tage vor der Ausführung des Diebstahls wußte er bereits, daß derselbe versucht werden würde, und hat sich in aller Stille daran gemacht, diese zwei notorischen Spitzbuben zu verfolgen; unglücklicherweise aber ging in der fraglichen Nacht ihre Spur verloren, und ehe man sie wieder auffinden konnte, war der Vogel – das heißt der Elefant – ausgeflogen.

»Duffy und McFadden sind die verwegensten Schurken in der ganzen Verbrecherzunft; der Chef hat Grund zu der Annahme, daß sie die Männer sind, die letzten Winter in einer bitterkalten Nacht den Ofen aus der Polizeiwache stahlen, infolgedessen sich vor Tagesanbruch der Chef und sämtliche Geheimpolizisten in ärztlicher Behandlung befanden; – einige wegen erfrorener Füße, andere wegen erfrorener Hände, Ohren, Nasen und anderer Körperteile.«

Als ich die erste Hälfte dieser Theorie las, war ich mehr als je erstaunt über den wunderbaren Scharfsinn des seltenen Mannes: er sah nicht nur alles Gegenwärtige mit klaren Augen, auch das Zukünftige entschleierte sich vor seinem Blicke. Ich begab mich alsbald in sein Bureau und sagte ihm, ich bedauere nur, daß er jene Spitzbuben nicht habe festnehmen lassen, wodurch das ganze Unheil verhütet worden wäre; aber seine Antwort war kurz und bündig:

»Es ist nicht unseres Amtes, das Verbrechen zu verhindern, sondern es zu bestrafen. Das können wir aber erst, nachdem es begangen worden ist.«

Ich bemerkte, daß die Heimlichkeit, mit der wir zu Werk gegangen, durch die Zeitungen verletzt worden sei, nicht nur alle Tatsächlichkeiten, sondern auch alle unsere Anhaltspunkte und Absichten seien enthüllt und selbst alle verdächtigen Personen namhaft gemacht worden – letztere würden sich jetzt ohne Zweifel maskieren oder ihre geheimen Schlupfwinkel aufsuchen. »Sie sollen’s nur!« sagte der Inspektor. »Sie werden bald merken, daß, wenn ich es auf sie abgesehen habe, meine Hand auf sie niederfallen wird, so unfehlbar wie die Hand des Schicksals. Was die Zeitungen anbelangt, so müssen wir mit ihnen rechnen: Ruhm, Reputation, fortwährende öffentliche Erwähnung – sind des Geheimpolizisten täglich Brot. Er muß seine Entdeckungen veröffentlichen, sonst glaubt man, daß er keine macht; er muß seine Theorie veröffentlichen, es gibt nichts Seltsameres und Überraschenderes als die Theorie eines Polizisten, und nichts trägt ihm so viel Bewunderung und Hochachtung ein; wir müssen unsere Pläne veröffentlichen, denn die Zeitungen bestehen darauf, und wir können es ihnen nicht abschlagen, ohne sie zu beleidigen. Wir müssen dem Publikum zeigen, was wir tun, damit es nicht glaubt, daß wir nichts tun. Es ist viel angenehmer, wenn eine Zeitung schreibt: ›Inspektor Blunts geniale und ungewöhnliche Theorie lautet wie folgt,‹ als wenn sie einen unfreundlichen oder – was noch schlimmer – sarkastischen Artikel bringt.«

»Ich verkenne das Zwingende dieser Gründe nicht. – In einem Teil Ihrer Bemerkungen in den Morgenzeitungen fiel mir auf, daß Sie mit Ihrer Ansicht über einen gewissen untergeordneten Punkt zurückhielten.«

»Ja, das tun wir stets; es macht immer Effekt. Übrigens hatte ich mir über jenen Punkt eine Ansicht noch gar nicht gebildet.«

Ich deponierte bei dem Inspektor eine beträchtliche Geldsumme zur Bestreitung der laufenden Ausgaben und setzte mich dann nieder, um auf Nachrichten zu warten; jeden Augenblick konnten Telegramme einlaufen. Inzwischen blätterte ich die Zeitungen und unser Zirkularsignalement nochmals durch und entdeckte, daß anscheinend unsere 25 000 Dollars Belohnung nur für Detektivpolizisten ausgesetzt waren. Ich war der Meinung gewesen, jeder solle sie bekommen, der den Elefanten auffinden würde. Der Inspektor klärte mich auf:

»Meine Geheimen werden den Elefanten auffinden, die Belohnung muß daher an die rechte Adresse gelangen. Wenn andere Leute das Tier fänden, so wäre das nur dadurch möglich, daß sie die Polizisten ausspionieren und aus Kenntnissen und Beobachtungen der Polizisten, welche sie sich zu eigen gemacht, Vorteil ziehen; an der Berechtigung der Polizei zu der Belohnung könnte das nichts ändern. Eine solche Belohnung ist dazu da, die Männer, welche dieser Art von Arbeit ihrer Zeit und ihren ausgebildeten Scharfsinn widmen, anzuspornen, nicht aber dem ersten besten in den Schoß zu fallen, der zufällig einen Fang gemacht hat.«

Das war sicher nur recht und billig. Auf einmal begann der Telegraphenapparat in der Ecke zu ticken, das Resultat war folgende Depesche:

 

» Flower-Station, New York: 7.30 vorm.

Habe eine Spur. Fand eine Reihe tiefer Spuren, die über eine benachbarte Farm führen. Folgte ihnen eine halbe Stunde östlich ohne Resultat; der Elefant ging wahrscheinlich westlich. Werde ihm jetzt in jener Richtung nachspüren.
Darley, Detektiv.«

 

»Darley ist einer unserer tüchtigsten Polizisten,« sagte der Inspektor. »Wir werden bald mehr von ihm hören.«

Telegramm Nr. 2 kam:

» Barkers, New Jersey: 7.40 vorm.

Eben angekommen. Glasfabrik hier während der Nacht erbrochen und 800 Flaschen entwendet. Wasser in größerer Menge erst fünf Meilen von hier zu haben. Werde dahin aufbrechen. Elefant wahrscheinlich durstig. Flaschen waren leer.
Baker, Detektiv.«

 

»Auch das ist vielversprechend,« sagte der Inspektor. Ich sagte Ihnen, seine Begierden würden keine schlechten Fingerzeige sein.«

Weitere Telegramme:

 

» Taylorville, Long Island: 8.15 vorm.

Ein Heuschober in der Nähe während der Nacht verschwand – wahrscheinlich aufgefressen. Fand eine Spur und verfolge sie eilig.
Hubbard, Detektiv.«

 

»Was er für Sprünge macht!« sagte der Inspektor. »Ich wußte, daß wir ein schwieriges Stück Arbeit vor uns hätten; aber wir werden ihn deshalb doch kriegen.«

 

» Flower-Station, New York: 9 vorm.

Verfolgte die Spuren über eine Stunde westlich – sind groß, tief und ausgezackt. Bin eben einem Farmer begegnet, der sagte, es seien keine Elefantenfußstapfen; sagt, es seien Löcher von den Bäumchen, die er letzten Winter aus dem gefrorenen Grunde ausgrub. Ich bitte um Verhaltungsbefehle bezüglich weiterer Schritte.
Darley, Detektiv.«

 

»Aha, ein Helfershelfer der Diebe! Die Sache wird ernst!« sagte der Inspektor und diktierte folgendes Telegramm an Darley:

 

»Verhaften Sie den Mann und zwingen Sie ihn, seine Komplizen zu nennen. Verfolgen Sie die Spuren weiter – bis zum Stillen Ozean, wenn’s sein muß.
Inspektor Blunt.«

 

Nächstes Telegramm:

 

» Coney-Point, Pennsylvania: 8.45 vorm.

Bureau der Gasanstalt hier während der Nacht erbrochen und die unbezahlten Gasrechnungen von drei Monaten gestohlen. Fand eine Spur und verfolge sie.

Murphy, Detektiv.«

 

»Himmel!« rief der Inspektor; »sollte er Gasrechnungen verzehren?«

»Wahrscheinlich aus Dummheit.« –

Darauf kam nachstehendes aufregendes Telegramm:

 

» Ironville, New York: 9.30 vorm.

Soeben angekommen. Stadt in Aufregung. Elefant kam hier durch, früh 5 Uhr. Einige sagen, er ging östlich, andere sagen westlich, einige nördlich, andere südlich – keiner aber weiß etwas Genaueres zu berichten. Er tötete ein Pferd; ich verschaffte mir ein Stück davon – für alle Fälle. Tötete es mit seinem Rüssel; schließe aus der Wunde; daß er von links schlug. Aus der Lage des Pferdes schließe, daß der Elefant nordwärts, die Berkley-Bahn entlang, reiste. Hat 4½ Stunden Vorsprung; folge aber sogleich seiner Spur.
Hawes, Detektiv.«

 

Ich konnte meine Freude nicht zurückhalten. Der Inspektor blieb so ruhig wie eine Statue. Er schellte gelassen.

»Alarich, senden Sie Kapitän Burns zu mir.«

Burns erschien.

»Wie viel Mann sind reisefertig?«

»Sechsundneunzig, Sir.«

»Senden Sie diese sogleich nach Norden; sie sollen sich längs der Berkley-Bahnlinie konzentrieren.«

»Sehr wohl, Sir.«

»Sie sollen ihre Bewegungen mit der äußersten Heimlichkeit ausführen. Sobald andere von den Leuten frei werden, sollen sie sich fertig machen!«

»Sehr wohl, Sir.«

»Sie können gehen.«

»Sehr wohl, Sir.«

Gleich darauf kam ein weiteres Telegramm:

 

» Sage-Corners, New York: 10.30 vorm.

Eben angelangt. Elefant kam 8.15 hier durch. Alle bis auf einen Polizisten entkamen aus der Stadt. Elefant wollte anscheinend nicht nach dem Polizisten, sondern nach einem Laternenpfahl schlagen, traf aber beide. Verschaffte mir ein Stück von dem Polizisten, um es für alle Fälle zu behalten.
Stumm, Detektiv.«

 

»Der Elefant hat sich also gegen Westen gewendet,« sagte der Inspektor. »Es wird ihm aber nichts helfen, denn meine Leute sind über die ganze Gegend zerstreut.«

 

Das nächste Telegramm besagte:

 

»Glovers: 11.15

Eben angelangt. Stadt verlassen, ausgenommen von Kranken und Greisen. Elefant kam durch vor dreiviertel Stunden. Die Anti-Mäßigkeits-Massenversammlung tagte; er steckte seinen Rüssel durchs Fenster hinein und spritzte alles voll Zisternenwasser. Einige schluckten das Wasser – starben seitdem; mehrere ertranken. Detektiv Croß und O’Shaugnessy passierten die Stadt, gingen aber südlich und verfehlten so den Elefanten. Ganze Gegend auf viele Stunden im Umkreis voll Entsetzen – Leute fliehen aus ihrer Heimat. Allenthalben stoßen sie auf den Elefanten; viele werden getötet.
Brant, Detektiv.«

 

Ich hielt kaum meine Tränen zurück, so traurig stimmte mich dieses Gemetzel, der Inspektor aber sagte nur:

»Sie sehen, wir umringen ihn. Er fühlt unsere Nähe; er hat sich wieder gegen Osten gewendet.«

Es harrten unserer bereits neue beängstigende Nachrichten. Der Telegraph meldete:

 

» Hoganport, 12.19 nachm.

Eben angelangt. Elefant kam vor einer halben Stunde hier durch, jähen Schrecken verbreitend; wütete durch die Straßen: zwei Arbeiter gingen vorüber – tötete den einen, der andere entkam.
O’Flaherty, Detektiv.«

 

»Nun ist er mitten unter meinen Leuten,« sagte der Inspektor. »Jetzt ist kein Entrinnen für ihn möglich!«

Eine Anzahl anderer Telegramme lief dazwischen ein von Detektivs, die über New Jersey und Pennsylvanien zerstreut waren. Aus zerstörten Fabriken, Scheunen und Sonntagsschulbibliotheken wiesen sie die Spur des Elefanten mit an Sicherheit grenzenden Ausdrücken nach.

Der Inspektor sagte:

»Ich wollte, ich könnte mit ihnen verkehren und sie nach Norden dirigieren, aber das ist unmöglich. Ein ›Geheimer‹ geht nur dann zum Telegraphenamt, wenn er seinen Bericht absendet; man weiß nie, wo man ihn fassen kann.«

Nun kam folgende Depesche:

 

» Bridgeport, Connecticut: 12.15 nachm.

Barnum bietet 4000 Doll. jährlich für ausschließliches Recht, Elefant als wandernde Reklame zu benützen, von jetzt an bis ihn Detektivs auffinden. Will Zirkusplakate auf ihn kleben. Verlangt umgehende Antwort.
Boggs, Detektiv.«

 

»Das ist doch zu lächerlich!« rief ich aus.

»Ja freilich,« sagte der Inspektor. »Herr Barnum, der sich für so gewitzigt hält, kennt mich offenbar nicht – aber ich kenne ihn.«

Dann diktierte er folgende Antwortdepesche:

»Herrn Barnums Anerbieten abgelehnt. Entweder Doll. 7000 oder nichts.
Inspektor Blunt.«

 

»So. Wir werden nicht lange auf Antwort zu warten brauchen. Herr Barnum ist nicht zu Hause; er ist gewöhnlich auf dem Telegraphenamt, wenn es einen Handel gilt. Vor drei Uhr –«

 

»Abgemacht. – P. S. Barnum.«

 

So unterbrach der tickende Telegraphenapparat. Ehe ich mir einen Vers machen konnte auf diesen ungewöhnlichen Zwischenfall, leitete folgende Depesche meine Gedanken in ein anderes und sehr betrübendes Fahrwasser:

 

» Bolivia, New York: 12.50 nachm.

Elefant kam hier an aus dem Süden und passierte den Wald um 11.50, er sprengte einen daherkommenden Leichenzug auseinander und verminderte die Leidtragenden um zwei. Bürger feuerten einige Schüsse aus einem kleinen Böller auf ihn ab und flohen dann. Detektiv Burke und ich langten zehn Minuten später aus dem Norden an, hielten aber ein paar Vertiefungen fälschlich für Fußstapfen und verloren so ziemlich viel Zeit; endlich aber kamen wir auf die rechte Spur und verfolgten sie bis zu den Wäldern. Wir krochen nun auf Händen und Knien vorwärts, verfolgten die Spur mit scharfem Auge und gelangten so ins Gebüsch. Burke war voraus. Unglücklicherweise hat das Tier angehalten, um auszuruhen; Burke, der auf die Spur erpicht, die Augen auf den Boden geheftet hatte, stieß plötzlich, ehe er die Nähe des Elefanten gewahr wurde, gegen dessen Hinterbeine. Burke sprang sogleich auf die Füße, ergriff den Schwanz und rief freudig aus: ›ich beanspruche die Be – –,‹ kam aber nicht weiter, denn ein einziger Schlag mit dem mächtigen Rüssel streckte den braven Burschen tot nieder. Ich floh zurück, aber der Elefant wandte sich um und verfolgte mich bis an den Rand des Gehölzes in schrecklicher Eile; ich wäre unrettbar verloren gewesen, wenn nicht zufällig der Rest des Leichenzuges dem Tiere in den Weg gekommen wäre und seine Aufmerksamkeit abgelenkt hätte. Erfahre soeben, daß von jenem Leichenzug nichts mehr vorhanden ist; schadet nichts, Stoff genug für andere vorhanden. Elefant mittlerweile wieder verschwunden.
Mulrooney, Detektiv.«

 

Wir hörten keine weiteren Neuigkeiten außer von den eifrigen und zuversichtlichen Detektivs, die über New Jersey, Pennsylvanien, Delaware und Virginia zerstreut waren – sie folgten alle frischen und vielversprechenden Spuren – bis kurz nach 2 Uhr nachmittags folgendes Telegramm ankam:

 

»Baxter-Centre: 2.15 nachm.

Elefant hier gewesen, über und über mit Zirkusplakaten beklebt; zerstreute ein Methodisten-Revivalmeeting und erschlug und verletzte viele, die eben im Begriffe waren, ein besseres Leben anzufangen. Bürger pferchten ihn ein und stellten eine Wache auf. Als Detektiv Brown und ich ankamen, betraten wir die Umzäunung und schritten zur Feststellung der Identität des Elefanten an der Hand der Photographie und des Signalements. Alle Zeichen stimmten genau, ausgenommen eines, das wir nicht sehen konnten – die Narbe unter der Achselhöhle. Um sich darüber zu vergewissern, kroch Brown unter das Tier, – er lag im nächsten Augenblick mit zerschmetterter Hirnschale am Boden. Alle flohen, so auch der Elefant, der mit viel Effekt nach rechts und links um sich schlug. Entkam, ließ aber starke Blutspuren von Böllerwunden zurück. Wiederauffindung gewiß. Brach südwärts durch einen dichten Wald; ich ihm unverzüglich nach.
Brent, Detektiv.«

 

Dies war das letzte Telegramm. Gegen Abend sank ein Nebel auf alles herab – so dicht, daß man auf drei Schritte Entfernung nicht das geringste unterscheiden konnte. Er hielt die ganze Nacht über an. Die Dampfboote und selbst die Omnibusse mußten ihre Fahrt einstellen.

III.

Am nächsten Morgen waren die Zeitungen ebenso voll Theorien wie am vorhergehenden; sie brachten ausführlich alle uns bekannten tragischen Ereignisse, dazu noch eine Menge weiterer telegraphischer Berichte, die sie von ihren Korrespondenten erhalten hatten. Spalte auf Spalte begegnete ich herzzerreißenden Artikelüberschriften. Der Grundton derselben war stets derselbe; etwa wie folgt:

»Der weiße Elefant ist los! Er schreitet weiter auf seinem verhängnisvollen Marsche! Ganze Ortschaften verlassen von den entsetzten Einwohnern! Furcht und Schrecken gehen vor ihm her, Tod und Verwüstung folgen ihm. Diesen nach die Detektivs. Scheunen verwüstet. Werkstätten beraubt. Ernten verzehrt. Öffentliche Versammlungen gesprengt, begleitet von Blutszenen, die nicht zu beschreiben sind! Berichte von vierunddreißig der ausgezeichnetsten Detektivpolizisten! Bericht des Inspektors Blunt!«

»Ah!« rief Inspektor Blunt, der Erregung nahe; »das ist prächtig! Das ist die größte Leistung, die je eine polizeiliche Organisation vollbracht hat. Die Welt wird davon sprechen.«

Für mich aber gab es keine Freude; mir war zu Mute, als ob ich alle diese blutigen Verbrechen begangen hätte und der Elefant mein unverantwortliches Werkzeug wäre. Und wie die Unfalliste angewachsen war! In einem Orte hatte er sich in »eine Wahl gemischt und fünf Agitatoren getötet.« Er hatte dieser Tat die Vernichtung zweier armer Teufel folgen lassen – armer O’Donohue, armer Mc Flannigan! – die »erst am Tage vorher in der Heimat der Unterdrückten aller Länder eine Zuflucht gefunden hatten und im Begriffe waren, zum erstenmale das kostbare Recht amerikanischer Bürger an der Urne auszuüben, als sie niedergeschmettert wurden von der mitleidslosen Hand der Geißel Siams.« An einem anderen Orte hatte er »einen verrückten Sensationsprediger niedergerannt, der eben für die nächste Saison seine heroischen Angriffe auf den Tanz, das Theater und ähnliches Teufelswerk vorbereitete.« In einem dritten Orte hatte er »einen Blitzableiteragenten erschlagen.« Und so ging die Liste weiter und wurde immer blutiger und herzzerreißender. Sechzig Personen hatte er getötet, zweihundertvierzig verwundet. Alle Berichte legten vollgültiges Zeugnis ab von der Tätigkeit und dem hingebenden Eifer der Detektivs, und alle schlössen mit der Bemerkung, daß »dreimalhunderttausend Bürger und vier Detektivs das schreckliche Wesen sahen, sowie daß er zwei von letzteren ums Leben brachte.«

Nur mit Angst hörte ich von neuem das Ticken des Telegraphenapparates; es regnete förmlich Depeschen, aber glücklicherweise rechtfertigte ihr Inhalt meine Befürchtungen nicht. Es stellte sich bald heraus, daß jede Spur des Elefanten verloren war: der Nebel hatte es ihm ermöglicht, sich unbemerkt ein gutes Versteck zu suchen. Telegramme von Punkten, die lächerlich weit entfernt waren, berichteten, daß man zu der und der Stunde eine ungeheure trübe Masse durch den Nebel habe schimmern sehen! Es sei das »unzweifelhaft der Elefant gewesen.« Diese trübe ungeheure Masse hatte man in New Haven, in New Jersey, in Pennsylvania, im Staate New York, in Brooklyn und sogar in der City von New York selbst gesehen! Immer aber war die trübe ungeheure Masse rasch wieder verschwunden, ohne eine Spur zu hinterlassen. Jeder von den Hunderten über diese ungeheure Landstrecke zerstreuten Detektivs sandte stündlich seinen Rapport, und jeder hatte eine Spur, verfolgte sie und war dem Elefanten dicht auf den Fersen.

Aber der Tag verging ohne weiteres Resultat. Ebenso der nächste Tag. Der dritte desgleichen.

Die Zeitungsberichte mit ihren nichtssagenden Tatsachen, ihren Spuren, die zu nichts führten, und ihren blendenden, sinnverwirrenden Theorien, fingen an, langweilig zu werden.

Auf den Rat des Inspektors verdoppelte ich die Belohnung.

Vier weitere eintönige Tage folgten; dann kam ein schwerer Schlag für die armen geplagten Detektivs – die Zeitungen lehnten es ab, ihre Konjekturen zu drucken, und sagten kühl: Laßt uns in Ruhe.

Vierzehn Tage nach dem Verschwinden des Elefanten erhöhte ich auf des Inspektors Rat die Belohnung auf 75 000 Dollars. Es war das eine große Summe; aber ich wollte lieber mein ganzes Vermögen opfern, als mein Ansehen bei der Regierung einbüßen. Jetzt, da die Detektivs in Nöten waren, begannen die Zeitungen über sie herzufallen und die beißendsten Sarkasmen gegen sie zu schleudern. Das war Futter für die Bänkelsänger! Sie kostümierten sich als Detektivs, und führten auf der Bühne die Jagd nach dem verlorenen Elefanten auf. Die Karrikaturenzeichner entwarfen Skizzen von Detektivs, die das Land mit Feldstechern absuchten, während der Elefant hinter ihrem Rücken Apfel aus den Taschen holte, und machten das Wappenzeichen der Detektivs – ein weitgeöffnetes Auge mit der Devise: »Wir schlafen nie« – auf alle mögliche Weise lächerlich. Die Luft war geschwängert mit Sarkasmen.

Aber einen Mann gab es, der bei alledem ruhig, gelassen und unerschütterlich blieb – es war jenes eichenfeste Herz, der Inspektor Blunt. Sein kühnes Auge senkte sich nie, seine heitere Zuversicht wankte nie; er wiederholte nur:

»Laßt sie spotten; wer zuletzt lacht, lacht am besten.«

Meine Bewunderung für den Mann grenzte an Vergötterung. Ich war stets an seiner Seite. Sein Büro war ein qualvoller Aufenthalt für mich geworden und wurde es täglich mehr; doch solange er es dort aushalten konnte, war auch ich entschlossen zu bleiben – solang als irgend möglich. So kam ich denn regelmäßig und blieb – zu jedermanns Verwunderung. Es war mir oft, als müsse ich davonlaufen; wenn ich dann aber in jenes ruhige und anscheinend leidenschaftslose Antlitz blickte, hielt ich wieder stand.

Etwa drei Wochen nach dem Verschwinden des Elefanten war ich eines Morgens eben im Begriff zu sagen: ich werde die Segel streichen und mich zurückziehen müssen, als der große Detektiv diesen feigen Gedanken wieder zurückscheuchte, indem er einen neuen meisterhaften Schachzug vorschlug – nämlich, mit den Dieben einen Kompromiß zu schließen. Die Fruchtbarkeit der Erfindungsgabe dieses Mannes überstieg alles, was ich je erlebt, und das will etwas sagen, war ich doch mit den auserlesensten Geistern der Welt in Berührung gekommen. Er sagte, er sei der besten Zuversicht, daß er für 100 000 Dollars einen Kompromiß schließen und den Elefanten wieder erlangen könne. Ich sagte, ich würde am Ende die Summe aufbringen können; aber was sollte mit den armen Detektivs werden, die so wacker gearbeitet hatten? Er entgegnete:

»Bei Kompromissen bekommen sie stets die Hälfte.« Das beseitigte meinen einzigen Einwand, und so schrieb denn der Inspektor zwei Noten wie folgt:

 

»Werte Frau, – Ihr Gatte kann sich viel Geld machen (und das ganz ohne Gefahr vor dem Strafgesetz), wenn er sich sogleich bei mir einfinden will.
Chef Blunt.«

 

Von diesen beiden Noten sandte er die eine durch seinen vertrauten Boten an die ›wohlgeborene Frau‹ Brick Duffys, die andere an die ›wohlgeborene Frau‹ des roten Mc Fadden.

Innerhalb einer Stunde kamen folgende beiliegende Antworten zurück:

 

»Sie alter Narr! Brick Mc Duffy ist gestorben, schon vor zwei Jahren.
Bridget Mahoney.«

 

»Chef-Nachteule, – der rote Mc Fadden ist gehangen und im Himmel seit achtzehn Monaten. Jeder Esel außer einem Detektiv weiß das.
Mary O’Hooligan.«

 

»Ich hatte das lange vermutet,« sagte der Inspektor; »es beweist mir nur die nie irrende Schärfe meines Instinkts.«

Sobald ein Mittel sich als erfolglos erwies, war er nie um ein anderes verlegen. Er schrieb sogleich ein Inserat für die Morgenblätter, von dem ich eine Abschrift aufbewahre –

»A. – xwblv. 142 N. Tjnd – fz 328 wmlg. Ozpo,–; 2 m! ogw. Mum.«

»Lebt der Dieb noch,« erklärte mir der Inspektor, »so wird ihn das sicher an den gewöhnlichen Rendezvousplatz bringen.« Es sei dies ein Platz, wo alle geschäftlichen Angelegenheiten zwischen Detektivs und Verbrecher abgemacht werden. Die gesuchte Begegnung solle in der nächsten Nacht um zwölf Uhr stattfinden. Bis dahin war nichts zu tun; ich verließ also ohne Verzug und dankbaren Herzens das Büro.

Um elf Uhr in der nächsten Nacht legte ich 100 000 Dollars in die Hände des Inspektors, und gleich darauf verabschiedete er sich, die heldenmütige alte ungetrübte Zuversicht in seinen Augen. Eine fast unerträglich lange Stunde schlich zu Ende, da hörte ich seinen willkommenen Tritt, erhob mich keuchend und wankte ihm entgegen. Wie seine schönen Augen im Triumph glänzten! Er sagte –:

»Wir haben einen Vergleich geschlossen! Die Spötter werden morgen ein anderes Lied singen! Folgen Sie mir!«

Er ergriff eine brennende Kerze und schritt voran, hinab in das ungeheure gewölbte Erdgeschoß, wo fortwährend sechzig Detektivs schliefen und wo jetzt etwa zwanzig Karten spielten, um sich die Zeit zu vertreiben. Ich folgte ihm auf den Fersen. Er schritt rasch hinab an das düstere, ferne Ende des Platzes, und in dem Augenblick, da ich in der dicken Stickluft ohnmächtig umsank, strauchelte und fiel er über die ausgestreckten Gliedmaßen eines mächtigen Körpers, und ich hörte ihn gerade noch beim Hinfallen ausrufen:

»Unser edler Beruf ist gerechtfertigt. Hier ist Ihr Elefant!«

Ich wurde in das Büro hinaufgetragen und mit Karbolsäure wieder zum Bewußtsein gebracht. Die ganze Detektivmannschaft schwärmte herein, und es folgte eine Siegesfeier, wie ich noch keine erlebt hatte. Die Reporter wurden geholt, der Champagner floß in Strömen, Toaste wurden ausgebracht, die Händedrücke und Beglückwünschungen waren enthusiastisch und wollten kein Ende nehmen. Der Chef war natürlich der Held des Tages, und sein Glück war so vollständig und es war mit so viel Ausdauer, Würde und Bravour verdient worden, daß es mich beglückte, Zeuge davon zu sein; obgleich ich dastand als ein heimatloser Bettler; – denn mein unschätzbarer Schutzbefohlener war tot und ich meiner Stellung im Dienste meines Vaterlandes verlustig, weil ich unmöglich den üblen Schein, als habe ich das in mich gesetzte hohe Vertrauen durch eine sorglose Ausführung meines Auftrags getäuscht, von mir abzuwenden vermochte. Manches beredte Auge bezeugte seine hohe Bewunderung für den Chef, und manches Detektivs Stimme murmelte: »Seht ihn an, den König der Profession – gebt ihm nur die Spur von einer Spur, – und es bleibt nichts vor ihm verborgen.« Die Teilung der 50 000 Dollars machte viel Vergnügen; als sie vollzogen war, hielt der Chef, während er seinen Anteil in die Tasche steckte, eine kleine Rede, in der er sagte: »Genießt das Geld, denn ihr habt es verdient; und mehr als das – ihr habt unserem schönen Berufe unsterblichen Ruhm erworben.«

 

Ein Telegramm langte an, folgenden Inhalts: –

 

» Monroe, Michigan: 10. – nachm.

