Wie Hadleyburg verderbt wurde
I.
Vor vielen, vielen Jahren war Hadleyburg in der ganzen Gegend wegen seiner Rechtschaffenheit allgemein bekannt. Es hatte sich diesen Ruhm, der seinen größten Stolz ausmachte, schon seit drei Generationen unbefleckt erhalten. Damit der Stadt nun auch in Zukunft nichts davon verloren ginge, war man eifrig bemüht, bereits dem Säugling in der Wiege feste Grundsätze der Ehrlichkeit in Handel und Wandel einzuflößen und die ganze spätere Erziehung der Kinder auf solchen Lehren weiterzubauen. Man sorgte vor allem dafür, daß ihnen während der Entwickelungsjahre jede Versuchung ferngehalten wurde, damit die redliche Gesinnung Zeit hätte, sich zu befestigen und ihnen sozusagen in Mark und Knochen überzugehen. Alle Nachbarstädte waren eifersüchtig, weil Hadleyburg sie an Rechtschaffenheit weit übertraf, und spotteten darüber, daß es sich auf seinen Ruf so viel einbildete. Aber trotzdem konnten sie nicht umhin, anzuerkennen, daß in der Stadt wirklich die unbestechlichste Redlichkeit herrschte, ja sie mußten sogar zugeben, daß es für jeden jungen Mann, der aus Hadleyburg stammte, keiner andern Empfehlung bedurfte, wenn er seinen Geburtsort verließ, um sich auswärts eine Vertrauensstellung zu suchen.
Einmal hatte die Stadt jedoch im Laufe der Zeit das Unglück gehabt, einem durchreisenden Fremden eine – vielleicht ganz absichtslose – Kränkung zuzufügen. Die Hadleyburger machten sich natürlich keinen Kummer über so etwas, denn sie waren sich selbst genug und das Urteil fremder Leute ließ sie völlig gleichgültig. Dennoch hätten sie klüger getan, sich diesen Fall mehr zu Herzen zu nehmen, weil der Beleidigte ein verbitterter Mensch von rachsüchtiger Gemütsart war. Ein ganzes Jahr lang dachte er auf allen seinen Wanderungen nur an die erlittene Kränkung und benutzte jeden freien Augenblick, um auf ein Mittel zu sinnen, wie er sich volle Genugtuung verschaffen könne. Ihm fiel mancher gute Plan ein, aber keiner, der ihn ganz befriedigte. Das alles hätte nur eine mehr oder minder große Zahl der Bewohner geschädigt, und er wollte etwas ausfindig machen, wobei die ganze Stadt in Mitleidenschaft gezogen würde und auch nicht ein einziger Mensch mit heiler Haut davon käme. Endlich geriet er auf einen glücklichen Gedanken und helle Schadenfreude blitzte ihm aus den Augen, als der Plan ihm durch den Kopf fuhr. Sofort stand sein Entschluß fest: »Ja, so will ich’s machen,« sagte er bei sich, »ich will die Stadt verführen und verderben.«
Ein halbes Jahr war vergangen, da fuhr der Fremde eines Abends gegen zehn Uhr vor dem Hause des alten Bankkassierers in Hadleyburg vor. Er holte einen Sack aus seinem Einspänner, lud ihn auf die Schulter und schwankte unter der Last über den Hof bis zur Haustür, wo er anklopfte. »Herein!« rief eine Frauenstimme. Der Fremde betrat das Wohnzimmer, stellte den Sack hinter den Ofen und wandte sich dann in höflichem Ton an die alte Dame, die, in ihrem Missionsblatt lesend, bei der Lampe saß:
»Ich will Sie nicht stören; behalten Sie bitte Platz, Madame. So, jetzt habe ich den Sack so gut wie möglich verborgen; kein Mensch würde etwas davon merken. Könnte ich wohl ihren Mann einen Augenblick sprechen?«
»Nein; er ist nach Brixton gefahren und wird schwerlich vor morgen früh heimkehren.«
»So? – Nun, das schadet weiter nichts. Ich wollte ihm nur diesen Sack übergeben, mit der Bitte, ihn seinem rechtmäßigen Eigentümer zuzustellen, sobald dieser sich findet. Ich bin hier fremd und Ihr Mann kennt mich nicht. Auf meiner Durchreise wünschte ich, diese Sache, welche mir schon lange am Herzen liegt, ein für allemal zu erledigen. Das ist jetzt geschehen, und ich kann stolz und zufrieden weiterziehen. An dem Sack ist ein Zettel befestigt, aus dem Sie alles Nähere erfahren werden. Gute Nacht, Madame!«
Die alte Dame war froh, als der geheimnisvolle Fremde wieder fortging, denn sie fürchtete sich vor dem großen, starken Mann. Doch konnte sie ihre Neugierde nicht lange bezähmen; sie band das Papier von dem Sack los und begann zu lesen:
»Sie haben die Wahl, ob Sie dies veröffentlichen, oder auf privatem Wege Erkundigungen nach dem richtigen Manne einziehen wollen; eins ist so gut wie das andere. – Der Sack enthält Goldmünzen im Gewicht von 160 Pfund vier Loth –«
»Ums Himmels willen – und die Tür ist nicht verschlossen!«
An allen Gliedern bebend, stürzte Frau Reichard nach der Tür und drehte den Schlüssel um. Dann schloß sie auch die Fensterladen und blieb mitten in der Stube in ängstlichem Sinnen stehen, ob sie nicht noch etwas für die Sicherung des Goldes und ihrer eigenen Person tun könne. Eine Weile horchte sie gespannt auf etwaige Einbrecher, dann trieb die Neugierde sie wieder zu ihrer Lampe zurück und sie las die Schrift bis ans Ende:
»Ich bin ein Ausländer und kehre jetzt in meine Heimat zurück, die ich nicht wieder zu verlassen denke. Für alles Gute, das ich unter dem Schutz des Sternbanners genossen habe, werde ich Amerika stets erkenntlich bleiben. Ganz besonderen Dank schulde ich aber einem amerikanischen Bürger und Bewohner Hadleyburgs, der mir vor etwa zwei Jahren die größte Freundlichkeit erwies. Eigentlich hat er mir sogar einen doppelten Dienst geleistet, wie ich des näheren erklären will: Ich hatte mich beim Glücksspiel zu Grunde gerichtet und kam spät abends hungrig und ohne einen Heller in der Tasche hier im Orte an. Bei Tage hätte ich mich geschämt zu betteln, aber im Dunkel der Nacht bat ich einen Herrn auf der Straße um Hilfe. Ich war an den Rechten gekommen. Er schenkte mir zwanzig Dollars und gab mir dadurch nicht nur das Leben wieder, sondern machte mich auch zum reichen Manne. Denn mit jenen zwanzig Dollars gewann ich mir ein Vermögen am Spieltisch. Zugleich aber tat er eine Äußerung, die ich bis auf den heutigen Tag nicht vergessen kann; sie hat mich zur Besinnung gebracht und mir geholfen, meine Spielerleidenschaft zu überwinden. Jetzt bin ich ganz davon geheilt. Leider habe ich keine Ahnung, wer der Mann ist, doch wünsche ich, ihn zu entdecken, denn für ihn ist dies Gold bestimmt. Er kann damit tun, was er will, es verschenken, es fortwerfen oder behalten, ganz nach Belieben. Es soll nur der Ausdruck meiner Dankbarkeit sein. Könnte ich mich längere Zeit hier aufhalten, so würde ich selbst nach ihm suchen, bis ich ihn fände; aber ich zweifle nicht, daß man es auch ohne meinen Beistand bewerkstelligen wird, und setze mein ganzes Vertrauen auf die wohlbekannte Rechtschaffenheit der Bewohner dieser Stadt. Mein Wohltäter wird sich gewiß noch der Äußerung erinnern, die er mir gegenüber getan hat und sich dadurch als der richtige Mann ausweisen.
»Falls Sie vorziehen, die Nachforschung auf privatem Wege zu betreiben, brauchen Sie bloß den Inhalt dieses Schreibens demjenigen Ihrer Mitbürger kund zu tun, welcher Ihrer Ansicht nach der richtige Mann sein könnte. Sagt er dann: ›Ja, der bin ich, meine Äußerung lautete so und so,‹ dann machen Sie die Probe: Wenn Sie den Sack öffnen, werden Sie darin einen versiegelten Umschlag finden, der die bewußte Äußerung enthält. Stimmt dieselbe mit den Worten des Mannes überein, so kann er den Sack ohne alles weitere mitnehmen, denn er ist sicherlich der Rechte.
»Ziehen Sie aber ein öffentliches Verfahren vor, dann lassen Sie meine Zuschrift im hiesigen Tageblatt abdrucken, nebst den folgenden Bedingungen: Am dreißigsten Tage nach dem heutigen Datum soll sich der Bewerber um acht Uhr abends auf dem Rathaus einfinden und dem Herrn Pastor Burgeß (falls dieser so freundlich sein will, die Mühe zu übernehmen) ein versiegeltes Papier abgeben, welches die bewußte Aeußerung enthält. Hierauf soll Herr Burgeß die Siegel des Sacks zerbrechen, denselben öffnen und sich überzeugen, ob die Worte gleichlautend sind. Ist dies der Fall, so bitte ich ihn, meinem wiedergefundenen Wohltäter das Gold als Beweis meiner aufrichtigen Dankbarkeit einhändigen zu wollen.«
Der Zettel hatte Frau Reichard ungewöhnlich aufgeregt, sie mußte sich niedersetzen. Bald war sie ganz in Gedanken versunken, die ihr im Kopf durcheinander schwirrten. »Was für eine sonderbare Geschichte! … Der gute Mann, der damals aufs Geratewohl so großmütig war, kann wirklich von Glück sagen! … Wenn es nur mein Eduard gewesen wäre – wir sind zwei so arme alte Leute und hätten’s gut brauchen können! …« Sie seufzte. – »Mein Mann würde einem Fremden nicht zwanzig Dollars geben, nein, sicher nicht … Leider, leider ist das außer Frage … Aber das Gold ist ja im Spiel gewonnen! Mir schaudert, wenn ich nur daran denke. Es ist Sündengeld! Das könnten wir doch nicht annehmen; nicht mit einem Finger würden wir es berühren. Schon seine bloße Nähe scheint mir eine Entwürdigung.« – Sie rückte ihren Stuhl in die äußerste Ecke … »Wenn nur Eduard käme und den Sack auf die Bank trüge. Es ist zu schrecklich, so ganz allein mit dem Gold bleiben zu müssen, ohne Schutz vor Dieben.« –
Um elf Uhr kehrte Reichard heim. »Wie freue ich mich, daß du wieder da bist,« rief ihm seine Frau entgegen. Er aber grollte: »Ich bin ganz abgehetzt und müde zum umfallen. Es ist wirklich arg, daß ich so arm bin und noch in meinem Alter diese elenden Fahrten machen muß. Fort und fort in der Tretmühle stecken bei dem lumpigsten Gehalt – Sklavenarbeit für einen andern tun, der unterdessen behaglich daheim im Lehnstuhl sitzt – es ist nicht zum aushalten!«
»Du weißt wohl Eduard, wie leid mir das tut. Aber wir haben doch unser tägliches Brot und unsern guten Namen, das ist wenigstens ein Trost.«
»Freilich, freilich, Mary, das ist die Hauptsache. Höre nur nicht auf mein Gerede. Mich hat der Ärger einen Augenblick übermannt; es hat nichts auf sich. Gib mir einen Kuß! So, jetzt ist schon alles wieder gut; du sollst keine Klage mehr hören. Was hast du denn aber bekommen? Was ist in dem Sack?«
Nun erzählte die Frau das große Geheimnis, und ihm wurde zuerst ganz schwindelig zu Mute. Endlich sagte er:
»Der Sack ist hundertsechzig Pfund schwer. Aber Mary – das sind ja vierzigtausend Dollars – ich bitte dich – ein ganzes Vermögen, wie es kaum zehn Menschen hier am Ort besitzen. Wo ist der Zettel?«
Er überflog ihn hastig. »Das klingt ja wie ein Roman,« rief er. »Solche abenteuerlichen Begebenheiten stehen wohl in Büchern, aber im Leben sind sie mir noch nie vorgekommen.« Alle Müdigkeit war jetzt von ihm gewichen. In der besten Laune tätschelte er seiner alten Frau die Wangen.
