Vierundzwanzigstes Kapitel.

Das Gespensterhaus.

Vierundzwanzigstes Kapitel.

Um die Mittagsstunde des nächsten Tages fanden sich die Jungen wiederum am Schauplatz ihrer nächtlichen Taten ein, um ihr Werkzeug zu holen, Tom war sehr ungeduldig und konnte gar nicht schnell genug nach dem »Gespensterhaus« kommen. Huck, etwas gemäßigter in seinem Eifer, sagte plötzlich:

»Sag mal, Tom, weißt du, was heut für ’n Tag ist?«

Tom ließ im Geiste die Wochentage an sich vorüberziehen und hob dann den Kopf erschreckten Blickes:

»Ei, der Tausend, daran hab ich gar nicht gedacht, Huck.«

»Na, ich zuerst auch nicht. Mit einem Male aber fiel’s mir siedend heiß ein, daß heut Freitag sei.«

»Potz Blitz! man kann doch nie vorsichtig genug sein, Huck. Wir hätten schön in die Patsche geraten können, wenn wir mit so was am Freitag angefangen hätten.«

»Hätten geraten können? Ich sag, wären geraten! ’s gibt Glückstage, aber der Freitag ist keiner!«

»Das weiß jeder Narr. Du denkst doch nicht, daß du der erste bist, der das herausgefunden, Huck?«

»Hab ich das vielleicht gesagt? Und der Freitag allein ist noch nicht alles – hab ’nen scheußlich schlechten Traum gehabt, heut nacht – hab von Ratten geträumt.«

»Ist’s möglich? Na, ’n sicheres Zeichen von Pech. Bissen sie sich herum?«

»Nein.«

»Na, dann ist’s gut, Huck. Wenn sie sich nicht herumbeißen, soll’s nur bedeuten, daß irgendwo Unheil lauert, weißt du. Da brauchen wir einfach nur die Augen gut aufzumachen und dem Pech aus dem Wege zu gehen. Auf jeden Fall aber wollen wir’s heut sein lassen und lieber spielen. Kennst du Robin Hood, Huck?«

»Nee, wer ist’s?«

»Oh, der war einer der größten Männer, die je in England lebten, und der beste dazu. Er war ein Räuber.«

»Patent! Wollt, ich wär’s. Wen hat er denn beraubt?«

»Ei, nur Scherifs und Bischöfe und reiche Leute und Könige und dergleichen. Die Armen aber ließ er ganz in Ruhe, die hatte er lieb. Mit denen hat er immer alles ganz brüderlich geteilt.«

»Das muß ja ’n Staatskerl gewesen sein.«

»Das war er, weiß Gott, Huck. Das war einfach der beste Mensch, der je gelebt hat. So gibt’s jetzt gar keine Menschen mehr, sag ich dir. Der konnte jeden Mann in England zwingen mit einer Hand, man durfte ihm die andere festbinden. Und dann nahm er seinen Eibenbogen und traf jedes Zehncentstück auf anderthalb Meilen Entfernung.«

»Was ist denn ein Eibenbogen?«

»Was weiß ich? Eben irgendein Bogen natürlich. Und wenn er dann das Geldstück nur am Rande traf, statt in der Mitte, da setzte er sich hin und weinte – und fluchte. Komm, laß uns Robin Hood spielen, ’s ist fein, sag ich dir. Ich zeig’s dir, wie.«

»Mir recht.«

So spielten sie denn Robin Hood den ganzen Nachmittag, hier und da einen sehnsüchtigen Blick nach dem alten »Gespensterhaus« da unten werfend und sich über die Aussichten und Möglichkeiten des folgenden Tages unterhaltend. Als die Sonne bedenklich gen Westen sich neigte, schlugen sie den Heimweg ein, quer durch die langen Schatten, welche die Bäume nun warfen, und waren bald in den Wäldern des Cardiffhügels dem Auge entschwunden.

Am Sonnabend, kurz nach der Mittagsstunde, stellten sich die Jungen wieder an jenem bewußten alten Baume ein. Erst rauchten und schwatzten sie ein Weilchen im Schatten desselben, dann wühlten sie noch ein wenig in ihrem letzten Loch herum, nicht sehr hoffnungsvoll allerdings, sondern nur, weil Tom meinte, es sei schon so oft vorgekommen, daß man beim Schatzgraben dem gesuchten Schatz auf sechs Zoll Entfernung nahegekommen und das Ding darnach mutlos aufgegeben habe, nur damit ein anderer dann mit einem einzigen Spatenstich die ganze Herrlichkeit entdecke. Die Sache schlug indes wieder fehl, und so schulterten die Jungen ihr Werkzeug und gingen davon, in dem erhebenden Bewußtsein, mit dem Glück nicht gespielt zu haben, sondern im Gegenteil jedes Erfordernis getreulich erfüllt zu haben, das zu dem Geschäft des Schatzgrabens gehört.

Als sie das Gespensterhaus erreichten, lag etwas so Schauerliches und Unheimliches in der Totenstille, die dort unter der sengenden Sonnenglut herrschte, etwas so Bedrückendes in der Einsamkeit und Verlassenheit des Ortes, daß die Jungen einen Moment lang sich nicht getrauten hineinzugehen. Dann schlichen sie nach der Tür und hielten zitternd Umschau, Sie sahen eine mit Unkraut überwucherte Stube vor sich, den Boden ohne Dielen, die Wände ohne Bewurf, mit einem eingesunkenen Kamin, mit leeren Fensterhöhlen und einer halb verfallenen Treppe. Allenthalben hingen Fetzen von verstäubten, verlassenen Spinngeweben herum. Vorsichtig, zögernd traten die Jungen ein, beschleunigten Pulses, im Flüsterton redend, gespitzten Ohres, bereit, den geringsten Laut aufzufangen, die Muskeln gespannt, um jeden Moment zum Rückzug bereit zu sein.

Bei näherer Bekanntschaft mit dem Ort verringerte sich allmählich ihre Furcht, und unsere beiden Helden unterwarfen die Lokalität einer genauen und eingehenden Prüfung, nicht ohne dabei im stillen ihre eigene Kühnheit zu bewundern und zugleich darob zu erstaunen. Unten fertig, wollten sie sich nun auch oben umsehen. Das hieß soviel, als sich den Rückzug abschneiden, aber sie waren nun einmal im Zuge, sich gegenseitig im Herausfordern der Gefahr zu überbieten, und so warfen sie denn ihr Werkzeug in einen Winkel und stiegen hinauf. Oben fanden sie dieselben Zeichen des Verfalls, In einem Winkel entdeckten sie einen Wandschrank, der irgendein Geheimnis zu bergen versprach, – dies Versprechen war aber Täuschung und Betrug: der Schrank war leer. Der Mut schien ihnen nun voll und ganz wiedergekehrt, und eben waren sie im Begriff, hinunter und an die Arbeit zu gehen, als –

»Sscht!« sagte Tom.

»Was gibt’s?« flüsterte Huck, vor Schreck erbleichend.

»Sscht! Da! Hörst du?«

»Ja! Oh, du meine Güte! Laß uns rennen!«

»Still, halt dich ruhig und muckse dich nicht. Sie kommen grad auf die Tür los.«

Die Jungen streckten sich auf dem Boden aus, spähten mit den Augen durch die Astlöcher in den Dielen und warteten zitternd vor verhaltener Furcht und Erregung.

»Sie bleiben stehen – nein – sie kommen – da – da sind sie. Kein Wort mehr, Huck. Herrgott, wären wir doch mit heiler Haut aus der Patsche!«

Zwei Männer traten ein. Jeder der Jungen sagte zu sich selber:

»Der eine ist der alte, taubstumme Spanier, den man in der letzten Zeit ein- oder zweimal in der Stadt gesehen hat, – den anderen kenn ich nicht.«

»Der andere« war ein zerlumpter, ungekämmter Kerl, dessen Gesicht nicht eben einnehmend war. Der Spanier war in seine »Serape« gehüllt, er hatte einen buschigen, weißen Schnauzbart; langes, weißes wehendes Haar stahl sich unter seinem breitrandigen Hute vor, dazu trug er grüne Augengläser. Als sie hereinkamen, redete eben »der andere« mit leiser Stimme auf ihn ein. Sie ließen sich auf dem Boden nieder, das Gesicht der Türe zugewandt und mit dem Rücken gegen die Mauer gelehnt. Der Sprechende fuhr in seinen Bemerkungen fort. Je länger er sprach, desto mehr verlor sich sein vorsichtiges Wesen und desto lauter wurden seine Worte.

»Nein,« sagte er, »ich hab’s mir überlegt, aber ich mag nicht, ’s ist mir viel zu gefährlich.«

»Gefährlich,« brummte der ›taubstumme‹ Spanier, zum größten Erstaunen der lauschenden Jungen, »Hasenfuß!«

Diese Stimme ließ die Jungen voll Entsetzen erbeben und nach Atem ringen. Es war die Stimme des Indianer-Joe.

Ein Schweigen folgte, dann sagte dieser:

»Was gibt’s wohl Gefährlicheres, als das letzte Stückchen, das ich dort drüben geliefert, – damit wies er mit dem Finger nach der Richtung der Stadt, – und ist da vielleicht was ‚rausgekommen dabei?«

»Das ist was anderes! Soweit flußaufwärts und kein anderes Haus in der Nähe! Wie soll überhaupt etwas ‚rauskommen, wenn wir keinen Erfolg gehabt haben.«

»Na, und was ist gefährlicher, als bei Tag hierherkommen? Ei jedem, der uns sähe, müßten wir doch verdächtig scheinen.«

»Das weiß ich. Aber nach dem dummen Stückchen von neulich war kein Platz so gelegen. Ich muß weg aus der Bude hier! Hab’s gestern schon gewollt, nur nutzte es nichts, da die verteufelten Jungens da oben beim alten Baum vor unserer Nase ihr Spiel trieben.«

Die »verteufelten Jungens« erbebten bei dieser Bemerkung und beglückwünschten sich innerlich, daß sie sich des Freitags erinnert und beschlossen hatten, einen Tag zu warten. Wie wünschten sie jetzt, statt eines Tages, ein Jahr gewartet zu haben! Die zwei Männer kramten nun Nahrungsmittel aus und machten sich eine Mahlzeit zurecht. Nach einer langen, gedankenvollen Pause sagte der Indianer-Joe:

»Will dir mal was sagen, Kamerad. Du machst dich wieder flußaufwärts, wo du hingehörst, und bleibst dort, bis du von mir Nachricht hast. Ich schleich mich noch mal in die Stadt, geh’s wie’s will, und halt Umschau. An das ›gefährliche Stückchen‹ gehen wir dann erst, wenn ich die Zeit dazu für gekommen halte. Dann auf und davon nach Texas!«

Dieser Plan ließ sich hören und fand keinen Widerspruch, Die Männer begannen zu gähnen und Joe sagte:

»Ich bin todmüde! An dir ist die Reihe zu wachen!«

Er kauerte sich zusammen und begann alsbald zu schnarchen. Sein Kamerad stieß ihn ein paarmal an, worauf er stille ward. Alsbald begann der Wächter zu nicken, sein Kopf sank tiefer und tiefer, nun schnarchten beide Männer.

Die Jungen holten tief und dankerfüllt Atem. Tom wisperte:

»Jetzt gilt’s, komm!«

Huck erwiderte:

»Ich kann nicht. Ich fiel geradeswegs tot hin, wenn sie aufwachen.«

Tom trieb, Huck zögerte. Schließlich erhob sich Tom vorsichtig und leise und schickte sich an, allein sein Heil zu probieren. Beim ersten Schritt aber, den er vorwärts tat, krachte die alte, vermorschte Diele so laut und so drohend, daß er plötzlich halbtot vor Schreck wieder umsank. Einen zweiten Versuch wagte er nicht. So lagen denn die Jungen und zählten die träge sich dahinschleppenden Sekunden, bis sie meinten, alle Zeit müsse aufgehört haben, ja die Ewigkeit schon grau geworden sein, und sie waren heißen Dankes voll, als sie bemerkten, daß die Sonne sich zu neigen begann.

Einer der Schlafenden hörte jetzt auf zu schnarchen. Der Indianer-Joe richtete sich empor, starrte um sich, lächelte grimmig über seinen Kameraden, dessen Kopf auf die Knie gesunken war, stieß ihn mit dem Fuße an, und sagte:

»Na, du bist ein Wächter, das muß ich sagen! Übrigens einerlei, ’s ist ja nichts passiert.«

»Meiner Treu, – ich hab doch nicht – hab ich wirklich geschlafen?«

»So ’n bißchen, sollt ich denken. Na, Zeit zum Abzug für uns, Kamerad! Was tun wir mit dem bißchen Baren, das wir noch haben?«

»Weiß ich’s? Hier lassen, wie wir’s immer gemacht haben, das wird wohl am besten sein. Können’s doch nicht herumschleppen, bis wir nach dem Süden gehen. Sechshundertundfünfzig Dollars ist ’ne ordentliche Last!«

»Na gut, – schon recht! Liegt ja auch nichts daran, wenn wir noch mal hierher müssen.«

»Nee, aber dann möcht ich doch raten, in der Nacht zu kommen, wie früher, ’s ist doch besser für alle Fälle!«

»Ganz gut, aber hör mal zu. Es kann ’ne gute Weile dauern, eh sich die rechte Gelegenheit findet zu dem Stückchen, das wir vorhaben, ’s könnt uns was zustoßen, ’s ist an gar keinem so sehr guten Orte hier. Wir wollen’s ordentlich vergraben, – tief vergraben.«

»Das ist ’ne gute Idee,« meinte der Kamerad, ging quer durch den Raum aufs Kamin zu, kniete nieder, hob einen von den hinteren Steinen desselben in die Höhe und nahm einen Beutel heraus, worin es bei der Berührung vielversprechend klang. Dem entnahm er zwanzig oder dreißig Dollars für sich selber, ebensoviel für den Indianer-Joe, und reichte dann den Beutel dem letzteren, der in einer Ecke auf den Knien lag und mit seinem langen und breiten Messer den Grund aufwühlte.

Die Jungen vergaßen ihre ganze Angst und all ihr Elend in einem Augenblick. Mit glänzenden, gierigen Blicken folgten sie jeder Bewegung. Solches Glück! Der Strahlenglanz desselben überstieg jede Einbildungskraft! Sechshundert Dollars waren ja Geld genug, um ein halbes Dutzend Jungen reich zu machen. Das nannte man Schatzgräber! unter den glücklichsten Umständen, da gab’s keine hindernde Ungewißheit, wo man eigentlich nachzugraben habe. Sie stießen einander beständig an mit beredten, leicht verständlichen Rippenstößen, die einfach bedeuten sollten: »Herr Gott, bist du nun nicht froh, daß wir hier sind?«

Joes Messer stieß auf etwas Hartes.

»Holla,« sagte er.

»Was gibt’s?« fragte der andere.

Eine verfaulte Diele, – nee, ’s ist ’ne Kiste, glaub ich. Schnell, pack an und wir wollen bald dahinterkommen, was die hier soll. Laß gut sein, ich hab ’n Loch hineingebrochen.«

Er griff in die Kiste und zog die Hand sofort wieder heraus.

»Mensch, ’s ist Geld!«

Die beiden Männer untersuchten nun die Handvoll Münzen. Es war Gold. Die Jungen oben waren ebenso entzückt, wie die zwei Strolche unten.

Joes Kamerad sagte:

»Damit wollen wir kurzen Prozeß machen. Dort liegt ’ne alte, rostige Hacke in der Ecke, drüben auf der anderen Seite des Kamins. Ich hab’s eben gesehen.«

Er sprang hin und brachte die Hacke und Schaufel der Jungen herbei. Der Indianer-Joe nahm die Hacke, besah sie kritisch, schüttelte den Kopf, murmelte etwas in sich hinein und machte sich dann an die Arbeit.

Die Kiste war bald bloßgelegt. Sie war nicht sehr groß, mit eisernen Bändern beschlagen und schien sehr stark gewesen zu sein, ehe der Zahn der Zeit sie benagt hatte. Die Männer starrten in glückseligem Schweigen nieder auf den gleißenden Schatz.

Endlich flüsterte Joe:

»Kamerad, das sind Tausende von Dollars.«

»Man hat immer gemunkelt, daß Murrells Bande sich mal ’nen Sommer hier herumgetrieben hätte,« bemerkte der Fremde.