Zum erstenmal seit drei Wochen erreichte ich eben ein Telegraphenamt. Folgte jenen Fußstapfen zu Pferde durch die Wälder, etwa zweihundert Meilen bis hieher: sie werden täglich stärker, größer und frischer. Quälen Sie sich nicht unnötig ab – ehe acht Tage verflossen sind, habe ich den Elefanten – auf mein Wort!
Darley, Detektiv.«

 

Der Chef brachte drei Hochrufe aus auf »Darley, einen der feinsten Köpfe unter der Mannschaft,« in welche sämtliche Anwesenden begeistert einstimmten; dann ließ er an Darley telegraphieren, er möge heimkehren und seinen Anteil an der Belohnung in Empfang nehmen.

 

So endete jene wunderbare Episode von dem gestohlenen Elefanten. Die Zeitungen waren am nächsten Tage wieder voll Anerkennung – mit einer nichtssagenden Ausnahme. Ein Blatt schrieb nämlich: »Groß ist der Detektiv! Er mag im Auffinden eines kleinen Gegenstandes, wie es ein verlorener Elefant ist, ein wenig langsam sein – er mag ihn drei Wochen lang den ganzen Tag verfolgen und des Nachts neben seinem verwesenden Kadaver schlafen, aber er wird ihn endlich finden, – sobald er nur den Mann, der den Elefanten verloren hat, dahin bringt, ihm den Platz zu zeigen.«

Der arme Hassan war auf ewig für mich verloren. Die Böllerschüsse hatten ihn tödlich verwundet. Er war im Nebel an jenen düsteren Platz gekrochen; und dort, umgeben von seinen Feinden und fortwährend in Gefahr entdeckt zu werden, war er dahingeschwunden vor Hunger und Leiden, bis der Tod ihn erlöste.

Der Kompromiß kostete mich 100 000 Dollars; meine Auslagen für die Detektivs betrugen weitere 42 000 Dollars; ich bewarb mich nie wieder um eine Anstellung im Dienste meiner Regierung; ich bin ein ruinierter Mann und ein unstäter Wanderer auf Erden – aber meine Bewunderung für jenen Mann, den ich für den größten Geheimpolizisten halte, welchen die Welt hervorgebracht hat, bleibt unvermindert bis auf diesen Tag und wird so bleiben bis an mein seliges Ende.

  1. Barnum, der bekannte Schaubudenbesitzer und Meister in der Kunst der Reklame.
  2. Religiöse Versammlung von Wanderpredigern, meist auf offenem Felde abgehalten.

Ein Tischgespräch

Ein Tischgespräch

Auf unserer Schweizerreise waren wir, ich und mein Reisebegleiter Harris, einmal im ›Schweizerhof‹ in Luzern abgestiegen, wo wir ein Tischgespräch hatten, an das ich zeitlebens denken werde.

Man ging um 7½ zur Tafel, an der sich eine Menge Angehöriger der verschiedensten Nationalitäten zusammenfanden; doch ließen sich an den ungeheuer langen Tischen besser Kleider als Menschen beobachten, da man die Gesichter meist nur in der Perspektive zu sehen bekam. Das Frühstück dagegen wurde an kleinen runden Tischen eingenommen, und wenn man das Glück hatte, einen Platz in der Mitte des Saales zu erhalten, konnte man so viele Gesichter studieren, als man wünschte.

Öfters versuchten wir zu erraten, zu welcher Nation die Leute gehörten und dies gelang uns ziemlich gut, aber mit den Namen der Personen glückte es uns weniger; um diese zu raten, ist wahrscheinlich viele Übung nötig. So gaben wir dies denn auf und begnügten uns mit weniger schwierigen Versuchen.

Eines Morgens sagte ich: »Da sitzt eine Gesellschaft Amerikaner!«

»Ja,« meinte Harris – »aber aus welchem Staat?«

Ich nannte einen Staat, Harris einen andern! Daß das junge Mädchen, das zu der Gesellschaft gehörte, sehr schön sei und sehr geschmackvoll gekleidet, darin waren wir einerlei Meinung, über ihr Alter jedoch konnten wir uns nicht einigen: ich meinte, sie sei achtzehn, Harris hielt sie für zwanzig. Wir ereiferten uns darüber und ich sagte schließlich,

als ob es mein Ernst wäre: »Die Sache läßt sich ja sehr leicht entscheiden, – ich will hingehen und sie fragen.«

Harris erwiderte in spöttischem Ton: »Ja, das wird wohl das Beste sein. Du brauchst ja nur hinüberzugehen und mit der hier gebräuchlichen Formel zu sagen: ›Ich bin Amerikaner!‹ Dann wird sie sich natürlich sehr freuen, dich zu sehen.« Dabei gab er mir zu verstehen, daß ich es wohl schwerlich wagen würde, sie anzureden.

»Ich habe nur so gedacht,« versetzte ich, »und es nicht im Ernst gemeint, aber du traust mir doch zu wenig Courage zu; ein Frauenzimmer macht mir nicht so leicht bange, und jetzt gehe ich hin und spreche mit dem Fräulein.«

Mein Vorhaben war sehr einfach: ich wollte sie höchst ehrerbietig anreden und um Entschuldigung bitten, wenn ihre große Ähnlichkeit mit einer frühern Bekannten mich getäuscht hätte. Wenn sie mir dann antwortete, der Name, den ich genannt habe, sei nicht der ihrige, so wollte ich mich abermals aufs höflichste entschuldigen, meine Verbeugung machen und mich wieder zurückziehen. Daraus konnte doch kein Unglück entstehen. – Ich ging also an den Tisch, verbeugte mich vor dem Herrn und wollte mich eben mit meiner Rede an sie wenden, als sie ausrief:

»Also habe ich mich doch nicht geirrt! – Ich sagte gleich zu John, daß Sie es wären; er wollte mir nicht glauben, aber ich wußte, daß ich recht hatte und sagte, Sie würden mich sehr bald erkennen und zu uns herüberkommen! Es freut mich sehr, daß Sie es getan haben, denn wenn Sie fortgegangen wären, ohne mich zu erkennen, hätte ich das nicht für sehr schmeichelhaft gefunden. Bitte, setzen Sie sich doch! – Wie merkwürdig! – Sie sind wirklich der letzte Mensch, den ich erwartet hätte jemals wieder zu sehen!«

Das war eine Überraschung, die mich förmlich betäubte und mir einen Augenblick die Besinnung raubte. Indessen schüttelten wir uns herzlich die Hände und ich nahm neben ihr Platz; aber in einer solchen Klemme war ich wirklich noch nie gewesen. Mir dämmerte es dunkel, als ob ich die Züge des Mädchens schon einmal gesehen hätte, aber wo das gewesen war und welcher Name zu ihr gehörte, war mir gänzlich entfallen. Daher begann ich sogleich die Rede auf Schweizer Landschaften zu bringen, um mich nicht zu verraten; allein es half nichts, sie ging ohne Umschweife auf die Dinge los, die sie näher interessierten.

»Nein, was das für eine Nacht war, als der Sturm die vorderen Boote mit wegriß! Wissen Sie noch?«

»Wie sollte ich nicht!« sagte ich, aber ich hatte keine Ahnung. Ich wollte, der Sturm hätte auch das Steuer und den Kapitän selbst mitweggerissen, – dann wäre mir vielleicht ein Licht aufgegangen, wo ich die Fragerin hintun sollte.

»Und erinnern Sie sich, wie bange die arme Marie war?«

»Jawohl,« sagte ich, »nein, wie einem alles wieder gegenwärtig wird.«

Das wünschte ich zwar aufs innigste, aber es war wie aus meinem Gedächtnis weggeblasen! Das Klügste wäre gewesen, offen die Wahrheit zu gestehen, aber das konnte ich nicht übers Herz bringen, nachdem das junge Mädchen mir solches Lob gespendet, weil ich sie wieder erkannt hatte. So geriet ich denn immer tiefer hinein und hoffte vergebens auf einen rettenden Faden, um aus dem Labyrinth zu kommen.

Die Unerkennbare fuhr lebhaft fort: »Denken Sie, Georg hat doch noch Marie geheiratet!«

»Wirklich? Ist es möglich!« –

»Jawohl; er sagte, er glaube, daß ihr Vater viel mehr schuld gewesen sei, als sie selbst; und ich glaube, er hatte recht, meinen Sie nicht auch?«

»Natürlich, es war ja ganz klar, ich habe es doch immer gesagt.«

»O nein, Sie waren ja anderer Meinung, wenigstens in jenem Sommer.«

»Im Sommer, da haben Sie ganz recht, aber im folgenden Winter sagte ich’s.«

»Nun, es stellte sich heraus, daß Marie gar nicht schuld war, sondern nur ihr Vater und der alte Darley.«

Um doch etwas zu erwidern, sagte ich:

»Ja, Darley habe ich immer als ein lästiges altes Geschöpf angesehen!«

»Das war er auch, aber trotz seiner Sonderbarkeiten waren sie ihm zärtlich zugetan; – wissen Sie noch, wie er immer versuchte, ins Haus zu kommen, sobald es nur im geringsten kalt war?«

Ich getraute mir nicht, weiter zu gehen. Offenbar war dieser Darley kein Zweifüßler, sondern irgend ein Vierfüßler, vielleicht ein Hund, möglicherweise ein Elefant. Da nun jedes Tier eine Haut hat, so fiel ich im Anschluß an ihre Frage mit der Bemerkung ein:

»Und was er für ein Fell hatte!«

Diese Bemerkung mußte passen, denn sie sagte zustimmend:

»Ja, ein sehr dickes – und erst seine Wolle!«

Das verblüffte mich, ich wußte nicht recht weiter und sagte nur:

»Ja, an Wolle fehlte es ihm nicht!«

»Einen Neger mit solchem Wollhaar könnte man lange suchen,« meinte sie.

Das war ein Lichtblick, denn mir fing an schwül zu werden, und ich war froh, als sie fortfuhr:

»Er war doch selbst bequem genug einquartiert, aber wenn es kalt wurde, fand er sich stets bei der Familie ein und war nicht wieder aus dem Hause zu bringen. Man sah ihm manches nach, weil er vor Jahren Tom das Leben gerettet hatte. Erinnern Sie sich noch an Tom?«

»Ganz deutlich, er war ein so hübscher Mensch!«

»Jawohl, und das Kind ein so niedliches Ding.«

»Ein hübscheres Kind habe ich nie gesehen.«

»Ich tat nichts lieber, als mit ihm tändeln und spielen.«

»Und ich schaukelte es so gern auf den Knieen.«

»Sie haben ihm auch den Namen ausgesucht, – wie war es doch?«

Jetzt kam ich aufs Glatteis! Hätte ich nur des Kindes Geschlecht gewußt. Zum guten Glück fiel mir ein Name ein, der für alle Fälle paßte. Ich sagte:

»Es wurde Fränzchen genannt.«

»Nach einem Verwandten vermutlich. Aber dem verstorbenen, das ich nie gesehen habe, gaben Sie auch den Namen; wie hieß denn das?«

Da das Kind tot war und sie es nie gesehen hatte, dachte ich, man könnte auf gut Glück einen Namen wagen und so antwortete ich:

»Es hieß Thomas Heinrich!«

Sie wurde nachdenklich und sagte: »Das ist doch sonderbar – sehr sonderbar!«

Ich saß ganz still und der kalte Schweiß lief an mir herunter. Aber, so arg meine Verlegenheit war, so hoffte ich doch, mich aus der Klemme zu ziehen, wenn sie nur nicht noch mehr Namen von Kindern wissen wollte. – Ich war begierig, wo der nächste Blitz einschlug. Sie war noch mit dem Namen des letzten Kindes beschäftigt, sagte aber plötzlich:

»Es war recht schade, daß Sie gerade fort waren als mein Kind geboren wurde, sonst hätten Sie seinen Namen auch wählen müssen.«

»Ihr Kind? Sind Sie denn verheiratet?«

»Ich bin seit dreizehn Jahren verheiratet.«

»Getauft, meinen Sie wohl.«

»Nein, verheiratet, – dieser Knabe hier ist mein Sohn.«

»Das scheint ja ganz unglaublich, – fast unmöglich! Wenn Sie es nicht für unhöflich halten, möchte ich mir wirklich erlauben zu fragen, ob Sie älter als achtzehn sind?«

»Am Tag des Sturmes, von dem wir sprachen, war ich gerade neunzehn, das war mein Geburtstag.«

Dadurch wurde ich wenig klüger, da ich das Datum des Sturmes nicht wußte.

Ich dachte nach, was ich wohl Unverfängliches sagen könnte, um meinen Anteil an der Unterhaltung beizutragen und meinen Mangel an Erinnerungen weniger bemerklich zu machen. Aber nichts Unverfängliches wollte mir einfallen. Wenn ich sagte: ›Sie haben sich seitdem nicht im geringsten verändert!‹ so war das riskiert; meinte ich dagegen: ›Sie sehen jetzt viel besser aus,‹ so ging das auch nicht. Eben wollte ich einen Ausfall auf das Wetter machen, als meine Landsmännin mir zuvorkam und rief:

»Wie habe ich mich gefreut, einmal wieder von den lieben alten Zeiten zu sprechen! Sie nicht auch?«

»Gewiß, eine solche halbe Stunde habe ich noch nie erlebt,« versetzte ich voll Gefühl und hätte mit Wahrheit hinzufügen können: ›Lieber wollte ich mir bei lebendigem Leibe die Haut abziehen lassen, als sie noch einmal durchzumachen.‹ Ich war von Herzen dankbar, mit der Feuerprobe fertig zu sein und wollte mich eben verabschieden, als sie fortfuhr:

»Nur eins geht mir im Kopf herum!«

»Was denn?«

»Der Name des verstorbenen Kindes. Wie sagten Sie doch, daß es hieß?«

Jetzt war ich übel daran; ich hatte des Kindes Namen ganz vergessen, wie konnte ich ahnen, daß ich ihn noch einmal brauchen würde. Ich ließ mir nichts anmerken und sagte kühn:

»Joseph Wilhelm.«

Aber der Knabe neben mir verbesserte meinen Irrtum:

»Nein; Thomas Heinrich.«

Ich bedankte mich bei ihm und sagte: »Ach ja, ich habe es mit einem andern Kind verwechselt, richtig, Thomas Heinrich hieß das arme Kind; Thomas, hm – nach dem großen Thomas Carlyle, und Heinrich – hm – nach Heinrich VIII., die Eltern waren sehr zufrieden mit den Namen.«

»Dadurch wird es nur noch sonderbarer,« murmelte meine schöne Freundin.

»Warum denn?«

»Weil die Eltern es immer Amalie Susanne nennen, wenn sie von ihm sprechen.«

Jetzt war meine Weisheit zu Ende; ich war wie auf den Mund geschlagen und wußte weder aus noch ein. Um die Sache fortzusetzen, hätte ich lügen müssen, und das wollte ich nicht. So saß ich denn stumm und ergeben da, und ließ mich von dem Feuer meiner eigenen Beschämung langsam zu Tode braten. Plötzlich aber lachte meine Gegnerin hell auf und sagte:

»Mir haben die Erinnerungen an alte Zelten mehr Spaß gemacht als Ihnen. Ich merkte bald, daß Sie sich nur stellten, als ob Sie mich kennten, und nachdem ich mein Lob an Sie verschwendet hatte, beschloß ich, Sie zu strafen, was mir auch gelungen ist. Es war mir sehr angenehm, durch Sie Georg und Tom und Darley kennen zu lernen; denn ich hatte vorher nie etwas von ihnen gehört. Wenn man es nur richtig anzufangen weiß, kann man von Ihnen wirklich eine ganze Menge Neuigkeiten erfahren. Marie, und der Sturm, der die vorderen Boote wegriß, sind wahre Tatsachen, alles andere ist Dichtung. Marie war meine Schwester, ihr ganzer Name ist Marie X.; wissen Sie nun, wer ich bin?« »Ja, jetzt erinnere ich mich Ihrer, – Sie sind gerade noch so hartherzig wie vor dreizehn Jahren auf dem Schiff, sonst würden Sie mich nicht so bestraft haben. Sie sind noch ganz wie Sie waren, von innen und von außen. Sie sehen ebenso jung aus wie damals, Ihre Schönheit ist unverändert und findet ihr Abbild in Ihrem prächtigen Knaben! – Und nun – wenn diese Worte Sie gerührt haben, lassen Sie uns Frieden schließen, denn ich bekenne mich für besiegt und überwunden.«

Dies wurde zum Beschluß erhoben und auf der Stelle ausgeführt.

 

Als ich zu Harris zurückkam, sagte ich: »Nun siehst du, was Talent und Geschicklichkeit ausrichten können!«

»Bitte sehr, ich sehe, was riesige Unwissenheit und Einfalt zu tun imstande sind! Daß ein Mensch, der seine fünf Sinne bei sich hat, sich auf diese Weise fremden Leuten aufdrängt und eine halbe Stunde in sie hineinredet, so etwas ist noch nicht dagewesen! Was hast du ihnen nur gesagt?«

»Gar nichts Schlimmes! Ich habe das Mädchen gefragt, wie es hieße!«

»Meiner Treu, das sieht dir ähnlich! Du bist imstande, so etwas zu tun! Es war dumm von mir, – ich hätte nicht zugeben sollen, daß du hingehst, um dich zum Narren zu machen. Aber wie konnte ich mir vorstellen, daß du dich so weit vergessen würdest! Was werden die Leute von uns denken? Aber, wie hast du es gesagt? Auf welche Weise? Ich hoffe, nicht ganz ohne Einleitung!«

»O nein, ich sagte: Mein Freund und ich, wir möchten gern wissen, wie Sie heißen, – wenn Sie nichts dagegen haben!«

»Nein, das war wirklich nicht mit der Tür ins Haus gefallen! – Du warst in der Tat von einer Höflichkeit, die dir Ehre macht, und ich danke dir noch besonders, daß du mich auch hineingemischt hast! Was tat sie aber?«

»Gar nichts Ungewöhnliches! Sie nannte mir einfach ihren Namen.«

»Ist es möglich! – Und zeigte auch gar keine Überraschung?«

»Doch – etwas hat sie gezeigt – vielleicht war es Überraschung – mir kam es aber vor, als sei es Freude.«

»Sehr wahrscheinlich … es muß natürlich Freude gewesen sein – wie hätte sie sich auch nicht freuen sollen, von einem Fremden mit einer solchen Frage angefallen zu werden. – Was tatest du weiter?«

»Ich reichte ihr die Hand und sie schüttelte sie.«

»Das habe ich gesehen – ich traute meinen Augen kaum! Hat der Herr denn nicht gesagt, er würde dir den Hals umdrehen?«

»Nein, mir schien es, als ob sie sich alle freuten, meine Bekanntschaft zu machen.«

»Das wird auch wohl der Fall gewesen sein; sie werden bei sich gedacht haben: dieser Ausstellungsgegenstand muß seinem Wärter entlaufen sein, wir wollen uns einen Spaß mit ihm machen! Das ist die einzige Erklärung für ihre Sanftmütigkeit. – Du nahmst Platz – haben sie dich dazu aufgefordert?«

»Nein, ich dachte, sie hätten es vergessen.«

»Welchen sicheren Instinkt du hast! Was hast du noch getan? Wovon hast du denn gesprochen?«

»Ich fragte das Mädchen, wie alt es wäre.«

»Nein, wirklich, dein Zartgefühl ist über alles Lob erhaben! Weiter – weiter – kümmere dich nicht um meine traurige Miene, – so sehe ich immer aus, wenn ich eine tiefe innere Freude empfinde. Sprich weiter! Sie gab dir ihr Alter an?«

»Ja, und dann erzählte sie mir von ihrer Mutter, ihrer Großmutter, den übrigen Verwandten und von ihren eigenen Angelegenheiten.«

»Alles von selbst?«

»Nein, das nicht gerade. Ich stellte die Fragen und sie gab mir die Antworten.«

»Das ist ja himmlisch! Hast du nicht auch nach ihren politischen Ansichten gefragt?«

»Freilich – sie ist Demokratin und ihr Mann Republikaner.«

»Ihr Mann? Das Kind ist doch nicht verheiratet?«

»Sie ist kein Kind; sie ist verheiratet, und der Herr, der neben ihr sitzt, ist ihr Mann!«

»Hat sie auch Kinder?«

»Ja, sieben und ein halbes.«

»Das ist unmöglich!«

»Nein, es ist die reine Wahrheit. Sie hat es mir selbst gesagt.«

»Aber – sieben und ein halbes? – Was soll das halbe bedeuten?«

»Das ist aus einer anderen Ehe – solch ein Stiefkind wird nur halb gerechnet.«

»Aus einer anderen Ehe? So hat sie schon einmal einen Mann gehabt?«

»Ja, vier; dies ist der vierte.«

»Ich glaube kein Wort davon, die Unmöglichkeit liegt ja auf der Hand. Ist der Knabe ihr Bruder?«

»Nein, ihr Sohn und zwar der jüngste. Er ist nicht so alt wie er aussieht, erst elf und ein halbes Jahr.«

»Das ist alles vollständig unmöglich! Die Sache scheint mir ganz klar: sie haben gesehen, wen sie vor sich hatten, und dich zum Narren gehalten. Ich bin froh, daß ich nichts damit zu schaffen habe; hoffentlich denken sie nicht, wir zwei seien Leute vom gleichen Schlage. Wollen sie denn lange hier bleiben?«

»Nein, sie reisen noch vor Mittag ab.«

»Ich kenne jemand, der herzlich froh darüber ist. Wo hast du es erfahren? Du hast sie wahrscheinlich gefragt?«

»Nein, zuerst fragte ich im allgemeinen nach ihren Plänen, und sie sagten, sie würden eine Woche hier bleiben und Ausflüge in die Umgegend machen. Gegen das Ende der Unterhaltung äußerte ich dann, wir würden sie gern auf ihren Touren begleiten und schlug vor, dich zu holen und ihnen vorzustellen. Dann zögerten sie ein wenig und fragten, ob du aus derselben Anstalt seiest wie ich. Ich sagte ja, worauf sie bemerkten, sie hätten sich anders besonnen und wollten sofort nach Sibirien abreisen, um einen kranken Verwandten zu besuchen.«

»Das setzt deiner Dummheit die Krone auf! So weit hat es noch niemand gebracht. Wenn du vor mir stirbst, setze ich dir ein Denkmal von Eselsköpfen, so hoch wie der Straßburger Kirchturm! Sie wollten wirklich wissen, ob ich aus derselben Anstalt wäre wie du? – Was für eine Anstalt meinten sie denn?«

»Ich weiß nicht, es fiel mir nicht ein, danach zu fragen.«

»Aber ich weiß es! – Sie meinten ein Irrenhaus, eine Anstalt für Blödsinnige. Und jetzt halten sie uns doch für zwei gleiche Narren. – Siehst du nun, was du angerichtet hast? Schämst du dich gar nicht?« –

»Weshalb auch? – Meine Seele dachte an nichts Böses; was schadet es denn? Es waren sehr nette Leute und ich schien ihnen zu gefallen.«

Harris machte einige grobe Bemerkungen und begab sich in sein Schlafzimmer – um Tische und Stühle kurz und klein zu schlagen, wie er sagte. Er ist ein merkwürdig cholerischer Mensch und die geringste Kleinigkeit bringt ihn ganz außer sich. –

Die junge Dame hatte mich schön in die Klemme gebracht, aber an Harris habe ich mich wieder schadlos gehalten. Man muß sein Mütchen immer auf eine oder die andere Weise kühlen, sonst schmerzt die wunde Stelle noch lange.

Die Geschichte des Hausierers

Die Geschichte des Hausierers

Der arme, melancholisch blickende Fremde! Es lag etwas in seiner demütigen Miene, seinem müden Blick, seinen abgeschabten, ehemals feinen Kleidern, das mein Mitleid erregte. Ich bemerkte eine Mappe unter seinem Arm, wie sie Kolporteure und Hausierer zu tragen pflegen.

Nun, diese Leute flößen einem stets Interesse ein. Bevor ich mich dessen versah, war ich – ganz Ohr und Teilnahme – im Anhören seiner Lebensgeschichte versunken. Sie lautete ungefähr wie folgt:

»Meine Eltern starben, als ich noch ein kleines, unschuldiges Kind war. Mein Onkel Ithuriel gewann mich lieb und nahm mich an Kindesstatt an. Er war mein einziger Verwandter in der weiten Welt; er war so gut und großmütig und dabei reich. Er erzog mich im Schoß des Überflusses. Alle meine Wünsche, die mit Geld zu befriedigen waren, wurden erfüllt.

Nachdem ich auf der Universität studiert, ging ich mit zweien meiner Diener – meinem Kammerdiener und meinem Lakai – auf Reisen in fremde Länder. Vier Jahre lang flatterte ich auf sorglosen Schwingen in den prächtigen Gefilden der Fremde umher, – wenn Sie diese Sprache ihrem ergebenen Diener gestatten wollen, dessen Zunge stets poetisch gestimmt war; ja ich darf kühnlich also zu Ihnen sprechen, denn Ihre Augen verraten mir, daß auch in Ihren Adern das Feuer der holden Poesie glüht. In jenen fernen Landen schwelgte ich in der ambrosischen Speise, welche der Seele, dem Geiste, dem Herzen frommt. Was aber vor allen Dingen und am kräftigsten an meinen angeborenen ästhetischen Geschmack appellierte, war der dort unter den Reichen herrschende Brauch, Sammlungen von eleganten und kostbaren Seltenheiten und hübschen Liebhabereien anzulegen; und in einer verhängnisvollen Stunde versuchte ich es, in meinem Onkel Ithuriel Gefallen an dieser ausgezeichneten Beschäftigung zu erwecken.

Ich schrieb und erzählte ihm von der äußerst umfangreichen Muschelsammlung eines Herrn, von eines andern ausgezeichneter Sammlung von Meerschaumpfeifen, von eines dritten wunderbarer Sammlung von unentzifferbaren Autographen, eines vierten unschätzbarer Sammlung von chinesischem Porzellan, eines fünften bezaubernder Briefmarkensammlung – und so weiter und so weiter. Bald trugen meine Briefe Frucht: mein Onkel begann sich nach dem Gegenstand für eine Sammlung umzusehen. Sie wissen wohl, wie leidenschaftlich bald die Pflege einer Liebhaberei wird; die seinige wurde bald ein rasendes Fieber. Er begann sein großes Schweinegeschäft zu vernachlässigen; bald darauf zog er sich ganz von demselben zurück, und aus einem bequemen Lebemann wurde ein toller Raritätenjäger. Sein Reichtum war ungeheuer, und er sparte ihn nicht. Zuerst versuchte er es mit Kuhglocken. Er legte eine Sammlung an, die fünf große Säle füllte und alle Arten von solchen Glocken, von der Urzeit bis zur Gegenwart, in sich schloß – bis auf eine. Diese eine – eine Antike und das einzige noch vorhandene Exemplar dieser Art – war im Besitz eines andern Sammlers, dem mein Onkel enorme Summen dafür bot – vergebens. Sie können sich denken, was notwendigerweise folgte. Ein wahrer Sammler legt bekanntlich einer Sammlung, die nicht vollständig ist, nicht den mindesten Wert bei: sein glühendes Herz erkaltet, er verkauft seinen Schatz und wendet seinen Sinn einem andern Gebiet zu, das unausgebeutet zu sein scheint.

So machte es auch mein Onkel. Er versuchte es dann mit Ziegelsteinen. Nachdem er eine umfangreiche und äußerst interessante Sammlung davon angelegt hatte, stellte sich die alte Schwierigkeit ein. Mit blutendem Herzen verkaufte er seine abgöttisch geliebte Sammlung an einen früheren Bierbrauer, der den fehlenden Ziegel besaß. Dann versuchte er es mit steinernen Äxten und anderen Geräten des urweltlichen Menschen, entdeckte aber bald, daß die Fabrik, wo sie gemacht wurden, andere Sammler ebensowohl versorgte wie ihn selbst. Er versuchte es mit aztekischen Inschriften und ausgestopften Walfischen – wieder ein Mißerfolg, nach unglücklichen Mühen und Kosten. Denn als seine Sammlung endlich vollständig schien, kam ein ausgestopfter Walfisch aus Grönland und eine aztekische Inschrift aus der Cundurangogegend in Mittelamerika an, die alle früheren Exemplare gänzlich in den Schatten stellten. Mein Onkel beeilte sich, diese edlen Kleinodien für sich zu gewinnen: er bekam den ausgestopften Walfisch, ein anderer Sammler aber die Inschrift. Eine echte Cundurango aber ist, wie Sie vielleicht wissen, ein Besitz von so köstlichem Wert, daß ein Sammler, wenn er sie einmal erlangt hat, eher von seiner Familie sich trennt, als von ihr. So verkaufte denn mein Onkel aus; er sah seine Lieblinge scheiden auf Nimmerwiedersehen und sein kohlschwarzes Haar wurde weiß wie Schnee in einer einzigen Nacht.