»Denke doch nur, Mary,« scherzte er ausgelassen, »wir sind jetzt mit einemmal reiche Leute. Laß uns das Gold vergraben und die Papiere verbrennen. Wenn der Glücksspieler je wiederkommt, brauchen wir nur kaltblütig auf ihn herabzuschauen und zu sagen: ›Was reden Sie da für ungereimtes Zeug? Ich habe weder von Ihnen noch von Ihrem Goldsack je etwas gehört oder gesehen.‹ Dann würde er ein verblüfftes Gesicht machen und –«
»Höre nur jetzt auf mit deinen Spässen und schaffe das Geld fort, ehe die Diebe es holen.«
»Da hast du recht. Aber wie wollen wir’s machen – soll ich private Nachforschungen anstellen? – Nein, lieber nicht; dabei ginge alle Romantik verloren. Besser, wir betreiben die Sache öffentlich. Stelle dir nur vor, was das für Aufsehen machen wird. Alle andern Städte werden uns beneiden, denn sie wissen recht gut, daß der Fremde keiner einzigen solches Vertrauen schenken würde, wie er Hadleyburg erweist. Es ist ein Haupttreffer für uns. Jetzt will ich nur schnell in die Druckerei gehen, es wird sonst zu spät.«
»Nein, nein, bleib, Eduard. Laß mich nicht allein mit dem Gold!«
Aber er war schon fort, doch nicht auf lange. Wenige Schritte vor seinem Hause begegnete er dem Chefredakteur und Eigentümer des Tageblatts, gab ihm den Zettel und sagte: »Hier bringe ich Ihnen etwas Gutes, Cox, lassen Sie es einrücken!«
»Wenn noch Zeit ist, Herr Reichard; ich will sehen, ob es sich tun läßt.«
Als der Bankkassierer wieder daheim war, hatte er noch ein langes Gespräch mit seiner Frau über das wundervolle Geheimnis. Schlafen konnten sie beide nicht. Die erste zu lösende Frage, wer wohl der Bürger sein könne, der dem Fremden die zwanzig Dollars geschenkt hatte, bot keine Schwierigkeiten; sie beantworteten dieselbe wie aus einem Munde:
»Barclay Goodson.«
»Jawohl, dem sähe es ähnlich; er hätte so etwas tun können; aber sonst niemand in der ganzen Stadt.«
»Das wird dir keiner bestreiten, Eduard. Seit Goodson vor einem halben Jahr gestorben ist, haben wir am Ort lauter ehrliche, engherzige, selbstgerechte und geizige Bürger, wie das von jeher so war.«
»Wenigstens hat er es immer behauptet, noch bis zu seiner Todesstunde, und vor aller Ohren.«
»Deshalb konnte ihn auch niemand leiden.«
»Freilich, aber er machte sich nichts daraus. Es war wohl kein Mensch in Hadleyburg so verhaßt wie er, ausgenommen der Pastor Burgeß.«
»Burgeß – nun ja, dem geschieht es ganz recht; von dem hat sich die Gemeinde ein für allemal losgesagt. Kommt es dir nicht sonderbar vor, Eduard, daß der Fremde gerade Burgeß gewählt hat, um das Geld abzuliefern?«
»Hm – ich weiß nicht. Vielleicht kennt der Fremde den Pastor Burgeß besser als unsere Stadt ihn kennt.«
»Um so schlimmer für Burgeß.«
Reichard schien um eine Antwort verlegen und wich dem fest auf ihn gerichteten Blick seiner Frau soviel wie möglich aus. Endlich sagte er mit unsicherer Stimme:
»Weißt du, Mary, ein schlechter Mensch ist Burgeß nicht.«
Sie sah ihn mit unverhohlenem Staunen an.
»Nein, er ist nicht schlecht; du kannst mir’s glauben. Seine Unbeliebtheit gründete sich einzig und allein auf jene gewisse Sache – die damals soviel Lärm gemacht hat.«
»Ich meine doch, jene Sache genügte an und für sich vollkommen, um zu beweisen – –«
»Freilich, freilich! Nur war er unschuldig daran.«
»Was redest du da für Unsinn. Kein Mensch zweifelte doch an seiner Schuld.«
»Mary – mein Wort darauf – er hatte die Tat nicht begangen.«
»Das glaube ich nun und nimmermehr. Woher solltest du es auch wissen?«
»Ich schäme mich, es dir einzugestehen, aber es muß heraus: Ich war der einzige Mensch, der seine Unschuld kannte; ich hätte ihn zu retten vermocht, aber – aber – du weißt ja wie aufgebracht alle Welt gegen ihn war – ich hatte nicht den Mut, mir die ganze Stadt auf den Hals zu hetzen. Zwar fühlte ich, wie erbärmlich das war; doch dem allgemeinen Haß zu trotzen ging über meine Kräfte.«
Mary schwieg eine Welle bekümmert still. Endlich stammelte sie:
»Nein, nein, das wäre nichts für dich gewesen. Man muß auch die öffentliche Meinung – berücksichtigen – und darf nicht – –« Sie war vom geraden Weg abgekommen und in den Sumpf geraten. Nach einer Weile begann sie von neuem: »Freilich, er tut einem leid – aber – Nein, wirklich, Eduard, das hätten wir nicht auf uns nehmen können. Ich wäre trostlos gewesen, hättest du es getan.«
»Ich würde eine Menge Leute vor den Kopf gestoßen haben, Mary, – sie hätten uns ihr Wohlwollen entzogen, und – und –«
»Es liegt mir nur schwer auf dem Herzen, was Burgeß selbst wohl von uns denken mag, Eduard.«
»O, er ahnt nicht, daß ich um seine Unschuld weiß.«
»Wirklich? Das ist mir eine große Erleichterung. Sonst würde er doch – nein, das ändert die Sache gewaltig. – Ich hätte mir’s übrigens denken können, daß er keine Ahnung hat; würde er uns sonst wohl bei jeder Gelegenheit so freundlich begegnen, ohne die geringste Aufmunterung von unserer Seite? Oefters haben mich die Leute schon deswegen verspottet. Die Wilsons, Harkneß und Wilcox machen sich förmlich ein Vergnügen daraus, mit mir von ›meinem Freund Burgeß‹ zu reden, weil sie wissen, wie mich das in Harnisch bringt. Wenn er nur aufhören wollte, uns mit seiner besonderen Zuneigung zu beehren! Ich begreife gar nicht, was ihn dazu treibt.«
»Das will ich dir auch bekennen; bis jetzt habe ich’s selbst vor dir geheim gehalten: Als das Ding zuerst ruchbar wurde, und alle so entrüstet waren, daß man beschloß, Lynchjustiz an ihm zu üben, quälte mich mein Gewissen so sehr, daß ich’s nicht länger aushielt. Ich warnte ihn insgeheim, so daß er die Stadt noch rechtzeitig verlassen konnte; erst als ihm keine Gefahr mehr drohte, kam er zurück.«
»O Eduard! Wenn die Leute dahinter gekommen wären!«
»Schweig still! Mir läuft noch jetzt die Gänsehaut über, wenn ich nur daran denke. Es reute mich auch gleich nachher; nicht einmal dir wagte ich es zu sagen, weil ich fürchtete, man möchte es deinem Gesicht ansehen. Vor lauter Angst schloß ich die ganze Nacht kein Auge zu. Aber niemand hegte Argwohn gegen mich; schon nach einigen Tagen wurde ich ruhiger, und später freute ich mich ordentlich, es getan zu haben. Ja, ich bin noch heute von ganzer Seele froh darüber.«
»Ich auch, Eduard. Es wäre gar zu entsetzlich gewesen. Du warst ihm das wirklich schuldig. – Wie aber, wenn es eines Tages doch noch entdeckt würde? was dann?«
»Das ist ganz ausgeschlossen.«
»Wieso?«
»Weil jedermann denkt, Goodson hätte Burgeß gewarnt.«
»Das lag sehr nahe.«
»Natürlich. Und er machte sich nichts aus dem falschen Verdacht. Der arme alte Salsberg wurde zu ihm hinübergeschickt, ihn der Tat zu beschuldigen. Goodson musterte ihn eine Weile mit unaussprechlicher Verachtung von Kopf bis Zu Fuß. ›So?‹ sagte er dann, ›Sie stellen wohl die Untersuchungskommission vor?‹ ›Jawohl,‹ erwiderte Salsberg und warf sich in die Brust. ›Hm! Wünschen die Herren etwa alle Einzelheiten zu wissen, oder würde ihnen eine allgemeine Antwort genügen?‹ ›Geben Sie mir nur eine allgemeine Antwort, Herr Goodson; falls Einzelheiten verlangt werden, will ich wiederkommen.‹ ›Sehr wohl; so sagen Sie den Herren nur – sie sollen sich zur Hölle scheren – das wird wohl allgemein verständlich sein. Ihnen, Salsberg, möchte ich aber obendrein den Rat geben, wenn Sie wiederkommen gleich einen Korb mitzubringen, um die Überreste aufzulesen, die noch von Ihnen vorhanden sein könnten.‹«
»Das sieht Goodson ganz ähnlich; man würde ihn gleich daran erkennen. Allen Leuten guten Rat zu erteilen war seine einzige Schwäche; er glaubte das besser zu verstehen als jeder andere.«
»Es war unsere Rettung, Mary. Die Sache hatte damit ihr Bewenden; man ließ sie ein für allemal ruhen.«
»Du meine Güte, das verstand sich wohl von selbst.« –
Sie kamen nun wieder mit großem Eifer auf den Geldsack zu sprechen. Bald entstanden jedoch Pausen in ihrer Unterhaltung, weil einmal der Mann, einmal die Frau in tiefes Schweigen versank. Immer längere Unterbrechungen des Gesprächs traten ein, bis Reichard sich endlich ganz seinen Gedanken überließ. Lange starrte er wie abwesend auf den Fußboden, dann machte er mit den Händen allerlei nervöse Bewegungen, die seinen geheimen Ärger verrieten. Auch die Frau sprach kein Wort, doch zeugten ihre Gebärden von großem Unbehagen. Zuletzt stand Reichard auf, ging wie ein Nachtwandler, der böse Träume hat, ziellos im Zimmer hin und her und fuhr sich mit den Händen durchs Haar. Plötzlich schien er einen Entschluß zu fassen; stumm griff er nach seinem Hut und schritt eilig zur Tür hinaus. Seine Frau saß indessen da und brütete vor sich hin, ohne auch nur zu merken, daß sie allein war. Von Zeit zu Zeit bewegte sie die Lippen: »Führe uns nicht in Ver… aber ach, wir sind so arm! Führe uns nicht … Wem würde es denn Schaden bringen? – Kein Mensch hätte es je erfahren … Führe uns …« sie murmelte nur noch unverständliche Laute. Nach einer Weile sah sie auf; Schrecken und Freude zugleich malten sich in ihren Zügen. »Er ist fort,« rief sie. »Aber ach, vielleicht kommt er zu spät – zu spät … Doch wäre es ja möglich, daß er noch zur Zeit …« Sie erhob sich, preßte die Hände krampfhaft ineinander, und während ihr ein Schauer durch alle Glieder lief, sagte sie stöhnend: »Verzeih mir’s Gott – das sind schreckliche Gedanken – aber … was hilft’s – wir sind doch nun einmal schwache Geschöpfe!«
Sie drehte die Lampe herunter, lief verstohlen zu dem Sack hin, kniete sich auf den Boden, befühlte ihn von allen Seiten und strich liebkosend mit der Hand über jede unebene Stelle. Ihre alten Augen schwelgten förmlich in dem Anblick. Von Zeit zu Zeit erwachte sie wie aus einem Traum und murmelte vor sich hin: »Wenn wir doch gewartet hätten – nur eine kleine Weile, statt die Sache so zu überstürzen!«
Cox, der Tagblattbesitzer, war inzwischen aus dem Bureau nach Hause gegangen und hatte seiner Frau alles erzählt, was sich Wunderbares zugetragen. Sie besprachen das Ereignis aufs lebhafteste und kamen überein, daß keiner ihrer Mitbürger, außer dem verstorbenen Goodson, großmütig genug wäre um einem armen Fremdling zwanzig Dollars zu schenken. Doch bald entstand eine Stille; beide Ehegatten blickten nachdenklich zu Boden; gleich darauf wurden sie unruhig und aufgeregt; endlich murmelte die Frau wie im Selbstgespräch: »Niemand weiß um dies Geheimnis, außer die Reichards und wir … kein einziger Mensch.«
Cox schreckte aus seinen Gedanken auf, sah seine Frau, die ganz blaß geworden war, verständnisvoll an, stand zögernd auf, blickte verstohlen bald auf seinen Hut, bald nach seiner Ehehälfte – eine stumme Frage. Frau Cox schluckte ein paarmal und räusperte sich, dann nickte sie leise mit dem Kopf. Im nächsten Augenblick war sie allein im Zimmer und die Haustür fiel klirrend ins Schloß.