»Weiß wohl,« bestätigte Joe, »und dies hier sieht, meiner Treu, ganz danach aus.«

»Jetzt können wir auch das andere Stückchen aufgeben, was!«

Der Halbindianer runzelte finster die Stirn. Dann sagte er:

»Du verstehst mich nicht, wenigstens die Sache nicht, um die sich’s handelt, ’s ist mir diesmal nicht ums Stehlen, – ’s ist Rache, die ich haben will.« Dabei flammten seine Augen in grellem Feuer auf. »Dazu brauch ich dich und deine Hilfe. Wenn wir das hinter uns haben – dann auf nach Texas! Und jetzt mach dich heim zu deiner Hanne und deinen Bälgern und wart, bis ich dich rufe.«

»Soll mir recht sein! Was aber fangen wir mit dem da an – vergraben’s wieder?«

»Ja (überwältigendes Entzücken oben). Nein! Beim Henker, nein! (Tiefste Niedergeschlagenheit eine Treppe hoch.) Beinah hätt ich’s vergessen. An der Hacke war ja frische Erde! (Den Jungen wurde wind und weh vor Schreck und Angst.) Was hat ’ne Hacke und Schaufel hier zu tun? Gar mit frischer Erde daran? Wer hat sie hergebracht– und wo sind die Kerls hin? Hast du was gehört – jemand gesehen? Was? Wieder vergraben, damit die Kerls nachher kommen und sehen, daß der Grund frisch aufgewühlt ist? Nee, so dumm sind wir nicht. Wir schleppen’s in meine Höhle!«

»Na, natürlich, Hatt‘ früher daran denken können. Meinst du Nummer eins?«

»Nein, Nummer zwei, unter dem Kreuz. Der andere Platz ist nichts wert, – zu gewöhnlich.«

»Mir auch recht! Bald wird’s dunkel genug sein, um abziehen zu können.«

Der Indianer-Joe erhob sich und ging von Fenster zu Fenster, immer vorsichtig hindurchspähend. Bald darauf sagte er:

»Wer kann wohl das Werkzeug hergeschleppt haben? Am End sind sie oben!«

Den Jungen versagte der Atem. Der Indianer-Joe legte die Hand an das dolchartige Messer, das in seinem Gürtel steckte, hielt einen Moment überlegend inne und wandte sich dann der Treppe zu. Die Jungen dachten an den Wandschrank, aber ihre Kraft hatte sie vollständig verlassen. Schon krachten die Tritte auf der Treppe, – die fast unerträgliche Not ihrer Lage weckte die erlahmte Entschlossenheit der Jungen, – eben wollten sie dem rettenden Schranke zufliehen, als sich ein Splittern und Krachen der vermorschten Balken vernehmen ließ und der Indianer-Joe inmitten der Treppentrümmer schleunigst wieder unten landete. Fluchend raffte er sich auf, und sein Kamerad sagte:

»Zu was all den Umstand. Wenn’s wirklich jemand ist und sich einige da droben versteckt halten, gut, laß ihnen ihr Vergnügen, was liegt daran? Wenn sie ‚runterspringen wollen und mit uns anbinden, so mögen sie nur kommen. In fünfzehn Minuten ist’s dunkel, laß sie uns folgen, wenn sie wollen, mir sollt’s recht sein. Meiner Meinung nach haben die Kerls, welche die Sachen hier ablegten, wer’s nun immer gewesen sein mag, uns erblickt, uns für Geister, Teufel oder sonst was gehalten und sind davongerannt. Die rennen noch, ich möcht fast wetten.«

Joe brummte noch eine Weile vor sich hin, dann stimmte er seinem Gefährten bei, daß sie das noch übrigbleibende Tageslicht benutzen müßten, um zur Flucht alles in Bereitschaft zu setzen. Kurz danach schlüpften sie im tiefsten Dämmerlicht aus dem Hause und schlugen mit ihrer kostbaren Last die Richtung nach dem Flusse ein.

Tom und Huck erhoben sich, noch ganz zitternd, aber wie erlöst, und starrten den Männern durch die Spalten nach, die sich in den Wänden des Hauses befanden? Ihnen folgen? Das fiel ihnen nicht ein. Sie waren zufrieden, ohne gebrochenen Hals den sicheren Boden wieder zu erreichen, und wandten sich ohne Zögern dem über den Hügel nach der Stadt führenden Pfade zu. Sie redeten nicht viel zusammen, waren zu beschäftigt damit, sich selber gründlich Vorwürfe zu machen über die bodenlose Dummheit, Hacke und Spaten mit dorthin zu nehmen und liegen zu lassen. Ohne das hätte der Indianer-Joe niemals Verdacht gefaßt. Er hätte gewiß das Silber bei dem Golde verscharrt, bis er seine »Rachepläne« ausgeführt gehabt, und dann wäre ihm die überraschende Entdeckung geworden, daß beides verschwunden: Silber wie Gold! Schweres, bitteres Verhängnis, daß sie die Werkzeuge mit dahin schleppen mußten! Sie beschlossen, diesem Spanier gut aufzupassen, wenn er sich, um eine Gelegenheit für seinen Racheakt auszukundschaften, wieder in der Stadt sehen ließe, und ihm dann nach »Nummer Zwei« zu folgen, wo es auch sein möge. Plötzlich überkam Tom ein entsetzensvoller Gedanke:

»Rache? Wenn er nun uns damit meint, Huck!«

»Red nicht so!« bat dieser, der bei der bloßen Idee vor Schreck beinahe umfiel.

Dann besprachen sie den Gedanken hin und her, und als sie daheim anlangten, waren sie übereingekommen, daß er vielleicht sonst irgend jemand im Auge haben, oder wenigstens doch nur Tom meinen könne, da ja Tom allein gegen ihn gezeugt hatte.

Ein schwacher, sehr schwacher Trost war es für Tom, allein in Gefahr zu sein. Einen Kameraden auch hierin zu besitzen, würde die Sache wesentlich erleichtert haben, so dachte er bei sich in seiner Unschuld; Huck aber schien anderer Meinung zu sein.

Achtzehntes Kapitel.

Tante verzeiht.

Achtzehntes Kapitel.

Tom kam sehr verdrießlich zu Hause an, und die ersten Worte, mit denen ihn seine Tante begrüßte, zeigten ihm, daß hier nicht viel Trost für seinen Kummer zu holen sein werde.

»Tom, ich möchte dir wahrhaftig das Fell über die Ohren ziehen.«

»Ei, Tante, was hab ich denn getan?«

»Meiner Treu! Fragt der Bursch auch noch! Geh ich da hin zu der Harpern, der alten Einfaltspinselin, will ihr von deinem Traum erzählen und ihr beweisen, daß Träume gar kein Unsinn sind, und seh mir einer, lacht sie mir grad ins Gesicht und sagt, sie hab’s aus dem Joe herausgekriegt, daß du hier gewesen seist und alles selber gesehen und gehört habest an dem Abend. Ich denk, mich rührt der Schlag! Tom, was soll denn aus ’nem Jungen werden, der so was tun kann? Ich könnt mir meine letzten paar grauen Haare ausreißen, wenn ich dran denk, daß du mich hast hingehen lassen zu der Harpern, um mich lächerlich zu machen, ohne auch nur ein Wort zu verlieren.«

Das zeigte Tom die Sache allerdings in einem anderen Lichte. Seine Pfiffigkeit vom Morgen war ihm wie ein guter Scherz erschienen, wie ein Geniestreich sogar. Jetzt kam ihm sein Verhalten erbärmlich und gemein vor. Er hing den Kopf, kein Wort der Entschuldigung wollte ihm einfallen. Endlich stammelte er:

»Tantchen, ich wollt, ich hätt’s nicht getan – ich hab aber wirklich nicht so dran gedacht.«

»Ach, Kind, du denkst ja nie. Denkst nie an die anderen, immer nur an dich und dein Vergnügen. Daran hast du wohl gedacht, den ganzen Weg von der Jacksoninsel hierher zu machen, nur um über uns und unseren Jammer zu lachen. Und daran hast du auch gedacht, deine alte Tante mit dem verlogenen Traum zum Narren zu machen, daran aber denkst du nicht, wie du uns Spott und Schande und Kummer ersparen kannst.«

»Tantchen, jetzt weiß ich, wie erbärmlich es von mir war, aber so hab ich’s nicht gemeint, weiß Gott, wahrhaftig nicht! Und dann bin ich auch nicht herübergeschwommen, um mich über euch lustig zu machen.«

»Warum sonst?«

»Nur um dir zu sagen, daß du dich nicht um uns sorgen solltest, da wir nicht ertrunken seien.«

»Tom, Tom, ich wäre die dankbarste alte Seele in der weiten Welt, wenn ich wirklich glauben könnte, du hättest den guten Gedanken gehabt. Aber so war’s gewiß nicht, Tom, so war’s nicht, und das weißt du auch selber, Tom.«

»Weiß Gott, Tante, so war’s, weiß Gott! Ei, ich will gleich tot umfallen, wenn’s anders war.«

»Oh, Tom, lüg nicht, – tu’s nicht, Kind. Es macht ja nur alles tausendmal schlimmer.«

»Es ist nicht gelogen, Tante, es ist die reine Wahrheit. Ich wollte nur nicht, daß du dich so grämen solltest, einzig und allein deshalb kam ich.«

»Ich gäb die ganze Welt drum, wenn ich das glauben könnte, – es würde fast alle deine Dummheiten aufwiegen, Tom. Ei, ich wollte gar nichts davon sagen, daß du so schlecht gewesen und davongelaufen bist, wenn ich das nur glauben könnte. Aber, Kind, Kind, es kann ja nicht sein, ’s geht gegen alle Vernunft; warum hättest du’s mir dann damals doch nicht gesagt und wärst so davongeschlichen?«

»Warum? Ja, siehst du, Tantchen, als ihr vom Trauergottesdienst und all dem spracht, da schoß mir der Gedanke durch den Kopf, zu kommen und uns unterdessen in der Kirche zu verstecken und ich war so voll davon, daß ich mir’s nicht verderben wollte. ’s war doch auch kapital, gelt? So drückte ich mich denn heimlich davon und steckte meine Rinde wieder ein.«

»Welche Rinde?«

»Ei, die Rinde, auf die ich geschrieben hab, daß wir als Piraten davongelaufen seien. Ich wollt jetzt, du wärst wach geworden, wie ich dich geküßt hab, wahrhaftig ich wollt’s!«

Der strenge Ausdruck im Gesicht der Tante ließ etwas nach, plötzliche Zärtlichkeit strahlte warm aus den treuen Augen.

» Hast du mich geküßt, Tom?«

»Natürlich.«

»Hast du’s wirklich getan, Tom?«

»Gewiß, Tante, gewiß und wahrhaftig!«

»Warum hast du mich geküßt, Tom?«

»Weil ich dich lieb hab und weil du da gelegen hast und geseufzt und gestöhnt, und das hat mir leid getan.«

Die Worte klangen wahr. Die alte Dame konnte ein Zittern in ihrer Stimme nicht ganz unterdrücken, als sie sagte:

»Küß mich noch einmal, Tom – und mach, daß du weg kommst, ’s ist Zeit zur Schule, du hast mich genug geärgert.«

Im Moment, da er weg war, stürzte sie zum Schrank und riß die traurigen Überreste der Jacke hervor, in der er Seeräuber gewesen. Dann stand sie still, drückte die Lumpen an ihre Brust und flüsterte:

»Nein, ich wag’s nicht. Armer Kerl, ich glaub, er hat gelogen, aber – es war so gut und lieb gelogen, ordentlich tröstlich für mein altes Herz. Ich hoffe, der Herr, – nein, ich weiß, der Herr wird ihm verzeihen, denn weiß Gott, diesmal hat mein Tom aus Gutherzigkeit geflunkert. Ich will auch gar nicht wissen, daß es geflunkert war, lieber seh ich gar nicht nach.«

So legte sie die Jacke weg und stand noch eine Minute sinnend davor. Zweimal streckte sie die Hand nach dem Kleidungsstück aus und zweimal zog sie dieselbe wieder zurück. Noch einmal wagte sie sich vor und sprach sich selber Mut zu mit dem Gedanken: Die Lüge war ja gut gemeint, von Herzen gut gemeint, es soll mich weiter nicht kümmern. Damit hatte sie die Hand in die Jackentasche versenkt. Einen Moment später las sie unter strömenden Tränen, was Tom auf jenes bewußte Rindenstück gekritzelt hatte und stammelte schluchzend:

»Jetzt könnt ich dem Jungen verzeihen und wenn er eine Million Sünden auf dem Gewissen hätte.«

Neunzehntes Kapitel.

Toms Edelmut.

Neunzehntes Kapitel.

In der Art und Weise, wie ihn Tante Polly küßte, lag etwas, das Tom wunderbar wohltat. Seine Niedergeschlagenheit war wie weggeblasen und er fühlte sich urplötzlich wieder leichtherzig und froh. Er stürmte der Schule zu und hatte das Glück, unterwegs auf Becky zu stoßen. Da er sich immer von seiner augenblicklichen Stimmung leiten ließ, so rannte er ohne einen Moment der Überlegung auf sie zu und rief treuherzig:

»Becky, ich war heute Morgen ganz abscheulich gegen dich, ich will nie, nie wieder so sein, so lang ich lebe, nur sei wieder gut, willst du?«

Das Mädchen blieb stehen und sah ihm verächtlich ins Gesicht:

»Ich würde Ihnen sehr dankbar sein, Herr Thomas Sawyer, wenn Sie mich in Zukunft mit Ihrer Gesellschaft verschonen wollten, ich werde nie wieder mit Ihnen reden.«

Sprach’s, warf den Kopf zurück und schritt stolz von dannen. »Herr« Thomas Sawyer war so starr vor Staunen, daß er nicht einmal Geistesgegenwart genug hatte zu einem »Wie Sie wünschen, Jungfer Patzig«, und erst dran dachte, als es zu spät war. So sagte er denn kein Wort, war aber nichtsdestoweniger in heller Wut. Er schlich nach dem Schulhof und wünschte nur, sie wäre ein Junge und er könnte sie durchbläuen für diese unerhörte Beleidigung. Als er gerade in ihre Nähe kam, schleuderte er ihr eine beißende Bemerkung ins Gesicht. Sie entgegnete im selben Ton und der Bruch war vollständig, Becky konnte in ihrem Racheeifer kaum den Beginn des Unterrichts erwarten, so brannte sie darauf, Tom seine Prügel für das verschmierte Buch erhalten zu sehen. Wenn sie je noch den Schatten eines Zweifels in sich verspürt hatte, ob sie Alfred Tempel nicht doch angeben wolle, so war derselbe durch Toms letzte Liebenswürdigkeit auf Nimmerwiederkehr verscheucht.

Das arme Ding – sie ahnte nicht, welch drohendes, Unheil über ihrem eigenen Haupte schwebte. Der Lehrer, Herr Dobson, ein Mann in mittleren Jahren, hegte einen übertriebenen, unerfüllbaren Ehrgeiz in der Brust. Der Traum seines Lebens war gewesen, ein Arzt zu werden, seine Armut aber hatte es gefügt, daß nur ein Volksschullehrer aus ihm wurde. Jeden Tag griff er, wenn die verschiedenen Klassen beschäftigt waren, zu einem geheimnisvollen Buche, in das er sich eifrig vertiefte. Dasselbe hielt er strenge unter Schloß und Riegel. Jedes seiner Schulkinder brannte vor Neugierde, einmal einen Blick hineinwerfen zu können, nie aber wollte sich die Gelegenheit hierzu bieten. Jedes der Kinder, Knaben und Mädchen, hatte seine eigene Ansicht über das Buch, aber niemals war es gelungen, Näheres zu erfahren. Als eben Becky an der offenen Tür des Zimmers vorüberhuschte, bemerkte sie, daß der Schlüssel des Pultes steckte. Das war ein köstlicher Moment, der ausgenutzt werden mußte. Sie blickte sich rasch um und sah sich ganz unbeobachtet; im nächsten Augenblick hielt sie das Buch in Händen. Das Titelblatt: »Anatomie von Professor Soundso«, diente nicht dazu, sie über den Inhalt aufzuklären, so begann sie denn hastig die Blätter umzuwenden. Gleich zu Anfang kam sie auf ein wundervoll koloriertes Bild, – eine menschliche Figur. – Im selben Moment fiel ein Schatten auf das Buch, Tom Sawyer trat zur Türe herein und erhaschte noch einen Blick auf das Bild. Hastig wollte Becky das Buch schließen, hatte aber in ihrer Aufregung das Unglück, das Bild von oben bis beinahe zur Mitte durchzureißen. Das Buch flog ins Pult, sie drehte den Schlüssel um und brach in bitteres Schluchzen aus vor Scham und Ärger.

»Tom Sawyer,« rief sie, »du bist doch so gemein wie du nur sein kannst. Einen so zu überfallen und auszuspionieren, was man tut!«

»Wie konnt ich denn wissen, was du dir zu schaffen machst?«

»Du solltest dich vor dir selber schämen, Tom Sawyer; jetzt wirst du hingehen und mich verklatschen beim Lehrer und – Herr du mein Gott, was fang ich an? Ich bin noch niemals geschlagen worden in der Schule und heut – heut haut mich der Lehrer sicherlich durch.«

Dann, als Tom nichts antwortete, stampfte sie mit dem kleinen Fuße auf und rief:

»Na, dann sei so gemein und verrat mich, wenn dir’s Spaß macht. Aber wart, dir blüht auch nichts Gutes, denk nur an mich – niederträchtig – niederträchtig!« Und mit einem erneuten Strom von Tränen stürzte sie davon.

Tom stand ordentlich betäubt ob solch vulkanischen Ausbruchs. Dann sagte er zu sich selber:

»Was so ’n Mädel für eine Närrin ist! Noch niemals Prügel gekriegt! Herrgott, was liegt mir an einer Tracht mehr oder weniger? So sind aber die Mädels, so dünnfellig und hasenfüßig. Es fällt mir gar nicht ein, sie zu verklatschen, aber ’s kommt doch heraus. Der alte Dobson wird natürlich fragen, wer’s war, und wenn keiner antwortet, fragt er einen nach dem anderen, dann merkt er’s schon am Gesicht. So’n Mädel verrät sich immer selber, da ist keine Schneid drin. Die Sache ist kritisch für das arme Ding, die Becky, kriegen tut sie’s, da ist kein Zweifel. Na, mir kann’s recht sein, die säh mich auch von Herzen gern in derselben Klemme. Mag sie zusehen, wie sie’s ausbadet!«

Tom gesellte sich dem Haufen der lärmenden Kameraden draußen wieder zu; bald darauf erschien der Lehrer und der Unterricht begann. Die Studien zogen Tom nicht sehr an. Jedesmal, wenn er zu den Mädchen hinübersah, beunruhigte ihn Beckys Gesichtchen. Genau genommen, hatte er gar keine Ursache, sie zu bemitleiden, und doch, mochte er tun was er wollte, er konnte sich des Mitleids nicht erwehren. Jetzt entdeckte der Lehrer das besudelte Lesebuch, wodurch Toms ganze Aufmerksamkeit für seine eigenen Angelegenheiten in Anspruch genommen wurde. Das rüttelte auch Becky aus ihrer Gramversunkenheit auf und sie folgte den Vorgängen mit großer Aufmerksamkeit. Sie glaubte nicht, daß Tom imstande sein werde, sich herauszulügen, und sie hatte recht. Sein Leugnen schien die Dinge für ihn nur zu verschlimmern. Als dann die Verhandlung den Höhepunkt erreichte, trieb es sie förmlich, aufzuspringen und Alfred Tempel anzugeben, doch zwang sie sich zur Ruhe, denn sie sagte sich: Tom klatscht doch, daß ich das Bild zerrissen hab. Ich sag kein Wort und wenn’s ihm ans Leben geht.«

Tom steckte seine Prügel ein und schritt auf seinen Platz zurück, durchaus nicht niedergeschlagen. Er dachte selber, es sei möglich, daß er die Tinte übers Buch geschüttet, ohne es zu wissen, dergleichen konnte ja passieren. Geleugnet hatte er’s überhaupt nur der Form halber und weil’s so Sitte war; dann hatte er aus Prinzip dabei beharrt.

