Glückliche Heimkehr. – Eifersucht.

Siebzehntes Kapitel.

In der kleinen Stadt herrschte inzwischen an jenem ruhigen Sonnabend nachmittag durchaus keine Fröhlichkeit. Die Familie Harper und Tante Polly samt den Ihren steckten sich in Trauerkleider unter vielen Tränen. Eine ungewöhnliche Stille lag über dem Städtchen, in welchem man sich im allgemeinen schon nicht über allzuviel Lärm und Getriebe beklagen konnte. Mit zerstreuter Miene gingen die Leute ihren Geschäften nach, redeten wenig dabei und seufzten oftmals. Selbst den Kindern schien dieser Sonnabend der Schulfreiheit nicht die gewohnte Freude zu gewähren. Es lag kein Zug in ihren Spielen und bald gaben sie dieselben ganz auf.

Am Nachmittag schlich Becky Thatcher um das verlassene Schulhaus herum, ihr war ganz melancholisch zumute. Doch auch dort fand sie keinen Trost. Leise sprach sie vor sich hin:

»Könnt ich doch nur seinen Messingknopf wiederfinden! Jetzt hab‘ ich gar kein Erinnerungszeichen mehr an ihn«, und sie unterdrückte ein leises Schluchzen.

Dann blieb sie stehen und meinte sinnend:

»Grad hier war’s. O, wenn’s noch einmal wäre, das würde ich nie mehr sagen – nie mehr, nicht für alle Welt. Jetzt aber ist er fort und ich werde ihn nie, nie, niemals wiedersehen!«

Dieser Gedanke raubte ihr die letzte Fassung und unter strömenden Tränen schlich sie davon. Nun erschien eine ganze Gruppe von Jungen und Mädchen: Spielkameraden von Tom und Joe, auf dem Schulhof; sie sprachen in leisem, bedrücktem Ton von den beiden Verlorenen, was Tom getan und gesagt das letztemal, als sie ihn gesehen, und wie Joe gelächelt und was er gesagt; jede geringste Kleinigkeit erschien nun von ahnungsschwerer Vorbedeutung. Dabei bezeichnete jeder Sprecher den genauen Platz, an dem die Vermißten damals gestanden und dann folgte jedesmal: »und ich stand da, grad wie eben und der da, wo du stehst, grad so nah‘ und er lächelte – so – und mir lief’s ganz kalt über den Rücken – ordentlich schauerlich – warum, wüßt ich damals freilich nicht, aber jetzt ist mir’s klar.«

Nun entspann sich ein Streit darüber, wer die beiden zuletzt gesehen im Leben, und viele rissen sich um diese traurige Auszeichnung, für die sie Beweise vorbrachten, welche die Zeugen mehr oder weniger glaubwürdig fanden. Schließlich, nach langer Debatte, war’s endgültig entschieden, wer die letzten Worte mit den Verschwundenen gewechselt hatte, und die glücklichen Sieger erhielten dadurch eine Würde und Wichtigkeit, welche die Bewunderung und den Neid der anderen erregte. Ein armer, kleiner Bursche, der sonst keine Auszeichnung irgendwelcher Art aufweisen konnte, sagte mit sichtlichem Stolze bei der bloßen Erinnerung:

»Mich, mich hat der Tom Sawyer einmal tüchtig durchgeprügelt.«

Dieser Versuch aber, zu Ruhm zu gelangen, erwies sich als gänzlich erfolglos. Die meisten Jungen konnten sich dessen rühmen, und dadurch sank die Auszeichnung doch allzusehr im Werte. Die Gruppe trollte von dannen, halblauten Tones immer neue Erinnerungen an die verlorenen Helden austauschend.