Nun wartete er und überlegte: er wußte, daß eine weitere Enttäuschung ihn das Leben kosten könnte. Er war entschlossen, das nächstemal Dinge zu wählen, bei welchen die Konkurrenz weniger zu fürchten war. Er überlegte lange und reiflich; dann machte er sich noch einmal ans Werk – diesmal, um eine Sammlung von Echos zu gewinnen.«

»Von was?« rief ich erstaunt.

»Von Echos, mein Herr. Sein erster Kauf war ein Echo in Georgia, das viermal widerhallte, sein nächster ein sechsfaches Echo in Maryland, sein nächster ein dreizehnfaches in Maine, sein nächster ein neunfaches in Kansas, sein nächster ein zwölffaches Echo in Tennessee, das er billig bekam, weil es sozusagen baufällig war, denn ein Teil des Felsens, der es zurückwarf, war herabgefallen. Er glaubte es mit einem Aufwand von einigen Tausend Dollars reparieren lassen und durch Aufmauerung des Felsens die Repetierfähigkeit verdreifachen zu können; aber der Architekt, der die Arbeit übernahm, hatte nie zuvor ein Echo gebaut, und so verdarb er es denn gänzlich. Bevor er es verpfuschte, antwortete es wie ein keifendes Marktweib, nachher aber taugte es höchstens noch für ein Taubstummenasyl. Nun, nächstdem kaufte er eine Partie kleiner doppelläufiger Echos in verschiedenen Staaten und Territorien: man gewährte ihm 20% Rabatt, weil er die ganze Partie kaufte. Dann kaufte er ein Echo, das wie eine Kruppsche Kanone knallte; es kostete ein Heidengeld, das kann ich Ihnen sagen. Sie müssen nämlich wissen, daß auf dem Echomarkt die Preisskala ansteigt wie die Karatskala bei den Diamanten; im Handel gelten auch dieselben Ausdrücke für das eine wie das andere. Ein einkarätiges Echo ist nur zehn Dollars über den Preis des Grundes und Bodens, auf dem es ruht, wert, ein zweikarätiges oder doppelläufiges Echo ist dreißig Dollars darüber wert, ein fünfkarätiges über neunhundert, ein zehnkarätiges dreizehntausend Dollars. Meines Onkels Echo in Oregon, welches er das ›Echo des großen Pitt‹ nannte, war ein Kleinod von zweiundzwanzig Karaten und kostete zweihundertsechzehntausend Dollars – man gab ihm das Land drein, denn es war zweihundert Stunden von einer Niederlassung entfernt.

Nun, während dieser Zeit war mein Lebensweg ein Rosenpfad. Ich bewarb mich um die einzige und liebliche Tochter eines englischen Grafen und wurde geliebt bis zur Raserei. In ihrer teuren Nähe schwamm ich in einem Meer der Wonne. Da man wußte, daß ich der alleinige Erbe meines Onkels sei, den man auf fünf Millionen Dollars schätzte, gaben die Eltern um so bereitwilliger ihre Zustimmung. Sowohl ihnen wie mir war es unbekannt geblieben, daß mein Onkel unter die Sammler gegangen war – wenigstens wußten wir nicht, daß er anders als ganz nebenbei sammle.

Die Wolken zogen sich indes über meinem unschuldigen Haupt zusammen. Jenes göttliche Echo, das seitdem durch die ganze Welt als der große Koh–i–noor oder Berg der Wiederholungen bekannt wurde, war entdeckt worden: es war ein fünfundsechzigkarätiger Edelstein. Äußerte man nur ein Wort, so antwortete es einem fünfzehn Minuten lang, wenn das Wetter windstill war. Aber siehe da, zu gleicher Zeit machte mein Onkel die Entdeckung, daß ein zweiter Echosammler vorhanden war. Die beiden beeilten sich, den unvergleichlichen Kauf abzuschließen. Das Grundstück bestand aus zwei kleinen Hügeln mit einem seichten Tal dazwischen, hinten in den Ansiedlungen des Staates New York. Beide Männer kamen zu gleicher Zeit an Ort und Stelle an, doch wußte keiner, daß der andere auch da war. Das Grundstück mit dem Echo gehörte nicht einem Manne allein; ein gewisser Williamson Bolivar Jarvis besaß den einen Hügel, den anderen ein gewisser Harbison J. Bledso; das Tal bildete die Grenzlinie. Während nun mein Onkel Jarvis‘ Hügel für drei Millionen zweihundertundfünfundachtzigtausend Dollars kaufte, erwarb sein Konkurrent Bledso’s Hügel für etwas über drei Millionen.

Keiner von den beiden Männern war mit diesem geteilten Eigentumsrecht zufrieden, doch wollte keiner seinen Anteil an den andern verkaufen und schließlich schritt jener andere Sammler – mit einer Böswilligkeit, wie sie nur ein Sammler gegen einen Mitmenschen und Kollegen fühlen kann – dazu, seinen Hügel abzutragen!

Also, da er das Echo selbst nicht erlangen konnte, wollte er es auch keinem andern gönnen. Alle Vorstellungen meines Onkels waren vergeblich.

Es gelang ihm zwar einen Aufschubsbefehl gegen seinen Konkurrenten zu erwirken, der letztere appellierte jedoch und brachte die Sache vor eine höhere Instanz. Sie führten den Prozeß weiter bis zum obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten. Es entstand ein heilloser Wirrwarr. Zwei von den Richtern waren der Ansicht, ein Echo sei persönliches Eigentum. Obwohl nicht greifbar, sei es doch käuflich und verkäuflich und daher ein besteuerbarer Gegenstand; zwei andere Richter meinten, ein Echo sei ein Liegenschaftsobjekt, weil es offenbar am Grund und Boden hafte und nicht beweglich sei; andere Richter behaupteten, ein Echo sei überhaupt kein Eigentum.

Es wurde schließlich entschieden, daß ein Echo ein Eigentumsobjekt sei; daß die beiden Prozessierenden getrennte und unabhängige Eigentümer der beiden Hügel, aber gemeinsame Inhaber des Echos seien: es stehe deshalb dem Beklagten vollkommen frei, seinen Hügel abzutragen, da er ihm allein gehöre, aber er müsse eine Kaution von drei Millionen Dollars stellen als Ersatz für den Schaden, den meines Onkels halber Anteil an dem Echo erleiden könnte. Im weiteren verbot das Urteil meinem Onkel, ohne die Erlaubnis des Gegners, dessen Hügel zur Weckung des Echos zu benützen; er dürfe dazu nur seines eigenen Hügels sich bedienen; könne er unter diesen Umständen seinen Zweck nicht erreichen, so sei das sehr bedauerlich, aber der Gerichtshof könne daran nichts ändern. In derselben Weise wurde der Gegner in Bezug auf diesen Punkt beschieden. Sie können sich denken, was nun geschah. Keiner von beiden wollte dem andern die Einwilligung zur Benützung seines Eigentums geben, und so mußte das berühmte und erhabene Echo auf seine Betätigung verzichten; seit jenem Tage gleicht das wertvolle Besitztum einer verzauberten Prinzessin, die auf Erlösung harrt.

Eine Woche vor meinem Hochzeitstage, während ich noch in einem Meer der Wonne schwamm und der hohe Adel von Fern und Nah zur Verherrlichung des Ereignisses sich versammelte, traf die Nachricht von dem Tode meines Onkels und zugleich die Abschrift seines Testaments, das mich zu seinem alleinigen Erben einsetzte, ein. Er war dahin – ach! mein teurer Wohltäter war nicht mehr: der Gedanke daran belastet mein Herz noch heute, nach so langer Zeit. Ich händigte das Testament dem Grafen, meinem Schwiegervater, ein, da ich es meiner Tränen wegen nicht lesen konnte. Der Graf las es und sagte dann finster: ›Nennen Sie das Reichtum, Sir? Das kann man nur in Ihrem schwindelhaften Amerika. Sie sind nichts weiter als der alleinige Erbe einer umfangreichen Sammlung von Echos, wenn man das eine Sammlung nennen kann, was weit und breit über das ganze amerikanische Festland zerstreut ist. Und das ist nicht alles, Sir; Sie stecken bis über die Ohren in Schulden; nicht ein Echo unter der ganzen Partie, auf dem keine Hypothek ruhte. Ich bin nicht hartherzig, Sir, aber ich muß das Interesse meines Kindes wahren. Wenn Sie nur ein Echo hätten, das Sie mit Recht Ihr Eigentum nennen könnten, wenn Sie nur ein Echo hätten, das frei wäre von Lasten, so daß Sie sich mit meinem Kinde dorthin zurückziehen und es durch unverdrossenen Fleiß kultivieren und verbessern könnten, so würde ich nicht nein sagen; aber ich kann mein Kind an keinen Bettler verheiraten. Verlasse ihn, mein Liebling! Und Sie, Sir, nehmen Sie Ihre hypothekenbelasteten Echos und gehen Sie mir für immer aus den Augen.‹

Meine edle Cölestine klammerte sich in Tränen, mit liebenden Armen an mich und schwor, sie wolle gerne, ja mit tausend Freuden die Meine werden, auch wenn ich nicht ein Echo in der Welt hätte. Aber es durfte nicht sein; wir wurden auseinander gerissen – sie, um innerhalb eines Jahres sich langsam zu Tode zu härmen – ich, um allein mich hinzuschleppen auf des Lebens langem, beschwerlichem Pfad, täglich, stündlich betend um die Erlösung, die uns wieder vereinen soll in einem himmlischen Reich. Und nun, mein Herr, wenn Sie so freundlich sein wollen, die Karten und Pläne in meiner Mappe anzusehen; ich kann Ihnen gewiß ein Echo billiger ablassen als irgend jemand. Dieses hier zum Beispiel, welches meinen Onkel vor dreißig Jahren zehn Dollars kostete und eines der entzückendsten in Texas ist, will ich Ihnen für – –«

»Einen Augenblick, bitte!« sagte ich. »Mein Freund, ich habe heute vor lauter Hausierern noch keine Minute Ruhe gehabt. Ich habe eine Nähmaschine gekauft, die ich nicht brauchte; ich habe eine Landkarte gekauft, die voller Fehler ist; ich habe eine Uhr gekauft, die nicht gehen will, ich habe Mottengift gekauft, das die Motten jeder andern Nahrung vorziehen; ich habe eine endlose Menge nutzloser Erfindungen

gekauft, und jetzt bin ich dieser Torheit satt. Ich möchte keines von Ihren Echos auch nur geschenkt. Ich bin auf jeden wütend, der mir Echos zum Verkauf anbietet. Sehen Sie dieses Gewehr? Nun packen Sie Ihre Sammlung zusammen und sputen Sie sich; lassen Sie es nicht zum Blutvergießen kommen.«

Aber er lächelte nur – ein melancholisches, sanftes Lächeln – und zog weitere Pläne heraus. Sie kennen die Geschichte; hat man einmal einem Hausierer die Tür geöffnet, so zieht man immer den kürzeren.

Nach Verlauf einer unerträglichen Stunde waren wir handelseinig. Ich kaufte zwei doppelläufige Echos in gutem Zustand, ein drittes bekam ich drein, das, wie er sagte, unverkäuflich sei, weil es nur Deutsch spräche. »Es war einst vollkommen polyglott,« sagte er, »hat aber irgendwie den größten Teil seiner Sprachfertigkeit eingebüßt.«

Was mir der Professor erzählte

Was mir der Professor erzählte

Ich war noch jung an Jahren, mit bescheidenen Aussichten und von Beruf Feldmesser. Daß ich einmal Professor an einem Gymnasium werden würde, ahnte ich damals nicht. Vor mir lag die ganze Welt – ich war bereit sie zu vermessen, wenn mir irgend jemand den Auftrag erteilte. Jetzt führte mich mein Vertrag nach einem Bergwerksbezirk in Kalifornien; die Seereise sollte drei bis vier Wochen dauern.

Mit meinen Reisegefährten hatte ich wenig Verkehr; lesen und träumen war meine Hauptbeschäftigung, und um mich dem ganz hingeben zu können, wich ich soviel als möglich jeder Unterhaltung aus. An Bord waren drei Spieler von Profession, rohe, widerwärtige Gesellen; natürlich sprach ich nie ein Wort mit ihnen, doch konnte ich nicht umhin, sie häufig zu sehen, wenn ich meinen gewöhnlichen Spaziergang auf dem Vorderdeck machte. Sie saßen dort nämlich früh und spät bei den Karten in ihrer Kajüte, deren Tür offen blieb, um den Tabaksqualm samt den Flüchen und Kraftausdrücken hinauszulassen. Der Anblick war mir in hohem Grade zuwider, allein was half’s – ich mußte mich drein ergeben.

Ein anderer Passagier, der die Fahrt mitmachte, kam mir aber häufig in den Wurf, da er entschlossen schien, sich mit mir auf freundschaftlichen Fuß zu stellen. Ich hätte ihn nicht loswerden können, ohne ihn zu kränken, und das brachte ich nicht über’s Herz; auch nahm mich seine ländliche Einfalt und unaussprechliche Gutmütigkeit sehr für ihn ein. Als ich das erstemal seiner ansichtig wurde, hatte ich mir gleich gedacht, er müsse ein Wiesenbauer oder Farmer aus den Hinterwäldern im Westen sein – vielleicht aus Ohio – und bei näherer Bekanntschaft stellte sich richtig heraus, daß er Viehzüchter war und aus dem Innern von Ohio kam. Die Freude über meinen Scharfsinn, mit dem ich den Nagel auf den Kopf getroffen hatte, war wohl der Grund, daß ich sofort für John Backus, so hieß der Mann, ein warmes Interesse empfand.

Täglich pflegten wir nach dem Frühstück zusammenzutreffen und auf dem Deck spazieren zu gehen. Nach und nach teilte er mir in seiner harmlosen Redeseligkeit alles mit, was seine Person betraf, Geschäfts- und Familienangelegenheiten, Verwandtschaften, Aussichten, politische Anschauungen und dergleichen mehr. Daneben ließ er sich auch von mir erzählen; er fragte nach meinem Gewerbe, meiner Herkunft, wollte meine Pläne und Zwecke wissen und meine ganze Lebensgeschichte. Daß ich ihm so bereitwillig Auskunft gab, beweist die Macht seiner sanften Überredungskunst, denn es lag sonst gar nicht in meiner Natur, mit Fremden über meine Privatangelegenheiten zu reden. Einmal äußerte ich etwas über Trigonometrie; das lange Wort schien ihm angenehm aufzufallen und er erkundigte sich nach der Bedeutung, die ich ihm erklärte. Von da ab nannte er mich nie mehr bei meinem eigenen Namen, sondern immer nur ›Trigo‹ und zwar mit so unbefangener Vertraulichkeit, daß ich es ihm nicht übel nehmen konnte.

Für seine Viehzucht war er förmlich begeistert. Bei der bloßen Erwähnung eines Ochsen oder einer Kuh strahlten seine Augen und er geriet in den feurigsten Redefluß, der unaufhaltsam weiterströmte, solange ich ihm geduldig zuhörte. Er kannte und liebte eine jede Rasse und sprach von ihr in den zärtlichsten Ausdrücken. So oft die Unterhaltung auf sein Rindvieh kam, ging ich stumm und mißmutig neben ihm her, bis ich es nicht länger aushielt und die Rede geschickt auf irgend ein wissenschaftliches Thema brachte; dann leuchtete mein Auge auf und seines wurde matt; seine Zunge geriet ins Stocken, meine wurde beweglich; ich freute mich meines Lebens und er versank in Traurigkeit.

Eines Tages sagte er in etwas unsicherem, zögernden Tone:

»Würden Sie mir wohl den Gefallen tun, Trigo, einen Augenblick in meine Kajüte zu kommen, wegen einer gewissen Angelegenheit, die ich gern mit Ihnen besprechen wollte?«

Ich war sogleich bereit. Nachdem wir eingetreten waren, steckte er noch einmal den Kopf zur Türe hinaus und blickte vorsichtig nach allen Seiten; dann drehte er den Schlüssel um und wir nahmen auf dem Sofa Platz.

»Ich möchte Ihnen einen kleinen Vorschlag machen,« sagte er, »wenn der Ihnen einleuchtet, könnten wir beide unsern Vorteil dabei finden. Zum Spaß gehen Sie doch nicht nach Kalifornien – und ich auch nicht. Mir wollen beide Geschäfte machen, nicht wahr? Nun könnten wir einander gegenseitig recht nützlich sein, wenn es Ihnen paßt. Sehen Sie, ich habe viele Jahre lang gespart und zusammengescharrt und habe hier alles bei mir.« Er öffnete einen alten Lederkoffer, wühlte in einem Haufen schäbiger Kleider umher und zog einen kleinen wohlgefüllten Beutel hervor, den er mich einen Augenblick sehen ließ, worauf er ihn wieder in der Tiefe des Koffers begrub und diesen zuschloß. »Die ganze Summe ist darin,« fuhr er in leisem Flüsterton fort – »runde zehntausend Dollars in Goldfüchsen. Ich habe nun so gedacht: Die Viehzucht verstehe ich so gut wie Einer und in Kalifornien kann man Haufen Geld damit verdienen. Beim Landvermessen aber – das wissen wir beide – fallen bald rechts bald links auf der ganzen Linie kleine Dreiecke ab, die der Feldmesser gratis erhält. Alles, was Sie nun Ihrerseits zu tun haben, ist, die Sache so einzurichten, daß die Dreiecke auf gutes, fettes Weideland fallen. Dies überlassen Sie dann mir, ich bringe meine Herde hin, ich berechne Ihren Anteil sofort, zahle ihn regelmäßig aus und – –«

Es tat mir leid, ihn mitten in seinem begeisterten Redeschwall zu unterbrechen, allein es ließ sich nicht ändern.

»Das ist nicht die Art, wie ich mein Geschäft zu betreiben pflege,« sagte ich mit ernster Miene; »sprechen wir von etwas anderem, Herr Backus.«

Beschämt und verwirrt stammelte er Entschuldigungen; es ging mir ordentlich zu Herzen, seine peinliche Verlegenheit zu sehen, besonders da er keine Ahnung gehabt zu haben schien, daß man in seinem Vorschlag etwas Anstößiges finden könne. Um ihn über seinen Mißgriff zu trösten, wußte ich kein besseres Mittel, als ihm so rasch wie möglich den Genuß einer Unterhaltung über Rinderzucht und Viehhandel zu bereiten. Wir befanden uns gerade vor Acapulco und als wir auf Deck kamen, waren die Matrosen beschäftigt, einige Kühe mittelst Schlingen an Bord zu ziehen. Im Nu war Backus‘ schwermütige Stimmung verflossen, samt der Erinnerung an seinen mißlungenen Schachzug.

»Nein, sehen Sie nur das an!« rief er. »Du meine Güte, Trigo, was würden wir dazu in Ohio sagen! Wie würden unsere Leute die Augen aufsperren, wenn sie die Art von Behandlung sähen – es ist kaum zu glauben.«

Sämtliche Passagiere ergötzten sich an der Schaustellung; sogar die Spieler waren zugegen. Backus kannte sie alle und hatte schon jeden mit seinem Lieblingsthema gelangweilt. Im Weitergehen sah ich, wie einer der Spieler sich ihm näherte und ihn ansprach; diesem folgte der zweite und dann der dritte. Ich stand still, um zu sehen, was daraus werden würde; bald waren die vier Männer in eifrigem Gespräch, dann zog sich Backus allmählich von ihnen zurück, aber sie folgten ihm und wichen nicht von seiner Seite. Das war mir unbehaglich. Als sie jedoch gleich darauf an mir vorbeikamen, hörte ich, wie Backus in ärgerlichem, abweisenden Tone sagte:

»Sie machen sich ganz unnütze Mühe, meine Herren; ich kann Ihnen nur wiederholen, was ich Ihnen schon über ein Dutzendmal gesagt habe: ich bin das Ding nicht gewohnt und will mich nicht darauf einlassen.«

Ich atmete erleichtert auf. »Sein gesunder Sinn wird der beste Schutz für ihn sein,« sagte ich mir.

Während unserer vierzehntägigen Fahrt von Acapulco nach San Francisco sah ich die Spieler öfters eindringlich mit Backus reden. Endlich konnte ich es mir nicht länger versagen, im Gespräch darauf hinzudeuten, um ihn zu warnen. Er lachte wohlgefällig.

»Freilich,« sagte er, »sie zerren die ganze Zeit an mir herum, ich soll doch nur zum Spaß einmal ein Spielchen mit ihnen machen – aber, ich werd‘ mich wohl hüten. Meine Leute haben mir – wer weiß wie oft – eingeschärft, mich vor dergleichen Pack in acht zu nehmen.«

Die Reise ging weiter und wir näherten uns San Francisco. Es war eine dunkle, stürmische Nacht, doch ging die See nicht sehr hoch. Ich hatte den Abend allein auf Deck zugebracht und wollte mich gegen zehn Uhr eben in meine Kajüte begeben, als ich aus der Spielerhöhle eine Gestalt auftauchen und in der Finsternis verschwinden sah. Ich erschrak heftig, denn es war niemand anderes als Backus. Rasch sprang ich die Schiffstreppe hinunter und spähte überall nach ihm umher, konnte ihn jedoch nicht finden. Dann eilte ich wieder hinauf und kam gerade noch recht, um zu sehen, wie er in das verdammte Schurkennest hineinschlüpfte. Hatte er sich endlich doch verlocken lassen? Höchst wahrscheinlich. Vielleicht war er heruntergegangen, um seinen Beutel mit den Goldstücken zu holen. Voll böser Ahnungen näherte ich mich der Tür. Sie war nur angelehnt, und durch die Spalte sah ich mit bitterm Leidwesen meinen armen Freund am Spieltisch sitzen. Wie sehr bereute ich es jetzt, daß ich nicht eifriger bemüht gewesen war, ihn zu warnen und zu retten statt meinem törichten Zeitvertreib nachzuhängen und mich in meine Bücher und Träumereien zu vertiefen.

Backus spielte nicht nur, er hatte auch bereits dem Champagner fleißig zugesprochen, der anfing ihm zu Kopfe zu steigen. Laut verkündete er das Lob des ›Sekts‹, der ihm ganz vortrefflich mundete; so etwas Gutes sei ihm noch nicht über die Zunge gekommen, er wolle weiter trinken, trotz aller Mäßigkeitsvereinler. Ich sah wie die Schurken einander verstohlen zulächelten: sie schenkten alle Gläser voll, aber während Backus das seinige bis auf den Grund leerte, nippten sie nur und gossen den Wein heimlich über die Schulter. Mir war der Auftritt so widerwärtig, daß ich weiter ging, um mich durch den Anblick des Meeres und das Rauschen des Windes zu zerstreuen. Eine innere Unruhe trieb mich jedoch alle Viertelstunden wieder nach der Türspalte zurück; jedesmal sah ich, wie Backus seinen Wein austrank und die andern ihn fortgossen. In so peinlichen Gefühlen hatte ich noch nie eine Nacht verlebt.

Meine einzige Hoffnung war, daß wir recht bald vor Anker gehen würden – damit wäre zugleich dem Spiel ein Ende gemacht. Um den Lauf des Schiffes zu fördern, schickte ich ein Gebet gen Himmel und als wir endlich mit vollen Segeln durch das ›Goldene Tor‹ einfuhren, klopfte mein Herz vor Freude. Wieder eilte ich nach der Spalte und sah hinein. Ach – mein Hoffen war vergeblich gewesen; Backus saß da und lallte mit schwerer Zunge, seine schwimmenden Augen waren blutunterlaufen, sein dunkles Gesicht glühte und er wiegte sich trunken hin und her, mit der schwankenden Bewegung des Schiffes. Eben führte er wieder das Glas zum Munde, während die Karten ausgeteilt wurden. Als er seine Hand erhob, leuchteten seine glanzlosen Augen einen Moment in hellem Schein. Die Spieler sahen es und wechselten kaum merkliche Blicke des Einverständnisses.

»Wie viele Karten?«

»Keine« sagte Backus.

Einer der Schurken – Hank Wiley hieß er – warf eine Karte ab, die andern jeder drei. Dann fingen sie an zu bieten, anfangs nur kleine Summen, einen oder zwei Dollars, bis sich Backus auf zehn Dollars verstieg. Wiley zögerte einen Augenblick, dann ›hielt er mit‹ und bot zehn Dollars darüber. Die beiden andern ›paßten‹ und legten die Karten hin.

Backus bot zwanzig Dollars höher. Wiley sagte:

»Ich halte mit – hundert Dollars mehr!« lächelnd streckte er die Hand aus, um das Geld einzustreichen.

»Liegen lassen!« rief Backus in trunkenem Mut.

»Was – Sie wollen höher bieten?«

»Freilich will ich – ich halte mit, und hier sind noch hundert drüber.«

Er griff in seine Rocktasche und legte die erforderliche Summe auf den Tisch.

»Hoho! wollen Sie dahinaus – dann sage ich fünfhundert an,« versetzte Wiley.

»Und ich biete fünfhundert mehr!« schrie der betörte Viehzüchter, holte den Betrag heraus und türmte ihn auf den Goldhaufen. Die drei Verschworenen konnten ihre Freude kaum mehr verbergen. Jetzt war von Schlauheit und Verstellung nicht länger die Rede, das Bieten ging Schlag auf Schlag und die goldene Pyramide wuchs zusehends. Endlich lagen zehntausend Dollars beisammen. Wiley warf einen Beutel voll Gold auf den Tisch.

»Fünftausend Dollars drüber! – Nun, mein werter Freund vom Lande, wie steht es jetzt?«

»Aufdecken!« rief Backus und legte seinen Goldsack auf den Haufen. »Worauf haben Sie geboten?«

»Vier Könige, Sie verdammter Narr!« lachte Wiley ihm die Karten zeigend, während er zugleich mit beiden Armen den Einsatz schützte.

»Vier Asse, Sie Dummkopf!« schrie Backus mit Donnerstimme und hielt seinem Gegenüber einen gespannten Revolver vor. »Ich bin selbst ein Spieler von Profession und habe die ganze Reise über Sprenkel gestellt, um euch Gimpel zu fangen.«

Rumpeldipumpel! Der Anker sank in den Grund und die lange Reise war zu Ende.

Ja, ja, wir leben in einer bösen Welt! Einer von den Spielern war Backus‘ Spießgeselle. Er hatte die verhängnisvollen Karten auszuteilen und es war verabredet worden, er solle Backus vier Damen geben, aber ach – das hatte er nicht getan.

 

Eine Woche später stieß ich in der Montgomery-Straße auf Backus, der nach der feinsten Mode gekleidet war.

»Was ich Ihnen noch sagen wollte,« meinte er, als wir uns von einander verabschiedeten, »über die fetten Weideplätze – die Dreiecke, wissen Sie – von denen wir sprachen, brauchen Sie sich keine Gedanken mehr zu machen. Ich verstehe eigentlich nichts vom Viehbestand, als was ich in den letzten vierzehn Tagen vor der Abreise in Jersey aufgeschnappt habe. Meine Schwärmerei für Herden und Rinderzucht hat ihren Zweck erfüllt – jetzt ist sie mir nichts mehr nütze.«

Eine wahre Geschichte

Eine wahre Geschichte

(Gerade so wiedererzählt, wie ich sie gehört habe)

Es war im Sommer, zur Dämmerstunde. Wir saßen alle unter dem Vordach des Landhauses, Tante Rahel in bescheidener Ehrerbietung etwas tiefer wie wir auf den Stufen, denn sie war unsere Magd und eine Farbige. Von hohem Wuchs und gewaltigem Körperbau, hatte sie trotz ihrer sechzig Jahre ihre alte Kraft bewahrt und ihr Augenlicht war noch ungeschwächt. Der braven, lustigen Seele war das Lachen so natürlich wie einem Vogel das Singen. Wie gewöhnlich nach beendetem Tagewerk stand sie auch jetzt wieder im Feuer, das heißt, sie wurde unbarmherzig geneckt, und das machte ihr großes Vergnügen. Sie brach wieder und wieder in schallendes Gelächter aus und wenn sie keinen Atem mehr hatte, hielt sie ihren Kopf mit beiden Händen fest und schüttelte sich im Übermaß der Wonne und des Entzückens.