Eine ganze Stunde verstrich; nickend saß der Lehrer auf seinem Throne, das Summen der vor sich hin murmelnden, lernenden Kinder wirkte einschläfernd. Allmählich rappelte sich Herr Dobson in die Höhe, gähnte, schloß sein Pult auf, griff nach seinem Buch und fingerte dran herum, unentschieden, ob er es nehmen solle oder nicht. Schläfrig sahen die Schüler nach ihm hin, zwei derselben verfolgten sein Tun mit gespannten Blicken. Noch immer schien Herr Dobson nicht entschieden; endlich nahm er das Buch zur Hand und lehnte sich in seinen Stuhl zurück, um zu lesen.

Tom warf einen raschen Blick auf Becky. Diese starrte um sich wie ein gehetztes Reh, das den todbringenden Lauf auf sich gerichtet sieht, so hilflos, so verzweifelt. Im Moment war aller Groll dahin. Etwas mußte geschehen, aber sofort, mit Blitzesschnelle, sonst war’s zu spät. Doch die dringende Nähe der Gefahr schien seine Erfindungsgabe völlig zu lähmen. Wenn er nun hinstürzte, dem Lehrer das Buch entriß, damit die Flucht ergriff? Eine einzige Sekunde überlegte er und – hin war die Gelegenheit, der Lehrer öffnete das Buch. Wäre nur der verlorene Moment noch einmal zu erhaschen, Tom fühlte sich jetzt zu allem fähig. Zu spät! Becky war nicht mehr zu helfen. Im nächsten Moment traf des Lehrers Auge die aufschauenden Schüler, die Augen senkten sich vor seinem Blick, es lag ein Etwas drin, das selbst den Unschuldigsten unter ihnen mit Scheu und Furcht erfüllte. Eine Pause entstand, während welcher man wohl bis zehn zählen konnte. Der Lehrer schien Kraft sammeln zu müssen. Dann kam’s:

»Wer hat dieses Buch zerrissen?«

Kein Laut. Man hätte eine Stecknadel zu Boden fallen hören können. Die beängstigende Stille dauerte an. Auf einem Gesicht nach dem anderen suchte der Lehrer die Zeichen der Schuld.

»Benjamin Rogers, hast du das Buch zerrissen?«

Verneinung. Eine weitere Pause.

»Joe Harper, du?«

Erneute Verneinung. Toms Unbehagen stieg und stieg unter der langsamen Qual dieses Verfahrens. Der Lehrer ließ den Blick über die Reihen der Knaben schweifen, überlegte eine Weile und wandte sich dann den Mädchen zu:

»Anny Lorenz?«

Ein Schütteln des Kopfes.

»Grace Miller?«

Dasselbe Zeichen.

»Susanne Harper?«

Erneute Verneinung. Das nächste Mädchen war Becky. Tom zitterte vom Kopf bis zu den Füßen vor Aufregung; er empfand die ganze Hoffnungslosigkeit der Lage.

»Rebekka Thatcher« – (Tom sah, daß ihr Gesicht vor Entsetzen blaß war wie der Tod) – »hast du – nein sieh mich an – (sie hob die Hände in stummem Flehen) hast du dies Buch zerrissen?«

Ein Gedanke schoß wie ein Blitz durch Toms Gehirn. Er sprang auf und rief laut in die herrschende Stille hinein:

»Ich hab’s getan.«

Sprachlos ob solcher unerhörten, unglaublichen Tollheit starrten ihn aller Augen an. Tom stand einen Moment regungslos da, um seine etwas aus der Fassung geratenen Lebensgeister zu sammeln, und als er dann nach dem Katheder schritt, seine Strafe in Empfang zu nehmen, strahlten ihm aus Beckys Augen Überraschung, Dankbarkeit, Anbetung in solch reichem Maße entgegen, daß sie ihn für hundert vollwichtiger Trachten Prügel hätten entschädigen können. Begeistert durch den Edelmut seiner eigenen Tat entschlüpfte ihm auch nicht der leiseste Schrei bei der nun folgenden Züchtigung, der unbarmherzigsten, die Herr Dobson in seinem Leben austeilte. Ja, als der Lehrer die Strafe noch durch zwei Stunden Nachsitzen verschärfte, nahm Tom auch dies mit dem äußersten Gleichmut hin, wußte er doch, wer außerhalb der Schulmauern auf ihn warten und jede Minute bis zu seiner Befreiung aus der Gefangenschaft zählen würde.

Am Abend desselben Tages ging Tom zu Bett, von finsteren Racheplänen gegen Alfred Tempel erfüllt. Becky hatte ihm voller Reue und Scham alles eingestanden, ja selbst ihre eigene Verräterei nicht verschwiegen. Der Durst nach Rache aber wich bald milderen Gefühlen, lieblicheren Bildern, und Tom fiel in Schlaf, während ihm Beckys letzte Worte noch träumerisch süß im Ohre nachklangen:

»Tom, wie konntest du so edel sein?«

Zweites Kapitel.

Tom streicht einen Zaun.

Zweites Kapitel.

Der Sonnabend Morgen tagte, die ganze sommerliche Welt draußen war sonnig und klar, sprudelnd von Leben und Bewegung. In jedem Herzen schien’s zu klingen und zu singen, und wenn das Herz jung war, trat der Klang unversehens auf die Lippen. Freude und Lust malte sich in jedem Antlitz, jeder Schritt war beflügelt. Die Akazien blühten und erfüllten mit ihrem köstlichen Duft rings alle Lüfte.

Tom erschien auf der Bildfläche mit einem Eimer voll Tünche und einem langstieligen Pinsel. Er stand vor dem Zaun, besah sich das zukünftige Feld seiner Tätigkeit und es war ihm, als schwände mit einem Schlage alle Freude aus der Natur. Eine tiefe Schwermut bemächtigte sich seines ahnungsvollen Geistes. Dreißig Meter lang und neun Fuß hoch war der unglückliche Zaun! Das Leben schien ihm öde, das Dasein eine Last. Seufzend tauchte er den Pinsel ein und fuhr damit über die oberste Planke, wiederholte das Manöver einmal und noch einmal. Dann verglich er die unbedeutende übertünchte Strecke mit der Riesenausdehnung des noch ungetünchten Zaunes und ließ sich entmutigt auf ein paar knorrigen Baumwurzeln nieder. Jim, der kleine Nigger, trat singend und springend aus dem Hoftor mit einem Holzeimer in der Hand. Wasser an der Dorfpumpe holen zu müssen, war Tom bis jetzt immer gründlich verhaßt gewesen, in diesem Augenblick dünkte es ihn die höchste Wonne. Er erinnerte sich, daß man dort immer Gesellschaft traf; Weiße, Mulatten und Niggerjungen und Mädchen waren da stets zu finden, die warteten, bis die Reihe an sie kam und sich inzwischen ausruhten, mit allerlei handelten oder tauschten, sich zankten, rauften, prügelten und dergleichen Kurzweil trieben. Auch durfte man Jim mit seinem Eimer Wasser nie vor Ablauf einer Stunde zurückerwarten, obgleich die Pumpe kaum einige hundert Schritte vom Haus entfernt war und selbst dann mußte gewöhnlich noch nach ihm geschickt werden. Ruft also Tom:

»Hör‘, Jim, ich will das Wasser holen, streich‘ du hier ein bißchen an.«

Jim schüttelte den Dickkopf und sagte:

»Nix das können, junge Herr Tom, Alte Tante sagen, Jim sollen nix tun andres als Wasser holen, sollen ja nix anstreichen. Sie sagen, junge Herr Tom wohl werden fragen Jim, ob er wollen anstreichen, aber er nix sollen es tun – ja nix sollen es tun.«

»Ach was, Jim, laß dir nichts weismachen, so redet sie immer. Her mit dem Eimer, ich bin gleich wieder da. Sie merkt’s noch gar nicht.«

»Jim sein so bange, er’s nix wollen tun. Alte Tante sagen, sie ihm reißen Kopf ab, wenn er’s tun.«

»Sie! O Herr Jemine, die kann ja gar niemand ordentlich durchhauen, – die fährt einem ja nur mit der Hand über den Kopf, als ob sie streicheln wollte, und ich möcht‘ wissen, wer sich daraus was macht. Ja, schwatzen tut sie von durchhauen und allem, aber schwatzen tut nicht weh, – das heißt, solang sie nicht weint dazu. Jim, da, ich schenk dir auch ’ne große Murmel, – da und noch ’nen Gummi dazu!«

Jim schwankte.

»’nen Gummi, Jim, und was für ein Stück, sieh mal her!«

»O, du meine alles! Sein das prachtvoll Stück Gummi. Aber, junge Herr Tom, Jim sein so ganz furchtbar bange vor alte Tante!«

Jim aber war auch nur ein schwacher Mensch, – diese Versuchung erwies sich als zu stark für ihn. Er stellte seinen Eimer hin und streckte die Hand nach dem verlockenden Gummi aus. Im nächsten Moment flog er jedoch, laut aufheulend, samt seinem Eimer die Straße hinunter, Tom tünchte mit Todesverachtung drauflos und Tante Polly zog sich stolz vom Schlachtfeld zurück, Pantoffel in der Hand, Triumph im Auge.

Toms Eifer hielt nicht lange an. Ihm fiel all das Schöne ein, das er für diesen Tag geplant, und sein Kummer wuchs immer mehr. Bald würden sie vorüber schwärmen, die glücklichen Jungen, die heute frei waren, auf die Berge, in den Wald, zum Fluß, überall hin, wo’s schön und herrlich war. Und wie würden sie ihn höhnen und auslachen und verspotten, daß er dableiben und arbeiten mußte, – schon der Gedanke allein brannte ihn wie Feuer. Er leerte seine Taschen und musterte seine weltlichen Güter, – alte Federn, Glas- und Steinkugeln, Marken und sonst allerlei Kram. Da war wohl genug, um sich dafür einen Arbeitstausch zu verschaffen, aber keineswegs genug, um sich auch nur eine knappe halbe Stunde voller Freiheit zu erkaufen. Seufzend wanderten die beschränkten Mittel wieder in die Tasche zurück und Tom mußte wohl oder übel die Idee fahren lassen, einen oder den andern der Jungen zur Beihilfe zu bestechen. In diesem dunkeln, hoffnungslosen Moment kam ihm eine Eingebung! Eine große, eine herrliche Eingebung! Er nahm seinen Pinsel wieder auf und machte sich still und emsig an die Arbeit. Da tauchte Ben Rogers in der Entfernung auf, Ben Rogers, dessen Spott er von allen gerade am meisten gefürchtet hatte. Ben’s Gang, als er so daherkam, war ein springender, hüpfender kurzer Trab, Beweis genug, daß sein Herz leicht und seine Erwartungen hochgespannt waren. Er biß lustig in einen Apfel und ließ dazu in kurzen Zwischenpausen ein langes, melodisches Geheul ertönen, dem allemal ein tiefes gezogenes ding–dong–dang, ding–dong–dang folgte. Er stellte nämlich einen Dampfer vor. Als er sich Tom näherte, gab er Halbdampf, hielt sich in der Mitte der Straße, wandte sich stark nach Steuerbord und glitt drauf in stolzem Bogen dem Ufer zu, mit allem Aufwand von Pomp und Umständlichkeit, denn er stellte nichts Geringeres vor als den »Großen Missouri« mit neun Fuß Tiefgang. Er war Schiff, Kapitän, Mannschaft, Dampfmaschine, Glocke, alles in allem, stand also auf seiner eigenen Schiffsbrücke, erteilte Befehle und führte sie aus.

»Halt, stoppen! Klinge–linge–ling.« Der Hauptweg war zu Ende und der Dampfer wandte sich langsam dem Seitenweg zu. »Wenden! Klingelingeling!« Steif ließ er die Arme an den Seiten niederfallen. »Wenden, Steuerbord! Klingelingeling! Tschu! tsch – tschu – u – tschu!«

Nun beschrieb der rechte Arm große Kreise, denn er stellte ein vierzig Fuß großes Rad vor. »Zurück, Backbord! Klingelingeling! Tschu–tsch–tschu–u–sch!« Der linke Arm begann nun Kreise zu beschreiben. »Steuerbord stoppen! Lustig, Jungens! Anker auf – nieder! Klingeling! Tsch–tschuu–tschtu! Los! Maschine stoppen! He, Sie da! Scht–sch–tscht!« (Ausströmen des Dampfes.)

Tom tünchte währenddessen und ließ den Dampfer Dampfer sein, Ben starrte ihn einen Augenblick an und grinste dann:

»Hi–hi! Festgenagelt – äh?«

Keine Antwort, Tom schien seinen letzten Strich mit dem Auge eines Künstlers zu prüfen, dann fuhr er zart mit dem Pinsel noch einmal drüber und übersah das Resultat in derselben kritischen Weise wie zuvor. Ben marschierte nun neben ihm auf. Toms Mund wässerte nach dem Apfel, er hielt sich aber tapfer an die Arbeit. Sagt Ben:

»Hallo, alter Junge, Strafarbeit, ja?«

»Ach, du bist’s, Ben, ich hab‘ gar nicht aufgepaßt!«

»Hör du, ich geh schwimmen, willst du vielleicht mit? Aber gelt, du arbeitst lieber, natürlich, du bleibst viel lieber da, gelt?«

Tom maß ihn erstaunt von oben bis unten.

»Was nennst du eigentlich arbeiten?«

»W–was? Ist das keine Arbeit?«

Tom tauchte seinen Pinsel wieder ein und bemerkte gleichgültig:

»Vielleicht – vielleicht auch nicht! Ich weiß nur soviel, daß das dem Tom Sawyer paßt.«

»Na, du willst mir doch nicht weismachen, daß du’s zum Vergnügen tust?«

Der Pinsel strich und strich.

»Zum Vergnügen? Na, seh‘ nicht ein, warum nicht. Kann unsereiner denn alle Tag ’nen Zaun anstreichen?«

Das warf nun ein neues Licht auf die Sache. Ben überlegte und knupperte an seinem Apfel. Tom fuhr sachte mit seinem Pinsel hin und her, trat dann zurück, um die Wirkung zu prüfen, besserte hier und da noch etwas nach, prüfte wieder, alles ohne sich im geringsten um Ben zu kümmern. Dieser verfolgte jede Bewegung, eifriger und eifriger mit steigendem Interesse. Sagt er plötzlich:

»Du, Tom, laß mich ein bißchen streichen!«

Tom überlegte, schien nachgeben zu wollen, gab aber diese Absicht wieder auf: »Nein, nein, das würde nicht gehen, Ben, wahrhaftig nicht. Weißt du, Tante Polly nimmt’s besonders genau mit diesem Zaun, so dicht bei der Straße, siehst du. Ja, wenn’s irgendwo dahinten wär‘, da lag nichts dran, – mir nicht und ihr nicht – so aber! Ja, sie nimmt’s ganz ungeheuer genau mit diesem Zaun, der muß ganz besonders vorsichtig gestrichen werden, – einer von hundert Jungen vielleicht, oder noch weniger, kann’s so machen, wie’s gemacht werden muß.«

»Nein, wirklich? Na, komm, Tom, laß mich’s probieren, nur ein ganz klein bißchen. Ich ließ dich auch dran, Tom, wenn ich’s zu tun hätte!«

»Ben, wahrhaftig, ich tät’s ja gern, aber Tante Polly – Jim hat’s tun wollen und Sid, aber die haben’s beide nicht gedurft. Siehst du nicht, wie ich in der Klemme stecke? Wenn du nun anstreichst und ’s passiert was und der Zaun ist verdorben, dann–«

»Ach, Unsinn, ich will’s schon rechtmachen. Na, gib her, – wart‘, du kriegst auch den Rest von meinem Apfel; ’s ist freilich nur noch der Butzen, aber etwas Fleisch sitzt doch noch drum.«

»Na, denn los! Nein, Ben, doch nicht, ich hab‘ Angst, du –«

»Da hast du noch ’nen ganzen Apfel dazu!« Tom gab nun den Pinsel ab. Widerstreben im Antlitz, Freude im Herzen. Und während der frühere Dampfer »Großer Missouri« im Schweiße seines Angesichts drauflos strich, saß der zurückgetretene Künstler auf einem Fäßchen im Schatten dicht dabei, baumelte mit den Beinen, verschlang seinen Apfel und brütete über dem Gedanken, wie er noch mehr Opfer in sein Netz zöge. An Material dazu war kein Mangel. Jungen kamen in Menge vorüber. Sie kamen, um zu spotten und blieben, um zu tünchen! Als Ben müde war, hatte Tom schon Kontrakt gemacht mit Billy Fischer, der ihm einen fast neuen, nur wenig geflickten Drachen bot. Dann trat Johnny Miller gegen eine tote Ratte ein, die an einer Schnur zum Hin- und Herschwingen befestigt war und so weiter und so weiter, Stunde um Stunde. Und als der Nachmittag zur Hälfte verstrichen, war aus Tom, dem mit Armut geschlagenen Jungen mit leeren Taschen und leeren Händen, ein im Reichtum förmlich schwelgender Glücklicher geworden. Er besaß außer den Dingen, die ich oben angeführt, noch zwölf Steinkugeln, eine freilich schon etwas stark beschädigte Mundharmonika, ein Stück blaues Glas, um die Welt dadurch zu betrachten, ein halbes Blasrohr, einen alten Schlüssel und nichts damit aufzuschließen, ein Stück Kreide, einen halb zerbrochenen Glasstöpsel von einer Wasserflasche, einen Bleisoldaten, ein Stück Seil, sechs Zündhütchen, ein junges Kätzchen mit nur einem Auge, einen alten messingnen Türgriff, ein Hundehalsband ohne Hund, eine Messerklinge, vier Orangenschalen und ein altes, wackeliges Stück Fensterrahmen, Dazu war er lustig und guter Dinge, brauchte sich gar nicht weiter anzustrengen die ganze Zeit über und hatte mehr Gesellschaft beinahe, als ihm lieb war. Der Zaun wurde nicht weniger als dreimal vollständig überpinselt, und wenn die Tünche im Eimer nicht ausgegangen wäre, hätte er zum Schluß noch jeden einzelnen Jungen des Dorfes bankrott gemacht.