Am nächsten Morgen, als die Sonntagsschulstunde vorüber war, begann die Glocke mit hohlem, dumpfem Klang anzuschlagen, anstatt wie sonst feierlich zu läuten. Es war ein ungewöhnlich stiller Sabbat und der klagende Ton stimmte zu der nachdenklichen, feierlichen Ruhe, die über der ganzen Natur lag. Die Einwohner des Städtchens gingen zur Kirche und verweilten einen Augenblick in der Vorhalle, um sich flüsternd über das traurige Ereignis zu unterhalten. In der Kirche selbst aber war’s totenstill, nur das Rauschen der Frauengewänder unterbrach das Schweigen. Keiner konnte sich erinnern, die kleine Kirche jemals so voll gesehen zu haben. Eine tiefe, erwartungsvolle Pause entstand und dann trat Tante Polly ein, gefolgt von Sid und Mary und der Familie Harper, alle in tiefstem Schwarz. Die ganze Gemeinde zusamt dem Geistlichen erhob sich achtungsvoll von ihren Plätzen, bis die Trauernden durch ihre Reihen geschritten waren und in der vordersten Bank Platz genommen hatten. Wiederum folgte tiefe Stille, nur hier und da durch ersticktes Schluchzen unterbrochen, dann erhob der Geistliche seine Stimme und betete. Ein ergreifendes Lied wurde gesungen, dann folgte die Predigt.

In seiner Predigt entwarf der Geistliche ein solch glänzendes Bild von den Tugenden, der Liebenswürdigkeit und den vielversprechenden Talenten der Verlorenen, daß jeder der Zuhörer in der ehrlichen Meinung, dies getreue Abbild wiederzuerkennen, einen Stich im Herzen fühlte, bei dem Gedanken, wie beharrlich blind er selber gegen alle diese Vorzüge gewesen und wie er ebenso beharrlich nur Fehler und Mängel in den armen Jungen zu entdecken vermocht. Nun folgte manch rührender, hochherziger Zug aus dem Leben der Dahingeschiedenen, der das Vorhergesagte bekräftigen und beweisen sollte, und jedermann gingen nun erst die Augen und das Verständnis auf dafür, wie groß und erhaben eigentlich jene kleinen Vorkommnisse gewesen waren, die ihnen zurzeit als die ärgsten Schelmenstreiche und Teufeleien einer tüchtigen Tracht Prügel wert erschienen. Die Versammlung wurde immer bewegter, je weiter der Geistliche in seiner pathetischen Rede vorrückte, bis schließlich die ganze Gesellschaft jegliche Fassung und Haltung verlor und sich in vollem Chor dem Schluchzen und Seufzen der trauernden Hinterbliebenen anschloß. Ja, den Geistlichen selbst übermannten seine Gefühle, er verstummte und weinte auf offener Kanzel.

Ein Rascheln ertönte von der Emporkirche, auf das niemand achtete. Einen Moment später knarrte eine Türe, der Geistliche erhob seine strömenden Augen über das verhüllende Taschentuch und – stand und starrte wie versteinert! Erst folgte ein Paar Augen der Richtung der seinen, dann ein zweites, und plötzlich erhob sich, wie von einem gemeinsamen Antrieb beseelt, die ganze Gemeinde und starrte auf die drei toten Jungen, welche gemächlich den Mittelgang heraufmarschierten. Tom voran, Joe hinter ihm, zuletzt Huck, eine wandelnde Ruine in Lumpen. Die drei waren in jener unbenutzten Emporgalerie verborgen gewesen und hatten ihre eigene Grabrede mit angehört!

Tante Polly, Mary und Harpers stürzten sich auf die wiedergeschenkten Ihrigen und erstickten dieselben fast mit Küssen und Umarmungen. Der arme Huck aber stand daneben, blöde und verschüchtert, wußte nicht, was er tun oder wo er sich bergen sollte vor so viel starrenden Augen, von denen nicht eines ihm einen Willkommengruß bot. Er wandte sich halb und versuchte fortzuschleichen, Tom aber faßte ihn und rief:

»Tante Polly, das ist nicht recht und nicht schön. Es muß sich auch jemand freuen, daß Huck wieder da ist.«

»Das müssen wir, Tom, mein Junge, und wollen’s auch, armes, elternloses Kind!« Wenn aber etwas das Gefühl des Mißbehagens bei Huck noch vermehren konnte, so waren es die Zärtlichkeiten, mit denen Tante Polly ihn überhäufte.