Von zwei entgegengesetzten Richtungen eilten jetzt Reichard und Cox durch die menschenleeren Straßen. Ganz außer Atem kamen sie gleichzeitig an der Treppe der Druckerei an und schauten einander beim Laternenschein ins Gesicht.
»Weiß außer uns niemand etwas davon?« fragte Cox im Flüsterton.
»Keine Menschenseele, auf Ehrenwort,« gab der andere leise zurück. »Vielleicht ist es noch nicht zu spät, um – –«
Eben schickten sich die Männer an hinaufzusteigen, als ein Junge zu ihnen trat.
»Bist du das, Johann?«
»Ja, Herr Cox.«
»Du brauchst die Morgenpost noch nicht wegzuschicken. Laß alles liegen bis ich’s dir sage.«
»Die Postsachen sind schon fort.«
»Schon fort?« Es klang unsagbare Enttäuschung aus den Worten.
»Ja. Der neue Fahrplan für Brixton und Umgegend ist heute ausgegeben worden. Die Zeitungen mußten eine Viertelstunde früher auf der Bahn sein. Ich bin gelaufen was ich konnte; wäre ich zwei Minuten später dagewesen, so – –«
Die Herren entfernten sich langsam, ohne das Ende seiner Rede abzuwarten. Eine Weile schritten sie stumm nebeneinander her, endlich sagte Cox ärgerlich:
»Was hat Sie nur geplagt, die Sache so zu übereilen. Es ist mir vollkommen unbegreiflich.«
Reichard war ganz betreten. »Jetzt sehe ich’s freilich ein,« sagte er: »vorher hatte ich mir’s gar nicht überlegt, bis es zu spät war. Das nächste Mal will ich gewiß – –«
»Das nächste Mal,« hohnlachte Cox. »So was kommt in tausend Jahren nicht wieder!«
Die Freunde trennten sich ohne Gruß und schleppten sich mühselig nach Hause, als hätte sie ein schwerer Schicksalsschlag getroffen. In atemloser Spannung warteten die Frauen daheim; sie lasen den Eintretenden die Entscheidung vom Gesicht ab, es bedurfte keiner Worte. Nun folgte in beiden Häusern eine sehr heftige, wenig freundliche Erörterung, wie sie bisher zwischen den Ehegatten noch niemals stattgefunden. Die Sache verlief hier und dort fast auf die gleiche Weise:
»Hättest du nur gewartet, Eduard,« sagte Frau Reichard, »aber nein, in deiner Gedankenlosigkeit läufst du stehenden Fußes nach der Druckerei und posaunst es in der ganzen Welt aus.«
»Auf dem Zettel stand doch, es sollte veröffentlicht werden.«
»Ach was! Es war dir freigestellt, es auch unter vier Augen abzumachen. Das kannst du doch nicht leugnen.«
»Ich weiß wohl. Aber wenn ich an das Aufsehen dachte, und wie schmeichelhaft es für Hadleyburg ist, daß ein Fremder solches Vertrauen in unsere Redlichkeit setzt –«
»Das brauchst du mir nicht noch erst lang und breit vorzuhalten. Aber bei einigem Nachdenken hättest du dir doch sagen müssen, daß sich der rechte Mann gar nicht mehr auffinden läßt, weil er im Grabe ruht, und weder Kind noch Kegel, kein einziger Verwandter von ihm am Leben ist. Hätte da das Geld nicht Leuten zu gute kommen können, die es so nötig brauchen wie wir? Kein Mensch wäre dadurch geschädigt worden, und – und –«
Tränen erstickten ihre Stimme; der Mann zerbrach sich vergebens den Kopf, womit er sie trösten könne; endlich sagte er:
»So beruhige dich doch, Mary, die Vorsehung hat es nun einmal so gefügt und deshalb muß es zu unserm Heil dienen; ja, ja, es wird wohl so am besten sein, sonst wäre es nicht geschehen.«
»Eine bequeme Ausrede, wenn man eine Dummheit begangen hat. – War es nicht ebenso gut eine Fügung des Himmels, daß das Geld gerade uns zugeschickt wurde? Und du erdreistest dich, die Absicht der Vorsehung zu durchkreuzen – mit welchem Recht, wenn ich fragen darf? Nichts als gotteslästerliche Anmaßung ist es, die einem demütigen Christenmenschen durchaus nicht zukommt.«
»Aber du weißt doch, Mary, daß die ganze Erziehung in Hadleyburg darauf ausgeht, und auch wir unser Leben lang gewöhnt waren, uns keinen Augenblick zu besinnen, wenn es sich um ein Gebot der Redlichkeit handelt; das ist uns zur zweiten Natur geworden.«
»Ja, ja doch. Man hat uns das immer und immer wieder vorgepredigt und uns von der Wiege an jede nur mögliche Versuchung aus dem Wege geräumt. Und was ist dadurch erreicht worden? Man hat eine künstliche Ehrlichkeit groß gezogen, die wie Butter an der Sonne zerrinnt, sobald sie einmal auf die Probe gestellt wird – das haben wir diese Nacht gründlich erfahren. Gott weiß, mir wäre auch nie der Schatten eines Zweifels an meiner durch und durch redlichen Gesinnung gekommen, und die erste wirkliche Versuchung wirft alle meine Grundsätze über den Haufen. Du kannst mir glauben, Eduard, mit der Redlichkeit der ganzen Stadt ist’s um kein Haar besser bestellt; sie ist gerade so fadenscheinig wie meine und deine. Die Leute hier sind engherzig und geizig, und ihre einzige Tugend, auf die sie sich so viel einbilden und deretwegen sie allenthalben berühmt sind, ist auch nicht weit her. Tritt einmal eine große Versuchung an sie heran, so wird ihr ganzer Ruhm zusammenfallen wie ein Kartenhaus – verlaß dich drauf. So – nach diesem Bekenntnis ist mir schon leichter ums Herz. Mein Leben lang habe ich der Welt etwas vorgeschwindelt, ohne es zu wissen. Mich soll niemand wieder eine redliche Frau nennen – das verbitte ich mir gehorsamst.«
»Wahrhaftig, Mary, du hast mir ganz aus der Seele gesprochen. Merkwürdig – ich hätte das nie für möglich gehalten!«
Sie schwiegen lange still; beide waren mit ihren Gedanken beschäftigt. Endlich schaute die Frau auf.
»Ich weiß, woran du denkst, Eduard.«
Reichard machte ein verlegenes Gesicht. »Fast schäme ich mich, es dir einzugestehen, Mary.«
»Laß gut sein, Eduard; mir geht dieselbe Frage im Kopf herum.«
»Wirklich? Und die wäre?«
»Du hast gedacht: ›Wenn unsereins doch nur erraten könnte, was das für eine Äußerung war, die Goodson dem Fremden gegenüber getan hat.‹«
»Ja, ich will’s nicht leugnen. Es ist eine Sünde und Schande. Schämst du dich nicht auch?«
»Nein, ich bin darüber hinaus. Aber laß uns die Sicherheitskette vorhängen. Wir sind für den Sack verantwortlich, bis er morgen früh in das Bankgewölbe geschafft werden kann. – Du liebe Zeit – hätten wir nur nicht die Torheit begangen!«
Während der Mann die Tür fest verwahrte, sagte Mary:
»Wer doch wüßte, was das ›Sesam, tu‘ dich auf‹ ist. Wie kann nur die Äußerung gelautet haben? – Aber komm, laß uns zu Bette gehen.«
»Und einschlafen?«
»Nein, nachdenken.«
»Ja, das wollen wir.« –
Das Ehepaar Cox hatte unterdessen seinen Wortwechsel, der mit einer Versöhnung schloß, gleichfalls zu Ende geführt und sich zur Ruhe begeben. Doch der Schlaf floh auch ihr Lager. Unruhig wälzten sie sich hin und her und zermarterten sich das Hirn, was Goodson dem verarmten Fremden wohl gesagt haben möchte. Was für goldene Worte mußten das doch gewesen sein – sie waren ja vierzigtausend Dollars wert.