Unserm Tom kam die Welt gar nicht mehr so traurig und öde vor. Ohne es zu wissen, hatte er ein tief in der menschlichen Natur wurzelndes Gesetz entdeckt, die Triebfeder zu vielen, vielen Handlungen. Um das Begehren eines Menschen, sei er nun erwachsen oder nicht, – das Alter macht in dem Fall keinen Unterschied – also, um eines Menschen Begehren nach irgend etwas zu erwecken, braucht man ihm nur das Erlangen dieses »etwas« schwierig erscheinen zu lassen. Wäre Tom ein gewiegter, ein großer Philosoph gewesen, wie zum Beispiel der Schreiber dieses Buches, er hatte daraus gelernt, wie der Begriff von Arbeit einfach darin besteht, daß man etwas tun muß, daß dagegen Vergnügen das ist, was man freiwillig tut. Er würde verstanden haben, warum künstliche Blumen machen oder in einer Tretmühle gehen »Arbeit« heißt, während Kegelschieben im Schweiße des Angesichts oder den Montblanc erklettern lediglich als Vergnügen gilt. Ja, ja, wer erklärt diese Widersprüche in der menschlichen Natur!

Zehntes Kapitel.

Der Mord. – Ein schlechtes Gewissen.

Zehntes Kapitel.

Kurz vor der Mittagsstunde durchzuckte das ganze Städtchen plötzlich wie ein elektrischer Schlag die grausige Kunde. Es bedurfte nicht des Telegraphen, von dem man sich damals überhaupt noch nichts träumen ließ; die Nachricht flog von Mund zu Mund, von Gruppe zu Gruppe, von Haus zu Haus mit kaum geringerer Schnelle als der elektrische Funke. Natürlich gab der Lehrer für den Nachmittag frei, man würde ihm das Gegenteil sehr verdacht haben. Ein blutiges Messer war dicht bei dem Gemordeten gefunden worden und jemand hatte es als dem Muff Potter gehörig erkannt, so lautete die Erzählung. Auch sollte ein Bürger, der sich verspätet hatte, auf Potter gestoßen sein, wie der sich im Bache wusch, gegen ein oder zwei Uhr morgens, und als er sich bemerkt sah, eiligst davonschlich, – lauter verdächtige Momente, namentlich das Waschen, was für gewöhnlich sehr gegen Potters Art war. Die ganze Stadt, so sagte man, sei schon abgesucht worden nach dem »Mörder« (das Publikum ist schnell bei der Hand mit Beweis und Urteilsspruch), er sei aber nirgends zu finden. Reiter waren nach jeder Richtung abgesandt und der Sheriff war überzeugt, daß man ihn noch vor Einbruch der Nacht einfangen werde.

Die ganze Stadt wallfahrtete nach dem Friedhof. Toms Herzensnot schwand; er schloß sich dem Zuge an, nicht, daß er nicht tausendmal lieber wo anders gewesen wäre – aber eine unheimliche, unerklärliche Zauberkraft lockte und zog ihn dorthin. Am Schreckensorte angekommen, schob und zwängte er seine kleine Person durch die dichte Menge und stand bald vor dem gräßlichen Schauspiel. Es schien ihm ein Menschenalter her, seit sein Blick zuletzt darauf geruht. Jemand zwickte ihn am Arm. Er wandte sich und seine Augen trafen die Huckleberrys. Wie auf Kommando sahen dann beide nach entgegengesetzter Richtung, voll Angst, jemand könne den Blick bemerkt haben, den sie sich zugeworfen. Jedermann aber schwatzte in unterdrücktem Flüsterton und hatte genug zu tun mit dem furchtbar schauerlichen Ereignis, dessen Schauplatz man umstand.

»Armer Bursche!« Armer junger Mensch!« »Dies sollten alle Leichenräuber sich zur Lehre dienen lassen!« »Muff Potter muß baumeln dafür, wenn sie ihn erwischen!« So etwa lauteten die Bemerkungen, die fielen. Der Geistliche aber sagte: »Das war ein Gottesgericht, – hier sehen wir die Hand des Herrn.«

Tom zitterte vom Kopf bis zu den Füßen, denn sein Blick war auf das stumpfsinnige Gesicht des Indianer-Joe gefallen. Im selben Moment begann die Menge zu schwanken und zu drängen und einzelne Stimmen riefen: »Da ist er, da ist er, dort kommt er selber!«

»Wer? Wer?« fragten zwanzig andere dagegen.

»Muff Potter!«

»Na, jetzt halten sie ihn an! Er dreht um – haltet, haltet fest, laßt ihn nicht durchbrennen!«

Leute, die in den Ästen der Bäume saßen, über Toms Kopf, meinten, Muff versuche gar nicht zu entrinnen, – er sehe nur ganz dumm und verblüfft aus.«

»Verdammte Frechheit das!« sagte einer, »wollte sich wohl noch ‚mal in Ruhe sein Werk beschauen; dachte nicht, Gesellschaft zu finden!«

Die Menge teilte sich nun und der Sheriff schritt mit großartiger Wichtigkeit in Blick und Miene hindurch, Muff Potter am Arme haltend. Des armen Burschen Gesicht sah ordentlich eingefallen aus und aus den Augen starrte das Entsetzen, das ihn gebannt hielt. Als er vor dem Gemordeten stand, schüttelte es ihn wie ein Krampf, er barg das Gesicht in den Händen und brach in Tränen aus.

»Ich hab’s wahrhaftig nicht getan, Freunde, schluchzte er, »auf mein Ehrenwort, ich hab’s nicht getan.«

»Wer hat dich denn beschuldigt?« schrie eine Stimme.

Der Schuß traf. Potter erhob die Augen und ließ sie in die Runde gehen, qualvollste Hoffnungslosigkeit im Blick. Da sah er den Indianer-Joe und rief:

»Ach, Joe, und du hast doch versprochen, daß du nie –« »Ist dies hier Euer Messer?« Damit schob ihm der Sheriff das Mordwerkzeug unter die Nase.

Potter wäre gefallen, wenn man ihn nicht aufgefangen und sachte zu Boden hätte gleiten lassen. Dann stöhnte er:

»Hab’s mir doch gedacht, wenn ich nicht käme und das – Messer –« Ein Schauder überlief ihn, dann winkte er mit der kraftlosen Hand dem Indianer-Joe und flüsterte tonlos:

»Sag’s ihnen, Joe, sag’s ihnen, alles – ’s ist ja doch umsonst.«

Huckleberry und Tom hörten nun stumm und starr, wie der hartherzige Mörder in heiterster Ruhe Zeugnis ablegte. Mit jedem Moment erwarteten sie, daß der klare Himmel sich öffnen und der gerechte Gott seine Zornesblitze auf das Haupt des ruchlosen Lügners schleudern müsse; jeder weitere Moment der Verzögerung des Gerichtes erregte ihr größtes Staunen. Und als er geendet hatte und noch lebend und unversehrt vor ihnen stand, schwand der leise in ihrer Seele flackernde Trieb wieder, den geschworenen Eid zu brechen und des armen Gefangenen Leben zu retten. Solch ein Missetäter, wie Joe, mußte sich ja, das war ihnen jetzt gänzlich klar, dem Teufel verschrieben haben. Sich mit dieser Macht aber in einen Kampf um deren berechtigtes Eigentum einzulassen, konnte allzu verhängnisvoll werden.

»Warum machtest du dich nicht davon? Weshalb kamst du hierher zurück?« fragte einer den mutmaßlichen Mörder.

»Ich konnt nicht anders, konnt nicht anders,« stöhnte dieser. »Ich hab ja durchgehen wollen, aber ’s hat mich immer wieder hierhergetrieben.« Und wieder schluchzte er herzbrechend.

Nochmals wiederholte der Indianer-Joe seine Aussage ebenso ruhig und bekräftigte dieselbe endlich ein paar Minuten später bei der Totenschau. Da immer noch keine Blitze herniederfuhren, sahen die Jungen ihren Glauben bestätigt, daß Joe sich dem leibhaftigen Gottseibeiuns verkauft habe. Er wurde ihnen nun zum Gegenstand des schauerlichsten, unheimlichsten Interesses, wie sie es bis dahin noch niemals empfunden, und ihre Blicke hingen wie gebannt an seinem Antlitz. Sie beschlossen innerlich, ihm nachzuspüren, des Nachts namentlich, wenn sich ihnen Gelegenheit dazu böte, in der stillen Hoffnung, einen verstohlenen Blick auf seinen schauerlichen Herrn und Meister tun zu können.

Der Indianer-Joe half die Leiche des Gemordeten auf einen Wagen heben, der dieselbe wegbringen sollte, und es ging ein Flüstern durch die Menge, daß die Wunde dabei leicht zu bluten begonnen. Huck und Tom hofften schon, dieser glückliche Umstand möchte den Verdacht auf die richtige Fährte lenken und fühlten sich daher sehr enttäuscht, als einer der Zuschauer bemerkte:

»Kein Wunder! Drei Schritt davon war ja der Potter, da hat’s freilich bluten müssen!« –

Toms schreckliches Geheimnis und sein nagendes Gewissen störten ihm den Schlaf für länger als eine Woche nach diesem Vorfall. Eines Morgens beim Frühstück sagte Sid:

»Tom, du wirfst dich immer so herum und schwatzest so laut im Traum, daß ich die halbe Nacht nicht schlafen kann.«

Tom erbleichte und senkte die Augen.

»Das ist ein schlimmes Zeichen,« meinte Tante Polly ernst. »Was hast du auf dem Herzen, Tom?«

»Nichts, Tante, ich weiß von nichts,« Aber des Jungen Hand zitterte so, daß er den Kaffee verschüttete. »Und so dummes Zeug redst du,« fuhr Sid fort. »Heute Nacht hast du gesagt: ›Blut ist’s, Blut und gar nichts anderes!‹ Und das hast du immer und immer wieder gesagt. Und dann hast du auch gesagt: ›Quäl mich doch nicht so – ich will’s ja gestehen.‹ Was gestehen? Was willst du denn gestehen?«

Vor Toms Augen schwamm alles. Es läßt sich kaum ausdenken, was nun hatte geschehen können, wäre nicht plötzlich der forschende Blick aus Tante Pollys Auge geschwunden und sie Tom, ohne es zu wissen, zu Hilfe gekommen, indem sie ausrief:

»Na, natürlich! ’s ist der grausige Mord, der ihm zu schaffen macht. Mir geht’s grad auch so. Ich träume jede Nacht davon. Ich hab schon geträumt, ich wär’s selber gewesen!«

Mary sagte, ihr ginge es gerade auch so und Sid schien damit zufriedengestellt. Tom entzog sich den Blicken der Seinen, sobald er irgend konnte, beklagte sich danach über Zahnweh eine Woche lang und band sich ein dickes Tuch um Mund und Kinnlade jede Nacht. Er wußte nicht, daß Sid ihn allnächtlich belauerte, zuweilen selbst die Binde lockerte, sich auf die Ellenbogen stützte, über ihn beugte und lange, lange lauschte, worauf er vorsichtig das Tuch an die alte Stelle zurückschob. Toms Furcht und Angst verlor sich allmählich, der ewige Zahnschmerz wurde langweilig und daher fallen gelassen. Wenn es Sid wirklich gelungen war, aus Toms unzusammenhängendem Gemurmel sich einen Vers zu machen, so behielt er alles für sich. – Es war Tom, als ob seine Schulkameraden es niemals satt bekommen könnten, gerichtliche Totenschau zu halten über tote Katzen und dergleichen. Sid fiel es dabei auf, daß Tom niemals die Rolle des Leichenbeschauers zu übernehmen trachtete, obgleich er sonst gewohnt war, Anführer bei jeder neuen Unternehmung zu sein. Er bemerkte auch, daß Tom auffallenderweise niemals als Zeuge auftrat, ja sogar eine entschiedene Abneigung gegen diese Art von Zeitvertreib an den Tag legte und sie mied, wo er nur irgend konnte. Sid wunderte sich, wie gesagt, darüber, erwähnte aber nichts. Endlich kamen denn auch die Totenschauen aus der Mode und hörten auf, Toms Gewissen zu beunruhigen.

Jeden Tag, oder einen Tag um den anderen, während dieser Zeit der Trübsal, nahm Tom die Gelegenheit wahr, sich an das kleine, vergitterte Kerkerfenster zu schleichen und dem »Mörder« allerlei kleine Trostgegenstände, deren er habhaft werden konnte, zuzuschmuggeln. Das Gefängnis war ein winzig kleiner Backsteinbau, der am Ende des Städtchens mitten in einem Sumpf stand. Wächter gab’s keine, Gefangene waren selten. Diese Opfergaben trugen sehr dazu bei, Toms Gewissen zu erleichtern.

Die Einwohner des Städtchens hatten große Lust, auch dem Indianer-Joe zuleibe zu gehen wegen des Leichenraubes. So furchtbar war aber sein Ruf, daß sich keiner fand, der sich dazu verstehen wollte, die Leitung der Sache zu übernehmen, und so ließ man es denn bleiben. Vorsichtigerweise hatte er in seinen beiden Aussagen gleich bei der Rauferei begonnen, ohne erst den beabsichtigten Leichenraub einzugestehen, der dieser vorangegangen war, und so hielt man es für das klügste, die Sache, einstweilen wenigstens, nicht vor Gericht zu bringen.

Elftes Kapitel.

Verschiedene Kuren. – Eine Enttäuschung.

Elftes Kapitel.

Eine der Ursachen, weshalb Toms innerer Mensch begann, sich von seinen geheimen Sorgen und Leiden abzuwenden, lag darin, daß ein neues und wichtiges Interesse alle seine Gedanken in Beschlag nahm, Becky Thatcher war aus der Schule fortgeblieben. Tom rang mit seinem Stolze ein paar Tage lang, versuchte, sich die Gedanken an sie aus dem Kopf zu schlagen; aber umsonst. Zu seinem eigenen Erstaunen betraf er sich selbst auf nächtlichen Streifereien um ihres Vaters Haus herum, wobei ihm ganz elend zumute war. Sie war krank. Wenn sie nun sterben müßte? Verzweiflung, Wahnsinn lag in dem Gedanken. Ihn lockte nichts mehr hienieden, kein Krieg, kein Seeräubertum. Die Sonne des Lebens war entschwunden, nur die qualvollste Finsternis geblieben. Er stellte seinen Reifen zur Seite zusamt dem Stock, an keinem Spielzeug konnte er mehr Freude haben. Tante Polly begann sich zu grämen, zu beunruhigen ob dieser Zeichen und setzte ihm mit allerhand Arzneien zu. Sie war eine von denen, die auf Patentmedizinen jeder Art schwören, die jegliche neue Methode, unfehlbare Gesundheit zu verleihen, oder die schadhaft gewordene auszuflicken, mit Enthusiasmus und nimmer wankendem Vertrauen begrüßen. Alles neu Auftauchende dieser Art mußte sofort probiert werden, es ließ ihr keine Ruhe, bis sie irgend jemanden entdeckt hatte, an dem das Experiment gemacht werden konnte, denn ihr selbst fehlte zu ihrem größten Leidwesen niemals etwas, das solchen Eingriff erfordert hätte. Sie war auf alle Zeitschriften für Gesundheitspflege abonniert und ihre harmlose Seele ergab sich gläubig dem krassesten Unsinn, der schwarz auf weiß, mit dem nötigen feierlichen Ernst vorgetragen, darin stand. All der theoretische Schnickschnack, den sie enthielten darüber, wie man zu Bett gehen müsse, wie aufstehen, was essen, was trinken, wie oft lüften, wieviel und welcher Art sich Bewegung schaffen, welcher Gemütsverfassung sich befleißigen, in was für Kleidung den äußeren Menschen stecken, all dieser Schwindel war ihr Evangelium und niemals fiel es ihr auf, daß die neuesten Nummern in der Regel das Gegenteil von dem empfahlen, was die früheren angepriesen hatten. Sie war so arglos und leichtgläubig wie ein Kind und ging ohne Zögern auf jeden Leim. So mit ihren Quacksalberschriften und Mittelchen bewaffnet, saß sie, – um ein bekanntes Bild zu gebrauchen – mit dem Sensenmann im Sattel auf dem fahlen Rosse, während dicht hinter ihr die Hölle einhertrabte. In ihrer schlichten Einfalt kam es ihr jedoch niemals in den Sinn, sie könne der leidenden Menschheit etwas anderes sein als ein heilender Engel des Trostes, der Balsam des Herrn in Person.

Kaltwasserkuren waren neu dazumal, und Toms leidender Zustand war Wasser auf ihre Mühle. Morgens mit Tagesgrauen holte sie ihn aus seinem Bett, schleppte ihn nach dem Holzschuppen und ertränkte ihn hier fast in einer Sintflut kalten Wassers, das sie über ihn ergoß. Dann raspelte sie ihn mit einem rauhen Tuche wie mit einer Feile ab, wobei er wieder zu sich selbst kam, rollte ihn in ein nasses Bettuch und stopfte ihn unter einen Berg von wollenen Decken, bis er sich die Seele fast aus dem Leibe geschwitzt hatte, so daß »deren gelbe Flecken zu den Poren herauskamen,« wie Tom sagte.

Aber all dieser gründlichen Behandlung zum Trotz wurde der Junge täglich schwermütiger, blasser, niedergeschlagener. Tante Polly fügte nun heiße Bäder bei, Sitzbäder, Duschen und Sturzbäder. Der Junge aber verharrte in seiner trübseligen Stimmung. Sie verstärkte nun die Wasserkur durch strenge Diät und Zugpflaster und füllte ihn, als ob er ein Krug gewesen wäre, alltäglich mit Wundertränken jeglicher Art bis zum Rande.