Plötzlich rief der Geistliche mit aller Kraft seiner Lunge in den Lärm hinein:

»Lobet den Herren, den mächtigen König der Ehren! – Nun singet! – Aber herzhaft!«

Und sie sangen. Triumphierend mit gewaltigem Klang erscholl das alte, hehre Lob- und Danklied, die Töne stiegen und schwollen und schienen die Grundfesten des Gebäudes zu erschüttern. Tom Sawyer, der Pirat, blickte um sich, sah aller Augen auf sich gerichtet und fühlte, daß dies der stolzeste Moment seines Lebens sei.

Als die Gemeinde die Kirche verließ, meinten alle, von Herzen gerne würden sie sich noch einmal zum besten haben lassen, nur um »Lobet den Herren« wieder so erhebend singen zu hören.

*

Das also war Toms großes Geheimnis gewesen: der Plan, mit seinen Spießgesellen heimzukehren und ihrem eigenen Trauergottesdienst beizuwohnen. – Auf einem alten Baumstamm waren sie abends nach dem Missouriufer geschwommen, fünf oder sechs Meilen unterhalb des Städtchens gelandet, hatten in dem Walde, der die Stadt begrenzte, beinahe bis Tagesanbruch geschlafen, dann sich durch einige Seitengäßchen zur Kirche geschlichen, wo sie in der Empore ihren Schlaf vollendeten, inmitten eines Chaos von wackeligen alten Kirchenbänken.

Beim Frühstück am Montag morgen waren Tante Polly und Mary besonders zärtlich gegen Tom und voll Aufmerksamkeit gegen seine Wünsche, Man sprach ungewöhnlich viel. Im Laufe der Unterhaltung äußerte Tante Polly:

»Na, Tom, ich will nicht sagen, daß es für euch Jungens nicht ein Kapitalspaß gewesen sein muß, uns hier alle in Sorge und Kummer zu wissen, während ihr’s euch da draußen wohl sein ließet. Daß du aber so hartherzig sein konntest, Tom, und mich so zappeln und mich grämen lassen, das, Tom, das hätt‘ ich doch nicht von dir gedacht! Wenn du hast herüber kommen können, um deine eigene Leichenrede zu hören, so hättest du mir vorher wohl auch ’nen kleinen Wink geben dürfen, daß du nicht tot seiest, sondern nur davongelaufen.«

»Ja, Tom, das ist wahr, das hättest du tun müssen,« stimmte Mary bei, »und du würdest es wohl auch getan haben, wenn du dran gedacht hättest, – gelt?«

»Ja, Tom?« fragte nun Tante Polly, deren Antlitz sich bei Marys Worten bedeutend aufgeklärt, »sag mal, hättest du’s wirklich getan, wenn du dran gedacht hättest?«

»Ich – ja, ich weiß nicht, ich – ei, das hätt‘ ja alles verdorben.«

»Tom, ich dachte immer, so lieb würdest du mich doch wenigstens haben,« sagte Tante Polly ganz vorwurfsvollen, betrübten Tones, wobei es dem Jungen gar nicht wohl war. »’s war schon was gewesen, wenn du nur dran gedacht hättest, auch ohne es zu tun.«

»Na, Tantchen,« beruhigte Mary, »das ist nun mal so Toms flüchtige Art – der ist immer so in der Hast und im Eifer, daß er nie an irgend etwas denkt.«

»Um so schlimmer. Sid hätt‘ dran gedacht und Sid war auch gekommen und hätt’s getan. Tom, du wirst nochmal dran zurückdenken, wenn’s zu spät ist, und wünschen, daß du besser gegen deine alte Tante gewesen wärst, wo doch so wenig dazu gehört, mich –«

»Komm, Tantchen, du weißt, daß ich dich lieb hab‘, du mußt’s ja wissen, gelt?« schmeichelte Tom.