An jenem Abend blieb das städtische Telegraphenamt länger offen als sonst und zwar aus guten Gründen: Der bei Coxens Zeitung angestellte Faktor war zugleich offizieller Berichterstatter für die Vereinigte Presse der Union. Im gewöhnlichen Lauf der Dinge war dies ein bloßes Ehrenamt, das er bekleidete, denn mehr als viermal im Jahr brachte er keine Depesche zusammen, die als verwendbar angenommen wurde. Doch heute verhielt sich die Sache anders. Auf das Telegramm, in welchem er die große Begebenheit meldete, war eine umgehende Antwort erfolgt:
»Telegraphieren Sie die ganze Geschichte mit allen Einzelheiten – zwölfhundert Wörter.«
Ein riesiger Auftrag! Aber der Faktor führte ihn aus und war über die Maßen stolz auf seine Leistung. Schon am nächsten Morgen zur Frühstückszeit war in ganz Amerika, von Montreal bis zum Golf von Mexico, und von der Gletscherwelt Alaskas bis zu Floridas Orangenhainen nur Hadleyburg und seine unbestechliche Redlichkeit auf aller Lippen. Viele Millionen Menschen sprachen von dem Fremden und seinem Goldsack; man stritt hin und her, ob sich der rechte Mann wohl finden würde, und wartete gespannt auf weitere Nachricht, die hoffentlich in kürzester Frist eintreffen würde.
II.
Als Hadleyburg an jenem Morgen erwachte, war es eine weltberühmte Stadt; man staunte, man freute sich und war stolz darauf – unbeschreiblich stolz. Die neunzehn angesehensten Bürger und ihre Frauen schüttelten sich mit überseligem Lächeln die Hände, so oft sie einander trafen, und wünschten sich Glück, daß Hadleyburg von nun an in jedem Konversationslexikon als Muster der Unbestechlichkeit zu finden sein würde; ja selbst die unbedeutenderen Bürger samt ihren Frauen folgten diesem Beispiel. Alt und jung lief auf die Bank, wo der Geldsack zu sehen war, und schon zur Mittagszeit kamen die bekümmerten und neidischen Bewohner Brixtons und der Nachbarstädte in Scharen herbeigeströmt. Gegen Abend und am folgenden Tag trafen Berichterstatter aus allen Himmelsgegenden ein, die den Sack in Augenschein nahmen, sich die Geschichte bestätigen ließen, sie mit allen Einzelheiten von neuem zu Papier brachten und durch kühne Bleistiftskizzen illustrierten. Sie zeichneten nicht nur den Sack ab, sondern auch Reichards Haus, das Bankgebäude, die Kirchen der Presbyterianer- und der Baptistengemeinde, den Marktplatz und das Rathaus, wo die Probe angestellt und der Sack ausgehändigt werden sollte. Ja sie entwarfen sogar scheußliche Porträts von dem Ehepaar Reichard, dem Bankier Pinkerton, von Cox und dem Faktor, von Pastor Burgeß, vom Postmeister und selbst von Jack Halliday, einem gutmütigen, respektlosen Menschen und allgemeinen Lustigmacher, dem Freund aller kleinen Buben und herrenlosen Hunde, der sich als Fischer, Jäger oder Bummler im Ort herumtrieb. Der knauserige Pinkerton zeigte den Sack mit selbstgefälligem Grinsen jedem neuen Ankömmling, rieb sich vergnügt die Hände und erging sich in salbungsvollen Reden über den alten, festbegründeten Ruf unantastbarer Rechtlichkeit, dessen sich die Stadt erfreute, was jetzt wieder auf so wunderbare Weise bestätigt worden sei. Er hoffe und glaube nun, daß dies Beispiel in ganz Amerika Nachahmung finden und eine allgemeine sittliche Wiedergeburt erzeugen werde.
Im Verlauf der nächsten Woche wurden die Gemüter nach und nach ruhiger: der wilde, stolze Freudenrausch verwandelte sich in ein stilles, wonniges Entzücken, in ein Gefühl tiefen, unaussprechlichen Behagens. Der Ausdruck friedevoller Glückseligkeit lag auf allen Gesichtern.
Doch das dauerte nicht lange. Ganz allmählich trat eine Veränderung ein, was zuerst niemand bemerkte, außer Jack Halliday, dem selten etwas entging und der über alles seine Späße machte, es mochte sein, was es wollte. Er fing mit allerlei beißenden Bemerkungen an, weil dieser und jener nicht mehr solche glückstrahlende Miene zur Schau trug, wie vor ein paar Tagen. Dann behauptete er, die Leute würden immer schwermütiger; später schienen sie ihm von unbesiegbarer Trauer ergriffen, und endlich versicherte er sogar, alle seien in einem Grade verstimmt, gedankenvoll und geistesabwesend, daß er sich anheischig machen wolle, selbst dem ärmsten Wicht einen Cent aus der Hosentasche zu stehlen, ohne ihn aus seinem Traumzustand zu wecken.
Als die Angelegenheit diesen Punkt erreicht hatte, konnte man zur Schlafenszeit in den neunzehn angesehensten Häusern der Stadt tiefe Seufzer hören, worauf das Haupt der Familie gewöhnlich in die Worte ausbrach:
»Ach, was für eine Äußerung kann denn Goodson nur getan haben!«
»Schweig still,« rief die Hausfrau zusammenschauernd. »Was für schreckliche Dinge wälzest du in deinem Hirn herum. Ums Himmels willen schlage sie dir aus dem Kopf!«
Aber am zweiten Abend erfolgte derselbe Ausruf, und der Widerspruch der Frau war schon etwas schwächer. Als der Mann dann am dritten und den folgenden Abenden die Frage immer angstvoller wiederholte, fuhr die Frau nur noch unruhig mit den Händen hin und her; sie öffnete den Mund, sagte aber nichts. Zuletzt fanden beide jedoch die Sprache wieder und seufzten sehnsuchtsvoll: »O, könnten wir es doch erraten!« –
Hallidays Bemerkungen wurden von Tag zu Tag unangenehmer und abfälliger. Er ging in der ganzen Stadt umher und machte sich bald über jeden einzelnen, bald über die gesamte Einwohnerschaft lustig. Außer ihm lachte aber niemand mehr weit und breit, seine Fröhlichkeit bildete den grellsten Gegensatz zu der allgemeinen Trauer; kein Lächeln war irgendwo zu erblicken. Der Spaßvogel trug jetzt eine Zigarrenkiste auf einem Holzgestell mit sich herum, als wäre es eine Kamera für Momentaufnahmen. Alle Vorübergehenden hielt er an, stellte seinen Apparat auf und rief: »Fertig! – Etwas freundlicher, wenn ich bitten darf!« Aber selbst bei diesem köstlichen Witz erheiterte sich keins der trübseligen Gesichter.
So vergingen drei Wochen – noch acht Tage, dann sollte es sich entscheiden. Es war Samstag Abend: Hadleyburg hatte schon zur Nacht gespeist. Statt der Geschäftigkeit und Unruhe in den Läden und dem fröhlichen Stimmengewirr, das sonst um diese Zeit auf den Straßen herrschte, war alles wie ausgestorben. Reichard und seine alte Frau saßen schweigsam und nachdenklich im Wohnzimmer, jedes in seiner Ecke. So trieben sie es jetzt Abend für Abend, während sie früher behaglich beisammen gesessen hatten, lesend, strickend und plaudernd, wenn sie nicht bei den Nachbarn Besuch machten oder diese bei ihnen vorsprachen. Aber das alles schien begraben und vergessen, als sei es nie gewesen – und war doch erst zwei oder drei Wochen her. Niemand plauderte jetzt, man las nicht, man machte keine Besuche. Alle Leute saßen stumm daheim und quälten sich unter Seufzen und Stöhnen, jene rätselhafte Äußerung zu erraten.
Der Postbote brachte einen Brief. Reichard sah die Aufschrift von unbekannter Hand und den Poststempel gleichgültig an, warf das Schreiben auf den Tisch und verfiel dann wieder in sein nutzloses Grübeln, das ihn ganz elend machte. Zwei oder drei Stunden später stand seine Frau schwerfällig auf, um ohne Gutenachtgruß zu Bette zu gehen – nach ihrer jetzigen Gewohnheit. Bei dem Brief blieb sie jedoch stehen und starrte eine Weile gedankenlos darauf hin; dann öffnete sie ihn und überflog den Inhalt. Reichard, der in sich zusammengesunken an der Wand saß, hörte plötzlich einen schweren Fall – seine Frau lag auf dem Boden. Er eilte hin, um ihr zu helfen, aber sie rief:
»Laß mich, laß mich, mein Glück ist zu groß. Hier den Brief mußt du lesen!«
Er tat es. Jedes Wort verschlang er, während sich alles mit ihm im Kreise zu drehen schien. Der Brief kam aus einem entfernten Staat und lautete:
»Ich wende mich an Sie, um Ihnen eine Mitteilung zu machen, obgleich ich Ihnen ganz fremd bin. Nach meiner soeben erfolgten Rückkunft aus Mexico wurde mir erzählt, was sich in Ihrer Stadt zugetragen. Natürlich wissen Sie nicht, wer die Äußerung getan hat, aber ich weiß es. Ich bin der einzige Mensch auf der Welt, der Ihnen sagen kann, daß es Goodson gewesen ist. Wir kannten uns schon seit Jahren und auf meiner Durchreise war ich an jenem Abend bei ihm zu Gast, bis zur Abfahrt des Mitternachtzuges. Ich stand dabei, als er im Dunkeln in der Hale-Allee jene Äußerung dem Fremden gegenüber tat; auch unterhielten wir uns noch auf dem Heimweg darüber, und bei der Zigarre in seinem Hause. Im Laufe des Gesprächs kam die Rede noch auf viele Ihrer Mitbürger, über die er sich jedoch keineswegs schmeichelhaft aussprach; etwas günstiger beurteilte er nur zwei oder drei derselben, zu denen Sie gehörten, soviel ich weiß. Irgend welche Zuneigung sprach er zwar für keinen einzigen aus, doch erinnere ich mich, daß er sagte, ein Hadleyburger – ich glaube, er nannte Ihren Namen, doch bin ich meiner Sache nicht ganz gewiß – hätte ihm einmal einen großen Dienst erwiesen, vermutlich ohne dessen Tragweite selbst zu kennen. Wenn er ein Vermögen besäße, würde er es Ihnen bei seinem Tode vermachen und jedem der andern Bürger seinen Fluch hinterlassen. Waren Sie also derjenige, welcher ihm den Dienst geleistet hat, so sind Sie sein rechtmäßiger Erbe und können den Goldsack als Ihr Eigentum beanspruchen. Ich weiß, daß ich mich auf Ihre Treue und Redlichkeit verlassen kann, denn diese Tugenden erbt ja jeder Hadleyburger ohne Ausnahme von seinen Vätern. So will ich Ihnen denn jene Äußerung mitteilen, da ich überzeugt bin, Sie werden, falls Sie nicht selbst der rechte Mann sind, nach demselben suchen, bis Sie ihn gefunden haben, und Sorge tragen, daß Goodsons Dankesschuld für den bewußten Dienst wirklich gezahlt wird. Die Äußerung, um die es sich handelt, lautete: ›Ihr seid noch lange kein schlechter Mensch. – Geht hin und bessert Euch.‹
Howard L. Stephenson.«
»O Eduard, das Geld gehört uns, wie froh und dankbar bin ich. Gib mir einen Kuß, das hast du seid einer Ewigkeit nicht getan – mein Verlangen war gar zu groß – nach dem Gelde – nun kannst du dich von Pinkerton und seiner Bank losmachen, du brauchst keines Menschen Sklave mehr zu sein. Es ist, als ob ich Flügel hätte, so leicht wird mir ums Herz vor lauter Freude.«
Die halbe Stunde, die das Ehepaar unter Liebkosungen auf dem Sofa zubrachte, gehörte zu den glücklichsten in ihrem Leben. Es war, als sollte die gute alte Zeit noch einmal wiederkehren, die mit dem Brautstand begonnen und keine Unterbrechung erlitten hatte, bis der Fremde das unheilvolle Gold ins Haus brachte. Nach einer Weile sagte die Frau:
»Weißt du, Eduard, es war doch ein rechtes Glück, daß du dem braven Goodson solchen großen Dienst geleistet hast. Bisher mochte ich ihn nicht leiden, aber jetzt habe ich ihn ordentlich lieb. Du hast nie damit geprahlt, auch keine Andeutung gemacht – das war ein schöner und edler Zug von dir. Aber deinem Weibe hättest du es doch anvertrauen sollen; mir scheint, das warst du mir schuldig.«
»Ja, siehst du, Mary – das ging doch nicht an –«
»Mache jetzt keine Umschweife, Eduard, sondern sage es mir. Ich habe dich immer lieb gehabt, aber heute bin ich stolz auf dich. Die Leute glaubten, es gäbe nur einen guten, hochherzigen Menschen in der Stadt, und nun stellt sich heraus, daß du – so sprich doch, Eduard.«
»Nein, Mary, ich kann wirklich nicht.«
»Du kannst nicht? Aber weshalb?«
»Siehst du – nun ja – ich habe es ihm versprechen müssen.«
Sie maß ihn mit großen Blicken.