Tom ließ alles mit sich beginnen, er war gleichgültig geworden gegen jede Quälerei. Diese Phase seines Leidens erfüllte die Seele der alten Dame mit Bestürzung. Die beängstigende Gleichgültigkeit mußte gebrochen werden um jeden Preis. In dieser Krisis hörte sie zum erstenmal von einem Universal-Wundermittel, »Schmerzenstöter« genannt. Sie bestellte sofort einige Dutzend Flaschen, kostete und war von Dankbarkeit durchglüht, es schien einfach Feuer in flüssiger Form. Die Wasserbehandlung wurde nun eingestellt, zusamt allem anderen und »Schmerzenstöter« war hinfort die Losung. Tom bekam den ersten Löffel voll, und seine Tante erwartete in tiefster Seelenangst das Resultat. Ihrer Sorgen war sie augenblicklich ledig, Frieden zog in ihre Seele ein, der Bann der »Gleichgültigkeit« war gebrochen. Hätte sie ein Feuer unter ihm angezündet, der Junge hätte kein tolleres, kein urkräftigeres Interesse zeigen können.

Tom sah, daß die Zeit gekommen sei, sich aufzuraffen. Diese Art von Leben mochte ja ganz romantisch sein, war auf die Dauer aber nicht auszuhalten. Bei allem Überfluß an Abwechslung wurde es am Ende doch monoton. Er sann daher auf Änderung seiner Lage und verfiel schließlich darauf, eine leidenschaftliche Neigung für den »Schmerzenstöter« vorzugeben. Er verlangte so oft nach dem Wundertrank, daß er damit förmlich zur Plage wurde und seine Tante ihn schließlich anfuhr, er möge sich selber bedienen und sie in Ruhe lassen. Wäre es nun Sid gewesen, so hätte kein Schatten ihr Entzücken ob solch ungeahnten Erfolges getrübt, da es aber Tom war, beobachtete sie verstohlen die Flasche. Die Flüssigkeit verminderte sich in der Tat, ihr aber kam es niemals in den Sinn, daß der Junge die Gesundheit einer Spalte des Fußbodens im Eßzimmer damit kuriere.

Eines Tages war Tom eben wieder damit beschäftigt, der Spalte die gewohnte Dosis zu verabfolgen, als seiner Tante gelbe Katze daherkam, einen Buckel machte, schnurrte, und, gierigen Blickes den Löffel beäugelnd, um ein Pröbchen bettelte. Tom warnte:

»Bitt‘ nicht drum, Peter, wenn du’s nicht brauchst.«

Peter deutete an, daß er’s brauche.

»Überleg’s nochmal, Peter.«

Peter hatte überlegt und war seiner Sache gewiß.

»Also, Peter, du willst’s und du sollst’s auch haben, denn so bin ich nicht. Wenn’s dir aber nachher nicht schmeckt, so mach niemand ’nen Vorwurf, außer dir selber.«

Peter war einverstanden und so sperrte ihm Tom das Maul auf und goß den »Schmerzenstöter« hinunter. Peter sprang ein paar Meter hoch in die Luft, stieß dann ein gellendes Kriegsgeheul aus, fetzte wie toll im Zimmer herum, stieß gegen Möbelkanten, schmiß Blumentöpfe u. dergl, um und richtete eine allgemeine Verwüstung an. Zunächst erhob er sich auf die Hinterfüße, begann in wahnwitziger Verzücktheit zu tanzen, wobei er den Kopf über die Schultern zurückwarf und der Welt in schallenden Tönen seine Glückseligkeit kund und zu wissen tat. Dann fing der tolle Kreislauf von vorne an, Chaos und Verwüstung folgte seinen Spuren. Tante Polly trat eben noch zur Zeit durch die Türe, um zu sehen, wie Peter ein paar doppelte Purzelbäume schlug und, ein gewaltiges Schlußhurra ausstoßend, durch das offene Fenster segelte, wobei er den Rest der Blumentöpfe mit sich riß. Starr vor Staunen stand die alte Dame und sah ihm über ihre Brillengläser weg nach, Tom aber lag am Boden und wollte sich ausschütten vor Lachen.

»Tom, was zum Kuckuck fehlt der Katze?«

»Weiß ich doch nicht, Tante,« stieß der Junge, nach Luft schnappend, hervor.

»So was hab ich ja im Leben noch nicht gesehen. Was ist denn der Katze in den Leib gefahren?«

»Weiß ich wahrhaftig nicht, Tante. Die Katzen machen’s immer so, wenn’s ihnen wohl in der Haut ist.«

»So? Machen sie’s immer so?« Es war etwas in ihrem Ton, das Tom mit bangem Ahnen erfüllte.

»Ja, Tante, das heißt, ich – ich glaub wenigstens, daß sie’s so machen.«

»Du glaubst?«

»Ja–a– Tante.«

Die alte Dame bückte sich nieder, Tom beobachtete sie mit von Furcht geschärftem Interesse. Zu spät erriet er, wo sie hinaus wollte. Der Stil des verräterischen Löffels war eben noch sichtbar unter den Fransen der Tischdecke. Tante Polly griff danach und hielt ihn empor. Tom schien verlegen und senkte die Augen. Tante Polly hob ihn ohne Umstände an dem gewöhnlichen Henkel – seinem Ohr – zu sich herauf und gab ihm mit der freien Hand einen gesunden Klaps.

»Jetzt, Junge, gesteh, warum hast du der armen, unvernünftigen Kreatur so mitgespielt?«

»Ich – ich hab’s nur aus Mitleid getan, – Peter hat ja keine Tante.«

»Hat keine Tante! – du Dummkopf. Was hat denn das damit zu schaffen?«

»Alles. Denn wenn Peter ’ne Tante hätte, so hätt‘ ihn die gewiß ausgebrannt, hätt‘ ihm die Eingeweide geröstet bei lebendigem Leib, ohne sich mehr dabei zu denken, als wenn er ein Mensch gewesen wäre.«

Tante Polly fühlte plötzlich Gewissensbisse. Das zeigte die Sache in einem neuen Lichte. Was Grausamkeit gegen eine Katze war, konnte doch vielleicht auch Grausamkeit gegen einen Jungen sein. Sie begann weich zu werden, es tat ihr leid. Die Augen wurden ihr feucht, sie legte die Hand auf Toms Kopf und sagte sanft:

»Tom, ich hab’s nur gut gemeint und – es hat dir auch gut getan, Tom.«

Dieser sah ihr treuherzig ins Gesicht und nur ganz leise blitzte der Schelm ihm aus den Augen, als er im höchsten Ernste erwiderte:

»Ich weiß, daß du’s nur gut gemeint hast, Tantchen, ich hab’s aber auch mit dem Peter nur gut gemeint und dem hat’s auch gut getan, im Leben ist er noch nicht so hübsch herumgefahren –«

»Ach, heb dich fort, Tom, eh du mich wieder bös machst. Und probier’s doch mal, ob du nicht einmal ein braver Junge sein kannst; und – Medizin brauchst du keine mehr zu nehmen.«

Tom kam vor der Zeit zur Schule. Man wollte beobachtet haben, daß dies Außergewöhnliche in der letzten Zeit ganz regelmäßig stattgefunden. Auch heute wieder, wie gewöhnlich seit kurzem, trieb er sich am Tore des Schulhofes herum, anstatt wie sonst mit seinen Kameraden zu spielen. Er sei krank, sagte er, und sah auch so aus. Er versuchte den Anschein zu erwecken, als schaue er überall anders hin, als gerade da, wohin er wirklich schaute, – den Schulweg hinunter. Jetzt tauchte Jeff Thatcher am Horizonte auf, und Toms Antlitz erhellte sich. Einen Moment starrte er hin, um sich dann voll Trauer abzuwenden. Als Jeff herankam, redete ihn Tom an, suchte listig das Gespräch auf Becky zu lenken, Jeff aber, der einfältige Kerl, wollte niemals den Köder sehen und anbeißen.

Tom schaute und schaute, – voller Hoffnung, wenn wieder ein wehender Mädchenrock auftauchte und voll Grimm, wenn dann die Eigentümerin desselben die Erwartete nicht war. Zuletzt kamen keine Röcke mehr und hoffnungslos sank er in sein dumpfes Brüten zurück. Er betrat allein, vor den anderen, das leere Schulhaus und setzte sich nieder, um weiter zu dulden. Da trat noch ein verspäteter Rock durchs Tor, hoch auf schlug Toms Herz in Wonne und Entzücken. Im nächsten Moment war er draußen und gebürdete sich wie ein Indianer, johlte, lachte, jagte die Jungen vor sich her, setzte über den Zaun mit Gefahr für Leib und Leben, schlug ein Rad, stellte sich auf den Kopf, kurz, er verrichtete unzählige Heldentaten und hielt dabei immer sein wachsames Auge auf Becky geheftet, um zu sehen, ob sie Notiz davon nehme. Sie aber schien sich seiner Gegenwart völlig unbewußt, sah gar nicht nach ihm hin. Konnte es möglich sein, daß sie gar nicht wisse, er sei in der Nähe? Nun begann er seine Heldentaten in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft auszuführen. Er umkreiste sie mit wildem Geheul, riß einem Jungen die Mütze vom Kopf und schleuderte diese auf das Dach des Schulhauses, brach dann gewaltsam durch einen Haufen Jungen hindurch, die nach allen Richtungen umpurzelten, fiel dabei selber zappelnd dicht vor die Nase Beckys hin, diese beinahe mit sich zu Boden reißend. Sie aber wandte sich, hob das Näschen in die Luft und er hörte sie sagen:

»Ph – ph! ’s gibt Jungens, die sich für furchtbar interessant halten, – immer müssen sie sich zeigen!«

Toms Wangen brannten. Er rappelte sich auf und schlich davon, gedemütigt, vernichtet.

Zwölftes Kapitel.

Schreckliche Pläne. – Die Flucht.

Zwölftes Kapitel.

Tom war nun fest entschlossen. Er war finsterer, verzweifelter Gedanken voll. Er kam sich als verlassener, freundloser Knabe vor, den niemand liebte. Wenn sie erst merkten, zu was ihre Lieblosigkeit ihn getrieben, würde es ihnen vielleicht leid sein. Er hatte versucht, das Rechte zu tun, gut zu sein, sie ließen’s ja nicht zu. Da sie ihn denn durchaus los sein wollten, so sollten sie ihren Willen haben; natürlich würden sie ihn allein für die Folgen verantwortlich machen, – aber so ist’s immer! Hat ein Freundloser und Verstoßener das Recht zu klagen? Jetzt, da sie ihn zum Äußersten getrieben, wollte er das Leben eines Verbrechers führen. Ihm blieb keine Wahl. Unter solchen Betrachtungen war er weit über die Wiesen geschritten und die Schulglocke, welche die Säumigen mahnte, klang ihm nur noch schwach ins Ohr. Er schluchzte jetzt beim Gedanken, daß er nie, nie wieder diesen anvertrauten Ton vernehmen solle, – es war hart, so furchtbar hart, aber – sie zwangen ihn ja dazu. Da sie ihn vertrieben hatten, hinausgestoßen in die kalte unbarmherzige Welt, so mußte er sich darein ergeben, – aber er verzieh ihnen, verzieh ihnen allen. Das Schluchzen wurde stärker, erschütternder.

In diesem Moment stieß er auf seines Herzens innigsten Freund – Joe Harper, der finster blickend dahertrottete, augenscheinlich einen schrecklichen, schwerwiegenden Entschluß in seiner Seele herumwälzend. Hier waren offenbar »zwei Seelen und ein Gedanke!« Tom, der sich die Augen mit seinem Ärmel wischte, fing an, etwas Unzusammenhängendes hervorzustottern, von einem Entschluß, sich den Mißhandlungen und dem Mangel an Verständnis daheim durch seine Flucht in die weite Welt zu entziehen, nie, niemals wiederzukehren, und schloß damit, daß er Joe bat, ihm ein treues Gedenken zu bewahren.

Da zeigte sich aber, daß Joe just eben um ganz dasselbe hatte bitten wollen und gerade zu dem Zweck gekommen war, Tom aufzuspüren. Seine Mutter hatte ihn geprügelt, weil er Rahm getrunken haben sollte, von dem er doch rein gar nichts wußte. Es sei klar, sie wolle nichts mehr von ihm wissen und ihn los sein. Solchen Empfindungen gegenüber – was bleibe ihm da anderes übrig, als sich darein zu ergeben? Möge es ihr wohl ergehen und sie niemals bereuen, ihren armen Jungen hinausgetrieben zu haben in die kalte, fühllose Welt, um da zu leiden und schließlich zu sterben.

Wie nun die zwei trauernden Jünglinge so dahin wandelten, schlossen sie einen Pakt, fest zusammenzustehen wie Brüder, nicht voneinander zu lassen, bis der Tod sie einst scheide und sie erlöse von ihrem Jammer. Dann begannen sie Pläne zu schmieden. Joe war dafür, ein Eremit zu werden, von harten Brotkrusten und Wasser in einer finsteren Höhle zu leben und eines Tages aus Not, Kälte und Kummer zu sterben. Nachdem er aber Toms Plan gehört, gab er zu, daß das Leben eines Verbrechers doch einige hervorragende Vorteile böte und willigte ein, als Seeräuber sein Heil zu probieren.

Drei Meilen unterhalb St. Petersburg, an einer Stelle, wo der Mississippi etwas mehr als eine Meile breit war, lag eine lange, schmale, bewaldete Insel mit einer seichten Sandbank an der Spitze. Diese Insel war nicht bewohnt, lag weit drüben gegen das andere Ufer zu, das mit einem ausgedehnten, menschenleeren, fast undurchdringlichen Walde bestanden war. Das schien ein Ort wie gemacht für das Unternehmen, und so wurde denn die Jacksoninsel gewählt. Welches die Opfer sein sollten für ihr Seeräubertum, das kam den Jungen nicht in den Sinn. Vor allem trieben sie nun Huckleberry Finn irgendwo auf, der sich ihnen sofort anschloß. Jegliche Laufbahn war ihm recht, er war nicht wählerisch. Nachdem sie alles verabredet hatten, trennten sie sich, um sich an einer einsamen Stelle des Flußufers, zwei Meilen oberhalb des Städtchens, wieder zu treffen, um Mitternacht, zu ihrer Lieblingsstunde. Dort wußten sie von einem kleinen Holzfloß, das sie sich anzueignen gedachten. Jeder von den dreien wollte eine Angelrute und Haken mitbringen, dazu solche Eßvorräte, deren er sich auf möglichst versteckte und geheimnisvolle Weise bemächtigen konnte, wie es Ausgestoßenen und Geächteten ihrer Art zukam. Bevor noch der Nachmittag verflossen, war es ihnen gelungen, heimlicher Wonne voll, im ganzen Städtchen das Gerücht zu verbreiten, es werde sich in Bälde etwas sehr Merkwürdiges ereignen. Alle, die diesen Wink erhielten, bekamen zugleich die Mahnung zu schweigen und abzuwarten.

Um Mitternacht erschien Tom mit einem gekochten Schinken und noch sonstigen Kleinigkeiten in dem dichten Untergehölz des steilen Uferabhanges, das zum Sammelplatz bestimmt worden. Es war sternklar und totenstill. Der mächtige Strom lag, ozeangleich, in friedlicher Ruhe da. Tom lauschte einen Moment, kein Laut unterbrach die feierliche Stille. Er ließ ein leises, langgezogenes Pfeifen ertönen, das von unten erwidert wurde; zweimal noch pfiff Tom, beide Male wurde das Signal in derselben Weise beantwortet. Nun fragte eine leise Stimme:

»Wer naht sich dort?«

»Tom Sawyer, der Schwarze, Rächer der spanischen Meere. Nennt eure Namen!«

»Huck Finn, die ›blutige Hand‹, und Joe Harper, ›der Schrecken der See‹.« Tom hatte diese Titel aus seiner Lieblingsliteratur geschöpft.

»Gebt das Feldgeschrei!«

In dumpfem, grauenvoll durchdringendem Flüsterton erklang von zwei Stimmen zugleich dasselbe schreckliche Wort in die brütende Nacht hinein:

» Blut

Nun kollerte Tom seinen Schinken über den Abhang und ließ sich selber nachgleiten, wobei er Haut und Kleider empfindlich verletzte. Wohl gab’s einen leichten, bequemen Pfad, den Abhang hinunter und am Ufer entlang, dem aber fehlten jene unerläßlichen Eigenschaften von Schwierigkeit und Gefahr, die ein Seeräuber vor allen anderen schätzt.

Der »Schrecken der See« hatte eine riesige Speckseite geliefert und sich halb krumm und lahm geschleppt, um sie herbeizubringen. Finn, der »Bluthändige«, hatte einen Kochkessel gestohlen, dazu eine Portion halbgetrocknete Tabaksblätter und einige Maiskolben, um Pfeifen daraus zu machen. Keiner der Piraten freilich rauchte oder kaute Tabak, als nur er selber. Der »Schwarze Rächer der spanischen Meere« meinte, man könnte nimmermehr das Unternehmen ins Werk setzen, ohne Feuer an Bord zu haben. Der Gedanke war weise, auch schritt man sofort zur Tat. In der Entfernung glimmte ein Feuer auf einem großen Flosse, dahin schlichen sie nun und verschafften sich einen Holzbrand. Aus dieser Expedition machten sie sich mit Wonne und umständlicher Wichtigkeit ein gefährliches Abenteuer zurecht. Unterwegs hielten sie fast jede Minute an, sagten »Pst« und legten den Finger auf die Lippen. Ihre Hände umfaßten eingebildete Schwertergriffe, leise Befehle wurden geflüstert, daß, wenn der »Feind« sich rege, er »kaltgemacht« werden müsse, denn »tote Menschen plaudern nichts mehr aus!« Die Jungen wußten freilich mit Bestimmtheit, daß die Flößer unten in der Stadt waren, entweder um Vorräte einzukaufen, oder um zu zechen; das war aber für sie kein Grund, sich weniger piratenmäßig bei der Sache zu benehmen.

Glücklich zurückgekehrt von dem gefahrvollen Feuerraubzeug, stießen sie alsbald vom Lande. Tom hatte den Oberbefehl, Huck saß am hinteren Ruder, Joe vorn. Tom stand mitten auf dem Floße. Finster blickend, mit über der Brust gekreuzten Armen, erteilte er seine Befehle in leisem, strengem Flüsterton.