»Würd’s besser wissen, wenn du’s besser zeigtest.«

»Ich wollt, ich hätt‘ dran gedacht,« meinte Tom sinnend und mit reuigem Ton, jedenfalls aber hab‘ ich von dir geträumt. Das ist doch schon etwas, nicht? Ei, in der Nacht von Mittwoch träumte mir, ihr säßet alle dort beim Bett, Sid sah auf dem Holzkasten und Mary dicht daneben.«

»Ja und so war’s auch, – wie gewöhnlich. Ich bin froh, daß du dir in deinem Traum wenigstens die Mühe gabst, an uns zu denken.«

»Ja, und Joe Harpers Mutter war auch da, träumte ich.«

»Das war sie wirklich, Herr du mein, – na und was weiter, Tom, was weiter?«

»Viel noch, aber jetzt ist alles so verworren.«

»Na, besinn dich doch, probier’s mal, kannst du nicht?«

»Wart‘ mal, ich mein‘, der Wind – der Wind hätt‘ was ausgeblasen –«

»Ausgeblasen? ne, Tom, besinn dich besser, der Wind.«

»Richtig, wart‘, jetzt hab ich’s. Der Wind hat das Licht flackern machen und –«

»Herr, erbarm dich! – Weiter, Tom, weiter!«

»Na und ich glaub, du sagtest: ›Was, seht doch mal die Tür, die –‹«

»Weiter, Tom!«

»Wart ’nen Moment, nur ’nen Moment! O ja, jetzt hab ich’s – du sagtest, sie sollten nach der Türe sehen, die sei offen –«

»So wahr ich hier sitze, so sagt ich, gelt, Mary? Weiter!«

»Nanu – dann – ja gewiß weiß ich’s nicht mehr, aber ich meine, du hältst Sid geheißen, sie zuzumachen und – und –«

»So was lebt nicht mehr! Herr du mein Gott, Komm mir nur keiner mehr damit, daß Träume Schäume seien. Das soll die Harpern hören, eh‘ ich ’ne Stunde älter bin! Möcht wissen, wie sie sich da rausreden wird mit ihrem Unsinn von Aberglauben, über den sie so wohlweise schwatzt. Weiter, Tom!«

»Na, jetzt ist mir alles klar wie Sonnenschein! Dann hast du gesagt, ich war nicht schlecht, nur toll und voll Teufeleien und Unsinn, wüßt nicht mehr, was ich tat, als wie ein – ein – ein Füllen, mein‘ ich, war’s, oder so etwas.«

»Richtig, richtig. Großer, allmächtiger Gott! Weiter, Tom!«

»Dann hast du geweint –«

»Weiß Gott, weiß Gott und nicht zum erstenmal. Dann –«

»Dann fing Joes Mutter auch an zu weinen und sagte, mit ihrem Joe sei’s grad so und sie wollt nur, sie hätt‘ ihn nicht durchgewichst um den alten Rahm, den sie doch selber weggeschüttet –«

»Tom, Tom! Der Geist war über dir! Das ist ja die reine Eingebung, gar nichts anderes! Gott sei mir gnädig! – Weiter, Tom!«

»Dann kam Sid, der sagte –«

»Ich glaub, daß ich gar nichts gesagt hab’«, warf Sid rasch ein.

»Doch, Sid, doch«, berichtigte Mary.

»Schweigt still und laßt Tom reden! Was hat Sid gesagt, Tom?«

»Der sagte – na, ja, er hoffe, mir gehe es besser, wo ich sei, wenn ich aber manchmal besser –«

»Na, was sagt ihr nun?« triumphierte Tante Polly »Seine eigenen Worte!«

»Und du, Tantchen, du bist ihm eklig über den Mund gefahren, du –«

»Das bin ich, weiß Gott, das bin ich! Ein Engel muß uns belauscht haben: Ein heiliger Himmelsengel muh irgendwo verborgen gewesen sein!«