»Du hast versprochen, mit niemand davon zu reden?« fragte sie eindringlich. »Ist das wirklich der Fall?«
»Glaubst du, ich würde dir etwas vorlügen?«
Sie schwieg eine Weile sichtlich beunruhigt; dann reichte sie ihm die Hand.
»Nein, nein,« rief sie, »Gott behüte! Wir sind schon weit genug vom rechten Weg abgeirrt. All dein Lebtag ist dir noch keine Lüge über die Lippen gekommen – aber jetzt scheint ja selbst der festeste Grund unter unsern Füßen zu wanken, da – da –« Die Stimme versagte ihr einen Augenblick, dann stammelte sie: »Führe uns nicht in Versuchung … Ich glaube an dein Versprechen, Eduard. Laß es dabei bewenden. Ich will nicht weiter in dich dringen. Nun alle Not ein Ende hat, wollen wir unser Glück genießen und es uns durch keinen Schatten trüben lassen.«
Für Eduard war das leichter gesagt als getan; seine Gedanken irrten ruhelos umher, während er sich zu besinnen suchte, was für einen Dienst er Goodson geleistet hatte.
Fast die ganze Nacht tat das Ehepaar kein Auge zu. Mary überlegte voll innerer Befriedigung, was sie mit dem Golde tun wolle. Eduard war bemüht, sich den Dienst ins Gedächtnis zurückzurufen. Zuerst hatte er Gewissensbisse wegen der Lüge. Freilich, eine Lüge war und blieb es. Aber hatte das denn solche ungeheure Bedeutung? Unser tägliches Tun und Treiben ist ja voller Unwahrheit. War etwa Mary besser als er? – O nein; während er fortgeeilt war, um seinen Auftrag redlich zu erfüllen, hatte sie dagesessen und gejammert, daß man die Papiere nicht vernichtet habe, um das Gold behalten zu können. Ist denn Stehlen weniger schlecht als Lügen? –
Ueber diesen Punkt war er also beruhigt – die Lüge trat in den Hintergrund und störte seinen Frieden nicht mehr. Nun kam die nächste Frage an die Reihe: Hatte er den Dienst wirklich geleistet? – Goodsons eigenes Zeugnis, von dem Stephensons Brief berichtete, sprach dafür und war der beste und vollgültigste Beweis. Das lag auf der Hand. Also konnte man auch diesen Punkt füglich für erledigt ansehen … Nein, doch nicht so ganz. Reichard erinnerte sich mit Unbehagen, daß jener Stephenson nicht bestimmt hatte behaupten können, ob er, Reichard, oder ein anderer, den Dienst geleistet habe, und, o Jammer, er verließ sich auf seine Ehrenhaftigkeit. Reichard selbst sollte entscheiden, wem das Gold zukäme, und Stephenson war überzeugt, daß er rechtschaffen genug sein würde, den richtigen Mann aufzusuchen, falls er der falsche wäre. Es war ganz abscheulich, einen Menschen in solche Lage zu versetzen. Wozu hatte nur Stephenson diesen Zweifel überhaupt aufgebracht? Das hätte doch recht gut aus dem Brief wegbleiben können.
Wie kam es aber, überlegte Reichard weiter, daß gerade sein Name dem Briefsteller im Gedächtnis geblieben war? Das sah doch ganz so aus, als müßte er der rechte Mann sein. Wirklich, es war ein sehr gutes Zeichen; je mehr er darüber nachdachte, umso besser erschien es ihm, und zuletzt betrachtete er es als einen entschiedenen Beweis. Wenn aber etwas einmal erwiesen ist, tut man am besten, sich den Kopf nicht mehr darüber zu zerbrechen, das fühlte Reichard instinktmäßig und schlug sich die Sache sofort aus dem Sinn.
Ihm war jetzt schon viel behaglicher zu Mute, nur eine Kleinigkeit ließ ihn noch nicht zur Ruhe kommen. Daß er den Dienst geleistet hatte, stand fest; aber was war es nur für ein Dienst gewesen? Das mußte ihm erst noch einfallen – dann würde er mit voller Gemütsruhe die Augen schließen und schlafen können. So dachte er denn hin und her an jede nur mögliche Dienstleistung, aber nichts schien ihm groß und bedeutend genug, um Goodsons Wunsch zu rechtfertigen, ihm dafür ein Vermögen hinterlassen zu können. Und leider erinnerte er sich auch gar nicht, etwas der Art wirklich getan zu haben. Was war es denn nur, wodurch man einen Menschen zu so außergewöhnlichem Dank verpflichten konnte? Vielleicht wenn man seine Seele rettete? Ja, das mußte es sein. Hatte er es sich nicht einmal zur Aufgabe gemacht, Goodson zum Glauben zu bekehren? Gewiß – und wie lange hatte er daran gearbeitet? – Zuerst meinte er, wohl ein Vierteljahr, doch bei Lichte besehen schrumpfte es zu einem Monat zusammen, dann zu einer Woche, und schließlich blieb gar nichts übrig. Er erinnerte sich jetzt zu seinem größten Leidwesen mit vollkommener Deutlichkeit, daß Goodson ihm gesagt hatte, er solle zum Donnerwetter machen, daß er fortkäme und sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern; ihm sei ganz und gar nichts daran gelegen, mit den Hadleyburgern in den Himmel zu kommen.
Reichard war recht entmutigt. Also Goodsons Seele hatte er nicht gerettet, das stand fest. Vielleicht aber sein Haus und Gut. Nein, damit war’s auch nichts – er besaß keines. Sein Leben? Natürlich – auf jeden Fall. Daran hätte er doch gleich denken sollen. Nun war er endlich auf der rechten Spur und seine Einbildungskraft hatte freien Spielraum.
Zwei Stunden lang beschäftigte er sich eifrig damit, Goodson auf jede erdenkliche und meist sehr gefahrvolle Weise das Leben zu retten. Immer gelang ihm die Heldentat bis zu einem gewissen Punkt, aber gerade wenn er auf dem besten Wege war, sich zu überzeugen, daß die Sache wirklich geschehen sei, trat ein lästiger Umstand dazwischen, der dies zur Unmöglichkeit machte. Beim Ertrinken zum Beispiel: Reichard war weit hinaus geschwommen und hatte Goodson in bewußtlosem Zustand glücklich ans Land gebracht, während die Menge am Ufer stand und ihm zujauchzte. Er hatte es alles so schön ausgedacht und seine Erinnerung daran wurde immer lebhafter, aber da kam der Rückschlag: Unmöglich – die ganze Stadt hätte es doch erfahren; Mary würde darum gewußt haben, und in seinem eigenen Gedächtnis wäre die Tat unauslöschlich verzeichnet gewesen; so etwas vergißt man nicht wieder, es ist auch kein Dienst, dessen ›Tragweite man nicht kennt‹. Obendrein fiel ihm zuguterletzt noch ein, daß er ja gar nicht schwimmen könne.
Halt – diesen Punkt hatte er von vornherein übersehen: Es mußte ein Dienst sein, den er möglicherweise geleistet haben konnte, ›ohne dessen ganze Tragweite zu kennen‹. Das erleichterte die Sache wesentlich. Nach einigem weiteren Kopfzerbrechen kam er denn auch wirklich zu einem befriedigenden Ergebnis: Vor langen Jahren war Goodson einmal nahe daran gewesen, ein liebes, hübsches Mädchen Namens Nancy Hewitt zu heiraten; er hatte jedoch die Verlobung aus irgend einem Grunde wieder aufgelöst. Bald darauf starb das Mädchen, und Goodson wurde mit der Zeit ein verbitterter Hagestolz, der seine Menschenverachtung ganz offen zur Schau trug. Nach Nancy Hewitts Tode hatte sich in der Stadt das Gerücht verbreitet, daß das Mädchen nicht ausschließlich von Weißen abstamme, sondern ein paar Tropfen Negerblut in den Adern gehabt habe. Reichard wälzte diesen Umstand so lange in seinem Haupte, bis ihm war, als tauchten aus der Tiefe seiner Erinnerung allerlei Einzelheiten auf, an die er lange nicht mehr gedacht haben mochte. War er es denn nicht gewesen, der den Flecken in des Mädchens Stammbaum entdeckt und die Sache stadtbekannt gemacht hatte? Natürlich erfuhr Goodson, von wem die Nachricht ausgegangen war und wer ihn davor bewahrt hatte, die entehrende Heirat einzugehen. Und diesen wertvollen Dienst hatte er ihm geleistet, ohne es selbst zu ahnen, also auch, ohne dessen Tragweite zu kennen. Goodson aber, der wohl wußte, mit wie genauer Not er der Gefahr entronnen war, blieb seinem Wohltäter dankbar bis ans Grab und wünschte sich ein Vermögen, um es ihm zu hinterlassen. Das war alles klar und einfach, je mehr Reichard darüber nachdachte, um so einleuchtender ward es ihm; ja, als er sein Haupt jetzt beglückt und zufrieden in die Kissen schmiegte, stand ihm das Ganze so deutlich vor der Seele, als hätte er es erst gestern erlebt. Mary hatte sich unterdessen für sechstausend Dollars ein Haus gekauft und ein Paar Pantoffeln zum Geschenk für ihren Pastor; dann war sie friedlich eingeschlummert. –
An ebendemselben Samstag Abend hatte der Postbote auch jedem der andern angesehenen Hadleyburger einen Brief gebracht – neunzehn Briefe alles in allem. Die Couverts waren ganz verschieden und nicht zwei Adressen von der nämlichen Hand, aber die Briefe selbst glichen einander völlig. Es waren genaue Abschriften desjenigen, welchen Reichard erhalten hatte, auch alle von Stephenson selbst geschrieben, nur mit dem einzigen Unterschied, daß darin der Name des jedesmaligen Adressaten an Stelle von Reichards Namen stand.