»Luven! Vor den Wind!«

»Geluvt ist, Kap’tän.«

»Stet, Jungens, ste–e–et!«

»Stet ist’s, Kap’tän.«

»Einen Strich rechts abgehen!«

»Ein Strich ist’s!«

Während die Jungen das Floß unverweilt gegen die Mitte des Stromes zutreiben ließen, verstand es sich von selbst, daß alle diese Befehle nur der Form halber erteilt wurden und weiter gar nichts zu bedeuten hatten.

»Welche Segel führt das Boot?«

»Hauptsegel, Topsegel und fliegenden Klüver, Kap’tän.«

»Oberbramsegel auf! Ihr dort flink, ’n halb Dutzend an die Fockmarsleesegel! Lustig, Jungens, rührt euch!«

»Eh, eh, Kap’tän!«

»Marssegel vom Hauptmast! Schoten und Brassen! Vorwärts, Jungens.«

»Eh, Kap’tän!«

»Ruder nach Lee – hart an Backbord. Backbord – Backbord! Nun, Leute, frisch darauf los. Stet – ste–e–et!«

»Stet ist’s, Kap’tän!«

Das Floß begann die Mitte des Stromes zu kreuzen und auf das andere Ufer zuzuhalten. Die Jungen gaben der Spitze desselben die rechte Richtung und zogen dann die Ruder ein. Kaum ein Wort wurde gewechselt während der nächsten halben Stunde. Jetzt trieb das Floß am fernen Städtchen vorüber. Zwei oder drei schimmernde Lichter zeigten, wo dasselbe lag, in süßem, friedlichem Schlummer, jenseits dieser endlosen, ungeheuren, sternbeschienenen Wasserflut, ohne Ahnung von dem tief eingreifenden Ereignis, das soeben im Begriff war, sich abzuspielen. Der »Schwarze Rächer« stand da mit gekreuzten Armen, einen letzten Blick werfend auf den Schauplatz seiner früheren Freuden und späteren Leiden, und wünschte sehnlichst, »Sie« könnte ihn jetzt sehen, da draußen auf der wilden See, der Gefahr und dem Tode ins Antlitz schauend, unverzagten Herzens, mit einem grimmigen Lächeln auf den Lippen seinem Untergang entgegengehend. Seiner Einbildungskraft war es ein Geringes, die Jacksoninsel aus der Gesichtsweite des Städtchens wegzuversetzen, und so sandte er demselben denn seinen »letzten Blick«, zufriedenen, wenngleich gebrochenen Herzens. Die anderen Piraten sandten desgleichen ihre letzten Blicke und blickten so anhaltend und so lange, daß die Strömung sie beinahe aus dem Bereich der Insel fortgetrieben hätte. Diese Gefahr aber wurde noch beizeiten entdeckt und derselben mit Erfolg Einhalt getan. Etwa um zwei Uhr morgens trieb das Floß an der Sandbank auf, ungefähr hundert Meter oberhalb der Spitze der Insel, und die Jungen wateten nun durch das Wasser hin und zurück, bis sie ihre Ladung glücklich gelandet und in Sicherheit gebracht hatten. Zu dem kleinen Floß gehörte auch ein altes Segel, welches sie an einem heimlichen Plätzchen im Gebüsch als Zelt ausspannten, um die Vorräte darunter zu bergen. Sie selbst aber wollten unter freiem Himmel schlafen, in Wind und Wetter, wie es solchen Ausgestoßenen der Menschheit zukam.

Sie schichteten Holz zu einem Feuer auf neben einem dicken, alten, abgestorbenen Baumstamm, der etwa zwanzig bis dreißig Schritte weit in der düsteren Tiefe des Waldes stand, brieten sich Speck zum Abendessen und ließen sich’s köstlich munden. Herrlich, unbeschreiblich schön war das wilde, freie Leben im jungfräulichen Walde einer unbekannten, unbewohnten Insel, weitab vom Getriebe der Menschen, und sie schwuren sich, nimmermehr zurückzukehren in die Fesseln der Zivilisation. Das aufglimmende Feuer beleuchtete ihre Gesichter und warf seinen roten Schein auf die säulenartigen Baumstämme dieses grünen Waldtempels, auf das schimmernde Laub und die alles umrankenden, wilden Reben. Als die letzte knusperige Speckschnitte verschwunden, die letzte Brotkrume ausgezehrt war, streckten sich die Jungen auf dem Moose aus, erfüllt von köstlichstem Behagen. Wohl hätten sie ein kühleres Plätzchen finden können, aber sie mochten sich das romantische Gefühl nicht versagen, am leise flackernden Lagerfeuer zu rösten.

»Ist das nun nicht lustig?« fragte Joe.

»Famos,« bestätigte Tom.

»Was würden die Jungen sagen, wenn sie uns so sehen könnten!«

»Sagen? Ei, die ließen sich totschlagen, wenn sie nur hier sein könnten, – he, Huckchen?«

»Das will ich meinen!« brummte Huckleberry, »mir wenigstens gefällt’s und ich wünsch mir nichts anderes. Für gewöhnlich krieg ich nicht satt – hier kann mich auch keiner herumstoßen und seine Stiefel an mir abputzen, danke!«

»Das ist just ein Leben für mich,« jubelte Tom, »morgens braucht man nicht aufzustehen, braucht nicht in die Schule, sich nicht zu waschen und all den anderen dummen Firlefanz. Siehst du nun, Joe, ein Pirat hat gar nichts zu tun, so lang er am Lande ist, ein Eremit aber, der muß beten, beten, beten bis er schwarz wird, und hat nie ein Vergnügen, immer so allein für sich.«

»Das ist auch wahr,« meinte Joe, »ich hab eben nicht weiter darüber nachgedacht. Jetzt will ich selber viel lieber Seeräuber sein, seit ich’s probiert hab.«

»Außerdem,« belehrte Tom, »gibt man heutzutage nicht mehr so viel auf Eremiten, wie früher, in alten Zeiten, während ein Pirat überall geachtet ist. Ein Eremit muß auch immer auf dem allerthärtesten Platz schlafen, den er finden kann, muß Asche auf sein Haupt streuen und –«

»Asche? Zu was denn die Asche auf den Kopf?« fragte Huck.

»Das weiß ich selber nicht. Aber das müssen sie – alle Eremiten tun’s. Du hättst’s auch zu tun, wenn du einer warst.«

»Die sollten mir kommen,« versetzte Huck.

»Na, was tätst du denn?«

»Das weiß ich noch nicht. Aber Asche auf den Kopf sicher nicht.«

»Aber Huck, das müßtest du einfach. Wie wolltest du da drum herumkommen?«

»Ei, ich würd’s eben nicht leiden. Ich risse aus!«

»Ausreißen! Na, du wärst ein nettes altes Gestell von einem Eremiten, weiß Gott, ein wahrer Schandfleck für die anderen!«

Der »Bluthändige« gab keine Antwort, da er Besseres zu tun hatte. Er war soeben damit fertig geworden, einen Maiskolben auszuhöhlen; nun befestigte er einen Binsenhalm daran, stopfte den Kolben mit Tabak, legte eine glühende Kohle darauf und hüllte sich in eine Wolke lieblich duftenden Dampfes. Man sah ihm ordentlich an, wie er sich im höchsten Stadium wollüstigen Behagens befand. Die anderen Piraten neideten ihm den Besitz solch imponierend lasterhafter Kunst und beschlossen heimlich, dieselbe in kürzester Frist sich anzueignen. Nach einer Weile fragte Huck:

»Was haben denn Seeräuber eigentlich zu tun?«

Worauf Tom erwiderte:

»O, die haben Zeitvertreib genug. Die kapern Schiffe und verbrennen sie, nehmen alles Geld weg und vergraben’s an ganz schrecklich gruseligen Plätzen auf ihrer Insel, wo’s Geister und solche Wesen gibt, die den Schatz bewachen. Dann töten sie jedermann auf den Schiffen – lassen alle über die Planken springen –«

»Und die Frauen schleppen sie ans Land,« vervollständigte Joe, »die töten sie nicht.«

»Nein,« stimmte Tom bei, »Frauen töten sie nicht, dazu sind sie zu edel. Die Frauen sind auch immer sehr schön.«

»Und was für Kleider sie tragen! ’s ist ’ne wahre Pracht; alles voll Gold und Silber und Diamanten,« fiel Joe ganz begeistert ein. »Wer?« fragte Huck.

»Nun die Piraten doch!«

Huck sah nachdenklich an seiner Gewandung hinunter.

»Na, meine Kleider sind dann schwerlich für einen Piraten geschaffen,« bemerkte er mit einer gewissen erhabenen Trauer in der Stimme, »ich habe aber keine anderen nicht!«

Seine beiden Kameraden trösteten ihn, die schönen Kleider würden schnell genug kommen, wenn man nur erst auf Abenteuer auszöge. Sie gaben ihm zu verstehen, daß seine ärmlichen Lumpen für den Anfang genügen sollten, obgleich gutgestellte Seeräuber für gewöhnlich in passender Garderobe auszögen.

Allmählich erstarb das Geplauder, Müdigkeit begann die Lider der kleinen Strolche schwer zu machen. Die Pfeife entglitt den Fingern des »Bluthändigen« und er schlief den tiefen Schlaf des Gerechten und – Müden. Der »Schrecken der See«, ebenso auch der »Schwarze Rächer der spanischen Meere« hatten größere Schwierigkeit im Erlangen des Schlafes. Sie sagten ihre Gebete nur innerlich her, da keine Autorität zugegen war, die sie zum Knien und lauten Aufsagen angehalten hätte. Zuerst hatten sie vorgehabt, gar nicht zu beten, vor solchem Wagnis aber schreckten sie schließlich doch zurück, aus Furcht, es könne ein ganz besonderer Donnerkeil vom Himmel auf ihre schuldigen Häupter niedersausen. Als sie endlich, endlich, ganz nahe am Rande des tiefen Abgrundes, Schlaf genannt, lagen und schon darein zu versinken dachten, da nahte wiederum ein Etwas, ein Störenfried, der sich nicht abweisen lassen wollte. Es war das Gewissen! Es überkam sie eine unbestimmte Ahnung des Unrechts, das sie begangen mit ihrem Davonlaufen, dann tauchte das gestohlene Fleisch auf und die Tortur begann. Sie versuchten dem Gewissen vorzuhalten, wie sie oft und oft Anlehen an die Speisekammer der Ihren gemacht in Äpfeln und anderen Süßigkeiten, das Gewissen aber gab sich mit solch durchsichtigen Ausflüchten nicht zufrieden. Es bewies ihnen klar und unbestreitbar, wie sich die Tatsache nicht umgehen lasse, daß das Einstecken von Äpfeln, Süßigkeiten usw. nur »krippsen« heiße, während das Wegnehmen von Speckseiten, Schinken und ähnlichen wertvolleren Gegenständen einfacher, gewöhnlicher Diebstahl genannt werden müsse, – wogegen es ein dräuendes Gebot in der Bibel gab. Demzufolge beschlossen sie innerlich, daß, solange sie das Piratengeschäft betrieben, ihre Raubzüge nicht wieder mit dem Verbrechen des Diebstahls besudelt werden dürften. Das Gewissen gab sich denn auch damit zufrieden, schloß einen Waffenstillstand und unsere merkwürdig inkonsequenten »Seeräuber« versanken in einen friedlichen, ungestörten Schlummer.

Dreizehntes Kapitel.

Piratenleben.

Dreizehntes Kapitel.

Als Tom am Morgen erwachte, konnte er sich kaum besinnen, wo er eigentlich sei. Er setzte sich auf, rieb sich die Augen und blickte um sich, dann überkam ihn die Erinnerung. Der Tag begann eben zu grauen, kühl und wonnig. Es lag ein köstliches Gefühl der Ruhe und des Friedens in der tiefen, alles umfangenden Stille, dem Schweigen des Waldes. Kein Blatt rührte sich, kein Ton unterbrach das sinnende Nachdenken der großen Natur. Tautropfen perlten auf Blättern und Gräsern. Eine Schicht weiser Asche bedeckte das Feuer, von dem sich ein dünnes, bläuliches Rauchwölkchen in die stille Luft emporkräuselte. Joe und Huck schliefen noch. Jetzt erklang, weit drüben im Walde, der Ruf eines Vogels, ein anderer antwortete, dann hörte man das Hämmern eines Spechtes. Allmählich lüftete sich das kühle, fahle Grau der Morgendämmerung, ebenso allmählich vermehrten sich die Töne, das neuerwachte Leben begann sich allenthalben kundzutun. Das große Wunder, wie die Natur den Schlaf abschüttelt und ihr Tagewerk aufnimmt, entfaltete sich vor den Augen des staunenden Knaben. Eine kleine, grüne Raupe kam über ein taufrisches Blatt dahergekrochen, von Zeit zu Zeit dreiviertel ihres Körperchens in die Luft hebend und herumschnüffelnd, dann wieder vorwärtsstrebend. »Aha, die kommt zum Anmessen,« dachte Tom, und als das Tierchen aus freien Stücken sich ihm näherte, saß er stockstill, hoffend und bangend, je nachdem das Geschöpf die Richtung auf ihn zu nehmen oder sich anderswo hinzuwenden schien. Als es aber zuletzt, nach einem bangen Moment des Zweifels, währenddessen es den gekrümmten Körper in der Luft hin und her bewegte, sich ganz entschieden auf Toms Bein gleiten ließ und die Reise längs desselben begann, da füllte Freude Toms Herz, denn das bedeutete, daß er einen neuen Anzug bekommen würde, – ohne Zweifel eine glänzende Piratenuniform. Jetzt erschien ein Zug von Ameisen, man wußte nicht woher, sie gingen auf Arbeit aus. Eine derselben schleppte sich mutig mit einer toten Spinne, fünfmal so groß als sie selber, und lotste dieselbe direkt einen Baumstamm hinauf. Ein schwarzgeflecktes Johanniskäferchen erklomm die steile Höhe eines Grashalmes, Tom beugte sich dicht zu demselben nieder und sang:

»Johanneskäferchen flieg‘,
Der Vater ist im Krieg;
Flieg, flieg, dein Häuschen brennt,
’s sitzen sieben Kinderchen drin!«

Und Johanniskäferchen entfaltete die kleinen Schwingen und flog davon, um zu Hause nachzusehen, was den Jungen keineswegs verwunderte, wußte er doch aus Erfahrung, wie leichtgläubig das dumme Ding sei, namentlich in betreff der Feuersbrünste, und er hatte der kleinen Einfalt schon oftmals denselben Streich gespielt. Die Vögel lärmten nun förmlich im Gezweige der Bäume. Ein Rotkehlchen saß in einem Aste über Toms Kopf und schmetterte seine Triller aus voller Brust hinaus in den lichten Morgen. Ein blauschwarzer Häher schoß nieder, gleich dem Strahl einer blauen Flamme, setzte sich auf einen Busch, ganz dicht im Bereich des Knaben, legte den Kopf auf die Seite und beäugelte die Fremden mit lebhafter Neugierde. Ein graues Eichhörnchen und ein stämmiger Bursch aus der »Fuchs«familie kamen angerannt, setzten sich auf die Hinterbeine und betrachteten furchtlos die Eindringlinge. Die harmlosen Geschöpfe hatten wohl noch niemals ein menschliches Wesen gesehen und wußten offenbar nicht, ob man sich fürchten müsse oder freuen. Die ganze Natur war jetzt völlig wach und in Bewegung. Gleich blitzenden Lanzen drangen die goldenen Strahlen des Sonnenlichtes durch das dichte Laubwerk nah und fern, auch kleine buntfarbige Schmetterlinge kamen herbeigeflogen.

Tom ermunterte nun die beiden anderen Piraten und eine Minute später trabten sie mit einem Freudengeheul dem Ufer zu, warfen die Kleider ab und jagten und überpurzelten sich in dem seichten, lauen Wasser bei der Sandbank. Keine Spur von Sehnsucht empfanden sie nach dem Städtchen da drüben, das jenseits der endlosen, majestätischen Wasserfläche noch im Schlafe lag. Eine verirrte Welle, oder auch eine leichte Schwellung des Stromes, hatte ihr Floß entführt, dies aber diente den Jungen nur zur Befriedigung, denn durch sein Verschwinden waren gleichsam die Brücken zwischen ihnen und der Zivilisation abgebrochen.

Wunderbar erfrischt kehrten sie in ihr Lager zurück, sorglos, glückstrahlend und mit einem Wolfshunger. Bald flackerte das Feuer auf in hellen Flammen; Huck entdeckte eine Quelle frischen, kalten Wassers dicht beim Lager, Die Jungen machten sich Becher aus großen Eichen- und Ahornblättern und fanden, daß Wasser, durch solch eigenartigen, wilden Waldeszauber versüßt, der beste Ersatz für Kaffee sei. Während Joe sich eben anschickte, Speckschnitten zum Frühstück abzuschneiden, riefen ihm Huck und Tom zu, er möge eine Minute warten, griffen zur Angel, liefen zum Flusse, warfen die Leine aus, und ehe noch Joe Zeit hatte, ungeduldig zu werden, waren sie schon zurück mit einem Vorrat an Fischen, der für eine ganze Familie ausgereicht haben würde. Sie brieten nun Fische zusamt dem Speck, und noch nie hatte ihnen ein Fisch so köstlich geschmeckt. Sie wußten ja nicht, daß ein Süßwasserfisch um so besser ist, je schneller er in die Pfanne kommt, auch dachten sie nicht daran, welche treffliche Würze Schlaf und Bewegung im Freien, das Bad und ein gehöriger Hunger abgaben.

Nach dem Frühstück lagen sie im Schatten herum, wahrend Huck sein Pfeifchen schmauchte, und dann rüsteten sie sich, eine Entdeckungsreise auf der Insel vorzunehmen. Lustig trabten sie dahin, über modernde Baumstämme, durch wirres Unterholz, zu Füßen der erhabenen Fürsten der Wälder, die von den Kronen bis zur Wurzel als Zeichen ihrer Würde mit dem Wundergerank der Reben gleich einem duftenden Krönungsmantel behangen waren. Hier und da trafen sie auf saftiggrüne, lauschige Plätzchen, die mit weichem Grase und Blumen wie ausgepolstert waren.