»Tante Rahel,« sagte ich zu ihr, als sie dies wieder einmal tat, »wie kommt es, daß du sechzig Jahre alt geworden bist und gar nichts Trauriges erlebt hast?«

Da war ihr Lachkrampf vorüber; sie schwieg einen Augenblick, sah über die Schulter nach mir hin und alle Fröhlichkeit war von ihr gewichen.

»Ist das Ihr Ernst, Mista Charles?« fragte sie.

Das überraschte mich sehr und mir verging die scherzhafte Stimmung.

»Je nun,« entgegnete ich betroffen, »ich dachte – das heißt, ich meinte nur, – du könntest doch unmöglich jemals Kummer gehabt haben. Noch nie habe ich einen Seufzer von dir gehört, und wenn ich dich sehe, lachst du immer über’s ganze Gesicht.« Sie drehte sich jetzt vollends herum und sah mich mit großer Ernsthaftigkeit an.

»Ich – keinen Kummer? – Hören Sie Mista Charles, ich erzählen will alles und dann sagen Sie sich’s selber. Ich bin geboren unter Sklaven, ganz da unten und weiß alle Dinge von die Sklaverei, weil ich selbst gewesen eine. Nun also, mein Alter – das heißt mein Mann – der war lieb und gut zu mir, wie Mista zu seiner eigenen Frau. Sieben Kinder wir haben gehabt und sie geliebt haben wie Mista liebt seine Kinder. Sie schwarz gewesen, aber uns‘ Herrgott können nicht machen Kinder so schwarz, daß ihre eigene Mutter sie nicht liebt und für nichts in der ganzen Welt hergeben will.

Nun, Mista Charles, groß geworden ich bin im alten Virginien, aber meine Mutter, sie stammte aus Maryland. – Mein‘ Seel‘, wenn die in Zorn geriet, das schrecklich war; sie konnte den Leuten die Pelz waschen, daß die Haare flogen. Wenn sie so recht im Harnisch war, dann sie hatte immer bloß eine Wort, die sie sagte. Sie reckte hoch sich in der Höhe, stemmte die Fäuste in die Seite und sagte: ›Na, wartet, ich das werd‘ euch lehren! Ihr denkt wohl, ich stamm‘ aus ’nem Bettelsack und wollt mich narren, ihr Lumpenpack? Ich bin von die alte blaue Henne ihren Hühnchen, daß ihr’s wißt!‹ – Sehen Sie, so Leute sich nennen, die in Maryland sind geboren und sind stolz darauf. Ja, ja, sie sagte das immer, und ich vergeß‘ es mein Lebtag nicht, weil sie sagte es so oft und auch einmal, als mein kleiner Henry sich hatte einer Loch in die Kopf gefallen, gerade auf der Stirn und seine Handgelenk blutig gerissen – o schrecklich! Und die Nigger, sie kamen nicht gleich herbeigeflogen, das Kind zu helfen. Da war meine Mutter furchtbar böse und sie trat vor sie hin und sagte: ›Na wartet, ihr Nigger, ich das werd‘ euch lehren! Ihr denkt wohl, ich stamm‘ aus ’nem Bettelsack und wollt mich narren, ihr Lumpenpack? Ich bin von die alte blaue Henne ihren Hühnchen, daß ihr’s wißt!‹ Dann trieb sie sie alle aus die Küche ‚raus und verband die Kind selbst. Da hab‘ ich mich das angewöhnt, und wenn der Ärger über mich kommt sag‘ ich auch das Wort von meine Mutter.

Nu also, mit der Zeit, meine alte Missis sagt einmal, mit ihr wär‘ alles aus, sie muß verkaufen ihre Platz und alle Nigger. Wie ich aber höre, daß sie uns wollte verkaufen auf dem Markt in Richmond – o du meine Güte, das Schrecken! Ich wußte ja, was der Glocke hat geschlagen.«

(Tante Rahel war allmählich im Eifer ihrer Erzählung aufgestanden; ihre große Gestalt ragte jetzt über uns hinaus und hob sich schwarz und deutlich ab vom Sternenhimmel.)

»Sie legten uns in Ketten und stellten uns auf eine Tritt so hoch wie der Vordach. Und die Leute standen herum, viele Haufen. Sie kamen da ‚rauf und besahen uns von vorn und von hinten, sie drückten unser Arme, machten uns stehen und gehen und sagten dann: der ist zu alt; der taugt nichts mehr. Der ist lahm. Der ist nicht viel wert. Und sie verkauften mein alter Mann und führten ihn weg. Dann fangen sie an und verkaufen meine Kinder und nehmen sie fort. Ich laut heule, aber die Mann sagt: Laß deine verdammte Gewinsel, und schlägt mich mit sein Hand auf meine Mund. Wenn alle fort sind bis auf mein kleiner Henry, ich presse ihn ganz fest an meine Brust und trete hin und schrei: ›den ihr dürft nicht nehmen mit, nein, nein, wer ihn anrührt den schlagen ich tot.‹ Aber mein kleiner Henry, er spricht mir ins Ohr: ›Ich tu‘ weglaufen, und dann arbeiten ich und kaufen dich los.‹ Gott segne die Kind, es war immer so gut! – Und das Kerle, sie kommen und nehmen ihn, aber ich sie packen und reißen sie die Kleider vom Leibe und schlage sie mit meine Kette über die Kopf. Sie haben’s tüchtig wiedergegeben mir, freilich – aber was kümmerten mich das!

Nu also, mein Alter war fort und meine Kinder – meine ganzen sieben Kinder – und sechs davon ich habe nie wieder mit Augen gesehen bis zum heutigen Tag – zweiundzwanzig Jahr letzte Ostern. Mich kaufte ein Mann aus Newbern und hat gebracht mich dorthin. Dann vergehen die Jahre und der Krieg kommt. Mein Massa war ein Oberst von die Konförderierte und ich Köchin in seine Familie. Wie aber die Unioner kommen und einnehmen die Stadt, sind sie alle fortgelaufen und mich allein gelassen haben mit die andern Nigger in Massas großes Haus. Nun die großen Offiziers von die Unioner sind eingezogen und haben mich gefragt, will ich kochen vor ihnen. ›Na Herrje, freilich,‹ sage ich, ›zu was wär‘ ich sonst da?‹

Das sind keine so kleine Offiziers gewesen, nein, von die allergrößten, und wie die ihre Soldaten ‚rumschwenken ließen! Der General zu mir sagt, ich soll die Kommando haben über das Küche und alle rausjagen, die sich mengen wollen in meinen Sachen. ›Nur nicht fürchten dich,‹ sagte er, ›du jetzt bist unter guten Freunden.‹

Na, ich denken bei mir, wenn mein kleiner Henry Gelegenheit gefunden zum Fortlaufen, so ist er natürlich nach das Norden. Und eine Tag ich gehe ins Wohnzimmer, wo die großen Offiziers sind, mache eine Knix und fange an zu erzählen von mein kleiner Henry, und sie hören meine traurige Geschichte zu, gerade als ob ich eins von die weiße Leut‘ wär‘. Und ich sage: ›Weswegen ich komme, das ist, weil, wenn er ist fortgelaufen und nach das Norden, wo die Herrens herkommen, sie ihn haben vielleicht gesehen und können mir sagen, wo ich ihn finden wieder. Er ganz klein ist und hat eine Narben am linken Handgelenk und oben auf die Stirn.‹ Dann machten sie betrübte Gesicht und der General fragt: ›Wie lange ist es her, seit man dir die Kind genommen hat?‹ Und ich sage: ›Dreizehn Jahr.‹ ›Dann ist er jetzt nicht mehr klein,‹ antwortet der General, ›er ist ein Mann.‹

Daran ich hatt‘ vorher nie noch gedacht, er war für mich noch immer die kleine Junge, mir war nie eingefallen, daß er gewachsen und groß geworden sein muß. Aber nun ich es verstand. Keiner von den Offiziers war ihm begegnet und sie konnten mir nicht helfen. Aber die ganze Zeit, ohne daß ich’s wußte, vor vieler Jahr, war mein Henry schon fort nach das Norden und war eine Barbier, der für eigener Rechnung arbeiten tat. Wie aber die Krieg kam, da er hat gesagt: ›Jetzt ich laß das Bartscheren und gehe meine alte Mutter zu suchen, wenn es nicht schon tot ist.‹ So verkauft er sein Sach‘ und geht hin, wo sie Soldaten werben und verdingt sich als Bursche bei die Oberst. Nun er marschiert überall mit durch allen Schlachten, sein alte Mutter zu finden, erst er war bei eine Offizier, dann bei eine andere, bis er ist gezogen durch das ganzen Süden. Aber von das alles wußt‘ ich nicht ein Sterbenswort. Wie ich’s sollt‘ auch wissen?

Nun, eine Abend hatten wir großer Soldatenball. Die Soldaten in Newbern immerzu wollten tanzen und jubeln, und sie tanzten oft und oft in meine Küche, weil die ist so arg groß. Nun wissen Sie, mir gar nicht das gefiel, weil ich diente die Offiziers, und es ärgerte mich zu sehen die gemeine Soldaten ihre Sprünge machen in meine Küche. Aber ich blieb immer dabei und sah nach das Rechte und wenn sie trieben es zu arg und ich einen Zorn kriegte, dann ‚raus mit sie aus meine Küche – hast du nicht gesehen!

Also einmal – Freitag abend – da kam eine ganze Bataillon von das Nigger-Regiment, das die Wache hatte beim Haus – die Haus war der Hauptquartier, wissen Sie. Da kocht alles inwendig bei mir. Ich bin im hellen Zorn und nur warte drauf, daß sie was tun, daß ich könnte drunter hineinfahren. Und sie walzten und sprangen herum, heisahopsasa – und ich schwoll und schwoll vor Wut. Nicht lange, so kommt da ein junger Springinsfeld von Nigger gesegelt daher, den Arm um seine gelbe Tänzerin; sie drehen und schwingen sich im Kreise, rund, rund, rund, daß einem ganz wirbelig wird, sie anzusehen. Und als sie dicht vor mir sind da hopsen sie erst auf eine Fuß, dann auf die andere und lachen über meine große rote Kopftuch und trieben ihren Spaß. Da ich fahre auf sie los und sage: ›Macht, daß fortkommt ihr, ihr Gesindel!‹ Da wird das Gesicht von der junge Nigger auf einmal ernst, aber nur einen Augenblick, dann war er wieder lustig und lachte wie zuvor. Indem kommt eine ganze Bande Nigger herein, die wo die Musik machen und immer so vornehm tun. Aber sobald sie das an die Abend versuchen, fahre ich auf sie ein. Sie lachten und da es wurde noch ärger. Die andern Nigger fangen auch an zu lachen und nun ich war wie ein Feuerbrand. Ich reckte mich in der Höhe, so – gerade wie jetzt – fast bis an die Decke, stemmte die Fäuste in die Seite und jagte: ›Na, wartet, ihr Nigger, ich das werd‘ euch lehren. Ihr denkt wohl ich stamm‘ aus ’nem Bettelsack und wollt mich narren, ihr Lumpenpack? Ich bin von die alte blaue Henne ihren Hühnchen, daß ihr’s wißt!‹ Da stand die junge Mann stocksteif da, die Augen nach das Decke, als ob er was vergessen hätt‘ und sich nicht mehr erinnern könnt‘. Ich aber gehe den Niggers zu Leibe, wie eine richtige General, und sie nehmen Reißaus und drängen nach die Tür. Und wie die junge Mann rausgeht, hör‘ ich, wie er zu einem andern Nigger sagt: ›Jim‹, sagt er, ›geh mal hin und sag‘ die Hauptmann, ich würd‘ morgen früh um acht zur Hand sein; aber ich hab‘ was auf dem Herzen, schlafen ich kann heute nacht nicht mehr, geh, laß mich allein.‹

Das war um ein Uhr in der Nacht, und wie es sieben Uhr schlug, war ich auf und hantierte herum, den Offiziers zu machen das Frühstück. Wie ich mich nun zu die Ofen bücke – grade als wär‘ Ihr Fuß die Ofen – und die Türe aufmache mit meine Hand und zurückstoße sie – wie jetzt Ihre Fuß – und die Pfanne mit das heiße Backwerk in die Hand halte und aufstehen will – da sehe ich ein schwarzes Gesicht sich vor meines hinschieben und mir in die Augen schauen – – grade wie ich jetzt ansehe Sie – ich rühre mich nicht und gucke und gucke nur in einem fort – so – bis die Pfanne zu zittern anfängt – und auf einmal – da wußt‘ ich’s. Die Pfanne liegt am Boden und ich packe ihn an der linken Hand, schiebe den Ärmel zurück – grade so, wie ich’s mache mit Sie, und dann kommt das Stirn an die Reihe und ich streiche seine Haar zurück, so – und ›Junge,‹ sag‘ ich, ›wenn du nicht mein Henry bist, wie du kommst zu die Narbe am Handgelenk und die Schramme auf die Stirn? – Der Herrgott im Himmel gepriesen sei, ich habe meine Herzensjunge wieder!‹

Ja, ja, ich hab‘ Kummer gehabt – aber auch Freude, Mista Charles – auch Freude!«

  1. Herrin.
  2. Herr.

Wie Hadleyburg verderbt wurde

Wie Hadleyburg verderbt wurde

I.

Vor vielen, vielen Jahren war Hadleyburg in der ganzen Gegend wegen seiner Rechtschaffenheit allgemein bekannt. Es hatte sich diesen Ruhm, der seinen größten Stolz ausmachte, schon seit drei Generationen unbefleckt erhalten. Damit der Stadt nun auch in Zukunft nichts davon verloren ginge, war man eifrig bemüht, bereits dem Säugling in der Wiege feste Grundsätze der Ehrlichkeit in Handel und Wandel einzuflößen und die ganze spätere Erziehung der Kinder auf solchen Lehren weiterzubauen. Man sorgte vor allem dafür, daß ihnen während der Entwickelungsjahre jede Versuchung ferngehalten wurde, damit die redliche Gesinnung Zeit hätte, sich zu befestigen und ihnen sozusagen in Mark und Knochen überzugehen. Alle Nachbarstädte waren eifersüchtig, weil Hadleyburg sie an Rechtschaffenheit weit übertraf, und spotteten darüber, daß es sich auf seinen Ruf so viel einbildete. Aber trotzdem konnten sie nicht umhin, anzuerkennen, daß in der Stadt wirklich die unbestechlichste Redlichkeit herrschte, ja sie mußten sogar zugeben, daß es für jeden jungen Mann, der aus Hadleyburg stammte, keiner andern Empfehlung bedurfte, wenn er seinen Geburtsort verließ, um sich auswärts eine Vertrauensstellung zu suchen.

Einmal hatte die Stadt jedoch im Laufe der Zeit das Unglück gehabt, einem durchreisenden Fremden eine – vielleicht ganz absichtslose – Kränkung zuzufügen. Die Hadleyburger machten sich natürlich keinen Kummer über so etwas, denn sie waren sich selbst genug und das Urteil fremder Leute ließ sie völlig gleichgültig. Dennoch hätten sie klüger getan, sich diesen Fall mehr zu Herzen zu nehmen, weil der Beleidigte ein verbitterter Mensch von rachsüchtiger Gemütsart war. Ein ganzes Jahr lang dachte er auf allen seinen Wanderungen nur an die erlittene Kränkung und benutzte jeden freien Augenblick, um auf ein Mittel zu sinnen, wie er sich volle Genugtuung verschaffen könne. Ihm fiel mancher gute Plan ein, aber keiner, der ihn ganz befriedigte. Das alles hätte nur eine mehr oder minder große Zahl der Bewohner geschädigt, und er wollte etwas ausfindig machen, wobei die ganze Stadt in Mitleidenschaft gezogen würde und auch nicht ein einziger Mensch mit heiler Haut davon käme. Endlich geriet er auf einen glücklichen Gedanken und helle Schadenfreude blitzte ihm aus den Augen, als der Plan ihm durch den Kopf fuhr. Sofort stand sein Entschluß fest: »Ja, so will ich’s machen,« sagte er bei sich, »ich will die Stadt verführen und verderben.«

Ein halbes Jahr war vergangen, da fuhr der Fremde eines Abends gegen zehn Uhr vor dem Hause des alten Bankkassierers in Hadleyburg vor. Er holte einen Sack aus seinem Einspänner, lud ihn auf die Schulter und schwankte unter der Last über den Hof bis zur Haustür, wo er anklopfte. »Herein!« rief eine Frauenstimme. Der Fremde betrat das Wohnzimmer, stellte den Sack hinter den Ofen und wandte sich dann in höflichem Ton an die alte Dame, die, in ihrem Missionsblatt lesend, bei der Lampe saß:

»Ich will Sie nicht stören; behalten Sie bitte Platz, Madame. So, jetzt habe ich den Sack so gut wie möglich verborgen; kein Mensch würde etwas davon merken. Könnte ich wohl ihren Mann einen Augenblick sprechen?«

»Nein; er ist nach Brixton gefahren und wird schwerlich vor morgen früh heimkehren.«

»So? – Nun, das schadet weiter nichts. Ich wollte ihm nur diesen Sack übergeben, mit der Bitte, ihn seinem rechtmäßigen Eigentümer zuzustellen, sobald dieser sich findet. Ich bin hier fremd und Ihr Mann kennt mich nicht. Auf meiner Durchreise wünschte ich, diese Sache, welche mir schon lange am Herzen liegt, ein für allemal zu erledigen. Das ist jetzt geschehen, und ich kann stolz und zufrieden weiterziehen. An dem Sack ist ein Zettel befestigt, aus dem Sie alles Nähere erfahren werden. Gute Nacht, Madame!«

Die alte Dame war froh, als der geheimnisvolle Fremde wieder fortging, denn sie fürchtete sich vor dem großen, starken Mann. Doch konnte sie ihre Neugierde nicht lange bezähmen; sie band das Papier von dem Sack los und begann zu lesen:

»Sie haben die Wahl, ob Sie dies veröffentlichen, oder auf privatem Wege Erkundigungen nach dem richtigen Manne einziehen wollen; eins ist so gut wie das andere. – Der Sack enthält Goldmünzen im Gewicht von 160 Pfund vier Loth –«

»Ums Himmels willen – und die Tür ist nicht verschlossen!«

An allen Gliedern bebend, stürzte Frau Reichard nach der Tür und drehte den Schlüssel um. Dann schloß sie auch die Fensterladen und blieb mitten in der Stube in ängstlichem Sinnen stehen, ob sie nicht noch etwas für die Sicherung des Goldes und ihrer eigenen Person tun könne. Eine Weile horchte sie gespannt auf etwaige Einbrecher, dann trieb die Neugierde sie wieder zu ihrer Lampe zurück und sie las die Schrift bis ans Ende:

»Ich bin ein Ausländer und kehre jetzt in meine Heimat zurück, die ich nicht wieder zu verlassen denke. Für alles Gute, das ich unter dem Schutz des Sternbanners genossen habe, werde ich Amerika stets erkenntlich bleiben. Ganz besonderen Dank schulde ich aber einem amerikanischen Bürger und Bewohner Hadleyburgs, der mir vor etwa zwei Jahren die größte Freundlichkeit erwies. Eigentlich hat er mir sogar einen doppelten Dienst geleistet, wie ich des näheren erklären will: Ich hatte mich beim Glücksspiel zu Grunde gerichtet und kam spät abends hungrig und ohne einen Heller in der Tasche hier im Orte an. Bei Tage hätte ich mich geschämt zu betteln, aber im Dunkel der Nacht bat ich einen Herrn auf der Straße um Hilfe. Ich war an den Rechten gekommen. Er schenkte mir zwanzig Dollars und gab mir dadurch nicht nur das Leben wieder, sondern machte mich auch zum reichen Manne. Denn mit jenen zwanzig Dollars gewann ich mir ein Vermögen am Spieltisch. Zugleich aber tat er eine Äußerung, die ich bis auf den heutigen Tag nicht vergessen kann; sie hat mich zur Besinnung gebracht und mir geholfen, meine Spielerleidenschaft zu überwinden. Jetzt bin ich ganz davon geheilt. Leider habe ich keine Ahnung, wer der Mann ist, doch wünsche ich, ihn zu entdecken, denn für ihn ist dies Gold bestimmt. Er kann damit tun, was er will, es verschenken, es fortwerfen oder behalten, ganz nach Belieben. Es soll nur der Ausdruck meiner Dankbarkeit sein. Könnte ich mich längere Zeit hier aufhalten, so würde ich selbst nach ihm suchen, bis ich ihn fände; aber ich zweifle nicht, daß man es auch ohne meinen Beistand bewerkstelligen wird, und setze mein ganzes Vertrauen auf die wohlbekannte Rechtschaffenheit der Bewohner dieser Stadt. Mein Wohltäter wird sich gewiß noch der Äußerung erinnern, die er mir gegenüber getan hat und sich dadurch als der richtige Mann ausweisen.

»Falls Sie vorziehen, die Nachforschung auf privatem Wege zu betreiben, brauchen Sie bloß den Inhalt dieses Schreibens demjenigen Ihrer Mitbürger kund zu tun, welcher Ihrer Ansicht nach der richtige Mann sein könnte. Sagt er dann: ›Ja, der bin ich, meine Äußerung lautete so und so,‹ dann machen Sie die Probe: Wenn Sie den Sack öffnen, werden Sie darin einen versiegelten Umschlag finden, der die bewußte Äußerung enthält. Stimmt dieselbe mit den Worten des Mannes überein, so kann er den Sack ohne alles weitere mitnehmen, denn er ist sicherlich der Rechte.

»Ziehen Sie aber ein öffentliches Verfahren vor, dann lassen Sie meine Zuschrift im hiesigen Tageblatt abdrucken, nebst den folgenden Bedingungen: Am dreißigsten Tage nach dem heutigen Datum soll sich der Bewerber um acht Uhr abends auf dem Rathaus einfinden und dem Herrn Pastor Burgeß (falls dieser so freundlich sein will, die Mühe zu übernehmen) ein versiegeltes Papier abgeben, welches die bewußte Aeußerung enthält. Hierauf soll Herr Burgeß die Siegel des Sacks zerbrechen, denselben öffnen und sich überzeugen, ob die Worte gleichlautend sind. Ist dies der Fall, so bitte ich ihn, meinem wiedergefundenen Wohltäter das Gold als Beweis meiner aufrichtigen Dankbarkeit einhändigen zu wollen.«

 

Der Zettel hatte Frau Reichard ungewöhnlich aufgeregt, sie mußte sich niedersetzen. Bald war sie ganz in Gedanken versunken, die ihr im Kopf durcheinander schwirrten. »Was für eine sonderbare Geschichte! … Der gute Mann, der damals aufs Geratewohl so großmütig war, kann wirklich von Glück sagen! … Wenn es nur mein Eduard gewesen wäre – wir sind zwei so arme alte Leute und hätten’s gut brauchen können! …« Sie seufzte. – »Mein Mann würde einem Fremden nicht zwanzig Dollars geben, nein, sicher nicht … Leider, leider ist das außer Frage … Aber das Gold ist ja im Spiel gewonnen! Mir schaudert, wenn ich nur daran denke. Es ist Sündengeld! Das könnten wir doch nicht annehmen; nicht mit einem Finger würden wir es berühren. Schon seine bloße Nähe scheint mir eine Entwürdigung.« – Sie rückte ihren Stuhl in die äußerste Ecke … »Wenn nur Eduard käme und den Sack auf die Bank trüge. Es ist zu schrecklich, so ganz allein mit dem Gold bleiben zu müssen, ohne Schutz vor Dieben.« –

Um elf Uhr kehrte Reichard heim. »Wie freue ich mich, daß du wieder da bist,« rief ihm seine Frau entgegen. Er aber grollte: »Ich bin ganz abgehetzt und müde zum umfallen. Es ist wirklich arg, daß ich so arm bin und noch in meinem Alter diese elenden Fahrten machen muß. Fort und fort in der Tretmühle stecken bei dem lumpigsten Gehalt – Sklavenarbeit für einen andern tun, der unterdessen behaglich daheim im Lehnstuhl sitzt – es ist nicht zum aushalten!«

»Du weißt wohl Eduard, wie leid mir das tut. Aber wir haben doch unser tägliches Brot und unsern guten Namen, das ist wenigstens ein Trost.«

»Freilich, freilich, Mary, das ist die Hauptsache. Höre nur nicht auf mein Gerede. Mich hat der Ärger einen Augenblick übermannt; es hat nichts auf sich. Gib mir einen Kuß! So, jetzt ist schon alles wieder gut; du sollst keine Klage mehr hören. Was hast du denn aber bekommen? Was ist in dem Sack?«

Nun erzählte die Frau das große Geheimnis, und ihm wurde zuerst ganz schwindelig zu Mute. Endlich sagte er:

»Der Sack ist hundertsechzig Pfund schwer. Aber Mary – das sind ja vierzigtausend Dollars – ich bitte dich – ein ganzes Vermögen, wie es kaum zehn Menschen hier am Ort besitzen. Wo ist der Zettel?«

Er überflog ihn hastig. »Das klingt ja wie ein Roman,« rief er. »Solche abenteuerlichen Begebenheiten stehen wohl in Büchern, aber im Leben sind sie mir noch nie vorgekommen.« Alle Müdigkeit war jetzt von ihm gewichen. In der besten Laune tätschelte er seiner alten Frau die Wangen.

»Denke doch nur, Mary,« scherzte er ausgelassen, »wir sind jetzt mit einemmal reiche Leute. Laß uns das Gold vergraben und die Papiere verbrennen. Wenn der Glücksspieler je wiederkommt, brauchen wir nur kaltblütig auf ihn herabzuschauen und zu sagen: ›Was reden Sie da für ungereimtes Zeug? Ich habe weder von Ihnen noch von Ihrem Goldsack je etwas gehört oder gesehen.‹ Dann würde er ein verblüfftes Gesicht machen und –«

»Höre nur jetzt auf mit deinen Spässen und schaffe das Geld fort, ehe die Diebe es holen.«

»Da hast du recht. Aber wie wollen wir’s machen – soll ich private Nachforschungen anstellen? – Nein, lieber nicht; dabei ginge alle Romantik verloren. Besser, wir betreiben die Sache öffentlich. Stelle dir nur vor, was das für Aufsehen machen wird. Alle andern Städte werden uns beneiden, denn sie wissen recht gut, daß der Fremde keiner einzigen solches Vertrauen schenken würde, wie er Hadleyburg erweist. Es ist ein Haupttreffer für uns. Jetzt will ich nur schnell in die Druckerei gehen, es wird sonst zu spät.«

»Nein, nein, bleib, Eduard. Laß mich nicht allein mit dem Gold!«

Aber er war schon fort, doch nicht auf lange. Wenige Schritte vor seinem Hause begegnete er dem Chefredakteur und Eigentümer des Tageblatts, gab ihm den Zettel und sagte: »Hier bringe ich Ihnen etwas Gutes, Cox, lassen Sie es einrücken!«

»Wenn noch Zeit ist, Herr Reichard; ich will sehen, ob es sich tun läßt.«

Als der Bankkassierer wieder daheim war, hatte er noch ein langes Gespräch mit seiner Frau über das wundervolle Geheimnis. Schlafen konnten sie beide nicht. Die erste zu lösende Frage, wer wohl der Bürger sein könne, der dem Fremden die zwanzig Dollars geschenkt hatte, bot keine Schwierigkeiten; sie beantworteten dieselbe wie aus einem Munde:

»Barclay Goodson.«

»Jawohl, dem sähe es ähnlich; er hätte so etwas tun können; aber sonst niemand in der ganzen Stadt.«

»Das wird dir keiner bestreiten, Eduard. Seit Goodson vor einem halben Jahr gestorben ist, haben wir am Ort lauter ehrliche, engherzige, selbstgerechte und geizige Bürger, wie das von jeher so war.«

»Wenigstens hat er es immer behauptet, noch bis zu seiner Todesstunde, und vor aller Ohren.«

»Deshalb konnte ihn auch niemand leiden.«

»Freilich, aber er machte sich nichts daraus. Es war wohl kein Mensch in Hadleyburg so verhaßt wie er, ausgenommen der Pastor Burgeß.«

»Burgeß – nun ja, dem geschieht es ganz recht; von dem hat sich die Gemeinde ein für allemal losgesagt. Kommt es dir nicht sonderbar vor, Eduard, daß der Fremde gerade Burgeß gewählt hat, um das Geld abzuliefern?«

»Hm – ich weiß nicht. Vielleicht kennt der Fremde den Pastor Burgeß besser als unsere Stadt ihn kennt.«

»Um so schlimmer für Burgeß.«

Reichard schien um eine Antwort verlegen und wich dem fest auf ihn gerichteten Blick seiner Frau soviel wie möglich aus. Endlich sagte er mit unsicherer Stimme:

»Weißt du, Mary, ein schlechter Mensch ist Burgeß nicht.«

Sie sah ihn mit unverhohlenem Staunen an.