»Und dann erzählte Frau Harper, wie Joe ihr einen Schwärmer unter der Nase losgebrannt, und du erzähltest von Peter und dem ›Schmerzenstöter‹.«

»So wahr ich lebe!«

»Und dann redetet ihr alle durcheinander, wie man den Fluß abgesucht nach uns und daß am Sonntag der Trauergottesdienst sein solle, und dann habt ihr euch umarmt, die Frau Harper und du, und geweint und dann ging sie weg.«

»Grad so war’s, grad so! So wahr ich hier auf meinem Stuhl sitze! Tom, du hättest es nicht besser erzählen können, wenn du dabei gewesen wärest. Und dann was? Weiter, Tom!«

»Und dann hast du für mich gebetet, ich hab dich gesehen und jedes Wort gehört. Dann hast du dich ins Bett gelegt und ich war so betrübt, daß ich ein Stück Rinde nahm und drauf schrieb: ›Wir sind nicht tot, wir sind nur davongegangen, um Seeräuber zu werden.‹ Das hab ich auf den Tisch zum Licht hingelegt, und du hast so gut ausgesehen und so betrübt, wie du da gelegen hast und geschlafen, daß ich mich über dich beugen mußte und dich küssen.«

»Hast du das getan, Tom, wirklich und wahrhaftig? – Darum will ich dir alles, alles verzeihen!« Und sie riß den Jungen in einer ihn fast erstickenden Umarmung an sich und Tom hatte dabei das Bewußtsein eines elenden, erbärmlichen Schurken.

»Freundlich und lieb war’s ja,« murmelte Sid, den anderen hörbar, vor sich hin, »aber – doch nur im Traum!«

»Halt den Mund, Sid, man tut im Traum immer doch nur das, was man auch wachend tun würde. Hier hast du einen schönen Goldrenettenapfel, Tom, den hab ich dir aufgehoben, falls du je wieder gefunden werden solltest, – jetzt macht euch fort in die Schule! Wie dankbar bin ich unserem Gott und Vater, daß ich dich wieder hab. Er ist barmherzig und gnädig mit denen, die an ihn glauben und seine Gebote halten, obgleich ich, weiß Gott, ein unwürdiges Gefäß seiner Güte bin. Wenn er aber nur denen, die’s verdienen, seinen Segen geben wollte, und ihnen helfen in der Not und der Trübsal, so würde man hier unten keinen frohen Ton mehr hören, und wenige würden zu seiner Ruhe eingehen, wenn die lange Nacht einst kommt. So, und nun hebt euch fort, Sid, Mary, Tom – ihr habt mich lang genug aufgehalten.«

Die Kinder trollten zur Schule und die alte Dame machte sich fertig, um Frau Harper aufzusuchen und ihren Unglauben mit Toms wunderbarem Traum zu besiegen. Sid war zu klug, um den Gedanken laut werden zu lassen, der ihn beseelte, als er das Haus verließ. Dieser Gedanke war:

»Ziemlich durchsichtig – ein so ellenlanger Traum und ohne den winzigsten, kleinsten Irrtum! Wenn das nicht –«

Welch ein Held war Tom geworden! Er hüpfte und galoppierte jetzt nicht mehr, wenn er auf der Straße ging, sondern mit würdevoller Haltung, wie sie einem gewesenen Piraten geziemte, stolzierte er einher in dem Bewußtsein, daß das Auge der Öffentlichkeit auf ihm ruhe. Das war in der Tat der Fall. Wohl versuchte er sich zu stellen, als sähe er die Blicke nicht, als höre er die Bemerkungen nicht, während er so dahinschritt, und doch waren sie Nektar und Ambrosia für ihn. Kleinere Jungen folgten truppweise seinen Spuren, stolz darauf, mit ihm gesehen, von ihm geduldet zu werden, der an ihrer Spitze einhermarschierte wie der Tambourmajor an der Spitze seiner Kompagnie. Jungen seines Alters taten, als wüßten sie gar nichts davon, daß er überhaupt weggewesen, verzehrten sich aber trotzdem beinahe vor Neid. Sie würden alles drum gegeben haben, seine gebräunte, sonnverbrannte Haut, seine glänzende, weltkundige Berühmtheit zu besitzen, Tom aber hätte keinen dieser beiden Faktoren hergegeben, nicht für alles – nicht für einen Zirkus!