Massenhaft fanden sie Dinge, die sie entzückten, nichts, das ihnen seltsam vorkam. Sie entdeckten, daß die Insel vielleicht drei Meilen lang und eine Viertelstunde breit sei und daß das Ufer, dem sie zunächst lag, nur durch einen schmalen Kanal von etwa hundert Meter Breite von derselben geschieden war. Jede Stunde einmal erfrischten sie sich durch eine kleine Schwimmexkursion und so war der Nachmittag schon weit vorgerückt, als sie zum Lager zurückkehrten. Sie waren zu hungrig, um noch erst lange zu fischen, erquickten sich dagegen aufs beste am kalten Schinken und warfen sich dann in den Schatten auf das Moos, um zu plaudern. Das Gespräch erlahmte bald und hörte dann ganz auf. Die Stille, die Feierlichkeit, die über dem Walde lag, begann, zusamt dem Gefühl der Einsamkeit, die Gemüter der Knaben zu bedrücken. Sie verfielen in Nachdenken, Eine Art unbestimmter Sehnsucht beschlich sie, die alsbald leise Gestalt annahm, – es war aufkeimendes Heimweh. Selbst Finn, der »Bluthändige«, träumte von seinen heimatlichen Treppenstufen und leeren Schweineställen. Alle drei aber schämten sich ihrer Schwäche und keiner hatte das Herz, seinen Gedanken Worte zu geben.

Schon seit ein Paar Minuten waren die Jungen sich undeutlich bewußt, daß ein eigentümlicher Ton aus der Ferne zu ihnen herüberklang, gerade wie man das Ticken einer Uhr hört, ohne sich davon Rechenschaft zu geben. Jetzt aber gewann der geheimnisvolle Ton an Kraft und drängte sich förmlich der Wahrnehmung auf. Die Jungen fuhren zusammen, sahen sich an und richteten sich in lauschender Stellung empor. Ein langes Schweigen folgte, tief und ununterbrochen, dann ertönte ein dumpfes, dröhnendes »Bum« aus der Entfernung über das Wasser herüber.

»Was ist das?« rief Joe mit unterdrückter Stimme.

»Möcht’s selber wissen,« flüsterte Tom.

»Donner ist’s keiner,« meinte Huck in ängstlichem Ton, »denn Donner –«

»Still,« gebot Tom, »schwätz nicht; horch lieber!«

Wieder warteten sie eine Zeitlang, die eine Ewigkeit schien, dann unterbrach dasselbe dumpfe »Bum« die feierliche Stille.

»Laßt uns doch sehen, ob wir was entdecken können.«

Damit sprangen sie auf die Füße und rannten dem der Stadt gegenüberliegenden Ufer zu. Vorsichtig teilten sie die Büsche und lugten hinter denselben hervor auf das Wasser hinaus. Die kleine Dampffähre trieb, vielleicht eine Meile unterhalb der Stadt, mit der Strömung daher. Das breite Deck wimmelte von Menschen. Eine Menge Boote ruderten um dieselbe herum oder ließen sich von den Wellen der Fähre treiben, die Jungen aber konnten nicht sehen, was die Männer in den Booten taten. Alsbald brach eine dicke Wolke weißen Rauches aus der einen Seite der Fähre hervor, und als sie sich zu erheben und zu zerstreuen begann, erklang derselbe dumpfe Ton in den Ohren der lauschenden Knaben.

»Jetzt weiß ich’s,« rief Tom, »da ist einer ertrunken.«

»Das ist’s, weiß Gott,« stimmte Huck bei, »so haben sie’s vorigen Sommer grad auch gemacht, als der Bill Turner ertrunken war. Da haben sie ’ne Kanone losgefeuert und da kommt dann der Tote herauf aufs Wasser. Ja, und sie nehmen auch große Brote und stecken Quecksilber hinein und lassen die schwimmen, und die schwimmen dann grad darauf los, wo ein Ertrunkener liegt und halten da an, damit man ihn findet.«

»Ja, davon hab ich auch gehört,« bestätigte Joe, »woher das Brot das wohl tut?«

»Na, das Brot selber tut’s weniger, als das, was sie vorher darüber sprechen, der Zauber, mein ich,« sagte Tom.

»Aber sie sprechen gar nichts darüber,« versicherte Huck, »ich war ja ganz nah dabei und hab alles gesehen.«

»Das wär sonderbar,« meinte Tom, »vielleicht sagen sie’s nur leise. Natürlich ist’s so, das könnt ein Kind wissen,« fügte er geringschätzend bei.

Die anderen beiden gaben denn auch zu, daß Tom recht haben könne. Von einem unvernünftigen Brot, das, unbelehrt durch irgendeinen Zauberspruch, mit solch ernster, wichtiger Sendung betraut werde, könne man doch unmöglich viel Verstand erwarten.

»Weiß Gott, ich wollt, ich wär drüben dabei,« rief Joe.

»Ich auch,« bekräftigte Huck, »ich gäb alles darum, wenn ich wüßt, wer da gesucht wird.«

Wieder lauschten die Jungen und beobachteten. Plötzlich tauchte ein erleuchtender Gedanke blitzartig in Toms Hirn auf und er rief:

»Jungens, ich weiß, wer dort ertrunken ist – wir sind’s!«

Und sie fühlten sich als Helden im nächsten Augenblick. Das war ein glorreicher Triumph! Sie wurden vermißt, betrauert, Herzen brachen ihretwegen, Tränen flossen. Anklagende Erinnerungen an Unfreundlichkeiten gegen diese armen, nun verlorenen Knaben tauchten auf, Bedauern und Reue beschlich die betreffenden Herzen, und was noch das beste von allem war, die Verschwundenen bildeten das Gespräch der ganzen Stadt. Alle anderen Jungen mußten sie glühend beneiden um diese glänzende, öffentliche Berühmtheit, Das war herrlich! Dafür lohnte es sich wahrhaftig, Pirat zu sein!

Die Dämmerung begann, die Dampffähre kehrte zu ihrer gewöhnlichen Beschäftigung zurück, die Boote verschwanden und die Piraten begaben sich nach ihrem Lager, Sie strahlten förmlich vor Wonne und Eitelkeit über ihre neue Größe und die glorreiche Unruhe, die sie verursachten. Sie fingen die Fische, bereiteten ihr Abendessen, verzehrten es und vertrieben sich dann die Zeit damit, sich vorzustellen, was man zu Hause wohl über sie sagte und dachte. Sich die Bilder der allgemeinen Kümmernis, die ihretwegen herrschte, auszumalen und von ihrem Standpunkt zu betrachten, gewährte ihnen die höchste Befriedigung. Als aber die Schatten der Nacht sie zu umhüllen begannen, verstummte allmählich das Gespräch. Sie saßen und starrten ins Feuer, während ihre Gedanken offenbar ganz wo anders herumstreiften. Die Erregung war verflogen und Tom und Joe konnten sich der leise mahnenden Überzeugung nicht erwehren, daß gewisse Leute zu Hause weit weniger Vergnügen haben würden an dem lustigen Abenteuer, als sie selber. Böse Ahnungen tauchten auf, sie fühlten sich unruhig und unglücklich, ein Seufzer nach dem anderen entschlüpfte ihnen, ohne daß sie selber es merkten. Dann streckte Joe schüchtern einen tastenden »Fühler« vor, wie wohl die anderen dächten über eine Rückkehr zur Zivilisation, – nicht jetzt natürlich, aber –

Tom schmetterte ihn mit Verachtung nieder! Huck, der bis jetzt noch keine Anwandlung von Schwäche empfand, stimmte Tom bei und der Schwankende suchte sich alsbald herauszureden, um sich mit einem möglichst geringen Makel mattherzigen Heimwehs aus der Sache zu ziehen. Die Meuterei war für den Augenblick mit Erfolg unterdrückt.

Als die Nacht vollends hereinbrach, begann Huck einzunicken und schnarchte sofort, dann kam die Reihe an Joe. Regungslos lag Tom, auf seine Ellbogen gestützt, und beobachtete die zwei aufmerksam. Dann erhob er sich vorsichtig auf die Knie und kroch im Gras umher, beim schwach flackernden Schein des Feuers nach etwas suchend. Er las ein Stück weißer zylinderförmiger Sykomorenrinde nach dem andern auf, untersuchte sie und wählte schließlich zwei derselben, die ihm die besten schienen. Dann kniete er am Feuer nieder, kritzelte voll Anstrengung etwas mit seinem Rotstift auf jedes der Stücke, rollte eines zusammen, steckte es in seine Tasche und schob das andere in Joes Hut, den er etwas entfernt von dem Eigentümer hinlegte. Demselben Hut vertraute er dann noch einige Schuljungenkostbarkeiten von fast unschätzbarem Werte an, als da sind ein Klumpen Kreide, ein Gummiball, drei Fischhaken und eine kleine Glaskugel, die überall für »echtes Kristall« ging. Dann schlich er sich auf den Zehenspitzen unter den Bäumen hin, bis er außer Hörweite war, worauf er sich geradeswegs nach der Sandbank in Trab setzte.

Vierzehntes Kapitel.

Ein Besuch.

Vierzehntes Kapitel.

Ein paar Minuten später befand sich Tom im seichten Wasser der Sandbank und watete dem Illinoisufer zu. Noch reichte ihm das Wasser kaum bis zur Brust, als er schon die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte. Jetzt aber erlaubte die Strömung kein weiteres Vordringen und kühn begab er sich dran, die übrigen hundert Meter schwimmend zurückzulegen. Er ließ sich von der Strömung treiben, die ihn rascher beförderte, als er selber dachte. Doch gelang es ihm endlich, das Ufer zu erreichen und an einer niederen Stelle desselben zu landen. Er fühlte in seiner Tasche nach dem Rindenstück, fand es sicher an seinem Platz und schritt nun mit triefenden Kleidern waldeinwärts am Ufer entlang. Kurz vor zehn Uhr kam er an einen freien Platz, gerade dem heimatlichen Städtchen gegenüber, und sah die Fähre im Schatten der Bäume am hohen Ufer angekettet. Alles war still unter den funkelnden Steinen. Er kroch am Ufer hinab, mit vorsichtigen Blicken ausspähend, glitt ins Wasser und schwamm mit drei oder vier Stößen nach dem Boot, das an der Seite der Fähre befestigt war. Dort streckte er sich unter die Ruderbank und wartete atemlos. Alsbald ertönte eine heisere Glocke und eine Stimme gab den Befehl zum Abstoßen, Eine bis zwei Minuten später wurde das Boot von der Fähre scharf angezogen und die Fahrt hatte begonnen, Tom beglückwünschte sich selber zu seinem Erfolg, er wußte, es war die letzte Fahrt diesen Abend. Nach Verlauf von endlosen zwölf oder fünfzehn Minuten standen die Räder still, Tom schlüpfte über Bord und schwamm ans Ufer in der Dunkelheit, etwa fünfzig Meter unterhalb des Städtchens landend, aus Furcht, noch späten Herumschwärmern zu begegnen. Er flog durch einsame Gäßchen und befand sich nach kurzem am hinteren Zaun von seiner Tante Hof. Der Zaun war schnell überstiegen, er näherte sich dem Hause und blickte durch das Fenster des Wohnzimmers, in dem noch Licht brannte. Dort saßen Tante Polly, Sid, Mary und Joe Harpers Mutter dicht zusammen und redeten. Sie saßen vor dem Bett und das Bett befand sich zwischen ihnen und der Türe, welche direkt auf den Hof führte. Tom trat auf den Zehen heran und begann leise auf die Klinke zu drücken. Die Türe gab nach und öffnete sich ein klein wenig mit sanftem Knarren. Vorsichtig erweiterte Tom den Spalt, bis er ihn für groß genug hielt, um sich auf den Knien durchzuschieben. Dann steckte er den Kopf durch und begann mutig vorwärts zu kriechen.

»Warum das Licht nur so flackert?« sagte Tante Polly. – Tom beeilte sich mit dem Hereinkriechen, »Herrgott, die Tür ist ja offen, soviel ich seh! Freilich ist sie’s. Nehmen die Schrecknisse gar kein Ende! Geh, Sid, mach die Tür zu!«

Gerade zur rechten Zeit verschwand Tom unter dem Bett. Da lag er mäuschenstill, um nur erst zu Atem zu kommen, dann kroch er weiter vor, bis dahin, wo er fast seiner Tante Füße berühren konnte.

»Ja, wie ich gesagt hab‘,« fuhr diese fort, »schlecht war er nicht, was man so schlecht heißt, – nur immer voller Tollheiten, voller Unsinn und immer oben hinaus, wißt ihr. Ihm konnte man’s aber so wenig übelnehmen wie einem Füllen; er dachte sich weiter nichts dabei, war weiß Gott der gutherzigste Junge, der lebte und –« sie begann zu weinen.

»Grad so war mein Joe, – immer voller Teufeleien und zu jedem tollen Streich aufgelegt, aber so selbstlos und gut dabei, wie nur möglich. Und, der Himmel verzeih mir’s, ich, ich, seine eigene Mutter, geh hin und hau ihn durch, weil ich mein‘ er hat den alten Rahm genommen, denk nicht dran, daß ich den doch selber fortgeschüttet hab, weil er sauer geworden war. Und jetzt soll ich ihn nie wieder sehen in dieser Welt, den armen, mißhandelten Jungen, nie, niemals wieder!« Und Frau Harper schluchzte, als wolle ihr das Herz brechen.

»Ich hoffe, Tom ist besser dran, wo er ist,« begann Sid, »wenn er aber hier in manchem besser –«

» Sid!« – Tom fühlte ordentlich den strengen Mahnblick, das drohende Funkeln in den Augen der alten Dame, obgleich er’s nicht sehen konnte.

»Kein Wort weiter gegen meinen armen Tom, der nun von uns gegangen ist. Der allmächtige Gott wird sich seiner schon annehmen, da brauchst du dich nichts drum zu kümmern. Oh, Frau Nachbarin, ich weiß nicht, wie ich’s überleben soll, weiß nicht, wie ich’s überleben soll! Er war mein ganzer Trost, obgleich er mir mein altes Herz fast aus dem Leibe herausquälte!«

»Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, der Name des Herrn sei gelobt! Aber hart ist’s, so arg hart! Erst vorigen Sonntag ließ mir mein Joe einen Schwärmer grad unter der Nase platzen, worauf ich ihm eins versetzte, daß er umfiel. Da dacht ich nicht, daß er so bald – ach, Herr du meines Lebens, wenn ich wieder in derselben Lage wäre, ich würde ihn an mein Herz drücken und küssen.«

»Ja, ja, ja, Nachbarin, ich weiß, wie Ihnen zumut sein muß, weiß es ganz genau. Gestern nachmittag erst hat mein Tom dem unvernünftigen Vieh, dem Peter, ›Schmerzenstöter‹ eingegossen, den er selber hat nehmen sollen. Na, ich denk die Katze reißt’s Haus ein, so tobt die herum. Und ich, Gott verzeih mir, geb dem Jungen einen Klaps auf den Kopf mit meinem Fingerhut; armer Junge, armer, armer, toter Junge! Er hat’s überstanden jetzt. Und die letzten Worte, die ich von ihm gehört hab, waren, daß er mir vorwarf –«

Diese Erinnerung aber war zuviel für die alte Dame, sie brach vollständig darunter zusammen. Tom schluchzte jetzt selber, mehr aus Mitleid mit sich, als aus irgendeinem anderen Grund. Er hörte, daß Mary weinte, und von Zeit zu Zeit ein freundliches Wort über ihn dazwischenwarf. Seine eigene Meinung von sich stieg um ein beträchtliches. Der Kummer seiner Tante rührte ihn aber doch sehr und kaum konnte er der Versuchung widerstehen, hervorzubrechen aus seinem Hinterhalt und ihren Jammer in Freude zu verwandeln. Der theatralische Effekt, den solche Szene notwendig hervorrufen mußte, reizte ihn gewaltig, doch er erwehrte sich dessen tapfer und blieb still. Er fuhr fort zu lauschen und merkte aus allerlei Bruchstücken der Reden, die er zusammensetzte, daß man zuerst geglaubt hatte, er und die Kameraden seien beim Schwimmen verunglückt. Dann wurde das kleine Floß vermißt. Verschiedene Jungen gaben nun an, daß die Vermißten gesagt hätten, die ganze Stadt solle bald was Neues erfahren. Die »weisen Häupter« der Gemeinde reimten sich nun verschiedenes zusammen und waren schließlich darin einig, daß die Jungen auf dem Floß davongegangen und baldigst in der nächsten Stadt flußabwärts auftauchen dürften. Gegen Mittag aber war das leere Floß aufgefunden worden, das etwa vier Meilen unterhalb des Städtchens ans Ufer getrieben war, und da schwand jede Hoffnung. Sie mußten ertrunken sein, sonst hätte sie der Hunger vor Nacht nach Hause gejagt, wenn nicht noch früher. Man glaubte, die Suche nach den Leichen sei hauptsächlich deshalb erfolglos geblieben, weil die Ertrunkenen wohl mitten im tiefsten Wasser umgekommen sein mußten, denn die Jungen waren flotte Schwimmer und hätten sich sonst sicherlich ans Ufer gerettet. Das war am Mittwoch abend. Wenn es nun nicht gelang, bis Sonntag die Leichen aufzufinden, so mußte man jeder Hoffnung entsagen, und es sollte an dem Tage ein Trauergottesdienst in der Kirche abgehalten werden. Tom schauderte.

Frau Harper schluchzte ein »Gutenacht« und erhob sich zum Gehen. Von einem gemeinsamen Antrieb ergriffen, flogen die beiden verwaisten Frauen einander in die Arme, weinten sich ein paar Minuten aus und nahmen darauf Abschied. Tante Polly sagte Sid und Mary mit besonderer Zärtlichkeit »Gutenacht«, Sid schluchzte ein bißchen, Mary aber weinte aus Herzensgrund.

Jetzt kniete Tante Polly nieder und betete für Tom, so rührend, so eindringlich, mit solch maßloser Liebe in jedem Wort, jedem Ton ihrer alten, zitternden Stimme, daß der Missetäter unter dem Bett wieder förmlich zerfloß in Tränen, lange ehe sie geendet hatte.