Die ganze Nacht hindurch taten die achtzehn angesehenen Männer, was ihr Mitbürger Reichard um dieselbe Zeit getan hatte – sie waren aus Leibeskräften bemüht, sich auf den wichtigen Dienst zu besinnen, den sie – ohne es zu wissen – Barclay Goodson geleistet hatten. Die Arbeit kostete ihnen manchen Schweißtropfen, aber sie wurden doch damit fertig. Was ihre neunzehn Ehegattinnen unterdessen taten, war nicht so schwer. Sie gaben durchschnittlich siebentausend Dollars von den vierzigtausend aus, die der Sack enthielt – einhundertdreiunddreißigtausend Dollars im ganzen, wenn man die Summen zusammenzählt.
Tags darauf war Jack Halliday höchstlich überrascht, zu sehen, daß die Gesichter der neunzehn angesehensten Bürger und ihrer Frauen wieder den früheren glückstrahlenden Ausdruck trugen. Es schien ihm unfaßlich und ihm fiel auch nicht die kleinste witzige Bemerkung ein, um diese himmlische Ruhe zu stören. Das machte ihn nun seinerseits mißmutig und ärgerlich. Wie sehr er sich auch bemühte, dem Rätsel auf den Grund zu kommen, es wollte ihm nicht gelingen. Als er Frau Wilcox begegnete und in ihr verklärtes Antlitz sah, dachte er bei sich: »Ihre Katze hat Junge gekriegt,« aber das war nicht der Fall, wie er auf seine Erkundigung von der Köchin erfuhr. Hatte Billsons Nachbar vielleicht das Bein gebrochen? War Gregor Yates Schwiegermutter gestorben? Hatte Pinkerton ein Zehncentstück einkassiert, das er schon für verloren gehalten? – Dies und noch vieles andere riet Jack Halliday, als er die seelenvergnügten Mienen der Leute sah; aber meistens erfuhr er, daß er fehlgeschossen hatte, und in den übrigen Fällen blieb die Sache zweifelhaft. Nur eins stand fest, nämlich daß neunzehn Hadleyburger Familien sich augenblicklich wie im Himmel fühlten, und mit dieser Gewißheit mußte sich Halliday fürs erste beruhigen.
Ein Bau-Unternehmer aus dem Nachbarstaat hatte sich vor kurzem am Ort niedergelassen und ein Geschäft eröffnet. Schon seit acht Tagen hing sein Schild heraus, aber noch war kein Kunde gekommen. Das entmutigte ihn sehr und er fing bereits an, sein Unternehmen zu bereuen, als der Wind plötzlich umschlug. Die Frauen der ersten Bürger der Stadt fanden sich eine nach der andern bei ihm ein, um ihn auf den oder jenen Tag der nächsten Woche zu sich zu bestellen. »Reden Sie einstweilen noch nicht davon,« hieß es; »wir haben den Plan, uns ein Haus zu bauen, möchten aber nicht, daß es gleich unter die Leute käme.«
Der Mann erhielt elf Aufträge an einem Tage und schrieb noch denselben Abend an seine Tochter, sie solle ihre Verlobung mit dem Studenten auflösen, da sie jetzt eine weit bessere Partie machen könne.
Der Bankier Pinkerton und noch ein paar andere wohlhabende Herren gedachten sich Landhäuser zu kaufen – doch warteten sie die Sache erst ab. Menschen dieses Schlages machen die Rechnung nie ohne den Wirt.
Bei Wilsons hatte man den großen Plan gefaßt, ein Kostümfest zu geben. Man äußerte zwar noch nichts Bestimmtes, sondern erging sich den Bekannten gegenüber nur in allgemeinen vertraulichen Andeutungen. »Wir haben es uns vorgenommen,« hieß es, »und wenn es dazu kommt, werden Sie natürlich auch eingeladen.« Alles war erstaunt darüber. »Wie können die armen Wilsons nur an so etwas denken,« sagte eins zum andern; »ihre Mittel erlauben es ihnen doch nicht.« Einige Damen aus der Zahl der Neunzehn meinten aber, der Gedanke wäre nicht schlecht, und beschlossen zu warten, bis die armselige Geschichte vorüber sei, und dann einen Ball zu geben, der jenen ganz in den Schatten stellen sollte.
Je näher die Zeit rückte, um so mehr wuchs die Verschwendungssucht, immer wilder wurden die Wünsche, immer leichtsinniger die Ausgaben. Es hatte ganz den Anschein, als ob jede einzelne der neunzehn Familien nicht nur mit den 40 000 Dollars fertig werden, sondern sich auch darüber hinaus in Schulden stürzen wollte, noch ehe die Entscheidung gefallen war. In ihrer Sorglosigkeit begnügten sich manche nicht damit, Pläne zu schmieden, sie machten wirkliche Einkäufe – auf Kredit. Bauplätze, Hypotheken, Wiesen und Äcker, Börsenpapiere, kostbare Kleider, Wagen und Pferde nebst vielen andern Dingen schafften sich die Leute an, zahlten ein Draufgeld und machten sich verbindlich, den Rest nach Ablauf von zehn Tagen zu entrichten.
Dieser erste Rausch war jedoch bald wieder verflogen und auf vielen Gesichtern begann sich eine entsetzliche Sorge und Angst zu spiegeln, wie Halliday zu seiner Verwunderung bemerkte. Das Rätsel wurde ihm nur noch unerklärlicher. »Die Kätzchen bei Wilcox sind nicht gestorben, weil gar keine zur Welt gekommen waren,« dachte er bei sich; »niemand hat das Bein gebrochen, alle Schwiegermütter sind noch am Leben – da werde nun einer klug daraus!«
Auch ein anderer Hadleyburger war über die Vorgänge in der Stadt höchlichst verblüfft, nämlich der Pastor Burgeß. Tagelang konnte er nirgends hingehen, ohne daß jemand ihm folgte oder ihm auflauerte. Kam er an irgend einen entlegenen Ort, so tauchte sicher dieser oder jener seiner Mitbürger auf, drückte ihm verstohlen einen Briefumschlag in die Hand, flüsterte: »Am Freitag Abend im Rathaus zu öffnen,« und verschwand wieder gleich einem Missetäter. Dem Pastor war es von vornherein zweifelhaft gewesen, ob jemand Anspruch auf den Sack erheben werde, denn Goodson war ja tot. Daß die Leute, welche sich an ihn drängten, lauter Bewerber sein könnten, kam ihm daher auch nicht von ferne in den Sinn. Als der wichtige Tag endlich erschien, hatte Burgeß neunzehn versiegelte Briefumschläge in der Tasche.
III.
Der Rathaussaal hatte noch nie so prächtig ausgesehen. Im Hintergrund der Rednerbühne, sowie längs den Wänden und Galerien war der ganze Raum mit reichem Flaggenschmuck verkleidet und behängt; sogar um die Säulen schlangen sich bunte Fahnen. Dies Festgepränge sollte einen mächtigen Eindruck auf die Fremden machen, die, wie man vorausgesehen hatte, von nah und fern herbeiströmten; unter ihnen auch eine Menge Berichterstatter der hervorragendsten Zeitungen. Der Saal war zum Erdrücken voll. Nicht nur die 412 festen Plätze waren sämtlich besetzt, sondern auch 68 Extrastühle, welche man hier und da verteilt hatte, sowie die Stufen zur Rednerbühne. Auf dieser selbst befanden sich Ehrensitze für die vornehmsten Gäste, und Tische in Hufeisenform, an denen die Herren von der Presse Platz genommen hatten.
Die Damen waren in großer Toilette; solchen Staat hatte Hadleyburg noch nie erblickt. Dem Anschein nach fühlten sich einige von ihnen nicht sehr behaglich in den kostbaren Gewändern. Wenigstens machten die Einheimischen diese Bemerkung, was aber wohl daher rühren mochte, daß sie genau wußten, jene Damen hätten in ihrem ganzen Leben noch niemals solche Kleider angehabt.
Im Vordergrund der Rednerbühne, auf einem kleinen Tisch, wo alle Welt ihn sehen konnte, lag der Goldsack. Dorthin wandten sich die meisten Blicke mit brennender Begierde und schmerzlich sehnsüchtigem Verlangen, während neunzehn Ehepaare den Sack mit einem liebevollen Eigentumsgefühl betrachteten. Die männlichen Hälften dieser glücklichen Minderzahl wiederholten sich dabei im stillen die hübsche kleine Rede aus dem Stegreif, mit welcher sie alsbald ihren Dank für die Glückwünsche der Menge auszudrücken gedachten. Von Zeit zu Zeit zog bald dieser bald jener Herr ein Stück Papier aus der Westentasche, um seinem Gedächtnis nachzuhelfen.