»Nein, er ist nicht schlecht; du kannst mir’s glauben. Seine Unbeliebtheit gründete sich einzig und allein auf jene gewisse Sache – die damals soviel Lärm gemacht hat.«

»Ich meine doch, jene Sache genügte an und für sich vollkommen, um zu beweisen – –«

»Freilich, freilich! Nur war er unschuldig daran.«

»Was redest du da für Unsinn. Kein Mensch zweifelte doch an seiner Schuld.«

»Mary – mein Wort darauf – er hatte die Tat nicht begangen.«

»Das glaube ich nun und nimmermehr. Woher solltest du es auch wissen?«

»Ich schäme mich, es dir einzugestehen, aber es muß heraus: Ich war der einzige Mensch, der seine Unschuld kannte; ich hätte ihn zu retten vermocht, aber – aber – du weißt ja wie aufgebracht alle Welt gegen ihn war – ich hatte nicht den Mut, mir die ganze Stadt auf den Hals zu hetzen. Zwar fühlte ich, wie erbärmlich das war; doch dem allgemeinen Haß zu trotzen ging über meine Kräfte.«

Mary schwieg eine Welle bekümmert still. Endlich stammelte sie:

»Nein, nein, das wäre nichts für dich gewesen. Man muß auch die öffentliche Meinung – berücksichtigen – und darf nicht – –« Sie war vom geraden Weg abgekommen und in den Sumpf geraten. Nach einer Weile begann sie von neuem: »Freilich, er tut einem leid – aber – Nein, wirklich, Eduard, das hätten wir nicht auf uns nehmen können. Ich wäre trostlos gewesen, hättest du es getan.«

»Ich würde eine Menge Leute vor den Kopf gestoßen haben, Mary, – sie hätten uns ihr Wohlwollen entzogen, und – und –«

»Es liegt mir nur schwer auf dem Herzen, was Burgeß selbst wohl von uns denken mag, Eduard.«

»O, er ahnt nicht, daß ich um seine Unschuld weiß.«

»Wirklich? Das ist mir eine große Erleichterung. Sonst würde er doch – nein, das ändert die Sache gewaltig. – Ich hätte mir’s übrigens denken können, daß er keine Ahnung hat; würde er uns sonst wohl bei jeder Gelegenheit so freundlich begegnen, ohne die geringste Aufmunterung von unserer Seite? Oefters haben mich die Leute schon deswegen verspottet. Die Wilsons, Harkneß und Wilcox machen sich förmlich ein Vergnügen daraus, mit mir von ›meinem Freund Burgeß‹ zu reden, weil sie wissen, wie mich das in Harnisch bringt. Wenn er nur aufhören wollte, uns mit seiner besonderen Zuneigung zu beehren! Ich begreife gar nicht, was ihn dazu treibt.«

»Das will ich dir auch bekennen; bis jetzt habe ich’s selbst vor dir geheim gehalten: Als das Ding zuerst ruchbar wurde, und alle so entrüstet waren, daß man beschloß, Lynchjustiz an ihm zu üben, quälte mich mein Gewissen so sehr, daß ich’s nicht länger aushielt. Ich warnte ihn insgeheim, so daß er die Stadt noch rechtzeitig verlassen konnte; erst als ihm keine Gefahr mehr drohte, kam er zurück.«

»O Eduard! Wenn die Leute dahinter gekommen wären!«

»Schweig still! Mir läuft noch jetzt die Gänsehaut über, wenn ich nur daran denke. Es reute mich auch gleich nachher; nicht einmal dir wagte ich es zu sagen, weil ich fürchtete, man möchte es deinem Gesicht ansehen. Vor lauter Angst schloß ich die ganze Nacht kein Auge zu. Aber niemand hegte Argwohn gegen mich; schon nach einigen Tagen wurde ich ruhiger, und später freute ich mich ordentlich, es getan zu haben. Ja, ich bin noch heute von ganzer Seele froh darüber.«

»Ich auch, Eduard. Es wäre gar zu entsetzlich gewesen. Du warst ihm das wirklich schuldig. – Wie aber, wenn es eines Tages doch noch entdeckt würde? was dann?«

»Das ist ganz ausgeschlossen.«

»Wieso?«

»Weil jedermann denkt, Goodson hätte Burgeß gewarnt.«

»Das lag sehr nahe.«

»Natürlich. Und er machte sich nichts aus dem falschen Verdacht. Der arme alte Salsberg wurde zu ihm hinübergeschickt, ihn der Tat zu beschuldigen. Goodson musterte ihn eine Weile mit unaussprechlicher Verachtung von Kopf bis Zu Fuß. ›So?‹ sagte er dann, ›Sie stellen wohl die Untersuchungskommission vor?‹ ›Jawohl,‹ erwiderte Salsberg und warf sich in die Brust. ›Hm! Wünschen die Herren etwa alle Einzelheiten zu wissen, oder würde ihnen eine allgemeine Antwort genügen?‹ ›Geben Sie mir nur eine allgemeine Antwort, Herr Goodson; falls Einzelheiten verlangt werden, will ich wiederkommen.‹ ›Sehr wohl; so sagen Sie den Herren nur – sie sollen sich zur Hölle scheren – das wird wohl allgemein verständlich sein. Ihnen, Salsberg, möchte ich aber obendrein den Rat geben, wenn Sie wiederkommen gleich einen Korb mitzubringen, um die Überreste aufzulesen, die noch von Ihnen vorhanden sein könnten.‹«

»Das sieht Goodson ganz ähnlich; man würde ihn gleich daran erkennen. Allen Leuten guten Rat zu erteilen war seine einzige Schwäche; er glaubte das besser zu verstehen als jeder andere.«

»Es war unsere Rettung, Mary. Die Sache hatte damit ihr Bewenden; man ließ sie ein für allemal ruhen.«

»Du meine Güte, das verstand sich wohl von selbst.« –

Sie kamen nun wieder mit großem Eifer auf den Geldsack zu sprechen. Bald entstanden jedoch Pausen in ihrer Unterhaltung, weil einmal der Mann, einmal die Frau in tiefes Schweigen versank. Immer längere Unterbrechungen des Gesprächs traten ein, bis Reichard sich endlich ganz seinen Gedanken überließ. Lange starrte er wie abwesend auf den Fußboden, dann machte er mit den Händen allerlei nervöse Bewegungen, die seinen geheimen Ärger verrieten. Auch die Frau sprach kein Wort, doch zeugten ihre Gebärden von großem Unbehagen. Zuletzt stand Reichard auf, ging wie ein Nachtwandler, der böse Träume hat, ziellos im Zimmer hin und her und fuhr sich mit den Händen durchs Haar. Plötzlich schien er einen Entschluß zu fassen; stumm griff er nach seinem Hut und schritt eilig zur Tür hinaus. Seine Frau saß indessen da und brütete vor sich hin, ohne auch nur zu merken, daß sie allein war. Von Zeit zu Zeit bewegte sie die Lippen: »Führe uns nicht in Ver… aber ach, wir sind so arm! Führe uns nicht … Wem würde es denn Schaden bringen? – Kein Mensch hätte es je erfahren … Führe uns …« sie murmelte nur noch unverständliche Laute. Nach einer Weile sah sie auf; Schrecken und Freude zugleich malten sich in ihren Zügen. »Er ist fort,« rief sie. »Aber ach, vielleicht kommt er zu spät – zu spät … Doch wäre es ja möglich, daß er noch zur Zeit …« Sie erhob sich, preßte die Hände krampfhaft ineinander, und während ihr ein Schauer durch alle Glieder lief, sagte sie stöhnend: »Verzeih mir’s Gott – das sind schreckliche Gedanken – aber … was hilft’s – wir sind doch nun einmal schwache Geschöpfe!«

Sie drehte die Lampe herunter, lief verstohlen zu dem Sack hin, kniete sich auf den Boden, befühlte ihn von allen Seiten und strich liebkosend mit der Hand über jede unebene Stelle. Ihre alten Augen schwelgten förmlich in dem Anblick. Von Zeit zu Zeit erwachte sie wie aus einem Traum und murmelte vor sich hin: »Wenn wir doch gewartet hätten – nur eine kleine Weile, statt die Sache so zu überstürzen!«

 

Cox, der Tagblattbesitzer, war inzwischen aus dem Bureau nach Hause gegangen und hatte seiner Frau alles erzählt, was sich Wunderbares zugetragen. Sie besprachen das Ereignis aufs lebhafteste und kamen überein, daß keiner ihrer Mitbürger, außer dem verstorbenen Goodson, großmütig genug wäre um einem armen Fremdling zwanzig Dollars zu schenken. Doch bald entstand eine Stille; beide Ehegatten blickten nachdenklich zu Boden; gleich darauf wurden sie unruhig und aufgeregt; endlich murmelte die Frau wie im Selbstgespräch: »Niemand weiß um dies Geheimnis, außer die Reichards und wir … kein einziger Mensch.«

Cox schreckte aus seinen Gedanken auf, sah seine Frau, die ganz blaß geworden war, verständnisvoll an, stand zögernd auf, blickte verstohlen bald auf seinen Hut, bald nach seiner Ehehälfte – eine stumme Frage. Frau Cox schluckte ein paarmal und räusperte sich, dann nickte sie leise mit dem Kopf. Im nächsten Augenblick war sie allein im Zimmer und die Haustür fiel klirrend ins Schloß.

Von zwei entgegengesetzten Richtungen eilten jetzt Reichard und Cox durch die menschenleeren Straßen. Ganz außer Atem kamen sie gleichzeitig an der Treppe der Druckerei an und schauten einander beim Laternenschein ins Gesicht.

»Weiß außer uns niemand etwas davon?« fragte Cox im Flüsterton.

»Keine Menschenseele, auf Ehrenwort,« gab der andere leise zurück. »Vielleicht ist es noch nicht zu spät, um – –«

Eben schickten sich die Männer an hinaufzusteigen, als ein Junge zu ihnen trat.

»Bist du das, Johann?«

»Ja, Herr Cox.«

»Du brauchst die Morgenpost noch nicht wegzuschicken. Laß alles liegen bis ich’s dir sage.«

»Die Postsachen sind schon fort.«

»Schon fort?« Es klang unsagbare Enttäuschung aus den Worten.

»Ja. Der neue Fahrplan für Brixton und Umgegend ist heute ausgegeben worden. Die Zeitungen mußten eine Viertelstunde früher auf der Bahn sein. Ich bin gelaufen was ich konnte; wäre ich zwei Minuten später dagewesen, so – –«

Die Herren entfernten sich langsam, ohne das Ende seiner Rede abzuwarten. Eine Weile schritten sie stumm nebeneinander her, endlich sagte Cox ärgerlich:

»Was hat Sie nur geplagt, die Sache so zu übereilen. Es ist mir vollkommen unbegreiflich.«

Reichard war ganz betreten. »Jetzt sehe ich’s freilich ein,« sagte er: »vorher hatte ich mir’s gar nicht überlegt, bis es zu spät war. Das nächste Mal will ich gewiß – –«

»Das nächste Mal,« hohnlachte Cox. »So was kommt in tausend Jahren nicht wieder!«

Die Freunde trennten sich ohne Gruß und schleppten sich mühselig nach Hause, als hätte sie ein schwerer Schicksalsschlag getroffen. In atemloser Spannung warteten die Frauen daheim; sie lasen den Eintretenden die Entscheidung vom Gesicht ab, es bedurfte keiner Worte. Nun folgte in beiden Häusern eine sehr heftige, wenig freundliche Erörterung, wie sie bisher zwischen den Ehegatten noch niemals stattgefunden. Die Sache verlief hier und dort fast auf die gleiche Weise:

»Hättest du nur gewartet, Eduard,« sagte Frau Reichard, »aber nein, in deiner Gedankenlosigkeit läufst du stehenden Fußes nach der Druckerei und posaunst es in der ganzen Welt aus.«

»Auf dem Zettel stand doch, es sollte veröffentlicht werden.«

»Ach was! Es war dir freigestellt, es auch unter vier Augen abzumachen. Das kannst du doch nicht leugnen.«

»Ich weiß wohl. Aber wenn ich an das Aufsehen dachte, und wie schmeichelhaft es für Hadleyburg ist, daß ein Fremder solches Vertrauen in unsere Redlichkeit setzt –«

»Das brauchst du mir nicht noch erst lang und breit vorzuhalten. Aber bei einigem Nachdenken hättest du dir doch sagen müssen, daß sich der rechte Mann gar nicht mehr auffinden läßt, weil er im Grabe ruht, und weder Kind noch Kegel, kein einziger Verwandter von ihm am Leben ist. Hätte da das Geld nicht Leuten zu gute kommen können, die es so nötig brauchen wie wir? Kein Mensch wäre dadurch geschädigt worden, und – und –«

Tränen erstickten ihre Stimme; der Mann zerbrach sich vergebens den Kopf, womit er sie trösten könne; endlich sagte er:

»So beruhige dich doch, Mary, die Vorsehung hat es nun einmal so gefügt und deshalb muß es zu unserm Heil dienen; ja, ja, es wird wohl so am besten sein, sonst wäre es nicht geschehen.«

»Eine bequeme Ausrede, wenn man eine Dummheit begangen hat. – War es nicht ebenso gut eine Fügung des Himmels, daß das Geld gerade uns zugeschickt wurde? Und du erdreistest dich, die Absicht der Vorsehung zu durchkreuzen – mit welchem Recht, wenn ich fragen darf? Nichts als gotteslästerliche Anmaßung ist es, die einem demütigen Christenmenschen durchaus nicht zukommt.«

»Aber du weißt doch, Mary, daß die ganze Erziehung in Hadleyburg darauf ausgeht, und auch wir unser Leben lang gewöhnt waren, uns keinen Augenblick zu besinnen, wenn es sich um ein Gebot der Redlichkeit handelt; das ist uns zur zweiten Natur geworden.«

»Ja, ja doch. Man hat uns das immer und immer wieder vorgepredigt und uns von der Wiege an jede nur mögliche Versuchung aus dem Wege geräumt. Und was ist dadurch erreicht worden? Man hat eine künstliche Ehrlichkeit groß gezogen, die wie Butter an der Sonne zerrinnt, sobald sie einmal auf die Probe gestellt wird – das haben wir diese Nacht gründlich erfahren. Gott weiß, mir wäre auch nie der Schatten eines Zweifels an meiner durch und durch redlichen Gesinnung gekommen, und die erste wirkliche Versuchung wirft alle meine Grundsätze über den Haufen. Du kannst mir glauben, Eduard, mit der Redlichkeit der ganzen Stadt ist’s um kein Haar besser bestellt; sie ist gerade so fadenscheinig wie meine und deine. Die Leute hier sind engherzig und geizig, und ihre einzige Tugend, auf die sie sich so viel einbilden und deretwegen sie allenthalben berühmt sind, ist auch nicht weit her. Tritt einmal eine große Versuchung an sie heran, so wird ihr ganzer Ruhm zusammenfallen wie ein Kartenhaus – verlaß dich drauf. So – nach diesem Bekenntnis ist mir schon leichter ums Herz. Mein Leben lang habe ich der Welt etwas vorgeschwindelt, ohne es zu wissen. Mich soll niemand wieder eine redliche Frau nennen – das verbitte ich mir gehorsamst.«

»Wahrhaftig, Mary, du hast mir ganz aus der Seele gesprochen. Merkwürdig – ich hätte das nie für möglich gehalten!«

Sie schwiegen lange still; beide waren mit ihren Gedanken beschäftigt. Endlich schaute die Frau auf.

»Ich weiß, woran du denkst, Eduard.«

Reichard machte ein verlegenes Gesicht. »Fast schäme ich mich, es dir einzugestehen, Mary.«

»Laß gut sein, Eduard; mir geht dieselbe Frage im Kopf herum.«

»Wirklich? Und die wäre?«

»Du hast gedacht: ›Wenn unsereins doch nur erraten könnte, was das für eine Äußerung war, die Goodson dem Fremden gegenüber getan hat.‹«

»Ja, ich will’s nicht leugnen. Es ist eine Sünde und Schande. Schämst du dich nicht auch?«

»Nein, ich bin darüber hinaus. Aber laß uns die Sicherheitskette vorhängen. Wir sind für den Sack verantwortlich, bis er morgen früh in das Bankgewölbe geschafft werden kann. – Du liebe Zeit – hätten wir nur nicht die Torheit begangen!«

Während der Mann die Tür fest verwahrte, sagte Mary:

»Wer doch wüßte, was das ›Sesam, tu‘ dich auf‹ ist. Wie kann nur die Äußerung gelautet haben? – Aber komm, laß uns zu Bette gehen.«

»Und einschlafen?«

»Nein, nachdenken.«

»Ja, das wollen wir.« –

 

Das Ehepaar Cox hatte unterdessen seinen Wortwechsel, der mit einer Versöhnung schloß, gleichfalls zu Ende geführt und sich zur Ruhe begeben. Doch der Schlaf floh auch ihr Lager. Unruhig wälzten sie sich hin und her und zermarterten sich das Hirn, was Goodson dem verarmten Fremden wohl gesagt haben möchte. Was für goldene Worte mußten das doch gewesen sein – sie waren ja vierzigtausend Dollars wert.

 

An jenem Abend blieb das städtische Telegraphenamt länger offen als sonst und zwar aus guten Gründen: Der bei Coxens Zeitung angestellte Faktor war zugleich offizieller Berichterstatter für die Vereinigte Presse der Union. Im gewöhnlichen Lauf der Dinge war dies ein bloßes Ehrenamt, das er bekleidete, denn mehr als viermal im Jahr brachte er keine Depesche zusammen, die als verwendbar angenommen wurde. Doch heute verhielt sich die Sache anders. Auf das Telegramm, in welchem er die große Begebenheit meldete, war eine umgehende Antwort erfolgt:

»Telegraphieren Sie die ganze Geschichte mit allen Einzelheiten – zwölfhundert Wörter.«

Ein riesiger Auftrag! Aber der Faktor führte ihn aus und war über die Maßen stolz auf seine Leistung. Schon am nächsten Morgen zur Frühstückszeit war in ganz Amerika, von Montreal bis zum Golf von Mexico, und von der Gletscherwelt Alaskas bis zu Floridas Orangenhainen nur Hadleyburg und seine unbestechliche Redlichkeit auf aller Lippen. Viele Millionen Menschen sprachen von dem Fremden und seinem Goldsack; man stritt hin und her, ob sich der rechte Mann wohl finden würde, und wartete gespannt auf weitere Nachricht, die hoffentlich in kürzester Frist eintreffen würde.

II.

Als Hadleyburg an jenem Morgen erwachte, war es eine weltberühmte Stadt; man staunte, man freute sich und war stolz darauf – unbeschreiblich stolz. Die neunzehn angesehensten Bürger und ihre Frauen schüttelten sich mit überseligem Lächeln die Hände, so oft sie einander trafen, und wünschten sich Glück, daß Hadleyburg von nun an in jedem Konversationslexikon als Muster der Unbestechlichkeit zu finden sein würde; ja selbst die unbedeutenderen Bürger samt ihren Frauen folgten diesem Beispiel. Alt und jung lief auf die Bank, wo der Geldsack zu sehen war, und schon zur Mittagszeit kamen die bekümmerten und neidischen Bewohner Brixtons und der Nachbarstädte in Scharen herbeigeströmt. Gegen Abend und am folgenden Tag trafen Berichterstatter aus allen Himmelsgegenden ein, die den Sack in Augenschein nahmen, sich die Geschichte bestätigen ließen, sie mit allen Einzelheiten von neuem zu Papier brachten und durch kühne Bleistiftskizzen illustrierten. Sie zeichneten nicht nur den Sack ab, sondern auch Reichards Haus, das Bankgebäude, die Kirchen der Presbyterianer- und der Baptistengemeinde, den Marktplatz und das Rathaus, wo die Probe angestellt und der Sack ausgehändigt werden sollte. Ja sie entwarfen sogar scheußliche Porträts von dem Ehepaar Reichard, dem Bankier Pinkerton, von Cox und dem Faktor, von Pastor Burgeß, vom Postmeister und selbst von Jack Halliday, einem gutmütigen, respektlosen Menschen und allgemeinen Lustigmacher, dem Freund aller kleinen Buben und herrenlosen Hunde, der sich als Fischer, Jäger oder Bummler im Ort herumtrieb. Der knauserige Pinkerton zeigte den Sack mit selbstgefälligem Grinsen jedem neuen Ankömmling, rieb sich vergnügt die Hände und erging sich in salbungsvollen Reden über den alten, festbegründeten Ruf unantastbarer Rechtlichkeit, dessen sich die Stadt erfreute, was jetzt wieder auf so wunderbare Weise bestätigt worden sei. Er hoffe und glaube nun, daß dies Beispiel in ganz Amerika Nachahmung finden und eine allgemeine sittliche Wiedergeburt erzeugen werde.

Im Verlauf der nächsten Woche wurden die Gemüter nach und nach ruhiger: der wilde, stolze Freudenrausch verwandelte sich in ein stilles, wonniges Entzücken, in ein Gefühl tiefen, unaussprechlichen Behagens. Der Ausdruck friedevoller Glückseligkeit lag auf allen Gesichtern.

Doch das dauerte nicht lange. Ganz allmählich trat eine Veränderung ein, was zuerst niemand bemerkte, außer Jack Halliday, dem selten etwas entging und der über alles seine Späße machte, es mochte sein, was es wollte. Er fing mit allerlei beißenden Bemerkungen an, weil dieser und jener nicht mehr solche glückstrahlende Miene zur Schau trug, wie vor ein paar Tagen. Dann behauptete er, die Leute würden immer schwermütiger; später schienen sie ihm von unbesiegbarer Trauer ergriffen, und endlich versicherte er sogar, alle seien in einem Grade verstimmt, gedankenvoll und geistesabwesend, daß er sich anheischig machen wolle, selbst dem ärmsten Wicht einen Cent aus der Hosentasche zu stehlen, ohne ihn aus seinem Traumzustand zu wecken.

Als die Angelegenheit diesen Punkt erreicht hatte, konnte man zur Schlafenszeit in den neunzehn angesehensten Häusern der Stadt tiefe Seufzer hören, worauf das Haupt der Familie gewöhnlich in die Worte ausbrach:

»Ach, was für eine Äußerung kann denn Goodson nur getan haben!«

»Schweig still,« rief die Hausfrau zusammenschauernd. »Was für schreckliche Dinge wälzest du in deinem Hirn herum. Ums Himmels willen schlage sie dir aus dem Kopf!«

Aber am zweiten Abend erfolgte derselbe Ausruf, und der Widerspruch der Frau war schon etwas schwächer. Als der Mann dann am dritten und den folgenden Abenden die Frage immer angstvoller wiederholte, fuhr die Frau nur noch unruhig mit den Händen hin und her; sie öffnete den Mund, sagte aber nichts. Zuletzt fanden beide jedoch die Sprache wieder und seufzten sehnsuchtsvoll: »O, könnten wir es doch erraten!« –

Hallidays Bemerkungen wurden von Tag zu Tag unangenehmer und abfälliger. Er ging in der ganzen Stadt umher und machte sich bald über jeden einzelnen, bald über die gesamte Einwohnerschaft lustig. Außer ihm lachte aber niemand mehr weit und breit, seine Fröhlichkeit bildete den grellsten Gegensatz zu der allgemeinen Trauer; kein Lächeln war irgendwo zu erblicken. Der Spaßvogel trug jetzt eine Zigarrenkiste auf einem Holzgestell mit sich herum, als wäre es eine Kamera für Momentaufnahmen. Alle Vorübergehenden hielt er an, stellte seinen Apparat auf und rief: »Fertig! – Etwas freundlicher, wenn ich bitten darf!« Aber selbst bei diesem köstlichen Witz erheiterte sich keins der trübseligen Gesichter.

So vergingen drei Wochen – noch acht Tage, dann sollte es sich entscheiden. Es war Samstag Abend: Hadleyburg hatte schon zur Nacht gespeist. Statt der Geschäftigkeit und Unruhe in den Läden und dem fröhlichen Stimmengewirr, das sonst um diese Zeit auf den Straßen herrschte, war alles wie ausgestorben. Reichard und seine alte Frau saßen schweigsam und nachdenklich im Wohnzimmer, jedes in seiner Ecke. So trieben sie es jetzt Abend für Abend, während sie früher behaglich beisammen gesessen hatten, lesend, strickend und plaudernd, wenn sie nicht bei den Nachbarn Besuch machten oder diese bei ihnen vorsprachen. Aber das alles schien begraben und vergessen, als sei es nie gewesen – und war doch erst zwei oder drei Wochen her. Niemand plauderte jetzt, man las nicht, man machte keine Besuche. Alle Leute saßen stumm daheim und quälten sich unter Seufzen und Stöhnen, jene rätselhafte Äußerung zu erraten.

Der Postbote brachte einen Brief. Reichard sah die Aufschrift von unbekannter Hand und den Poststempel gleichgültig an, warf das Schreiben auf den Tisch und verfiel dann wieder in sein nutzloses Grübeln, das ihn ganz elend machte. Zwei oder drei Stunden später stand seine Frau schwerfällig auf, um ohne Gutenachtgruß zu Bette zu gehen – nach ihrer jetzigen Gewohnheit. Bei dem Brief blieb sie jedoch stehen und starrte eine Weile gedankenlos darauf hin; dann öffnete sie ihn und überflog den Inhalt. Reichard, der in sich zusammengesunken an der Wand saß, hörte plötzlich einen schweren Fall – seine Frau lag auf dem Boden. Er eilte hin, um ihr zu helfen, aber sie rief:

»Laß mich, laß mich, mein Glück ist zu groß. Hier den Brief mußt du lesen!«

Er tat es. Jedes Wort verschlang er, während sich alles mit ihm im Kreise zu drehen schien. Der Brief kam aus einem entfernten Staat und lautete:

»Ich wende mich an Sie, um Ihnen eine Mitteilung zu machen, obgleich ich Ihnen ganz fremd bin. Nach meiner soeben erfolgten Rückkunft aus Mexico wurde mir erzählt, was sich in Ihrer Stadt zugetragen. Natürlich wissen Sie nicht, wer die Äußerung getan hat, aber ich weiß es. Ich bin der einzige Mensch auf der Welt, der Ihnen sagen kann, daß es Goodson gewesen ist. Wir kannten uns schon seit Jahren und auf meiner Durchreise war ich an jenem Abend bei ihm zu Gast, bis zur Abfahrt des Mitternachtzuges. Ich stand dabei, als er im Dunkeln in der Hale-Allee jene Äußerung dem Fremden gegenüber tat; auch unterhielten wir uns noch auf dem Heimweg darüber, und bei der Zigarre in seinem Hause. Im Laufe des Gesprächs kam die Rede noch auf viele Ihrer Mitbürger, über die er sich jedoch keineswegs schmeichelhaft aussprach; etwas günstiger beurteilte er nur zwei oder drei derselben, zu denen Sie gehörten, soviel ich weiß. Irgend welche Zuneigung sprach er zwar für keinen einzigen aus, doch erinnere ich mich, daß er sagte, ein Hadleyburger – ich glaube, er nannte Ihren Namen, doch bin ich meiner Sache nicht ganz gewiß – hätte ihm einmal einen großen Dienst erwiesen, vermutlich ohne dessen Tragweite selbst zu kennen. Wenn er ein Vermögen besäße, würde er es Ihnen bei seinem Tode vermachen und jedem der andern Bürger seinen Fluch hinterlassen. Waren Sie also derjenige, welcher ihm den Dienst geleistet hat, so sind Sie sein rechtmäßiger Erbe und können den Goldsack als Ihr Eigentum beanspruchen. Ich weiß, daß ich mich auf Ihre Treue und Redlichkeit verlassen kann, denn diese Tugenden erbt ja jeder Hadleyburger ohne Ausnahme von seinen Vätern. So will ich Ihnen denn jene Äußerung mitteilen, da ich überzeugt bin, Sie werden, falls Sie nicht selbst der rechte Mann sind, nach demselben suchen, bis Sie ihn gefunden haben, und Sorge tragen, daß Goodsons Dankesschuld für den bewußten Dienst wirklich gezahlt wird. Die Äußerung, um die es sich handelt, lautete: ›Ihr seid noch lange kein schlechter Mensch. – Geht hin und bessert Euch.‹
Howard L. Stephenson.«

»O Eduard, das Geld gehört uns, wie froh und dankbar bin ich. Gib mir einen Kuß, das hast du seid einer Ewigkeit nicht getan – mein Verlangen war gar zu groß – nach dem Gelde – nun kannst du dich von Pinkerton und seiner Bank losmachen, du brauchst keines Menschen Sklave mehr zu sein. Es ist, als ob ich Flügel hätte, so leicht wird mir ums Herz vor lauter Freude.«

Die halbe Stunde, die das Ehepaar unter Liebkosungen auf dem Sofa zubrachte, gehörte zu den glücklichsten in ihrem Leben. Es war, als sollte die gute alte Zeit noch einmal wiederkehren, die mit dem Brautstand begonnen und keine Unterbrechung erlitten hatte, bis der Fremde das unheilvolle Gold ins Haus brachte. Nach einer Weile sagte die Frau:

»Weißt du, Eduard, es war doch ein rechtes Glück, daß du dem braven Goodson solchen großen Dienst geleistet hast. Bisher mochte ich ihn nicht leiden, aber jetzt habe ich ihn ordentlich lieb. Du hast nie damit geprahlt, auch keine Andeutung gemacht – das war ein schöner und edler Zug von dir. Aber deinem Weibe hättest du es doch anvertrauen sollen; mir scheint, das warst du mir schuldig.«

»Ja, siehst du, Mary – das ging doch nicht an –«

»Mache jetzt keine Umschweife, Eduard, sondern sage es mir. Ich habe dich immer lieb gehabt, aber heute bin ich stolz auf dich. Die Leute glaubten, es gäbe nur einen guten, hochherzigen Menschen in der Stadt, und nun stellt sich heraus, daß du – so sprich doch, Eduard.«

»Nein, Mary, ich kann wirklich nicht.«

»Du kannst nicht? Aber weshalb?«

»Siehst du – nun ja – ich habe es ihm versprechen müssen.«

Sie maß ihn mit großen Blicken.