In der Schule machte man so viel Aufhebens von ihm und Joe, solches Staunen, solche Bewunderung strahlte den beiden aus allen Augen entgegen, daß die zwei Helden gar bald eine unerträgliche Aufgeblasenheit zeigten. Sie begannen den eifrig lauschenden Hörern ihre Abenteuer zu schildern, – ohne aber je über den Anfang hinauszukommen, denn eine solche Erzählung konnte kein Ende haben, wenn eine Einbildungskraft wie die ihre stets unerschöpfliches Material lieferte. Als sie dann schließlich ihre Pfeifen hervorzogen und mit größter Unbefangenheit zu schmauchen begannen – da war der Gipfel des Ruhms erklommen.

Tom beschloß, sich unabhängig zu machen von Becky Thatcher, Ruhm war ihm genügend, nach Liebe fragte er nichts mehr. Er wollte sein Leben dem Ruhme weihen. Jetzt, da er ein berühmter Held geworden, werde sie wohl versuchen, Frieden zu schließen, dachte er. Aber sie sollte sehen, daß er mindestens so gleichgültig sein könne wie andere Leute. Dort kam sie eben. Tom tat, als bemerke er sie nicht. Er wandte sich ab und einer Gruppe von Jungen und Mädchen zu, mit denen er eifrig zu plaudern begann. Bald sah er, daß sie mit glühenden Wangen und glänzenden Augen umhertrippelte, ihre Gefährtinnen neckte, sie herumjagte und vor Lachen aufkreischte, wenn es ihr gelang, eine zu erhaschen. Auch bemerkte er, daß dies meistens in seiner unmittelbaren Nachbarschaft der Fall war und daß ihn dann jedesmal ihr Blick streifte. Das schmeichelte seiner sündlichen Eitelkeit und anstatt sich dadurch versöhnen zu lassen, stellte er sich nur noch mehr, als ob er von ihrer Existenz überhaupt nichts wisse. Alsbald gab sie das Herumtollen auf, drückte sich unentschlossen von einer Gruppe zur anderen, seufzte ein-, zweimal und sah verstohlen und bedeutungsvoll nach Tom hin. Jetzt bemerkte sie, daß dieser sich angelegentlich mit Anny Lorenz zu tun machte. Ein jäher Schmerz durchzuckte sie, ihr ahnte nichts Gutes, Sie versuchte sich fortzustehlen, ihre Füße aber wurden zu Verrätern und trugen sie statt dessen gerade zu der Gruppe hin. Einem Mädchen, das dicht neben Tom stand, rief sie mit übertriebener Lebhaftigkeit zu: »Ei, Mary Austin, du böses Mädchen, warum warst du gestern nicht in der Sonntagsschule?«

»Ich war ja dort – hast du mich nicht gesehen?«

»Nein! Warst du wirklich dort? Wo hast du denn gesessen?«

»In der Klasse von Fräulein Peters, wo ich immer sitze. Ich hab dich gesehen.«

»Wirklich? Nein, wie komisch, daß ich dich nicht gesehen habe, ich wollte dir von dem Picknick erzählen.«

»O, das ist lustig! Wer will eins geben?«

»Meine Mama will mir erlauben, eins zu halten.«

»Das ist ja prächtig, – hoffentlich darf ich auch kommen?«

»Natürlich. Es ist ja mein Picknick. Es darf jeder kommen, den ich haben will, und dich will ich.«

»Nein wie reizend! Wann soll’s denn sein?«

»Bald. Vielleicht noch vor den Ferien.«

»Wird das lustig werden! Wirst du alle einladen?«

»Gewiß, alle, die meine Freunde sind – oder sein wollen. Ein verstohlener Blick traf Tom; der aber schwatzte mit Anny Lorenz vom Sturm auf der Insel und wie der Blitz die große Sykomore gefällt und in Splitter gerissen hatte, »keine drei Schritte von ihm entfernt.«

»Darf ich auch kommen?« fragte Grace Miller.