Anfänglich herrschte ein lebhaftes Stimmengewirr; als aber Pastor Burgeß aufstand und seine Hand auf den Sack legte, wurde es totenstill im Saal; man hätte eine Mücke husten hören können. Der Pastor erzählte die wunderbare Geschichte des Sacks und erging sich dann in warmen Worten über Hadleyburgs wohlverdienten Ruf fleckenloser Redlichkeit, auf den die Stadt mit Recht stolz sein könne. Dieser Ruf, sagte er, sei ein Besitz von unschätzbarem Wert, auf welchem auch Gottes Segen sichtlich ruhe. Denn durch jene merkwürdige Begebenheit habe sich Hadleyburgs Ruhm allenthalben verbreitet, so daß die Blicke von ganz Amerika jetzt auf diese Stadt gerichtet seien, und ihr Name für alle Zeiten, wie er glaube und hoffe, als Sinnbild unbestechlicher Treue in Handel und Wandel gelten werde. (Beifall). »Wer aber soll der Hüter dieses kostbaren Schatzes sein? Etwa die ganze Gemeinde? O nein! Jeder Einzelne ist dafür verantwortlich. Von heute ab hat jeder Bewohner dieser Stadt persönlich Sorge zu tragen, daß unser herrlichstes Besitztum unangetastet bleibt. Wollt ihr diese große Verantwortung auf euch nehmen? (Brausende Rufe der Zustimmung.) Dann ist alles wohl bestellt. Vererbt den Schatz auf eure Kinder und Kindeskinder! Bisher hat niemand eure Lauterkeit antasten können – möge es immer so bleiben. Kein einziger von unsern Mitbürgern würde sich heute verführen lassen, auch nur einen Cent anzurühren, der ihm nicht gehört – sehet zu, daß ihr in solcher Tugend beharrt!« (»Ja, ja, das wollen wir!«) »Hier ist nicht der Ort, um einen Vergleich zwischen uns und andern Gemeinden anzustellen, von denen einige kein Wohlwollen für uns hegen. Sie haben ihre Sitten und Gebräuche und wir die unsrigen – daran soll uns genügen. (Beifall.) Ich bin zu Ende, meine Freunde. Hier lege ich die Hand auf den Goldsack, dies beredte Zeugnis für die Anerkennung, die ein Fremder unserer Tugend zollt. Sie wird durch ihn jetzt und für alle Zeit in der ganzen Welt verkündet werden. Der Mann ist uns unbekannt, aber ich spreche ihm in euer aller Namen unsern tiefgefühlten Dank aus und bitte euch, mit mir in ein Hoch auf ihn einzustimmen.«
Der ganze Saal erhob sich, und minutenlang schallten die Wände von donnernden Hurrarufen wieder. Als die Ruhe hergestellt war, zog Pastor Burgeß einen versiegelten Briefumschlag aus der Tasche, öffnete ihn und nahm einen Papierstreifen heraus. In atemloser Spannung lauschten die Anwesenden auf die Zauberworte, von denen jedes einen Klumpen Gold wert war und die der Pastor jetzt langsam und nachdrücklich vorlas:
»Die Äußerung, welche ich dem armen Fremden gegenüber tat, lautete: ›Ihr seid noch lange kein ganz schlechter Mensch. Geht hin und bessert Euch.‹« Dann fuhr Burgeß fort: »Wir wollen uns nun überzeugen, ob diese Äußerung gleichlautend ist mit den Worten, die der Sack enthält. Dies wird unzweifelhaft der Fall sein, und sobald es bewiesen ist, gehört der Goldsack einem unserer Mitbürger, der fortan bei allem Volk als Inbegriff und Vertreter jener besonderen Tugend gelten wird, die den Ruhm unserer Stadt in ganz Amerika ausmacht. Sein Name ist – Billson!«
Alle hatten sich schon zu einem gewaltigen Beifallssturm gerüstet; jetzt schienen sie plötzlich wie vom Frost erstarrt. Eine unheimliche Stille lagerte über der Versammlung, dann hörte man allmählich ein leises Flüstern, das immer deutlicher wurde: »Billson! Nanu – wer das glaubt! Zwanzig Dollars hätte der einem Fremden gegeben? Nicht im Traum würde es ihm einfallen. Ja, Prosit – so was lassen wir uns nicht aufbinden!« Aber ihrer wartete noch eine größere Überraschung. Während an einer Stelle des Saales der Kirchenrat Billson mit demütig gesenktem Haupt dastand, hatte sich an einer andern Rechtsanwalt Wilson erhoben. Verwundert schwieg die Menge eine Weile, und die Entrüstung der neunzehn Ehepaare war groß. Billson und Wilson hatten sich umgewandt und starrten einander an.
»Weshalb stehen Sie auf, Herr Wilson?« fragte Billson in beißendem Ton.
»Weil ich ein Recht dazu habe. Vielleicht würden Sie so freundlich sein, den Anwesenden zu erklären, warum Sie nicht sitzen bleiben.«
»Mit Vergnügen. Ich habe den Zettel dort geschrieben.«
»Das ist eine unverschämte Lüge. Er ist von meiner Hand.«
Jetzt war die Reihe an Burgeß, sich zu verwundern. Er stand stumm da und starrte bald den einen, bald den andern an, ohne zu wissen, was er tun sollte. Endlich nahm Wilson das Wort:
»Ich ersuche den Vorsitzenden,« sagte er, »den Namen zu lesen, mit welchem das Papier unterzeichnet ist.«
Das brachte den Pastor wieder zu sich.
»John Wharton Billson,« las er.
»Da haben Sie’s,« schrie Billson. »Wie wollen Sie sich nun herausreden und sich wegen der Beleidigung entschuldigen, die Sie mit Ihrer frechen Täuschung nicht nur mir, sondern dieser ganzen Versammlung zugefügt haben?«
»Von Entschuldigung ist gar keine Rede. Im Gegenteil, mein Herr, ich klage Sie hiermit öffentlich an, daß Sie dem Pastor Burgeß meinen Zettel entwendet und eine Abschrift untergeschoben haben, auf der Ihr Name steht. Dies ist die einzige Art, wie Sie zur Kenntnis der bewußten Aeußerung gelangt sein können, denn außer mir weiß kein Mensch in der ganzen Welt, wie jene Worte gelautet haben.«
Der Sache mußte ein Ende gemacht werden, wollte man nicht das ärgerlichste Aufsehen erregen und der Klatschsucht Tür und Tor öffnen. Alle sahen bestürzt nach den Stenographen hin, die in rasender Eile immer weiter schrieben. »Zur Ordnung! Zur Ordnung!« rief man dem Vorsitzenden zu, bis dieser mit dem Hammer auf den Tisch klopfte.
»Meine Herren, lassen Sie uns die Würde dieser Versammlung aufrecht halten und den Anstand nicht verletzen,« sagte Burgeß. »Offenbar liegt hier ein Irrtum vor, weiter nichts. Wenn Herr Wilson mir ein Couvert gegeben hat, wie mir jetzt erinnerlich ist, so befindet sich dasselbe auch noch in meinem Besitz.« Er zog einen Umschlag aus der Tasche, öffnete ihn, warf einen Blick hinein, machte ein verstörtes, bekümmertes Gesicht, stand eine Weile in ratlosem Schweigen da, erhob dann unwillkürlich die Hand und versuchte mehrmals zu sprechen, brachte aber kein Wort heraus.
»Vorlesen! Vorlesen!« riefen viele Stimmen. »Was steht darin?«
Mechanisch und wie ein Träumender gehorchte Burgeß der Aufforderung:
»Die Äußerung, welche ich dem unglücklichen Fremden gegenüber tat, lautete: ›Ihr seid noch lange kein schlechter Mensch (die Zuhörer schauten ihn verblüfft an). Geht hin und bessert Euch.‹« (Gemurmel: »Wunderbar! Was soll das nur bedeuten!«) »Dies ist Thurlow G. Wilson unterschrieben,« sagte der Vorsitzende.
»Habe ichs nicht gesagt,« schrie Wilson; »jetzt ist es sonnenklar. Ich wußte ja gleich, daß mein Brief abgeschrieben worden ist.«
»Das ist erlogen,« tobte Billson; »ich verbitte mir dergleichen von Ihnen und Leuten Ihres Gelichters.«
Der Vorsitzende: »Ich muß Sie zur Ruhe verweisen, meine Herren, und Sie beide ersuchen, Ihre Plätze wieder einzunehmen.«
Murrend, unter zornigem Widerspruch folgten sie der Aufforderung. Die Versammelten sahen einander kopfschüttelnd an, keiner wußte sich den seltsamen Fall zurechtzulegen. Endlich stand der Hutmacher Thomson auf. Er wäre gern einer der neunzehn angesehendsten Bürger gewesen, allein das war ihm nicht beschieden; für solche Würde war sein Hutlager nicht groß genug.
»Ich erlaube mir, dem Vorsitzenden zu bemerken,« sagte er, »daß die beiden Herren dem Fremden gegenüber schwerlich genau dieselben Worte gebraucht haben. Nach meiner Ansicht ist das ein Ding der Unmöglichkeit.«
Hier wurde Thomson von dem Lohgerber unterbrochen, der zu den Unzufriedenen gehörte, weil er nicht als ein Neunzehner anerkannt wurde, wiewohl er Anspruch darauf zu haben meinte. Dies gab seiner Art und Weise einen etwas unangenehmen Beigeschmack.
»Bah,« rief er, »das ist gar nicht der Punkt, auf den es ankommt. So etwas könnte geschehen – alle hundert Jahre einmal –; aber das andere liegt außer dem Bereich der Möglichkeit: Keiner von beiden hat die zwanzig Dollars gegeben!« (Schallender Beifall).
Billson: »Ich habe es getan!«
Wilson: »Nein, ich habe es getan!«
Wieder beschuldigten sie einander des Diebstahls.
Der Vorsitzende: »Ruhe, sage ich. Setzen Sie sich, meine Herren. Keins der beiden Couverts ist mir auch nur einen Augenblick aus der Hand gekommen.«
Eine Stimme: »Gut – damit ist das abgemacht.«
Der Lohgerber: »Ich weiß, wie es zugegangen sein muß: Einer der Männer hat sich unter dem Bett des andern versteckt und seine Familiengeheimnisse belauscht. Wenn es nicht unparlamentarisch ist, möchte ich die Behauptung aufstellen, daß man allen beiden so etwas zutrauen kann. ( Der Vorsitzende: »Zur Ordnung, zur Ordnung!«) »Ich ziehe meine Bemerkung zurück und will nur noch erwähnen, daß, wenn der eine gehört hat, wie der andere die wichtige Äußerung seiner Frau mitteilte, wir jetzt bald hinter seine Schliche kommen werden.«
Eine Stimme: »Wieso?«
Der Lohgerber: »Nichts leichter als das. Die Äußerung ist von beiden nicht genau in denselben Worten wiedergegeben worden. Das würde den Anwesenden auch aufgefallen sein, wenn die zweite Lesart nicht erst nach einiger Zeit und nach aufregenden Streitigkeiten vorgetragen worden wäre.«
Eine Stimme: »Was ist der Unterschied?«
Der Lohgerber: »Auf Billsons Zettel steht das Wort ganz – auf dem andern nicht.«
Viele Stimmen: »Richtig, richtig, so ist es!«
Der Lohgerber: »Wenn nun der Herr Vorsitzende die Probe macht und den Zettel im Sack liest, werden wir erfahren, wer von den beiden Betrügern –« ( Der Vorsitzende: »Zur Ordnung!«) »wer von diesen zwei Glücksjägern –« ( Der Vorsitzende: »Zur Ordnung!«) »wer von den beiden Ehrenmännern –« (Gelächter und Beifall) »die Auszeichnung genießen soll, der erste Halunke zu sein, der je in unserer durch ihn entehrten Stadt geboren und erzogen worden ist. Sein fernerer Aufenthalt hier dürfte für ihn etwas unbehaglich werden.« (Lebhafter Beifall.)