»Du hast versprochen, mit niemand davon zu reden?« fragte sie eindringlich. »Ist das wirklich der Fall?«

»Glaubst du, ich würde dir etwas vorlügen?«

Sie schwieg eine Weile sichtlich beunruhigt; dann reichte sie ihm die Hand.

»Nein, nein,« rief sie, »Gott behüte! Wir sind schon weit genug vom rechten Weg abgeirrt. All dein Lebtag ist dir noch keine Lüge über die Lippen gekommen – aber jetzt scheint ja selbst der festeste Grund unter unsern Füßen zu wanken, da – da –« Die Stimme versagte ihr einen Augenblick, dann stammelte sie: »Führe uns nicht in Versuchung … Ich glaube an dein Versprechen, Eduard. Laß es dabei bewenden. Ich will nicht weiter in dich dringen. Nun alle Not ein Ende hat, wollen wir unser Glück genießen und es uns durch keinen Schatten trüben lassen.«

Für Eduard war das leichter gesagt als getan; seine Gedanken irrten ruhelos umher, während er sich zu besinnen suchte, was für einen Dienst er Goodson geleistet hatte.

Fast die ganze Nacht tat das Ehepaar kein Auge zu. Mary überlegte voll innerer Befriedigung, was sie mit dem Golde tun wolle. Eduard war bemüht, sich den Dienst ins Gedächtnis zurückzurufen. Zuerst hatte er Gewissensbisse wegen der Lüge. Freilich, eine Lüge war und blieb es. Aber hatte das denn solche ungeheure Bedeutung? Unser tägliches Tun und Treiben ist ja voller Unwahrheit. War etwa Mary besser als er? – O nein; während er fortgeeilt war, um seinen Auftrag redlich zu erfüllen, hatte sie dagesessen und gejammert, daß man die Papiere nicht vernichtet habe, um das Gold behalten zu können. Ist denn Stehlen weniger schlecht als Lügen? –

Ueber diesen Punkt war er also beruhigt – die Lüge trat in den Hintergrund und störte seinen Frieden nicht mehr. Nun kam die nächste Frage an die Reihe: Hatte er den Dienst wirklich geleistet? – Goodsons eigenes Zeugnis, von dem Stephensons Brief berichtete, sprach dafür und war der beste und vollgültigste Beweis. Das lag auf der Hand. Also konnte man auch diesen Punkt füglich für erledigt ansehen … Nein, doch nicht so ganz. Reichard erinnerte sich mit Unbehagen, daß jener Stephenson nicht bestimmt hatte behaupten können, ob er, Reichard, oder ein anderer, den Dienst geleistet habe, und, o Jammer, er verließ sich auf seine Ehrenhaftigkeit. Reichard selbst sollte entscheiden, wem das Gold zukäme, und Stephenson war überzeugt, daß er rechtschaffen genug sein würde, den richtigen Mann aufzusuchen, falls er der falsche wäre. Es war ganz abscheulich, einen Menschen in solche Lage zu versetzen. Wozu hatte nur Stephenson diesen Zweifel überhaupt aufgebracht? Das hätte doch recht gut aus dem Brief wegbleiben können.

Wie kam es aber, überlegte Reichard weiter, daß gerade sein Name dem Briefsteller im Gedächtnis geblieben war? Das sah doch ganz so aus, als müßte er der rechte Mann sein. Wirklich, es war ein sehr gutes Zeichen; je mehr er darüber nachdachte, umso besser erschien es ihm, und zuletzt betrachtete er es als einen entschiedenen Beweis. Wenn aber etwas einmal erwiesen ist, tut man am besten, sich den Kopf nicht mehr darüber zu zerbrechen, das fühlte Reichard instinktmäßig und schlug sich die Sache sofort aus dem Sinn.

Ihm war jetzt schon viel behaglicher zu Mute, nur eine Kleinigkeit ließ ihn noch nicht zur Ruhe kommen. Daß er den Dienst geleistet hatte, stand fest; aber was war es nur für ein Dienst gewesen? Das mußte ihm erst noch einfallen – dann würde er mit voller Gemütsruhe die Augen schließen und schlafen können. So dachte er denn hin und her an jede nur mögliche Dienstleistung, aber nichts schien ihm groß und bedeutend genug, um Goodsons Wunsch zu rechtfertigen, ihm dafür ein Vermögen hinterlassen zu können. Und leider erinnerte er sich auch gar nicht, etwas der Art wirklich getan zu haben. Was war es denn nur, wodurch man einen Menschen zu so außergewöhnlichem Dank verpflichten konnte? Vielleicht wenn man seine Seele rettete? Ja, das mußte es sein. Hatte er es sich nicht einmal zur Aufgabe gemacht, Goodson zum Glauben zu bekehren? Gewiß – und wie lange hatte er daran gearbeitet? – Zuerst meinte er, wohl ein Vierteljahr, doch bei Lichte besehen schrumpfte es zu einem Monat zusammen, dann zu einer Woche, und schließlich blieb gar nichts übrig. Er erinnerte sich jetzt zu seinem größten Leidwesen mit vollkommener Deutlichkeit, daß Goodson ihm gesagt hatte, er solle zum Donnerwetter machen, daß er fortkäme und sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern; ihm sei ganz und gar nichts daran gelegen, mit den Hadleyburgern in den Himmel zu kommen.

Reichard war recht entmutigt. Also Goodsons Seele hatte er nicht gerettet, das stand fest. Vielleicht aber sein Haus und Gut. Nein, damit war’s auch nichts – er besaß keines. Sein Leben? Natürlich – auf jeden Fall. Daran hätte er doch gleich denken sollen. Nun war er endlich auf der rechten Spur und seine Einbildungskraft hatte freien Spielraum.

Zwei Stunden lang beschäftigte er sich eifrig damit, Goodson auf jede erdenkliche und meist sehr gefahrvolle Weise das Leben zu retten. Immer gelang ihm die Heldentat bis zu einem gewissen Punkt, aber gerade wenn er auf dem besten Wege war, sich zu überzeugen, daß die Sache wirklich geschehen sei, trat ein lästiger Umstand dazwischen, der dies zur Unmöglichkeit machte. Beim Ertrinken zum Beispiel: Reichard war weit hinaus geschwommen und hatte Goodson in bewußtlosem Zustand glücklich ans Land gebracht, während die Menge am Ufer stand und ihm zujauchzte. Er hatte es alles so schön ausgedacht und seine Erinnerung daran wurde immer lebhafter, aber da kam der Rückschlag: Unmöglich – die ganze Stadt hätte es doch erfahren; Mary würde darum gewußt haben, und in seinem eigenen Gedächtnis wäre die Tat unauslöschlich verzeichnet gewesen; so etwas vergißt man nicht wieder, es ist auch kein Dienst, dessen ›Tragweite man nicht kennt‹. Obendrein fiel ihm zuguterletzt noch ein, daß er ja gar nicht schwimmen könne.

Halt – diesen Punkt hatte er von vornherein übersehen: Es mußte ein Dienst sein, den er möglicherweise geleistet haben konnte, ›ohne dessen ganze Tragweite zu kennen‹. Das erleichterte die Sache wesentlich. Nach einigem weiteren Kopfzerbrechen kam er denn auch wirklich zu einem befriedigenden Ergebnis: Vor langen Jahren war Goodson einmal nahe daran gewesen, ein liebes, hübsches Mädchen Namens Nancy Hewitt zu heiraten; er hatte jedoch die Verlobung aus irgend einem Grunde wieder aufgelöst. Bald darauf starb das Mädchen, und Goodson wurde mit der Zeit ein verbitterter Hagestolz, der seine Menschenverachtung ganz offen zur Schau trug. Nach Nancy Hewitts Tode hatte sich in der Stadt das Gerücht verbreitet, daß das Mädchen nicht ausschließlich von Weißen abstamme, sondern ein paar Tropfen Negerblut in den Adern gehabt habe. Reichard wälzte diesen Umstand so lange in seinem Haupte, bis ihm war, als tauchten aus der Tiefe seiner Erinnerung allerlei Einzelheiten auf, an die er lange nicht mehr gedacht haben mochte. War er es denn nicht gewesen, der den Flecken in des Mädchens Stammbaum entdeckt und die Sache stadtbekannt gemacht hatte? Natürlich erfuhr Goodson, von wem die Nachricht ausgegangen war und wer ihn davor bewahrt hatte, die entehrende Heirat einzugehen. Und diesen wertvollen Dienst hatte er ihm geleistet, ohne es selbst zu ahnen, also auch, ohne dessen Tragweite zu kennen. Goodson aber, der wohl wußte, mit wie genauer Not er der Gefahr entronnen war, blieb seinem Wohltäter dankbar bis ans Grab und wünschte sich ein Vermögen, um es ihm zu hinterlassen. Das war alles klar und einfach, je mehr Reichard darüber nachdachte, um so einleuchtender ward es ihm; ja, als er sein Haupt jetzt beglückt und zufrieden in die Kissen schmiegte, stand ihm das Ganze so deutlich vor der Seele, als hätte er es erst gestern erlebt. Mary hatte sich unterdessen für sechstausend Dollars ein Haus gekauft und ein Paar Pantoffeln zum Geschenk für ihren Pastor; dann war sie friedlich eingeschlummert. –

An ebendemselben Samstag Abend hatte der Postbote auch jedem der andern angesehenen Hadleyburger einen Brief gebracht – neunzehn Briefe alles in allem. Die Couverts waren ganz verschieden und nicht zwei Adressen von der nämlichen Hand, aber die Briefe selbst glichen einander völlig. Es waren genaue Abschriften desjenigen, welchen Reichard erhalten hatte, auch alle von Stephenson selbst geschrieben, nur mit dem einzigen Unterschied, daß darin der Name des jedesmaligen Adressaten an Stelle von Reichards Namen stand.

Die ganze Nacht hindurch taten die achtzehn angesehenen Männer, was ihr Mitbürger Reichard um dieselbe Zeit getan hatte – sie waren aus Leibeskräften bemüht, sich auf den wichtigen Dienst zu besinnen, den sie – ohne es zu wissen – Barclay Goodson geleistet hatten. Die Arbeit kostete ihnen manchen Schweißtropfen, aber sie wurden doch damit fertig. Was ihre neunzehn Ehegattinnen unterdessen taten, war nicht so schwer. Sie gaben durchschnittlich siebentausend Dollars von den vierzigtausend aus, die der Sack enthielt – einhundertdreiunddreißigtausend Dollars im ganzen, wenn man die Summen zusammenzählt.

Tags darauf war Jack Halliday höchstlich überrascht, zu sehen, daß die Gesichter der neunzehn angesehensten Bürger und ihrer Frauen wieder den früheren glückstrahlenden Ausdruck trugen. Es schien ihm unfaßlich und ihm fiel auch nicht die kleinste witzige Bemerkung ein, um diese himmlische Ruhe zu stören. Das machte ihn nun seinerseits mißmutig und ärgerlich. Wie sehr er sich auch bemühte, dem Rätsel auf den Grund zu kommen, es wollte ihm nicht gelingen. Als er Frau Wilcox begegnete und in ihr verklärtes Antlitz sah, dachte er bei sich: »Ihre Katze hat Junge gekriegt,« aber das war nicht der Fall, wie er auf seine Erkundigung von der Köchin erfuhr. Hatte Billsons Nachbar vielleicht das Bein gebrochen? War Gregor Yates Schwiegermutter gestorben? Hatte Pinkerton ein Zehncentstück einkassiert, das er schon für verloren gehalten? – Dies und noch vieles andere riet Jack Halliday, als er die seelenvergnügten Mienen der Leute sah; aber meistens erfuhr er, daß er fehlgeschossen hatte, und in den übrigen Fällen blieb die Sache zweifelhaft. Nur eins stand fest, nämlich daß neunzehn Hadleyburger Familien sich augenblicklich wie im Himmel fühlten, und mit dieser Gewißheit mußte sich Halliday fürs erste beruhigen.

Ein Bau-Unternehmer aus dem Nachbarstaat hatte sich vor kurzem am Ort niedergelassen und ein Geschäft eröffnet. Schon seit acht Tagen hing sein Schild heraus, aber noch war kein Kunde gekommen. Das entmutigte ihn sehr und er fing bereits an, sein Unternehmen zu bereuen, als der Wind plötzlich umschlug. Die Frauen der ersten Bürger der Stadt fanden sich eine nach der andern bei ihm ein, um ihn auf den oder jenen Tag der nächsten Woche zu sich zu bestellen. »Reden Sie einstweilen noch nicht davon,« hieß es; »wir haben den Plan, uns ein Haus zu bauen, möchten aber nicht, daß es gleich unter die Leute käme.«

Der Mann erhielt elf Aufträge an einem Tage und schrieb noch denselben Abend an seine Tochter, sie solle ihre Verlobung mit dem Studenten auflösen, da sie jetzt eine weit bessere Partie machen könne.

Der Bankier Pinkerton und noch ein paar andere wohlhabende Herren gedachten sich Landhäuser zu kaufen – doch warteten sie die Sache erst ab. Menschen dieses Schlages machen die Rechnung nie ohne den Wirt.

Bei Wilsons hatte man den großen Plan gefaßt, ein Kostümfest zu geben. Man äußerte zwar noch nichts Bestimmtes, sondern erging sich den Bekannten gegenüber nur in allgemeinen vertraulichen Andeutungen. »Wir haben es uns vorgenommen,« hieß es, »und wenn es dazu kommt, werden Sie natürlich auch eingeladen.« Alles war erstaunt darüber. »Wie können die armen Wilsons nur an so etwas denken,« sagte eins zum andern; »ihre Mittel erlauben es ihnen doch nicht.« Einige Damen aus der Zahl der Neunzehn meinten aber, der Gedanke wäre nicht schlecht, und beschlossen zu warten, bis die armselige Geschichte vorüber sei, und dann einen Ball zu geben, der jenen ganz in den Schatten stellen sollte.

Je näher die Zeit rückte, um so mehr wuchs die Verschwendungssucht, immer wilder wurden die Wünsche, immer leichtsinniger die Ausgaben. Es hatte ganz den Anschein, als ob jede einzelne der neunzehn Familien nicht nur mit den 40 000 Dollars fertig werden, sondern sich auch darüber hinaus in Schulden stürzen wollte, noch ehe die Entscheidung gefallen war. In ihrer Sorglosigkeit begnügten sich manche nicht damit, Pläne zu schmieden, sie machten wirkliche Einkäufe – auf Kredit. Bauplätze, Hypotheken, Wiesen und Äcker, Börsenpapiere, kostbare Kleider, Wagen und Pferde nebst vielen andern Dingen schafften sich die Leute an, zahlten ein Draufgeld und machten sich verbindlich, den Rest nach Ablauf von zehn Tagen zu entrichten.

Dieser erste Rausch war jedoch bald wieder verflogen und auf vielen Gesichtern begann sich eine entsetzliche Sorge und Angst zu spiegeln, wie Halliday zu seiner Verwunderung bemerkte. Das Rätsel wurde ihm nur noch unerklärlicher. »Die Kätzchen bei Wilcox sind nicht gestorben, weil gar keine zur Welt gekommen waren,« dachte er bei sich; »niemand hat das Bein gebrochen, alle Schwiegermütter sind noch am Leben – da werde nun einer klug daraus!«

Auch ein anderer Hadleyburger war über die Vorgänge in der Stadt höchlichst verblüfft, nämlich der Pastor Burgeß. Tagelang konnte er nirgends hingehen, ohne daß jemand ihm folgte oder ihm auflauerte. Kam er an irgend einen entlegenen Ort, so tauchte sicher dieser oder jener seiner Mitbürger auf, drückte ihm verstohlen einen Briefumschlag in die Hand, flüsterte: »Am Freitag Abend im Rathaus zu öffnen,« und verschwand wieder gleich einem Missetäter. Dem Pastor war es von vornherein zweifelhaft gewesen, ob jemand Anspruch auf den Sack erheben werde, denn Goodson war ja tot. Daß die Leute, welche sich an ihn drängten, lauter Bewerber sein könnten, kam ihm daher auch nicht von ferne in den Sinn. Als der wichtige Tag endlich erschien, hatte Burgeß neunzehn versiegelte Briefumschläge in der Tasche.

III.

Der Rathaussaal hatte noch nie so prächtig ausgesehen. Im Hintergrund der Rednerbühne, sowie längs den Wänden und Galerien war der ganze Raum mit reichem Flaggenschmuck verkleidet und behängt; sogar um die Säulen schlangen sich bunte Fahnen. Dies Festgepränge sollte einen mächtigen Eindruck auf die Fremden machen, die, wie man vorausgesehen hatte, von nah und fern herbeiströmten; unter ihnen auch eine Menge Berichterstatter der hervorragendsten Zeitungen. Der Saal war zum Erdrücken voll. Nicht nur die 412 festen Plätze waren sämtlich besetzt, sondern auch 68 Extrastühle, welche man hier und da verteilt hatte, sowie die Stufen zur Rednerbühne. Auf dieser selbst befanden sich Ehrensitze für die vornehmsten Gäste, und Tische in Hufeisenform, an denen die Herren von der Presse Platz genommen hatten.

Die Damen waren in großer Toilette; solchen Staat hatte Hadleyburg noch nie erblickt. Dem Anschein nach fühlten sich einige von ihnen nicht sehr behaglich in den kostbaren Gewändern. Wenigstens machten die Einheimischen diese Bemerkung, was aber wohl daher rühren mochte, daß sie genau wußten, jene Damen hätten in ihrem ganzen Leben noch niemals solche Kleider angehabt.

Im Vordergrund der Rednerbühne, auf einem kleinen Tisch, wo alle Welt ihn sehen konnte, lag der Goldsack. Dorthin wandten sich die meisten Blicke mit brennender Begierde und schmerzlich sehnsüchtigem Verlangen, während neunzehn Ehepaare den Sack mit einem liebevollen Eigentumsgefühl betrachteten. Die männlichen Hälften dieser glücklichen Minderzahl wiederholten sich dabei im stillen die hübsche kleine Rede aus dem Stegreif, mit welcher sie alsbald ihren Dank für die Glückwünsche der Menge auszudrücken gedachten. Von Zeit zu Zeit zog bald dieser bald jener Herr ein Stück Papier aus der Westentasche, um seinem Gedächtnis nachzuhelfen.

Anfänglich herrschte ein lebhaftes Stimmengewirr; als aber Pastor Burgeß aufstand und seine Hand auf den Sack legte, wurde es totenstill im Saal; man hätte eine Mücke husten hören können. Der Pastor erzählte die wunderbare Geschichte des Sacks und erging sich dann in warmen Worten über Hadleyburgs wohlverdienten Ruf fleckenloser Redlichkeit, auf den die Stadt mit Recht stolz sein könne. Dieser Ruf, sagte er, sei ein Besitz von unschätzbarem Wert, auf welchem auch Gottes Segen sichtlich ruhe. Denn durch jene merkwürdige Begebenheit habe sich Hadleyburgs Ruhm allenthalben verbreitet, so daß die Blicke von ganz Amerika jetzt auf diese Stadt gerichtet seien, und ihr Name für alle Zeiten, wie er glaube und hoffe, als Sinnbild unbestechlicher Treue in Handel und Wandel gelten werde. (Beifall). »Wer aber soll der Hüter dieses kostbaren Schatzes sein? Etwa die ganze Gemeinde? O nein! Jeder Einzelne ist dafür verantwortlich. Von heute ab hat jeder Bewohner dieser Stadt persönlich Sorge zu tragen, daß unser herrlichstes Besitztum unangetastet bleibt. Wollt ihr diese große Verantwortung auf euch nehmen? (Brausende Rufe der Zustimmung.) Dann ist alles wohl bestellt. Vererbt den Schatz auf eure Kinder und Kindeskinder! Bisher hat niemand eure Lauterkeit antasten können – möge es immer so bleiben. Kein einziger von unsern Mitbürgern würde sich heute verführen lassen, auch nur einen Cent anzurühren, der ihm nicht gehört – sehet zu, daß ihr in solcher Tugend beharrt!« (»Ja, ja, das wollen wir!«) »Hier ist nicht der Ort, um einen Vergleich zwischen uns und andern Gemeinden anzustellen, von denen einige kein Wohlwollen für uns hegen. Sie haben ihre Sitten und Gebräuche und wir die unsrigen – daran soll uns genügen. (Beifall.) Ich bin zu Ende, meine Freunde. Hier lege ich die Hand auf den Goldsack, dies beredte Zeugnis für die Anerkennung, die ein Fremder unserer Tugend zollt. Sie wird durch ihn jetzt und für alle Zeit in der ganzen Welt verkündet werden. Der Mann ist uns unbekannt, aber ich spreche ihm in euer aller Namen unsern tiefgefühlten Dank aus und bitte euch, mit mir in ein Hoch auf ihn einzustimmen.«

Der ganze Saal erhob sich, und minutenlang schallten die Wände von donnernden Hurrarufen wieder. Als die Ruhe hergestellt war, zog Pastor Burgeß einen versiegelten Briefumschlag aus der Tasche, öffnete ihn und nahm einen Papierstreifen heraus. In atemloser Spannung lauschten die Anwesenden auf die Zauberworte, von denen jedes einen Klumpen Gold wert war und die der Pastor jetzt langsam und nachdrücklich vorlas:

»Die Äußerung, welche ich dem armen Fremden gegenüber tat, lautete: ›Ihr seid noch lange kein ganz schlechter Mensch. Geht hin und bessert Euch.‹« Dann fuhr Burgeß fort: »Wir wollen uns nun überzeugen, ob diese Äußerung gleichlautend ist mit den Worten, die der Sack enthält. Dies wird unzweifelhaft der Fall sein, und sobald es bewiesen ist, gehört der Goldsack einem unserer Mitbürger, der fortan bei allem Volk als Inbegriff und Vertreter jener besonderen Tugend gelten wird, die den Ruhm unserer Stadt in ganz Amerika ausmacht. Sein Name ist – Billson!«

Alle hatten sich schon zu einem gewaltigen Beifallssturm gerüstet; jetzt schienen sie plötzlich wie vom Frost erstarrt. Eine unheimliche Stille lagerte über der Versammlung, dann hörte man allmählich ein leises Flüstern, das immer deutlicher wurde: »Billson! Nanu – wer das glaubt! Zwanzig Dollars hätte der einem Fremden gegeben? Nicht im Traum würde es ihm einfallen. Ja, Prosit – so was lassen wir uns nicht aufbinden!« Aber ihrer wartete noch eine größere Überraschung. Während an einer Stelle des Saales der Kirchenrat Billson mit demütig gesenktem Haupt dastand, hatte sich an einer andern Rechtsanwalt Wilson erhoben. Verwundert schwieg die Menge eine Weile, und die Entrüstung der neunzehn Ehepaare war groß. Billson und Wilson hatten sich umgewandt und starrten einander an.

»Weshalb stehen Sie auf, Herr Wilson?« fragte Billson in beißendem Ton.

»Weil ich ein Recht dazu habe. Vielleicht würden Sie so freundlich sein, den Anwesenden zu erklären, warum Sie nicht sitzen bleiben.«

»Mit Vergnügen. Ich habe den Zettel dort geschrieben.«

»Das ist eine unverschämte Lüge. Er ist von meiner Hand

Jetzt war die Reihe an Burgeß, sich zu verwundern. Er stand stumm da und starrte bald den einen, bald den andern an, ohne zu wissen, was er tun sollte. Endlich nahm Wilson das Wort:

»Ich ersuche den Vorsitzenden,« sagte er, »den Namen zu lesen, mit welchem das Papier unterzeichnet ist.«

Das brachte den Pastor wieder zu sich.

»John Wharton Billson,« las er.

»Da haben Sie’s,« schrie Billson. »Wie wollen Sie sich nun herausreden und sich wegen der Beleidigung entschuldigen, die Sie mit Ihrer frechen Täuschung nicht nur mir, sondern dieser ganzen Versammlung zugefügt haben?«

»Von Entschuldigung ist gar keine Rede. Im Gegenteil, mein Herr, ich klage Sie hiermit öffentlich an, daß Sie dem Pastor Burgeß meinen Zettel entwendet und eine Abschrift untergeschoben haben, auf der Ihr Name steht. Dies ist die einzige Art, wie Sie zur Kenntnis der bewußten Aeußerung gelangt sein können, denn außer mir weiß kein Mensch in der ganzen Welt, wie jene Worte gelautet haben.«

Der Sache mußte ein Ende gemacht werden, wollte man nicht das ärgerlichste Aufsehen erregen und der Klatschsucht Tür und Tor öffnen. Alle sahen bestürzt nach den Stenographen hin, die in rasender Eile immer weiter schrieben. »Zur Ordnung! Zur Ordnung!« rief man dem Vorsitzenden zu, bis dieser mit dem Hammer auf den Tisch klopfte.

»Meine Herren, lassen Sie uns die Würde dieser Versammlung aufrecht halten und den Anstand nicht verletzen,« sagte Burgeß. »Offenbar liegt hier ein Irrtum vor, weiter nichts. Wenn Herr Wilson mir ein Couvert gegeben hat, wie mir jetzt erinnerlich ist, so befindet sich dasselbe auch noch in meinem Besitz.« Er zog einen Umschlag aus der Tasche, öffnete ihn, warf einen Blick hinein, machte ein verstörtes, bekümmertes Gesicht, stand eine Weile in ratlosem Schweigen da, erhob dann unwillkürlich die Hand und versuchte mehrmals zu sprechen, brachte aber kein Wort heraus.

»Vorlesen! Vorlesen!« riefen viele Stimmen. »Was steht darin?«

Mechanisch und wie ein Träumender gehorchte Burgeß der Aufforderung:

»Die Äußerung, welche ich dem unglücklichen Fremden gegenüber tat, lautete: ›Ihr seid noch lange kein schlechter Mensch (die Zuhörer schauten ihn verblüfft an). Geht hin und bessert Euch.‹« (Gemurmel: »Wunderbar! Was soll das nur bedeuten!«) »Dies ist Thurlow G. Wilson unterschrieben,« sagte der Vorsitzende.

»Habe ichs nicht gesagt,« schrie Wilson; »jetzt ist es sonnenklar. Ich wußte ja gleich, daß mein Brief abgeschrieben worden ist.«

»Das ist erlogen,« tobte Billson; »ich verbitte mir dergleichen von Ihnen und Leuten Ihres Gelichters.«

Der Vorsitzende: »Ich muß Sie zur Ruhe verweisen, meine Herren, und Sie beide ersuchen, Ihre Plätze wieder einzunehmen.«

Murrend, unter zornigem Widerspruch folgten sie der Aufforderung. Die Versammelten sahen einander kopfschüttelnd an, keiner wußte sich den seltsamen Fall zurechtzulegen. Endlich stand der Hutmacher Thomson auf. Er wäre gern einer der neunzehn angesehendsten Bürger gewesen, allein das war ihm nicht beschieden; für solche Würde war sein Hutlager nicht groß genug.

»Ich erlaube mir, dem Vorsitzenden zu bemerken,« sagte er, »daß die beiden Herren dem Fremden gegenüber schwerlich genau dieselben Worte gebraucht haben. Nach meiner Ansicht ist das ein Ding der Unmöglichkeit.«

Hier wurde Thomson von dem Lohgerber unterbrochen, der zu den Unzufriedenen gehörte, weil er nicht als ein Neunzehner anerkannt wurde, wiewohl er Anspruch darauf zu haben meinte. Dies gab seiner Art und Weise einen etwas unangenehmen Beigeschmack.

»Bah,« rief er, »das ist gar nicht der Punkt, auf den es ankommt. So etwas könnte geschehen – alle hundert Jahre einmal –; aber das andere liegt außer dem Bereich der Möglichkeit: Keiner von beiden hat die zwanzig Dollars gegeben!« (Schallender Beifall).

Billson: »Ich habe es getan!«

Wilson: »Nein, ich habe es getan!«

Wieder beschuldigten sie einander des Diebstahls.