Er mußte sich sehr ruhig verhalten, eine ganze Zeit, nachdem sie zu Bett gegangen war, denn wieder und wieder warf sie sich ruhelos von einer Seite zur anderen und stöhnte und jammerte vor sich hin. Endlich aber wurde sie still, nur noch zuweilen schluchzte sie leise im Schlafe auf. Jetzt stahl sich Tom unter dem Bett vor, richtete sich ganz allmählich in die Höhe, beschattete das Licht mit seiner Hand und betrachtete sie. Sein Herz floß über vor Mitleid. Er nahm die Sykomorenrinde aus der Tasche und legte sie neben dem Lichte nieder. Da schoß ihm ein Gedanke durch den Kopf und er zögerte überlegend. Sein Gesicht verklärte sich förmlich im Widerschein der erleuchteten Idee, die ihm gekommen. Hastig nahm er die Rinde wieder an sich, beugte sich über das alte Antlitz, hauchte einen Kuß auf ihre Lippen und stahl sich, leise wie er gekommen, durch die Türe, die er hinter sich schloß.

Er schlich den gleichen Weg zurück nach der Fähre, fand dort niemanden und betrat kühn das Deck. Wußte er doch, daß sich um diese Zeit nur ein Wächter dort befand, und der zog sich für gewöhnlich in die Kajüte zurück und schlief wie ein Sack. Er löste den Nachen von der Seite, schlüpfte hinein und glitt bald danach, vorsichtig rudernd, stromaufwärts dahin. Als er eine Meile oberhalb der Stadt war, schlug er die Richtung quer über den Fluß ein und legte sich tüchtig ins Zeug. Er traf genau auf die Landungsstelle an der anderen Seite. Diese Leistung war für ihn nicht neu. Nun überlegte Tom, ob er nicht den Nachen mitnehmen sollte, der doch sozusagen ganz legitime Beute für einen Seeräuber wäre. Doch wußte er, daß man genaue Nachforschungen nach dem Verbleib anstellen würde und die hätten am Ende zu unliebsamen Entdeckungen führen können. So sprang er denn ans Ufer und begab sich sofort in den Wald. Dort setzte er sich hin, ruhte lange, lange aus und quälte sich dabei namenlos ab, um sich wach zu erhalten. Dann machte er sich müde, matt und schläfrig auf den Heimweg. Die Nacht war schon weit vorgerückt. Es wurde heller Tag, ehe er sich wieder am Ufer gegenüber der Sandbank befand. Er ruhte sich nochmals aus, bis die Sonne ganz aufgegangen war und den Strom mit ihrem Glanze übergoldete, dann warf er sich ins Wasser und bald darauf stand er triefend am Eingang des Lagers und hörte Joe sagen:

»Nein, Tom ist treu wie Gold, Huck, der kommt wieder, der kneift nicht aus! Er weiß, daß das eine Ehrlosigkeit für einen Piraten wäre, und Tom ist viel zu stolz, um so was zu tun. Er führt irgend etwas im Schilde, das ist sicher, möcht nur wissen was!«

»Na, aber die Sachen dort im Hut sind doch unser, nicht?«

»Beinahe, Huck, noch nicht ganz. Hier die Schrift auf der Rinde sagt: Die Sachen gehören euch, sollte ich nicht bis zum Frühstück zurück sein –«

»Was hiermit der Fall ist«, rief Tom und betrat mit großartigem, dramatischem Effekt die Szene.

Ein üppiges Frühstück, aus Speck und Fisch zusammengesetzt, war bald zur Stelle. Die Jungen machten sich drüber her, Tom erzählte dabei seine Abenteuer mit entsprechender Ausschmückung. Sein Ruhm warf einen strahlenden Abglanz auf die anderen. Die Erzählung verwandelte sie alsbald in eine eitle, prahlerische, lärmende Heldenschar. Dann suchte sich Tom ein stilles, verborgenes Winkelchen zum Schlafen, während die anderen Piraten sich fertig machten, um zu fischen und auf Entdeckungen auszugehen.

Fünfzehntes Kapitel.

Heimweh und Rauch-Studien.

Fünfzehntes Kapitel.

Nach dem Mittagessen begab sich die ganze Bande zur Sandbank auf die Suche nach Schildkröteneiern. Mit Stöcken durchwühlten sie den Sand und wo sie eine hohle Stelle fanden, gruben sie mit den Händen nach und entdeckten oft fünfzig bis sechzig Eier in einem Loch, runde, weiße, nußgroße Dinger. Am Abend bereiteten sie sich aus den gebackenen Eiern ein köstliches Mahl, ebenso ein leckeres Frühstück am nächsten Morgen, einem Freitag. Danach gingen sie zur Sandbank, schwammen und tollten im Wasser herum und wälzten sich zur Abwechslung im heißen Sande, in dem sie sich förmlich eingruben. Plötzlich kam ihnen der Gedanke, daß der kleiderlose Zustand, in welchem sie sich befanden, die größte Ähnlichkeit habe mit den Trikots der Zirkushelden. Augenblicklich wurde ein Kreis in den Sand gezogen, der einen Zirkus vorstellen mußte, einen Zirkus mit drei Clowns in demselben, denn keiner der Jungen konnte sich entschließen, diesen stolzesten, begehrtesten aller Posten einem anderen zu überlassen.

Als dies Vergnügen bis zur Neige ausgekostet war, sprangen Huck und Joe nochmals ins Wasser. Tom getraute sich nicht hinein, da er entdeckte, daß er beim Ausziehen der Hosen seine Klapperschlangenklappern verloren habe. Nur durch ein Wunder konnte er bis jetzt der Gefahr eines Krampfes beim Schwimmen entgangen sein ohne den geheimnisvoll wirkenden Schutz dieses Zaubermittels. Eifrig suchte er danach, und als er sie schließlich fand, die Zauberklappern, waren die anderen des Schwimmens müde und ruhebedürftig. Sie schlenderten nun am Ufer hin, wurden schweigsam, verfielen in Brüten, blieben einer hinter dem anderen zurück und jeder ertappte sich darauf, daß er sehnsüchtig in die Weite starrte, dorthin, wo das heimatliche Nest schläfrig im Sonnenbrande dalag. Tom wurde sich mit einem Male bewußt, daß er mit der großen Zehe »Becky« in den Sand schrieb. Ärgerlich über seine unmännliche Schwäche wischte er’s aus, zog aber im nächsten Moment nichtsdestoweniger dieselben magischen Linien aufs neue, fast gegen seinen Willen; er konnte nicht anders. Wieder löschte er dieselben und entzog sich dann der Versuchung, indem er den beiden Kameraden nachjagte und sie zusammentrieb.

Joes Lebensgeister aber waren mittlerweile so gesunken, daß ein Aufraffen derselben fast unmöglich schien. Er hatte solches Heimweh, daß er es vor Elend kaum mehr aushalten konnte. Verräterische Tränen waren dicht am Überfließen. Auch Huck war melancholisch geworden. Tom war gleichfalls sehr niedergeschlagen, bemühte sich aber redlich, es nicht zu zeigen. Seine Brust barg ein Geheimnis, das ihm aber zur Mitteilung noch nicht reif schien. Sollte sich jedoch diese rebellische Niedergeschlagenheit nicht bannen lassen, so mußte er am Ende doch damit herausrücken. Mit erkünstelter Heiterkeit rief er plötzlich:

»Ich wett‘, Jungens, auf der Insel hier waren schon vor uns Piraten. Laßt uns noch ‚mal genau alles durchforschen. Vielleicht haben sie irgendwo ’nen Schatz versteckt. Das war doch ein Hauptspaß, wenn wir plötzlich auf eine verfaulte Kiste voll Gold und Silber stießen, was?«

Diese Aussicht vermochte indessen nur schwache Begeisterung zu erregen, die alsbald erstarb, ohne ein Echo erweckt zu haben. Tom versuchte es mit zwei oder drei anderen lockenden Vorschlägen, – es war verlorene Liebesmüh, Joe saß und bohrte mit einem Stock im Sand herum und sah sehr brummig aus. Schließlich rief er ungestüm:

»Jungens, wir wollen’s sein lassen. Ich will heim, hier ist’s so einsam.«

»Ach, Joe, wart doch,« beruhigte Tom, »bald denkst du ganz anders drüber. Denk doch nur allein ans Fischen!«

»Was liegt mir am Fischen. Ich will heim!«

»Aber, Joe, wo findest du wieder einen Platz zum Schwimmen wie hier?«

»Schwimmen ist mir ganz egal. Ich mach mir gar nichts mehr draus, seit keiner da ist, um’s zu verbieten. Ich will heim.«

»Ach Papperlapapp! Wickelkind! Will seine Mama sehen, was?«

»Ja, das will ich auch! Ich will meine Mutter sehen, und wenn du eine hättest, wolltest du’s auch. Ich bin kein größeres Wickelkind als du!« Und Joe schluchzte ein bißchen vor sich hin.

»Schön, schön! Laß das Kindchen zu seiner Mama gehen, gelt, Huck? Armes, kleines Wickelkind will die Mama sehen. Soll’s haben, armes, kleines Ding. Dir gefällt’s hier, Huck, gelt? Wir zwei bleiben, nicht?«

Huck ließ ein sehr zweifelhaftes, gedehntes »Ja–a–a« hören.

»So lang ich leb, red ich mit dir nie wieder«, damit erhob sich Joe und begann sich anzukleiden.

»Als ob mir daran was läge?« versetzte Tom geringschätzig, »wir brauchen dich nicht. Geh heim und laß dich auslachen, Du bist ein schöner Pirat, du! Huck und ich, wir sind keine Schreikinder, wir bleiben hier, gelt, Huck? Der mag laufen wohin er will, wollen schon fertig werden ohne ihn!«

Tom war es aber doch nicht recht geheuer bei der Sache und unruhig sah er zu, wie Joe wortlos und halsstarrig fortfuhr sich anzukleiden. Es ängstigte ihn auch zu sehen, daß Huck aufmerksam den Vorbereitungen Joes folgte, während er ein gefahrdrohendes Schweigen beobachtete. Alsbald, ohne ein Wort des Abschiedes, begann Joe nach dem Illinoisufer zuzuwaten. Tom sank das Herz bis in die äußerste Zehenspitze. Er warf einen forschenden Blick auf Huck. Dieser vermochte den Blick nicht auszuhalten und schlug die Augen nieder. Dann sagte er:

»Ich will auch fort, Tom! ’s war vorher schon einsam und jetzt wird’s noch schlimmer. Komm, wir gehen mit!«

»Ich geh nicht. Ihr könnt alle weg, wenn ihr wollt. Ich will bleiben.«

»Ich, ich denk, ich geh!«

»Immer zu, wer hält dich denn?«

Huck begann seine Kleider aufzuraffen. Dabei sagte er: »Tom, ich wollt, du gingst mit. Denk mal drüber nach. Drüben am Ufer wollen wir ’ne Zeitlang auf dich warten.«

»Na, da könnt ihr warten, bis ihr schwarz werdet, das kann ich dir sagen!«

Kummervoll wandte sich Huck ab und Tom stand und sah ihm nach, während ihm das glühendste Verlangen, den beiden zu folgen, fast das Herz abdrückte. Sein Stolz wollte das aber nicht zulassen. Von Augenblick zu Augenblick hoffte Tom, die Jungen würden stehen bleiben, die aber wateten entschlossen vorwärts, ohne sich umzusehen. Plötzlich überfiel ihn das Bewußtsein, wie still und einsam es um ihn geworden, mit niederschmetternder Gewalt. Einen letzten Strauß bestand er mit seinem Stolze, dann stürzte er hinter den Kameraden her, denselben nachbrüllend:

»Wartet, so wartet doch, ich muß euch etwas sagen.«

Die standen still und wandten sich. Als er sie erreichte, teilte er ihnen sein Geheimnis mit. Sie hörten mürrisch zu; als ihnen aber klar wurde, worauf er loszielte, stießen sie ein gellendes Kriegsgeheul aus und erklärten den Plan für einen Kapitalspaß. Wenn er das gleich gesagt hätte, wären sie niemals weggelaufen, versicherten sie. Tom redete sich heraus, so gut er konnte. In Wahrheit aber hatte er gefürchtet, selbst die Enthüllung dieses geheimnisvollen Plans vermöchte nicht, sie für die Länge der Zeit auf der Insel festzuhalten und darum hatte er sich dies als letztes Lockmittel für den äußersten Notfall aufsparen wollen.

Lustig wanderten nun die Jungen zurück und warfen sich mit erneuter Energie aufs Spiel, die ganze Zeit über Toms großartigen Plan besprechend und dessen Genialität bewundernd. Nach einem leckeren Mittagsmahl, aus Fisch und Eiern bestehend, erklärte Tom, daß er nun rauchen lernen wolle. Joe gefiel der Gedanke, er wollte es auch probieren. Huck machte also zwei Pfeifen zurecht und stopfte dieselben. Die beiden neuesten Jünger in der Kunst des Rauchens hatten bis jetzt ihr Talent nur an Chokoladezigarren erprobt, und das war keineswegs ein Beweis von gereifter Männlichkeit.

Nun streckten sie sich in Moos, stützten sich auf die Ellbogen und begannen, freilich etwas zögernd, drauf loszudampfen, mit offenbar nicht allzugroßer Zuversicht in ihre Fähigkeiten, ganz gegen ihre sonstige Art und Weise. Der Rauch hatte aber auch einen gar zu unangenehmen Geschmack, sie mußten sich immerzu räuspern, doch Tom meinte:

»Ach, das ist ja ganz leicht; wenn ich das früher gewußt hätte, ei, ich hätt’s längst gelernt.«

»Ich auch,« bekräftigte Joe, »das ist ja rein gar nichts.«

»Na, wie oft hab‘ ich einem zugesehen, der geraucht hat und mir gewünscht, wenn du’s doch nur auch könntest, Hab‘ aber nie gedacht, daß das möglich war«, sagte Tom. »Aber so bin ich. Nicht, Huck? Trau mir nichts zu! Hundertmal ist mir’s schon so gegangen, gelt, Huck?«

»Weiß Gott, hab’s auch schon gedacht«, bestätigte dieser.

»Grad wie bei mir,« rief Joe, »tausendmal ist mir das schon passiert. Erinnerst du dich, Huck, damals beim Schlachthaus, die anderen waren alle dabei, der Bob und der Johnny und der Jeff auch, da –«

»Ja, so ist’s,« fiel Huck ein, ohne weiteres abzuwarten, »’s war just an dem Tag, an dem ich meine schöne weiße Steinkugel verloren hatt‘ – oder auch am Tag vorher.«

»Siehst du wohl,« rief Joe, »der Huck erinnert sich. – Ich glaub, die Pfeife hier könnt ich den ganzen Tag lang rauchen, es ist mir kein bißchen übel.«

»O mir auch nicht,« fiel Tom ein, »ich könnt auch den ganzen Tag weiterrauchen. Der Jeff Thatcher aber, da wollt ich alles wetten, der könnt’s nicht.«

»Jeff Thatcher! Herrgott, der wär nach zwei Zügen geliefert. Der sollt’s nur mal probieren, der würd was Schönes zu sehen kriegen!«

»Das glaub ich auch – und der Johnny Miller, – na, den möcht ich mal dabei sehen.«

»Na und ich!« lachte Joe, »ei der, der könnt das nicht besser, als alles andere, was er kann – und er kann nichts! Der braucht’s nur zu riechen, dann wär er schon hin!«

»Weiß Gott, so ist’s. Ich wollt nur eins, Joe, ich wollt, die Jungens könnten uns so sehen!«

»Und ich erst!«

»Sagt mal, Jungens, wir reden gar nichts drüber und wenn wir dann mal alle zusammen sind, geh ich auf dich zu, Joe, und frag: ›Hast du ’ne Pfeife da, Joe? Ich möcht gern mal rauchen,‹ Und du sagst dann, so ganz nachlässig, als ob’s gar nichts war: ›Ja, die alte hab‘ ich und auch meine neue, aber mein Tabak ist nicht sehr gut.‹ – ›Ach, macht nichts‹, sag ich dann, ›wenn er nur stark genug ist.‹ Dann du heraus mit den Pfeifen und angesteckt, – Herrgott, die werden Augen machen!«

»Das wird wundervoll, Tom, wär’s nur schon so weit.«

»Ja und dann sagen wir, das haben wir alles gelernt, wie wir als Piraten ausgezogen sind und dann platzten sie erst recht vor Neid.«

»Na und ob! ’s wird prächtig, Tom!«

So plauderten sie und bramarbasierten, aber allmählich wurden sie stiller und warfen nur noch gelegentlich eine Bemerkung hin. Die Pausen wurden häufiger, im selben Maße, wie ein sonderbares Ausspucken zunahm. Jede Pore innerhalb ihres Mundes schien zum rieselnden Brunnen geworden. Sie waren kaum imstande, die Höhlungen unter der Zunge schnell genug zu leeren, um eine Überschwemmung zu verhüten. Kleine Ergüsse den Hals hinunter kamen trotz aller Eile vor, denen jedesmal ein leichter Würganfall folgte. Beide Helden sahen nun recht blaß und elend aus. Joes kraftlosen Fingern entsank die Pfeife, Toms Pfeife folgte. Die Wasserwerke und Pumpen arbeiteten mit Macht. Endlich sagte Joe mit schwacher Stimme:

»Hab‘ da irgendwo mein Messer verloren. Will lieber mal gehen und suchen.«

Mit zitternden Lippen keuchte Tom:

»Ich helf dir. Geh du dorthin, ich mach mich nach der Quelle. Nein, Huck, bleib, du brauchst nicht zu kommen, wir werden’s schon finden!«

Huck setzte sich also wieder und wartete ungefähr eine Stunde. Dann fand er’s langweilig und ging die Kameraden suchen.

Er fand sie auch, weit voneinander entfernt, mitten im Walde, beide sehr blaß, beide schlafend. Etwas aber in ihrer Umgebung bewies ihm, daß, falls sie Unannehmlichkeiten gehabt, sie sich derselben endgültig entledigt hatten.

Beim Abendessen waren sie nicht allzu redselig, hatten eine etwas niedergeschlagene Miene, und als Huck zum Nachtisch seine Pfeife hervorzog und sich bereit zeigte, auch die ihren zu stopfen, da dankten sie, sagten, sie fühlten sich nicht ganz wohl, beim Mittagessen müsse ihnen etwas nicht gut bekommen sein.