»Ja.«

»Und ich?« fragte Sally Rogers.

»Gewiß!«

»Ich auch?« fiel Susanne Harper ein, »und mein Joe auch?«

»Natürlich.«

Und mit Jubel und Händeklatschen hatte jedes in der Gruppe um Erlaubnis gefragt, bis auf Tom und Anny. Immer weiter plaudernd wandte er sich kühl ab und nahm Anny mit sich. Beckys Lippen zitterten, Tränen traten in ihre Augen. Mühsam barg sie diese Zeichen des Herzeleids unter erzwungener Lebhaftigkeit, fuhr fort zu plappern und zu lachen, aber das Picknick hatte jetzt jeden Reiz für sie verloren und alles übrige dazu. Sobald sie konnte, schlich sie davon, versteckte sich und weinte sich einmal ordentlich aus. Dann saß sie mürrisch und tiefgekränkt da, bis die Schulglocke läutete. Das rüttelte sie auf und mit rachedurstigem Blick sprang sie empor, schüttelte die langen Zöpfe zurecht und war jetzt mit sich darüber im reinen, was sie zu tun habe.

In der Pause setzte Tom sein Scharmutzieren mit Anny fort, voll jubelnder Selbstzufriedenheit. Er versuchte sich dabei stets in Beckys Nähe zu halten, um sie mit dem Anblick zu foltern. Erst fand er sie nicht; endlich erspähte er sie und siehe da – sein Thermometer sank, sank bis ins Bodenlose hinein. Da saß sie ganz behaglich auf einem Bänkchen hinter dem Schulhause, saß und schaute mit Alfred Tempel zusammen in ein Bilderbuch. Und so versunken waren die beiden und so dicht hatten sie die Köpfe über dem Buch zusammengesteckt, daß sie nichts zu bemerken schienen von dem, was um sie her vorging in der weiten Welt. Eifersucht rieselte glühend heiß durch Toms Adern. Er haßte sich selber, daß er die Gelegenheit verpaßt, die Becky ihm geboten, um wieder gut Freund zu werden. Er nannte sich einen Narren, einen Dummkopf und was dergleichen liebenswürdige Titel mehr sind. Beinahe hatte er geweint vor Ärger. Anny schnatterte inzwischen lustig weiter, denn ihr Herz frohlockte und jubilierte, während Toms Zunge ihm beinahe den Dienst versagte. Kaum hörte er, was Anny plauderte, und jedesmal, wenn sie, seine Antwort erwartend, innehielt, brachte er nur ein zerstreutes »ja« oder »nein« heraus und zwar meist am verkehrten Platze, Immer wieder lenkte er seine Schritte nach der Hinterseite des Schulhauses, als würden seine Augen von dem verhaßten Schauspiel angezogen. Gegen seinen Willen zog es ihn hin, und es machte ihn beinahe toll, daß Becky Thatcher anscheinend nicht im entferntesten dran dachte, daß er auch noch unter den Lebenden weile. Sie aber sah ihn recht wohl, wußte, daß sie Siegerin blieb im Kampfe, freute sich, daß er litt und zwar schlimmer, als sie zuvor hatte leiden müssen. Annys ahnungsloses, fröhliches Geplauder wurde unerträglich. Tom deutete an, daß er etwas zu tun habe und fort müsse, daß die Zeit verrinne – umsonst, das Mädel schwatzte weiter. Tom dachte: »Hol sie der Kuckuck; soll ich sie denn heut gar nicht wieder los werden?« Zuletzt, als es ihn nicht länger hielt, gab ihm die arglose Seele das Versprechen, nach der Schule auf ihn zu warten. Er eilte ganz wütend davon.