Der Vorsitzende: »Ruhe, sage ich. Setzen Sie sich, meine Herren. Keins der beiden Couverts ist mir auch nur einen Augenblick aus der Hand gekommen.«

Eine Stimme: »Gut – damit ist das abgemacht.«

Der Lohgerber: »Ich weiß, wie es zugegangen sein muß: Einer der Männer hat sich unter dem Bett des andern versteckt und seine Familiengeheimnisse belauscht. Wenn es nicht unparlamentarisch ist, möchte ich die Behauptung aufstellen, daß man allen beiden so etwas zutrauen kann. ( Der Vorsitzende: »Zur Ordnung, zur Ordnung!«) »Ich ziehe meine Bemerkung zurück und will nur noch erwähnen, daß, wenn der eine gehört hat, wie der andere die wichtige Äußerung seiner Frau mitteilte, wir jetzt bald hinter seine Schliche kommen werden.«

Eine Stimme: »Wieso?«

Der Lohgerber: »Nichts leichter als das. Die Äußerung ist von beiden nicht genau in denselben Worten wiedergegeben worden. Das würde den Anwesenden auch aufgefallen sein, wenn die zweite Lesart nicht erst nach einiger Zeit und nach aufregenden Streitigkeiten vorgetragen worden wäre.«

Eine Stimme: »Was ist der Unterschied?«

Der Lohgerber: »Auf Billsons Zettel steht das Wort ganz – auf dem andern nicht.«

Viele Stimmen: »Richtig, richtig, so ist es!«

Der Lohgerber: »Wenn nun der Herr Vorsitzende die Probe macht und den Zettel im Sack liest, werden wir erfahren, wer von den beiden Betrügern –« ( Der Vorsitzende: »Zur Ordnung!«) »wer von diesen zwei Glücksjägern –« ( Der Vorsitzende: »Zur Ordnung!«) »wer von den beiden Ehrenmännern –« (Gelächter und Beifall) »die Auszeichnung genießen soll, der erste Halunke zu sein, der je in unserer durch ihn entehrten Stadt geboren und erzogen worden ist. Sein fernerer Aufenthalt hier dürfte für ihn etwas unbehaglich werden.« (Lebhafter Beifall.)

Viele Stimmen: »Öffnen, öffnen – den Sack öffnen!!«

Burgeß machte einen Schlitz in den Sack, steckte die Hand hinein und zog ein Couvert heraus, welches zwei zusammengefaltete Papiere enthielt. Dann sagte er:

»Hier auf diesem Zettel steht: ›Erst zu öffnen, nachdem alle schriftlichen Mitteilungen, die der Vorsitzende etwa erhalten hat, gelesen worden sind.‹ Das andere Papier trägt die Aufschrift: ›Die Probe‹. Mit Ihrer Erlaubnis will ich den Inhalt lesen; er lautet:

 

»Ich verlange nicht, daß die Äußerung, welche mein Wohltäter mir gegenüber getan hat, in ihrer ersten Hälfte dem Wortlaut nach genau wiedergegeben sein soll; sie war unbedeutend und er hat sie möglicherweise vergessen. Die letzten Sätze aber sind so schlagend, daß sie ihm sicherlich im Gedächtnis geblieben sind. Stimmen diese nicht mit der Probe überein, so hat man es mit einem Betrüger zu tun. Mein Wohltäter begann mit der Bemerkung, daß er selten guten Rat erteile, täte er es aber einmal, so sei sein Rat auch von erster Güte. Was er nun sagte, hat sich mir unauslöschlich ins Gedächtnis eingeprägt: ›Ihr seid noch lange kein schlechter Mensch –‹«

 

Viele Stimmen: »Das ist entscheidend – das Gold gehört Wilson. Er soll reden! Wilson hat das Wort!«

Die Leute sprangen von ihren Sitzen auf, sie umringten Wilson, schüttelten ihm die Hand und wünschten ihm von Herzen Glück, während der Vorsitzende immer lauter mit dem Hammer auf den Tisch klopfte und rief:

»Ruhe! Ordnung, meine Herren! Ich bitte um Ruhe! Lassen Sie mich den Zettel zu Ende lesen. –«

Als sich der Sturm gelegt hatte, fuhr Burgeß fort:

»›Geht hin und bessert Euch. Tut Ihr es nicht, so werdet Ihr eines Tages sicherlich in Euern Sünden sterben und zur Strafe in die Hölle kommen, oder nach Hadleyburg – ersteres wäre noch vorzuziehen.‹«

Eine unheimliche Stille entstand. Zuerst lagerten sich dunkle Zorneswolken auf der Stirn aller Hadleyburger, doch allmählich erheiterten sich die Gesichter wieder, ja, es schien, daß sie große Mühe hatten, den Lachkitzel zu unterdrücken, der sich ihrer unwiderstehlich bemächtigte. Die Berichterstatter, die Bürger aus Brixton und sämtliche fremde Gäste hielten sich die Hand vors Gesicht oder saßen mit gesenktem Kopf da, während sie sich aus Höflichkeit aufs äußerste anstrengten, ihre Lachmuskeln zu beherrschen. In diesem verhängnisvollen Augenblick unterbrach Jack Halliday plötzlich das allgemeine Schweigen, indem er mit lauter Stimme rief: »Das Ding ist echt – ein Rat erster Güte!«

Jetzt platzte die ganze Versammlung heraus, Fremde wie Einheimische, und als sogar Burgeß seine Ernsthaftigkeit nicht behaupten konnte, legte sich niemand mehr Zwang auf. Ein ungeheures Gelächter erscholl, das lange kein Ende nehmen wollte. Ein paarmal wischten sich die Leute schon die Augen aus und der Vorsitzende nahm sich gewaltig zusammen, um die Verhandlung fortzusetzen, aber immer von neuem brachen die Lachsalven unaufhaltsam hervor, und es dauerte eine geraume Zeit, ehe Burgeß endlich anhub:

»Es würde nutzlos sein, wollten wir versuchen, uns die Tatsache zu verhehlen, daß es sich hier um eine sehr ernste Sache handelt, denn die Ehre und der gute Name unserer Stadt stehen auf dem Spiel. Schon der Umstand, daß die beiden Zettel der Herren Wilson und Billson sich nur durch ein Wort unterschieden, war von schwerwiegender Bedeutung, da derselbe klar bewies, daß einer von ihnen sich des Diebstahls schuldig gemacht hatte –«

Die beiden Männer, welche in großer Niedergeschlagenheit dagesessen hatten, sprangen wie elektrisiert in die Höhe.

»Setzen Sie sich,« befahl der Vorsitzende streng, und sie gehorchten. »Wie gesagt, der Umstand war unheilvoll, doch nur für einen der Beteiligten. Jetzt aber erhält die Sache ein noch weit schlimmeres Ansehen, denn die Ehre beider ist nicht nur bedroht, sondern ich darf wohl sagen unrettbar verloren. Beide haben die letzten Sätze mit den entscheidenden Worten ausgelassen.« Er hielt inne und die lautlose Stille, welche entstand, erhöhte noch die eindrucksvolle Wirkung des Augenblicks. Dann fuhr er fort:

»Mir scheint, daß es hier nur eine mögliche Erklärung gibt – deshalb frage ich die Herren – geschah dies auf Verabredung – in heimlichem Einverständnis?«

Ein Flüstern ging durch den Saal: »Er hat sie beide in der Falle,« murmelte die Menge.

Billson war einer so schwierigen Lage nicht gewachsen; er sah in völliger Hilflosigkeit da. Aber Wilson, der Advokat, hatte sich ermannt; mit bleicher, verstörter Miene richtete er sich empor.

»Ich bitte die geehrten Anwesenden um Nachsicht bei der Erörterung dieser höchst peinlichen Angelegenheit. Nur ungern ergreife ich das Wort, denn ich weiß, daß ich durch meine Aussage Herrn Billson, den ich immer geachtet und hochgeschätzt habe, den schwersten Schaden zufüge. Wie alle übrigen habe auch ich bisher geglaubt, daß seine Rechtschaffenheit jeder Versuchung trotzen würde; aber meine eigene Ehre verlangt, daß ich offen zu Ihnen rede. Mit Beschämung muß ich gestehen – und ich bitte Sie herzlich, es mir zu vergeben –, daß ich mich dem mittellosen Fremden gegenüber ganz so geäußert habe, wie es auf dem Zettel im Sack verzeichnet ist, sogar den schimpflichen Schlußsatz mit inbegriffen. (Große Erregung.) Mir war das noch vollkommen erinnerlich, als ich beschloß, Anspruch auf den Sack zu erheben, der mir von Rechts wegen zukam. Versetzen Sie sich bitte einen Augenblick in meine Lage: Die Dankbarkeit des Fremden war grenzenlos gewesen an jenem Abend; er sagte selbst, er könne unmöglich Worte dafür finden, doch würde er mir die Wohltat tausendfach vergelten, wenn er je imstande wäre, es zu tun. Nun fragen Sie sich einmal, ob sich bei dieser seiner Gesinnung erwarten ließ, ja, ob es auch nur denkbar war, daß er mir so übel mitspielen würde, jenen ganz unnötigen Schlußsatz auf seinem Zettel beizufügen, mich in die Falle zu locken und in einer öffentlichen Versammlung als Verleumder meiner Vaterstadt bloßzustellen? Dergleichen anzunehmen wäre höchst widersinnig gewesen. Ich zweifelte daher keinen Augenblick, daß auf jenem Papier nur der ganz harmlose Anfang meiner Aeußerung stehen würde. Sie hätten das auch geglaubt und einem Menschen, dem Sie aus der Not geholfen und dem Sie kein Leid getan, niemals zugetraut, daß er schmählichen Verrat an Ihnen üben würde. So schrieb ich denn mit voller Zuversicht den Eingang nebst den Worten ›Geht hin und bessert Euch‹ und setzte meinen Namen darunter. Als ich den Zettel eben in einen Umschlag tun wollte, wurde ich abgerufen und ließ ihn in meiner Sorglosigkeit offen auf dem Schreibtisch liegen.« Hier hielt der Redner inne, wandte den Kopf langsam nach Billson hin, wartete noch ein paar Sekunden und sagte dann: »Als ich etwas später zurückkam, machte Herr Billson eben meine Haustüre hinter sich zu – urteilen Sie selbst, was das zu bedeuten hatte.« (Große Erregung.)

Doch schon war Billson aufgesprungen: »Es ist eine schändliche Lüge!« schrie er, rot vor Zorn.

Der Vorsitzende: »Setzen Sie sich! Herr Wilson hat das Wort.«

Billsons Freunde zogen ihn auf seinen Platz zurück und suchten ihn zu beruhigen, während Wilson fortfuhr:

»Ich teile Ihnen nur Tatsachen mit. Mein Zettel lag nicht mehr an derselben Stelle auf dem Tisch, wohin ich ihn gelegt hatte. Ich sah das wohl, beachtete es aber nicht weiter, in der Meinung, ein Zugwind habe ihn dahin geblasen. Daß Herr Billson ein Privatpapier lesen würde, kam mir nicht in den Sinn; er mußte das als Ehrenmann für unter seiner Würde halten. Hätte sein Gedächtnis ihn nicht im Stich gelassen, so würde er das Wort ganz nicht hinzugefügt haben. Ich bin der einzige Mensch in der Welt, der jene Äußerung auf ehrenhafte Weise – genau wiedergeben konnte. Weiter habe ich nichts zu bemerken.«

Für den schlauen und gewandten Redner ist es von jeher ein Leichtes gewesen, die Denkfähigkeit einer Zuhörerschaft, die an das täuschende Blendwerk der Redekunst nicht gewöhnt ist, zu verwirren und sie zu maßlosen Gefühlsäußerungen fortzureißen. Als Wilson wieder Platz nahm, war sein Sieg gewonnen. Ein nicht enden wollender Beifallssturm erschallte; Freunde und Bekannte umringten ihn, schüttelten ihm die Hand und wünschten ihm Glück. Billson versuchte umsonst in dem Getümmel zu Worte zu kommen. Selbst der Vorsitzende strengte seine Lunge vergebens an, und wie laut er auch mit dem Hammer klopfte, niemand gab acht darauf.

Endlich wurde es einigermaßen still. »Fahren wir nun mit der Verhandlung fort!« rief Burgeß.

»Was ist denn da noch zu verhandeln?« hieß es; »man braucht ihm doch bloß den Sack zu geben.«

Viele Stimmen: »Jawohl, jawohl! Wilson soll vortreten!«

Der Hutmacher: »Ich fordere Sie auf, mit mir Herrn Wilson hoch leben zu lassen, als Inbegriff und Vertreter der besonderen Tugend, welche – –«

»Hoch! hoch! Hurra!« hallte es mit Donnergetöse durch den Saal. Wilsons Bewunderer hoben ihn auf ihre Schultern, und man schickte sich eben an, ihn im Triumph auf die Rednertribüne zu geleiten, als die Stimme des Vorsitzenden den Lärm übertönte: »Ruhe! Ordnung! Platz nehmen! – Erinnern Sie sich doch, meine Herren, daß ich noch ein Schriftstück zu verlesen habe.« –

Es ward wieder still im Saal; Burgeß nahm das zweite Papier zur Hand, legte es aber wieder hin. »Fast hätte ich vergessen, daß ich zuvor alle Zuschriften lesen soll, welche ich erhalten habe.« Er zog ein Couvert aus der Tasche, öffnete es, überflog den Inhalt und schien starr vor Verwunderung.

»Was ist es? Vorlesen! Vorlesen!« schrien zwanzig bis dreißig Stimmen auf einmal.

Langsam und bedächtig, als traue er seinen Augen kaum, las Burgeß:

»Die Äußerung, welche ich dem Fremden gegenüber tat – (Mehrere Stimmen: »Hallo, wie geht das zu?«) – lautete: ›Ihr seid noch lange kein schlechter Mensch. (Mehrere Stimmen: »Gerechter Himmel!«) Geht hin und bessert Euch.‹ (Eine Stimme: »Da schlag‘ doch das Donnerwetter drein!«) Gezeichnet von Herrn Bankier Pinkerton.«

Jetzt brach ein Höllenlärm los, über den die besonneneren Leute trauernd ihr Haupt schüttelten. Wer sich nicht mehr halten konnte, lachte daß ihm die Tränen über die Wangen liefen. Die Berichterstatter wälzten sich vor Lachen und machten solche Krakelfüße auf dem Papier, daß es nicht menschenmöglich war, nur ein Wort zu entziffern. Ein Hund, der im Winkel geschlafen hatte, schreckte auf und geriet über das Getöse so in Wut, daß er wie wahnsinnig zu bellen anfing. Jeder schrie und brüllte, was ihm gerade durch den Kopf fuhr. »Oho, immer toller! – Jetzt besitzen wir zwei Inbegriffe von Treue und Redlichkeit! – Nein, drei – man muß auch Billson mitzählen – je mehr, desto besser! – Richtig, richtig, Billson gehört dazu! – Was ist doch Wilson für ein armes Opferlamm – zwei Diebe haben ihn beraubt!«

Eine mächtige Stimme: »Stille! Der Vorsitzende holt wieder etwas aus der Tasche.«

Andere Stimmen: »Hurra! Was gibt es Neues? Vorlesen! Vorlesen!«

Der Vorsitzende (liest): »Die Äußerung, welche ich usw. ›Ihr seid noch lange kein schlechter Mensch. Geht hin‹ usw. Unterschrift: Gregor Yates.«

Dröhnende Rufe: »Vier Inbegriffe! – Der ehrliche Yates soll leben! – Weiter, weiter!«

Das Gebrüll im Saal wollte jetzt kein Ende nehmen; es galt, den Kapitalspaß von Grund aus zu genießen. Als einige von den Neunzehnern aufstanden und sich mit bleichen, angstvollen Mienen nach dem Ausgang hin zu drängen suchten, wurden von allen Seiten Rufe laut:

»Schließt die Türen! Zieht die Schlüssel ab! Kein Ehrenmann darf den Saal verlassen! Hinsetzen! Hinsetzen! Jeder auf seinen Platz!«

Alle folgten der Aufforderung.

»Immer mehr! – Vorlesen! Vorlesen!«

Burgeß zog abermals ein Couvert hervor und las die wohlbekannten Worte: »Ihr seid noch lange kein schlechter Mensch –«

»Der Name! Der Name! Was steht darunter?«

»Ingoldsby Sargent.«

»Fünf Auserwählte! Ein ganzer Haufen Inbegriffe! Weiter, weiter!«

»Ihr seid noch lange kein –«

»Den Namen her!«

»Nikolas Whitworth.«

»Hurra! Hurra! Hoch soll er leben!« »Hoch soll er leben!« fiel der ganze Saal ein; »hoch soll er leben! Dreimal hoch!!!«

»Jetzt noch ein Lebehoch für Hadleyburg, das Vorbild unbestechlicher Tugend, und für alle seine Inbegriffe und würdigen Vertreter!«

»Hadleyburg und seine Tugendspiegel sollen leben – hoch!« brüllte der Chor; »dreimal hoch!!!«

»Weiter, weiter!« tönte es jetzt aus vielen Kehlen. »Wir wollen mehr hören! Vorlesen! Alles vorlesen, was da ist!«

»Jawohl, jawohl! Das wird unsern Ruhm auf ewig begründen.«

Jetzt standen einige Männer auf, um Widerspruch zu erheben. Sie sagten, ohne Zweifel hätte sich irgend ein erbärmlicher Spaßvogel dies Possenspiel ausgedacht, das ein Schimpf für das ganze Gemeinwesen sei. Die Unterschriften müßten alle gefälscht sein, nur so ließe sich die Sache erklären. Aber sie predigten tauben Ohren.

»Oho! Schweigt nur und setzt euch wieder,« hieß es. »Ihr bekennt euch bloß schuldig – nächstens werden eure Namen an die Reihe kommen!«

»Wir fragen den Vorsitzenden, wie viele solche Briefumschläge er bekommen hat.«

»Es waren, glaube ich, neunzehn, alles in allem.«

Ein Hohngelächter erfolgte. »Vielleicht enthalten sie sämtlich das Geheimnis. Ich stelle den Antrag, von jedem derartigen Zettel die sieben ersten Wörter und die Unterschrift zu lesen. Wer stimmt dafür?«

Der Vorschlag wurde mit lautem Beifall aufgenommen und zum Beschluß erhoben. Da stand plötzlich der arme alte Reichard auf und ihm zur Seite seine Frau, das Haupt gesenkt, um ihre Tränen zu verbergen. Der Gatte gab ihr den Arm, sie zu stützen, und begann mit bebender Stimme:

»Freunde und Mitbürger, ihr kennt uns beide, Mary und mich von Jugend auf, und habt uns stets Liebe und Achtung erwiesen –«

»Entschuldigen Sie, Herr Reichard,« unterbrach ihn der Vorsitzende; »was Sie sagen, ist zwar die lautere Wahrheit – die ganze Stadt kennt Sie nicht nur, sondern ehrt und liebt Sie beide, aber –«

Hier ließ sich Hallidays Stimme vernehmen: »Wenn das auch die Meinung der Versammlung ist, so schlage ich vor, das Ehepaar Reichard leben zu lassen. Hurra, hoch!«

Lautes Beifallklatschen war die Antwort; zahllose Taschentücher wurden geschwenkt und donnernde Hochrufe erschallten. Dann fuhr der Vorsitzende fort:

»Ich wollte mir nur die Bemerkung erlauben, Herr Reichard, daß es zwar Ihrem guten Herzen Ehre macht, wir aber in diesem Fall den Missetätern keine Nachsicht gewähren dürfen.« (Zurufe: »Nein, nein!«) »Die edle Absicht steht Ihnen im Gesicht geschrieben; allein ich kann nicht gestatten, daß Sie sich für jene Männer verwenden –«

»Aber ich wollte ja nur –« »Setzen Sie sich, bitte, Herr Reichard. Wir müssen erst die übrigen Zuschriften lesen. Das verlangt schon die Billigkeit den Leuten gegenüber, deren Schuld wir bereits ans Licht gezogen haben. Sobald dies geschehen ist, wollen wir Sie anhören, das verspreche ich Ihnen.«

Zögernd nahm das Ehepaar wieder Platz. »Das Warten ist eine rechte Qual,« flüsterte Reichard seiner Frau zu. »Nun wird unsere Schande um so größer sein, wenn es sich herausstellt, daß wir nur für uns selber um Nachsicht bitten wollten.«

Jetzt ging der Spaß von neuem los; die Namen wurden gelesen.

»›Ihr seid noch lange kein schlechter Mensch –‹ Unterschrift ›Robert Titmarsch.‹

›Ihr seid noch lange kein schlechter Mensch –‹ Unterschrift: ›Eliphalet Wenks‹

›Ihr seid noch lange kein schlechter Mensch –‹ Unterschrift: ›Oskar Wilder‹«

Als der Vorsitzende so weit gekommen war, gerieten die Zuhörer auf den Einfall, ihn der Mühe zu überheben, jedesmal die sieben Wörter zu lesen, womit er sehr einverstanden war. Er hielt nun nur noch den Zettel in die Höhe und wartete, bis die Versammlung in volltönendem Chor, der fast klang wie die Melodie eines bekannten Kirchenliedes, feierlich die sieben Wörter sang: »Ihr seid noch la-an-ge kein schle-ech-ter Mensch.« Dann las er die Unterschrift: »Archibald Wilcox.« So ging es immer weiter unter allgemeinem Gaudium und zur Qual der unglücklichen Neunzehner. Jedesmal, wenn ein besonders angesehener Name verlesen ward, ließ der Chor den Vorsitzenden warten, sang die ganze Litanei von Anfang an bis zu den Worten: »zur Strafe in die Hölle gekommen, oder nach Hadleyburg – ersteres wäre noch vo-o-or-zu-ziehn« – und schloß dann mit einem mächtigen »A-a-a-a-men!«

Immer kleiner wurde die Zahl der noch zu verlesenden Papiere; Reichard wußte genau, wie viele noch fehlten und zuckte zusammen, so oft ein Name dem seinigen glich. Er wartete in qualvoller Spannung auf den Augenblick, wenn die Reihe an ihn kommen würde. Dann wollte er sich erheben und die Versammlung etwa mit folgenden Worten um Erbarmen für sich und Mary anflehen: »Bisher sind wir unsern Weg unsträflich gewandelt und haben noch nie in eine Sünde gewilligt. Aber wir sind alt und sehr arm, haben auch weder Sohn noch Tochter zur Stütze; die Versuchung war groß und wir sind unterlegen. Als ich vorhin aufstand, wollte ich mein Unrecht bekennen und bitten, daß man meinen Namen nicht öffentlich vorlesen möchte, weil ich glaubte, die Schande nicht überleben zu können; man ließ mich jedoch nicht ausreden. Ich weiß, es ist nur gerecht, wenn wir vor den andern nichts voraus haben; aber die Strafe ist hart. Unser Name war bis jetzt immer unbescholten; habt Erbarmen, denkt, daß wir stets rechtschaffene Leute gewesen sind, und laßt uns den Fehltritt nicht allzuschwer büßen.« So weit war er in seinen Gedanken gekommen, als Mary ihn anstieß, um ihn aus der Träumerei zu wecken. Eben sang der Chor: »Ihr seid noch la-a-nge kein« usw.

»Mach‘ dich bereit,« flüsterte Mary. »Jetzt ist die Reihe an dir; achtzehn Namen sind schon verlesen.«

»Weiter, weiter!« schrie die ungeduldige Menge. Langsam und zitternd erhob sich das alte Ehepaar. Burgeß steckte die Hand in die Tasche und schien einen Augenblick zu suchen. »Ich muß die Zettel alle gelesen haben,« sagte er dann.

Fast überwältigt von freudiger Überraschung sanken Reichard und seine Frau auf ihre Plätze zurück. »Gerettet!« flüsterte Mary; »Gott sei Dank. Er hat unsern Zettel verloren. Hundert Goldsäcke würden mich nicht so glücklich machen!«

Der Chor brüllte nun noch ein Lebehoch auf Hadleyburgs Redlichkeit und die achtzehn unsterblichen Vertreter seiner Tugend. Dann stand Wingate, der Sattler auf, um den wackersten Mann in der Stadt leben zu lassen, den einzigen aus der Klasse der angesehensten Bürger, der keinen Versuch gemacht habe, das Gold zu stehlen – Eduard Reichard.

Die Menge stimmte mit wahrer Begeisterung ein, und man pries Reichard laut, als den einzigen treuen Hüter der geheiligten Hadleyburger Überlieferung.

»Aber wer bekommt nun den Sack?« fragte eine Stimme.

Der Lohgerber (mit bitterem Spott): »Das liegt doch auf der Hand. Das Gold muß unter die achtzehn Tugendhelden verteilt werden. Jeder von ihnen hat dem armen Fremdling zwanzig Dollars gegeben – und jenen kostbaren Rat. Zweiundzwanzig Minuten hat es gedauert, bis sie einer nach dem andern bei ihm vorübermarschiert sind. Was sie für den Fremden eingezahlt haben, betrug alles in allem dreihundertsechzig Dollars; sie möchten nur ihr Geld und die Zinsen zurückhaben – die sich mit dem Kapital auf vierzigtausend Dollars belaufen.«

»Hahaha! Die armen Leute!« Allgemeines Hohngelächter.

Der Vorsitzende: »Ich bitte um Ruhe, damit ich die letzte Zuschrift des Fremden vorlesen kann. – Sie lautet: ›Falls sich niemand meldet, um Anspruch auf den Sack zu erheben, (lautes Seufzen und Stöhnen aus der Menge), so soll das Geld unter die ersten Bürger der Stadt verteilt werden, damit sie es aufs beste verwenden, um den ehrenwerten Ruf Hadleyburgs auch ferner zu erhalten und immer weiter auszubreiten. Dafür, daß sie dies nach besten Kräften tun werden, bürgt schon ihre eigene Unbescholtenheit und allgemein anerkannte Vortrefflichkeit.‹ (Spöttische Beifallsrufe von allen Seiten und lautes Händeklatschen.) Halt! Ich bin noch nicht zu Ende – hier ist eine Nachschrift:

» P. S. – Bürger von Hadleyburg!

Die ganze Sache beruht auf Erfindung – kein Mensch hatte jene Äußerung getan. (Unbeschreibliche Aufregung.) Sowohl der fremde Bettler als die geschenkten zwanzig Dollars samt dem guten Rat und Segenswunsch sind vollkommen aus der Luft gegriffen. (Großes Gewirr verwunderter und belustigter Stimmen.) Erlaubt, daß ich euch mit wenigen Worten meine Geschichte erzähle: Als ich eines Tages durch Hadleyburg reiste, tat man mir eine schwere, unverdiente Beleidigung an. Jeder andere hätte sich damit begnügt, ein paar von euch umzubringen, aber bei meiner Gemütsart würde mich eine so geringfügige Rache kaum entschädigt haben. Konnte ich euch auch nicht allen das Leben nehmen, so wollte ich doch jeden Insassen der Stadt, ob Mann oder Weib, empfindlich schädigen, wenn auch nicht an Leib und Gut, so doch an ihrer Eitelkeit – der Stelle, wo schwache und törichte Menschen am verwundbarsten sind. Verkleidet kam ich zurück und lernte euch näher kennen. Euch beizukommen war nicht schwer. Ihr besaßet einen Schatz, den ihr wie euern Augapfel hütetet, den altbewährten, hohen Ruhm unantastbarer Redlichkeit, der euern ganzen Stolz ausmachte. Sobald ich sah, daß ihr mit der größten Sorgfalt und Wachsamkeit jede Versuchung von euch und euern Kindern fernhieltet, war mein Plan gefaßt. Ihr einfältigen Menschen! Es gibt ja nichts Schwächeres auf Erden, als eine Tugend, die nicht im Feuer der Prüfung bewährt ist. Meine Absicht war, dem tugendstolzen Hadleyburg seinen Ruhm zu nehmen und fast ein halbes Hundert bisher untadeliger Männer und Frauen, die in ihrem ganzen Leben noch keine Unwahrheit gesagt und keinen Cent gestohlen hatten, zu Dieben und Lügnern zu machen. Eine Liste von Namen hatte ich bald entworfen; nur Goodson, der kein eingeborener Hadleyburger war, stand meinem Plan im Wege. Hätte ich euch damals meinen Brief vorlegen lassen, so würdet ihr ohne Zweifel gesagt haben: ›Goodson ist der einzige Bürger unserer Stadt, der einem armen Teufel zwanzig Dollars schenken könnte‹ – und ich fürchte, ihr wäret nicht in meine Falle gegangen. Sobald aber der Himmel Goodson von dieser Welt abgerufen hatte, warf ich den Köder mit vollster Zuversicht aus – ich wußte, ihr würdet anbeißen. Vielleicht fange ich nicht alle Männer, an welche ich die erdichtete Äußerung mit der Post geschickt habe, die meisten jedoch sicherlich, wie ich den Charakter der Hadleyburger kenne. Bei ihrer verkehrten Erziehung und inneren Haltlosigkeit wird selbst der Umstand, daß das Geld im Glücksspiel gewonnen ist, sie nicht hindern, es fälschlich an sich zu bringen. So hoffe ich denn, euern Stolz auf ewige Zeiten zu Grunde gerichtet zu haben, und Hadleyburg in einen ganz neuen Ruf zu bringen, der sich allenthalben verbreiten wird und den es nie wieder loswerden soll. Wenn mein Zweck erreicht ist, so öffne man den Sack und ernenne einen Ausschuß zur Erhaltung und Verbreitung des Hadleyburger Ruhmes.«

Viele Stimmen: »Der Ausschuß ist bereits erwählt. Die achtzehn Tugendhelden sollen vortreten!«

Jetzt trennte Burgeß den Sack auf und nahm eine Handvoll großer gelber Münzen heraus, die er durcheinander schüttelte und genau betrachtete.