»Jeder andere Junge,« dachte Tom zähneknirschend, »jeder andere Junge in der ganzen Stadt, nur nicht der. So ’n geschniegelter Aff‘, der sich für Gott weiß was hält, und meint, er sei viel besser als unsereiner. Na, gut! Hab‘ ich dich am ersten Tag durchgedroschen, als du kaum in die Stadt hereingerochen hattest, du Tugendspiegel, werd ich’s auch jetzt noch fertigbringen. Wart, wenn ich dich mal alleine erwisch, dann setzt’s was!«

Im Eifer hieb er um sich, als ob er den Feind jetzt schon unter den Fäusten hätte, – fuchtelte in der Luft umher und schlug mit Händen und Füßen aus.

»Na, bist du nun zufrieden, Kerl, he? Schrei ›genug‹, ›genug‹, sag ich dir! Da lauf und das nächstemal hüt dich!«

Damit endete die eingebildete Züchtigung sehr zur Zufriedenheit Toms.

In der Mittagspause flüchtete sich Tom nach Hause, Er konnte Annys Glückseligkeit nicht mehr mit ansehen und die Qualen der Eifersucht nicht länger ertragen, Becky hatte sich von neuem an das Bilderbesehen mit Alfred gemacht, als aber Minute auf Minute verrann und kein Tom sich zeigte, um sich ärgern zu lassen, da verringerte sich ihr Triumph und es lag ihr nichts mehr an der Sache. Erst wurde sie ernst und zerstreut, dann tief niedergeschlagen. Zwei- oder dreimal spitzte sie die Ohren, als sich ein Schritt näherte, jedesmal aber war’s vergebliches Hoffen. Zuletzt wurde ihr ganz erbärmlich zumute und sie wünschte innigst, es nicht so weit getrieben zu haben. Der arme Alfred, welcher sah, daß sie sich ihm unmerklich entzog, munterte sie fort und fort auf: »Sieh mal, hier ist was Schönes, sich doch nur her«, bis ihr zuletzt die Geduld ausging und sie mit dem unwilligen Rufe: »Was liegt mir dran, laß mich in Ruhe«, in Tränen ausbrach und davonrannte.

Alfred hielt sich ritterlich an ihrer Seite und versuchte sie zu trösten. Sie aber schleuderte ihm entgegen:

»Laß mich in Frieden; ich kann dich nicht ausstehen!«

So blieb denn der Junge zurück und sann hin und her, was er ihr wohl getan haben könne, denn vorher hatte sie ihm doch versprochen, während der ganzen Mittagspause Bilder mit ihm anzusehen. Sie aber rannte weiter, immerzu weinend. Alfred schlich sich nachdenklich in das einsame Schulzimmer zurück; er war sehr gedemütigt und ärgerlich, denn jetzt ging ihm ein Licht auf, daß das Mädel ihn nur benutzt habe, um ihren Ärger an Tom Sawyer auszulassen. Diese Überzeugung trug nicht dazu bei, ihm Tom lieber zu machen. Er sehnte sich nach einer Gelegenheit, diesem etwas einzubrocken, natürlich ohne sich selber bloßzustellen. Da fiel ihm Toms Lesebuch ins Auge und ein Gedanke schoß ihm plötzlich durch den Kopf. Er schlug das Buch an der Stelle auf, die sie am Nachmittag brauchen würden, und goß Tinte drüber. Becky, die im selben Moment hinter ihm zum Fenster hereinlugte, sah alles mit an, verriet sich aber nicht. Sie wandte sich heimwärts in der Absicht, Tom aufzusuchen und ihm alles zu erzählen, dann würden sie schnell wieder gut Freund sein. Ehe sie aber halbwegs zu Hause war, hatte sie sich anders besonnen. Der Gedanke daran, wie Tom sie behandelt, als sie von ihrem Picknick gesprochen, überfiel sie plötzlich wieder mit glühender Beschämung. Sie beschloß, ihm seine Prügel für das verschmierte Buch zu gönnen und ihn obendrein von Herzen zu hassen und zu verabscheuen für immer und ewig.