»Werte Freunde,« sagte er, »es sind nur Scheiben aus vergoldetem Blech.«

Lautes Gelächter folgte auf diese Neuigkeit. Vergebens rief man nach den Mitgliedern des Ausschusses, um ihnen das Gold einzuhändigen; keiner rührte sich vom Platze. Endlich nahm der Sattler das Wort:

»Von allen unsern vornehmen Bürgern hat sich nur einer als redlich bewährt. Der Mann braucht Geld und verdient eine Unterstützung. Ich schlage daher vor, daß Jack Halliday den Auftrag erhält, den Sack voll vergoldeter Zwanzigdollarstücke hier öffentlich zu versteigern und den Ertrag Herrn Eduard Reichard zu übermitteln, denn er ist ein Mann von echtem Schrot und Korn, dem Hadleyburg mit Freuden alle Ehre erweist.«

Die Leute klatschten Beifall, der Hund bellte und die Versteigerung begann. Zuerst bot der Sattler einen Dollar; mehrere Bewohner von Brixton und Barnums Vertreter trieben sich gegenseitig in die Höhe. Bei jedem neuen Angebot jubelte die Menge; die Aufregung wuchs, die Bietenden wurden hartnäckiger und kühner. Von einem Dollar stieg der Preis auf fünf, auf zehn, auf zwanzig, auf fünfzig, auf hundert und immer höher.

Als der Antrag zuerst gestellt wurde, hatte Reichard seiner Frau in kläglichem Ton zugeflüstert: »O Mary, das dürfen wir nicht gestatten; es ist ein Zeugnis für die Reinheit unseres Charakters, ein Ehrengeschenk, und – und – wir können es doch nicht dulden! Sollen wir nicht lieber aufstehen und – Mary, was fangen wir nur an – was meinst du, daß wir –«

(Hallidays Stimme: »Fünfzehn für den Sack! Fünfzehn zum ersten – zwanzig – danke bestens – dreißig – dreißig zum – höre ich recht? – Vierzig – bieten Sie weiter, meine Herren – fünfzig zum ersten, zum zweiten, zum – siebzig – neunzig – bravo! Immer höher! – Hundert – hundertzwanzig – vierzig – noch ist es Zeit! – Hundertfünfzig – zweihundert – zweihundertfünfzig – keiner mehr? –«)

»Es ist eine neue Versuchung, Eduard – ich zittere an allen Gliedern. Aus der ersten sind wir glücklich errettet worden; das sollte uns zur Warnung dienen –« [»Habe ich recht gehört? Sechs – meinen Dank – sechshundertfünfzig – siebenhundert.«] »Und doch, wenn man’s recht bedenkt, – kein Mensch argwöhnt –« [Achthundert Dollars! Hurra! Neunhundert wäre noch besser! – Haben Sie neunhundert gesagt, Herr Parsons? – Ganz recht – also dieser schöne Sack, mit echtem Blech gefüllt, soll samt der Vergoldung für nur neunhundert Dollars – tausend – sehr verbunden! Will niemand elfhundert bieten für den Sack, der als eine der berühmtesten Raritäten in den Vereinigten Staaten –«] »O Eduard,« schluchzte Mary, »wir sind so arm – aber – tu‘ was dir am besten dünkt – ich hindere dich nicht.«

Eduard erlag der Versuchung, das heißt, er saß still und beschwichtigte sein Gewissen damit, daß die Umstände ihm keine Wahl ließen.

 

Während der ganzen Zeit war ein Fremder, welcher aussah wie ein als englischer Graf verkleideter Geheimpolizist, den Verhandlungen mit dem größten Interesse gefolgt. Jetzt trug sein Gesicht einen hochbefriedigten Ausdruck, und was er bei sich dachte, war ungefähr folgendes: »Die achtzehn Tugendhelden bieten nicht mit, das ist nicht in der Ordnung, es verstößt gegen die poetische Gerechtigkeit. Sie müssen im Gegenteil den Sack kaufen, den sie stehlen wollten, und einen ordentlichen Preis dafür zahlen – denn es sind reiche Leute darunter. Außerdem hat der einzige Hadleyburger, der meine Berechnung zu Schanden gemacht hat, eine hohe Prämie verdient, und sie darf ihm nicht entgehen. Der arme alte Reichard ist ein ehrlicher Mann, das muß ich zugeben, obgleich es mir unfaßlich scheint. Jedenfalls soll er den Glückstopf ausleeren, wie es ihm von Rechts wegen gebührt. Daß er mich Lügen gestraft hat, will ich ihm nicht nachtragen.«

Gespannt beobachtete der Fremde den weiteren Verlauf der Auktion. Nachdem tausend Dollars geboten waren, ging der Preis nur noch langsam in die Höhe. Ein Liebhaber nach dem andern zog sich zurück. Nun bot der Fremde selbst ein paarmal mit, erst fünf Dollars mehr, jemand steigerte ihn noch um drei Dollars, dann fügte er rasch fünfzig hinzu und der Sack wurde ihm für eintausendzweihundertundzweiundachtzig Dollars zugeschlagen. Die Menge brach in schallende Hochrufe aus, doch trat gleich darauf eine lautlose Stille ein, als der Fremde mit der Hand winkte und zu reden begann:

»Gestatten Sie mir ein Wort, geehrte Anwesende. Ich bin Raritätenhändler und habe in der ganzen Welt Verbindungen mit Leuten, die seltene Münzen sammeln. Zwar könnte ich den Sack, so wie er ist, mit Gewinn verkaufen, aber einen ungleich größeren Vorteil würde ich daraus ziehen, wenn Sie mir eine Bitte gewähren wollten, welche ich Ihnen sogleich vortragen werde. Ich könnte dann jede einzelne dieser blechernen Münzen mindestens für ein echtes Zwanzigdollarstück verkaufen und würde gern einen Teil meines Profits Ihrem Mitbürger, Herrn Reichard, überlassen, dessen unerschütterliche Redlichkeit heute von Ihnen mit vollem Rechte anerkannt und gepriesen worden ist. Sein Anteil würde zehntausend Dollars betragen, die ich ihm morgen einhändigen will.« [Großer Beifall der Menge; Reichard und seine Frau wurden dunkelrot bei dem Lob, das schadete jedoch nichts, man legte es ihnen als Bescheidenheit aus.] »Der besondere Wert einer Rarität hängt meistens davon ab, ob sie die Wißbegierde reizt oder viel besprochen wird. Deshalb möchte ich Sie bitten, mir zu erlauben, daß ich auf diese vergoldeten Blechmünzen hier die Namen der achtzehn Herren stempeln lassen darf, welche –«

Mit Ausnahme einer kleinen Minderheit erhob sich die ganze Versammlung wie ein Mann, um unter Lachen und Beifallklatschen ihre Zustimmung zu geben. Als jedoch der Fremde seinen Dank dafür aussprechen wollte, daß man so bereitwillig auf seinen Vorschlag eingegangen war, erhoben sämtliche Tugendhelden außer Doktor Harkneß den heftigsten Widerspruch; sie wollten es sich nicht gefallen lassen, daß man ihnen solchen Schimpf antäte, und stießen sogar Drohungen gegen den Fremden aus, der jedoch ganz ruhig blieb.

Während nun die andern Siebzehn fortfuhren, zu bitten und zu drohen, benutzte Harkneß die günstige Gelegenheit, welche sich ihm bot. Er und Pinkerton waren die reichsten Männer der Stadt und Gegenkandidaten bei der Abgeordnetenwahl, um die ein heißer Kampf zwischen ihnen entbrannt war. Im Repräsentantenhaus verhandelte man gerade über den Bau einer neuen Eisenbahn; beide Männer besaßen große Strecken Landes und jeder hoffte, es bei der Regierung dahin zu bringen, daß die Bahn durch sein Besitztum geleitet würde, was ihm ein Vermögen einbringen mußte. Eine einzige Stimme konnte dabei vielleicht den Ausschlag geben. Vor einer gewagten Spekulation zurückzuschrecken, war Harkneß‘ Sache nicht, und hier galt es ein hohes Spiel. Der Fremde saß in seiner Nähe und die Unruhe im Saal war groß. Rasch beugte sich Harkneß vor und sagte:

»Wieviel verlangen Sie für den Sack?«

»Vierzigtausend Dollars.«

»Ich biete Ihnen zwanzigtausend.«

»Nein.«

»Fünfundzwanzig.«

»Nein.«

»Was sagen Sie zu dreißig?«

»Ich fordere vierzigtausend Dollars und keinen Pfennig weniger.«

»Sehr wohl; ich will den Preis zahlen. Morgen früh um zehn Uhr komme ich zu Ihnen ins Hotel; doch möchte ich nicht, daß es bekannt würde; ich wünsche Sie allein zu sprechen.«

Der Fremde war damit einverstanden; dann erhob er sich, um sich bei der Versammlung zu verabschieden; er dankte den Anwesenden nochmals für die Gewährung seiner Bitte, ersuchte den Vorsitzenden, ihm den Sack bis morgen aufzuheben und Herrn Reichard einstweilen drei Fünfhundertdollarscheine einzuhändigen. Nachdem Burgeß diese in Empfang genommen, fuhr der Fremde fort: »Morgen früh um neun will ich den Sack abholen und um elf Uhr Herrn Reichard den Rest der zehntausend Dollars persönlich in seinem Hause übergeben. Gute Nacht!«

Er entfernte sich rasch aus dem Saal, wo der Lärm jetzt von neuem anhob: Hurrarufe, Zischen, Beifallklatschen, Hundegebell, und dazwischen der Chorgesang: »Ihr seid noch la-a-nge kein schle-e-ech-ter Mensch –« erschallten in wildem Durcheinander.

IV.

Zu Hause angekommen mußte das Ehepaar Reichard noch bis Mitternacht fortwährend Glückwünsche und Lobsprüche über sich ergehen lassen. Als sie endlich allein waren, saßen sie mit betrübten Mienen stumm und traurig da, bis Mary zuletzt tief aufseufzte:

»Glaubst du, Eduard, daß wir sehr, sehr unrecht getan haben?« fragte sie und schaute nach den Beweisen ihrer Schuld, den drei großen Kassenscheinen, welche die Leute vorhin mit so verlangenden Blicken betrachtet und kaum anzurühren gewagt hatten. Eduard schwieg eine Weile, dann kam ein Seufzer auch aus seiner Brust.

»Wir – wir konnten nichts dafür, Mary – es war eine Fügung des Himmels – wie alles in dieser Welt,« erwiderte er zögernd.

Mary sah ihn mit großen Augen an, aber er senkte den Blick.

»Ich war der Meinung,« sagte sie, »daß Lob und Anerkennung der Menschen immer Freude machten – aber jetzt scheint mir – höre, Eduard?«

»Was denn?«

»Wirst du deine Stelle bei der Bank behalten?«

»N – nein.«

»Was willst du tun?«

»Morgen früh meinen Abschied schriftlich einreichen.«

»Das wird wohl am besten sein.«

Reichard starrte unverwandt vor sich hin. »Bisher hatte ich keine Furcht, wenn mir auch das Geld anderer Leute stromweise durch die Hände floß,« murmelte er. »O Mary, ich bin müde zum Umfallen.«

»Laß uns zu Bette gehen.«

 

Am andern Morgen um neun Uhr holte der Fremde den Sack ab und fuhr damit in einer Droschke nach dem Hotel. Dort hatte Harkneß um zehn ein Privatgespräch mit ihm. Der Fremde ließ sich fünf Wechsel – zahlbar an den Überbringer – auf eine New Yorker Bank ausstellen, einen zu vierunddreißigtausend Dollars und vier zu fünfzehnhundert Dollars. Von letzteren steckte er einen in sein Taschenbuch, alle übrigen legte er in ein Couvert und schrieb ein Briefchen dazu, nachdem Harkneß fort war. Um elf Uhr klingelte er am Reichard’schen Hause; Mary guckte erst durch den Fensterladen, dann nahm sie an der Tür das Kuvert in Empfang, welches ihr der Fremde einhändigte, ohne ein Wort zu sagen. In großer Erregung kehrte sie ins Zimmer zurück.

»Schon gestern abend kam es mir vor, als müßte ich ihn früher irgendwo gesehen haben; aber jetzt habe ich ihn wiedererkannt.«

»Es ist wohl der Mann, der den Sack gebracht hat?«

»Ja, ich mochte darauf schwören.«

»Dann ist er auch der angebliche Stephenson, der die Bürger mit seinem erfundenen Geheimnis zum Narren gehalten hat. Wenn er uns nun Wechsel statt Geld bringt, sind wir noch einmal angeführt, während wir uns eben in Sicherheit wiegten. Nach der Nachtruhe war mir schon ganz behaglich zu Mute, aber dies Kuvert verdirbt alles wieder, es ist viel zu dünn. Achttausendfünfhundert Dollars, selbst in den größten Banknoten, wären ein dickeres Paket.«

»Was hast du denn gegen Wechsel einzuwenden?«

»Wenn sie dieser Stephenson ausgestellt hat! – Ich habe mich zwar darein gegeben, die 8500 Dollars in Banknoten anzunehmen, weil es der Himmel nun einmal so gefügt hat. Aber Wechsel einzulösen, welche jene verhängnisvolle Unterschrift tragen – nein, dazu fehlt mir der Mut. Es könnte eine Falle sein. Schon einmal hat mich der Mensch fast in seine Hände bekommen, und wir sind ihm wie durch ein Wunder entgangen. Jetzt versucht er es auf andere Weise. Wenn Wechsel in dem Couvert sind –«

»O Eduard, wie schrecklich!« Weinend hielt sie die Wechsel in die Höhe.

»Wirf sie ins Feuer, rasch, damit wir nicht in Versuchung kommen. Es ist nur eine Hinterlist, um uns ins Verderben zu locken – uns dem Hohn und Spott der Leute preiszugeben wie die andern. Wenn du es nicht tun kannst, gib sie mir.« Er riß ihr die Wechsel aus der Hand und wankte damit zum Ofen. Doch er war Kassierer von Beruf und konnte nicht umhin, zuvor noch einen Blick auf die Unterschrift zu werfen. Fast wäre er in Ohnmacht gefallen.

»Mary, Mary, halte mich – sie sind so gut wie Gold!«

»O Eduard, wie herrlich! Aber ist es auch ganz gewiß?«

»Harkneß hat die Wechsel ausgestellt. Das ist mir ein unerklärliches Rätsel.«

»Glaubst du denn, Eduard –«

»So sieh doch nur her! Fünfzehn – fünfzehn – fünfzehn – vierunddreißig! Achtunddreißigtausendfünfhundert! Was sagst du dazu, Mary? – Der Sack ist keine zwölf Dollars wert und Harkneß hat offenbar diese Riesensumme dafür gezahlt.«

»Und du glaubst, das alles soll uns gehören? Nicht nur die versprochenen Zehntausend?«

»Es hat ganz den Anschein. Überdies lauten die Wechsel auf den ›Überbringer.‹«

»Ist das günstig, Eduard? Was hat das zu bedeuten?«

»Man kann das Geld bei jeder beliebigen Bank erheben. Vielleicht wünscht Harkneß nicht, daß die Sache hier ruchbar wird. Was ist denn das – – ein Brief?«

»Ja, er lag bei den Wechseln.«

Das Schreiben war von Stephensons Hand, trug aber keine Unterschrift. Reichard las:

 

»Ich habe mich in Ihnen getäuscht; Ihre Ehrlichkeit ist über jede Versuchung erhaben. Als ich das Gegenteil annahm, tat ich Ihnen unrecht, und bitte Sie aufrichtig, es mir zu verzeihen. Sie verdienen meine vollste Hochachtung, und Ihre Mitbürger sind nicht wert, Ihnen die Schuhriemen aufzulösen. Ich bin mit mir selbst eine Wette eingegangen, daß sich in Ihrer tugendstolzen Stadt neunzehn Männer zur Unredlichkeit verführen lassen würden. Die Wette habe ich verloren. Nehmen Sie den ganzen Einsatz; er gebührt Ihnen von Rechts wegen.«

 

Reichard tat einen tiefen Atemzug: »Das brennt, als wäre es mit Feuer geschrieben,« sagte er. »Mir ist wieder ganz erbärmlich zu Mute, Mary.«

»Mir auch. Ach, hätten wir doch – –«

»Stelle dir nur vor, Mary – er glaubt an mich.«

»Schweig‘ still davon – ich halte es sonst nicht aus.«

»Wenn ich dies schöne Lob verdiente – und Gott weiß, ich glaube, früher war das der Fall – so gäbe ich wahrhaftig die vierzigtausend Dollars dafür hin. Sein Schreiben aber würde ich heilig aufbewahren, es wäre mir mehr wert, als Gold und Juwelen. Doch jetzt müßte es uns ein ewiger Vorwurf sein, darum fort mit ihm.«

Er warf das Papier in die Flammen. –

Indem kam ein Bote, der einen Brief brachte. Burgeß hatte ihn geschickt; er lautete:

 

»Sie waren mein Retter zur Zeit der Not. Zum Dank dafür habe ich Sie gestern gerettet. Ich mußte es auf Kosten der Wahrheit tun, doch habe ich das Opfer gern gebracht, es reut mich nicht. Es weiß doch keiner Ihrer Mitbürger so gut wie ich, daß Sie ein braver, wackerer und edler Mensch sind. Sie wissen, welches Fehltritts man mich anklagt, und da man allgemein von meiner Schuld überzeugt ist, kann ich auf Ihre Achtung keinen Anspruch machen. Aber der Gedanke, daß Sie mich wenigstens nicht für einen Undankbaren halten, wird mir die Last erleichtern, die ich tragen muß.

Burgeß.«

 

»Wieder von einer Angst befreit und unter welchen Bedingungen!« Er warf den Brief ins Feuer. »Ich – ich wollte, ich wäre tot, Mary, da hätte die Sache ein für allemal ein Ende.«

»Das sind jetzt rechte Leidenstage für uns, Eduard. So viel Großmut muß einem schier das Herz zermalmen – und das geht immer Schlag auf Schlag. –«

Drei Tage vor der Abgeordnetenwahl wurde jedem der zweitausend Wähler als kostbares Erinnerungszeichen eine der wohlbekannten falschen Doppelkronen zugestellt. Auf der einen Seite der Münze las man am Rand die Inschrift: ›Die Worte, die ich zu dem armen Fremdling sagte, lauteten –‹ Auf der andern Seite stand: ›Geht hin und bessert Euch! Pinkerton.‹

So wurde alles, was noch von dem großen Possenspiel an Unrat übrig geblieben war, über ein einziges Haupt ausgegossen, und die Wirkung war verhängnisvoll. Das furchtbare Hohngelächter begann von neuem und richtete sich ausschließlich gegen Pinkerton, so daß bei Harkneß‘ Wahl von einem Kampf überhaupt nicht mehr die Rede war.

 

Herr und Frau Reichard hatten inzwischen Zeit gehabt, ihr Gewissen über die Annahme der Wechsel zu beruhigen; sie machten sich keine Vorwürfe mehr wegen ihrer Sünde. Doch sollten sie noch inne werden, welche Schreckensgestalt eine böse Tat annehmen kann, sobald die Möglichkeit ihrer Entdeckung vorhanden scheint. Die Sünde selbst gewinnt dadurch eine völlig neue Bedeutung und Wichtigkeit.

Am nächsten Sonntag war die Predigt in der Kirche ganz so wie immer. Dieselben alten Sachen wurden in hergebrachter Weise vorgetragen. Die Eheleute hatten das alles schon tausendmal gehört, ohne sich davon getroffen zu fühlen; es war oft ordentlich schwer gewesen, nicht dabei einzuschlafen, weil es ihnen so unerheblich und abgedroschen vorkam. Aber auf einmal war das ganz anders. Die Predigt schien voller Anschuldigungen und ganz besonders auf Leute gemünzt, die eine schwere Sünde vor der Welt verbergen möchten. Als der Gottesdienst zu Ende war, wich das Ehepaar so viel wie möglich der sie beglückwünschenden Menge aus; von unbestimmter Furcht und Bangigkeit erfüllt, kehrten sie in tiefster Niedergeschlagenheit heim. Unterwegs sahen sie zufällig von ferne Herrn Burgeß, der um die Straßenecke bog, ohne ihren Gruß zu erwidern. Er hatte sie nicht gesehen, aber da sie das nicht wußten, fragten sie sich besorgt, was es wohl bedeuten möchte. Sollte er erfahren haben, daß Reichard seine Unschuld damals hätte an den Tag bringen können? Vielleicht wartete er nur eine günstige Gelegenheit ab, um die Rechnung mit ihm ins Reine zu bringen. – Daheim fingen sie vor lauter Angst an, sich einzubilden, ihre Magd müsse sie im Nebenzimmer belauscht haben, als Reichard seiner Frau erzählte, er wisse, daß Burgeß unschuldig sei. Sie glaubten sich sogar zu erinnern, daß sie damals dort ein Rascheln gehört hätten; kein Zweifel, Sara war die Verräterin. Sie riefen die Magd ins Zimmer und stellten ihr so unzusammenhängende, wunderliche Fragen, daß Sara bald auf den Gedanken kam, der Verstand der alten Leute müsse bei dem plötzlichen Glückswechsel gelitten haben. Als sie nun unter ihren forschenden, mißtrauischen Blicken errötend ängstlich und befangen wurde, sah das Ehepaar dies für den deutlichen Beweis ihrer Schuld an. Sobald Sara das Zimmer verließ, redeten sie weiter über diese Entdeckung und quälten sich mit den gewagtesten Trugschlüssen und Vermutungen, plötzlich stöhnte Reichard laut auf.

»Was gibt es? – Fehlt dir etwas?«

»Burgeß‘ Brief geht mir im Kopf herum. Jetzt erst verstehe ich seinen beißenden Spott. Man kann ja zwischen den Zeilen lesen, wie gut er weiß, daß ich seine Unschuld kannte. Und ich Narr nahm sein Lob für bare Münze. Du weißt doch, Mary –«

»Daß er dir deine Abschrift nicht wiedergeschickt hat – den Zettel mit der erlogenen Äußerung. Ja, das ist entsetzlich.«

»Er behält ihn, um uns damit zu Grunde zu richten. Einigen Leuten muß er ihn schon gezeigt haben; ich sah es ihnen nach der Kirche am Gesicht an. Nein, ich täusche mich nicht. Er hätte doch auch unsern Gruß erwidert, wenn er nichts Böses gegen uns im Schilde führte.«

In der Nacht wurde der Arzt zu Reichard gerufen und am Morgen verbreitete sich das Gerücht, die alten Leute seien ernstlich erkrankt. Die gewaltige Aufregung über das Glück, welches ihnen so unerwartet in den Schoß gefallen war, das späte Aufbleiben und die vielen Gratulationsbesuche seien schuld daran, meinte der Doktor. Die Hadleyburger hörten es mit großer Betrübnis, denn dies Ehepaar war ja das einzige, worauf sie noch stolz sein konnten.

Zwei Tage später lautete der Bericht noch schlimmer; Reichard lag im Fieber und benahm sich sehr sonderbar. Nach Aussage der Wärterinnen, hatte er seine Wechsel sehen lassen, die aber nicht auf 8500 Dollars, sondern auf die Riesensumme von 38 000 Dollars ausgestellt waren. Wie kamen die Leute zu einem so ungeheuren Vermögen?

Tags darauf wußten die Wärterinnen noch wunderbarere Dinge zu erzählen. Sie hatten die Wechsel in Verwahrung nehmen wollen, damit sie nicht beschädigt würden, aber als man danach suchte, fand man sie unter dem Kissen des Kranken nicht mehr: sie waren und blieben verschwunden.

»Was wollt ihr mit meinem Kissen?« hatte Reichard gefragt; »laßt mich in Ruhe!«

»Wir möchten nur, daß die Wechsel –«

»Die werdet ihr nie mehr erblicken, die sind vernichtet. Es war Satanswerk; ich habe das Brandmal der Hölle darauf gesehen; ihr Zweck war, mich in Sünde und Schande zu stürzen.« Dann begann er schreckliche Reden zu führen über ganz unverständliche Dinge und der Doktor ermahnte die Umstehenden, nichts davon weiterzusagen.

Doch mußte eine Wärterin wohl im Schlaf die Fieberphantasien des Kranken ausgeplaudert haben, denn bald darauf sprach man in der ganzen Stadt davon. Die Leute erzählten sich, Reichard hätte so gut wie die andern Anspruch auf den Sack erhoben, was durch Burgeß zuerst verheimlicht und dann aus Bosheit verraten worden sei.

Als man Burgeß dies vorhielt, leugnete er standhaft und meinte, es sei ungerecht, den Worten, die ein kranker alter Mann im Fieberwahn geredet, irgend welche Bedeutung beizumessen. Allein der Argwohn war nun einmal wach geworden und jeder ließ seiner Zunge freien Lauf.

Nach zwei Tagen lag auch Frau Reichard im Fieber, und was sie sprach, war nur eine Wiederholung von ihres Mannes Reden. Da zweifelte niemand mehr, daß es auch mit der Vortrefflichkeit des einen unbescholtenen Bürgers, den Hadleyburg noch unter seinen ersten Familien besessen hatte, nicht sonderlich beschaffen sein könne, und mit dem Stolz auf ihn war es ein für allemal vorbei.

Wieder vergingen sechs Tage, da lag das alte Ehepaar im Sterben. Kurz vor seinem Tode kam Reichard noch einmal zu klarem Bewußtsein und ließ Burgeß rufen. Der Pastor bat die Anwesenden, das Zimmer zu verlassen, da der Kranke gewiß wünsche, mit ihm allein zu reden.

»Nein,« sagte Reichard, »ich muß Zeugen haben. Ihr alle sollt mein Bekenntnis hören, denn ich will wie ein Mann sterben und nicht wie ein elender Heuchler. Ich war rechtschaffen, aber nur gewohnheitsmäßig – wie alle übrigen Hadleyburger, und gleich meinen Mitbürgern bin ich der ersten wirklichen Versuchung unterlegen. Ich unterschrieb eine Lüge, um in den Besitz des erbärmlichen Sackes zu gelangen. Pastor Burgeß erinnerte sich, daß ich ihm einmal einen Dienst erwiesen hatte; aus Dankbarkeit behielt er meinen Brief zurück, um meine Ehre zu retten. Er wußte nicht, daß ich die Anklage, welche vor Jahren gegen ihn geschleudert wurde, durch mein Zeugnis hätte entkräften können. Aber ich war ein Feigling und gab ihn der Schande preis –«

»Nein, nein, Herr Reichard, Sie haben – –«

»Meine Dienstmagd hat ihm dieses Geheimnis verraten –«

»Kein Mensch hat mir ein Sterbenswort gesagt –«

– »und darauf tat er etwas, das vollständig natürlich und gerechtfertigt war. Seine Güte und Nachsicht gegen mich reute ihn und er offenbarte meine Schuld, wie ich es verdiente.«

»Niemals – das schwöre ich –«

»Ich vergebe es ihm von ganzem Herzen.«

Des Pastors Beteuerungen waren umsonst, er predigte tauben Ohren. Der Sterbende hauchte seinen letzten Seufzer aus, ohne noch zu erfahren, daß er dem armen Burgeß wiederum ein Unrecht zugefügt hatte. In der folgenden Nacht starb auch die alte Frau Reichard. So war denn der letzte der Neunzehner eine Beute des teuflischen Sackes geworden, und die Stadt hatte ihren alten Ruhm für ewige Zeit eingebüßt. Ihre Trauer darüber trug sie zwar nicht zur Schau, aber sie war tief und aufrichtig.

Nach vielen Bitten und Eingaben erhielt Hadleyburg von der Regierung die Erlaubnis, einen andern Namen anzunehmen (einerlei, welchen, ich will ihn nicht ausplaudern), und aus dem uralten Motto seines Stadtsiegels ein Wort fortzulassen.

Es ist jetzt wieder eine rechtschaffene Stadt, und wer sie noch einmal überrumpeln wollte, der müßte früh aufstehen.