Viele Stimmen: »Öffnen, öffnen – den Sack öffnen!!«
Burgeß machte einen Schlitz in den Sack, steckte die Hand hinein und zog ein Couvert heraus, welches zwei zusammengefaltete Papiere enthielt. Dann sagte er:
»Hier auf diesem Zettel steht: ›Erst zu öffnen, nachdem alle schriftlichen Mitteilungen, die der Vorsitzende etwa erhalten hat, gelesen worden sind.‹ Das andere Papier trägt die Aufschrift: ›Die Probe‹. Mit Ihrer Erlaubnis will ich den Inhalt lesen; er lautet:
»Ich verlange nicht, daß die Äußerung, welche mein Wohltäter mir gegenüber getan hat, in ihrer ersten Hälfte dem Wortlaut nach genau wiedergegeben sein soll; sie war unbedeutend und er hat sie möglicherweise vergessen. Die letzten Sätze aber sind so schlagend, daß sie ihm sicherlich im Gedächtnis geblieben sind. Stimmen diese nicht mit der Probe überein, so hat man es mit einem Betrüger zu tun. Mein Wohltäter begann mit der Bemerkung, daß er selten guten Rat erteile, täte er es aber einmal, so sei sein Rat auch von erster Güte. Was er nun sagte, hat sich mir unauslöschlich ins Gedächtnis eingeprägt: ›Ihr seid noch lange kein schlechter Mensch –‹«
Viele Stimmen: »Das ist entscheidend – das Gold gehört Wilson. Er soll reden! Wilson hat das Wort!«
Die Leute sprangen von ihren Sitzen auf, sie umringten Wilson, schüttelten ihm die Hand und wünschten ihm von Herzen Glück, während der Vorsitzende immer lauter mit dem Hammer auf den Tisch klopfte und rief:
»Ruhe! Ordnung, meine Herren! Ich bitte um Ruhe! Lassen Sie mich den Zettel zu Ende lesen. –«
Als sich der Sturm gelegt hatte, fuhr Burgeß fort:
»›Geht hin und bessert Euch. Tut Ihr es nicht, so werdet Ihr eines Tages sicherlich in Euern Sünden sterben und zur Strafe in die Hölle kommen, oder nach Hadleyburg – ersteres wäre noch vorzuziehen.‹«
Eine unheimliche Stille entstand. Zuerst lagerten sich dunkle Zorneswolken auf der Stirn aller Hadleyburger, doch allmählich erheiterten sich die Gesichter wieder, ja, es schien, daß sie große Mühe hatten, den Lachkitzel zu unterdrücken, der sich ihrer unwiderstehlich bemächtigte. Die Berichterstatter, die Bürger aus Brixton und sämtliche fremde Gäste hielten sich die Hand vors Gesicht oder saßen mit gesenktem Kopf da, während sie sich aus Höflichkeit aufs äußerste anstrengten, ihre Lachmuskeln zu beherrschen. In diesem verhängnisvollen Augenblick unterbrach Jack Halliday plötzlich das allgemeine Schweigen, indem er mit lauter Stimme rief: »Das Ding ist echt – ein Rat erster Güte!«
Jetzt platzte die ganze Versammlung heraus, Fremde wie Einheimische, und als sogar Burgeß seine Ernsthaftigkeit nicht behaupten konnte, legte sich niemand mehr Zwang auf. Ein ungeheures Gelächter erscholl, das lange kein Ende nehmen wollte. Ein paarmal wischten sich die Leute schon die Augen aus und der Vorsitzende nahm sich gewaltig zusammen, um die Verhandlung fortzusetzen, aber immer von neuem brachen die Lachsalven unaufhaltsam hervor, und es dauerte eine geraume Zeit, ehe Burgeß endlich anhub:
»Es würde nutzlos sein, wollten wir versuchen, uns die Tatsache zu verhehlen, daß es sich hier um eine sehr ernste Sache handelt, denn die Ehre und der gute Name unserer Stadt stehen auf dem Spiel. Schon der Umstand, daß die beiden Zettel der Herren Wilson und Billson sich nur durch ein Wort unterschieden, war von schwerwiegender Bedeutung, da derselbe klar bewies, daß einer von ihnen sich des Diebstahls schuldig gemacht hatte –«
Die beiden Männer, welche in großer Niedergeschlagenheit dagesessen hatten, sprangen wie elektrisiert in die Höhe.
»Setzen Sie sich,« befahl der Vorsitzende streng, und sie gehorchten. »Wie gesagt, der Umstand war unheilvoll, doch nur für einen der Beteiligten. Jetzt aber erhält die Sache ein noch weit schlimmeres Ansehen, denn die Ehre beider ist nicht nur bedroht, sondern ich darf wohl sagen unrettbar verloren. Beide haben die letzten Sätze mit den entscheidenden Worten ausgelassen.« Er hielt inne und die lautlose Stille, welche entstand, erhöhte noch die eindrucksvolle Wirkung des Augenblicks. Dann fuhr er fort:
»Mir scheint, daß es hier nur eine mögliche Erklärung gibt – deshalb frage ich die Herren – geschah dies auf Verabredung – in heimlichem Einverständnis?«
Ein Flüstern ging durch den Saal: »Er hat sie beide in der Falle,« murmelte die Menge.
Billson war einer so schwierigen Lage nicht gewachsen; er sah in völliger Hilflosigkeit da. Aber Wilson, der Advokat, hatte sich ermannt; mit bleicher, verstörter Miene richtete er sich empor.
»Ich bitte die geehrten Anwesenden um Nachsicht bei der Erörterung dieser höchst peinlichen Angelegenheit. Nur ungern ergreife ich das Wort, denn ich weiß, daß ich durch meine Aussage Herrn Billson, den ich immer geachtet und hochgeschätzt habe, den schwersten Schaden zufüge. Wie alle übrigen habe auch ich bisher geglaubt, daß seine Rechtschaffenheit jeder Versuchung trotzen würde; aber meine eigene Ehre verlangt, daß ich offen zu Ihnen rede. Mit Beschämung muß ich gestehen – und ich bitte Sie herzlich, es mir zu vergeben –, daß ich mich dem mittellosen Fremden gegenüber ganz so geäußert habe, wie es auf dem Zettel im Sack verzeichnet ist, sogar den schimpflichen Schlußsatz mit inbegriffen. (Große Erregung.) Mir war das noch vollkommen erinnerlich, als ich beschloß, Anspruch auf den Sack zu erheben, der mir von Rechts wegen zukam. Versetzen Sie sich bitte einen Augenblick in meine Lage: Die Dankbarkeit des Fremden war grenzenlos gewesen an jenem Abend; er sagte selbst, er könne unmöglich Worte dafür finden, doch würde er mir die Wohltat tausendfach vergelten, wenn er je imstande wäre, es zu tun. Nun fragen Sie sich einmal, ob sich bei dieser seiner Gesinnung erwarten ließ, ja, ob es auch nur denkbar war, daß er mir so übel mitspielen würde, jenen ganz unnötigen Schlußsatz auf seinem Zettel beizufügen, mich in die Falle zu locken und in einer öffentlichen Versammlung als Verleumder meiner Vaterstadt bloßzustellen? Dergleichen anzunehmen wäre höchst widersinnig gewesen. Ich zweifelte daher keinen Augenblick, daß auf jenem Papier nur der ganz harmlose Anfang meiner Aeußerung stehen würde. Sie hätten das auch geglaubt und einem Menschen, dem Sie aus der Not geholfen und dem Sie kein Leid getan, niemals zugetraut, daß er schmählichen Verrat an Ihnen üben würde. So schrieb ich denn mit voller Zuversicht den Eingang nebst den Worten ›Geht hin und bessert Euch‹ und setzte meinen Namen darunter. Als ich den Zettel eben in einen Umschlag tun wollte, wurde ich abgerufen und ließ ihn in meiner Sorglosigkeit offen auf dem Schreibtisch liegen.« Hier hielt der Redner inne, wandte den Kopf langsam nach Billson hin, wartete noch ein paar Sekunden und sagte dann: »Als ich etwas später zurückkam, machte Herr Billson eben meine Haustüre hinter sich zu – urteilen Sie selbst, was das zu bedeuten hatte.« (Große Erregung.)
Doch schon war Billson aufgesprungen: »Es ist eine schändliche Lüge!« schrie er, rot vor Zorn.
Der Vorsitzende: »Setzen Sie sich! Herr Wilson hat das Wort.«
Billsons Freunde zogen ihn auf seinen Platz zurück und suchten ihn zu beruhigen, während Wilson fortfuhr:
»Ich teile Ihnen nur Tatsachen mit. Mein Zettel lag nicht mehr an derselben Stelle auf dem Tisch, wohin ich ihn gelegt hatte. Ich sah das wohl, beachtete es aber nicht weiter, in der Meinung, ein Zugwind habe ihn dahin geblasen. Daß Herr Billson ein Privatpapier lesen würde, kam mir nicht in den Sinn; er mußte das als Ehrenmann für unter seiner Würde halten. Hätte sein Gedächtnis ihn nicht im Stich gelassen, so würde er das Wort ganz nicht hinzugefügt haben. Ich bin der einzige Mensch in der Welt, der jene Äußerung auf ehrenhafte Weise – genau wiedergeben konnte. Weiter habe ich nichts zu bemerken.«
Für den schlauen und gewandten Redner ist es von jeher ein Leichtes gewesen, die Denkfähigkeit einer Zuhörerschaft, die an das täuschende Blendwerk der Redekunst nicht gewöhnt ist, zu verwirren und sie zu maßlosen Gefühlsäußerungen fortzureißen. Als Wilson wieder Platz nahm, war sein Sieg gewonnen. Ein nicht enden wollender Beifallssturm erschallte; Freunde und Bekannte umringten ihn, schüttelten ihm die Hand und wünschten ihm Glück. Billson versuchte umsonst in dem Getümmel zu Worte zu kommen. Selbst der Vorsitzende strengte seine Lunge vergebens an, und wie laut er auch mit dem Hammer klopfte, niemand gab acht darauf.
Endlich wurde es einigermaßen still. »Fahren wir nun mit der Verhandlung fort!« rief Burgeß.
»Was ist denn da noch zu verhandeln?« hieß es; »man braucht ihm doch bloß den Sack zu geben.«
Viele Stimmen: »Jawohl, jawohl! Wilson soll vortreten!«
Der Hutmacher: »Ich fordere Sie auf, mit mir Herrn Wilson hoch leben zu lassen, als Inbegriff und Vertreter der besonderen Tugend, welche – –«
»Hoch! hoch! Hurra!« hallte es mit Donnergetöse durch den Saal. Wilsons Bewunderer hoben ihn auf ihre Schultern, und man schickte sich eben an, ihn im Triumph auf die Rednertribüne zu geleiten, als die Stimme des Vorsitzenden den Lärm übertönte: »Ruhe! Ordnung! Platz nehmen! – Erinnern Sie sich doch, meine Herren, daß ich noch ein Schriftstück zu verlesen habe.« –
Es ward wieder still im Saal; Burgeß nahm das zweite Papier zur Hand, legte es aber wieder hin. »Fast hätte ich vergessen, daß ich zuvor alle Zuschriften lesen soll, welche ich erhalten habe.« Er zog ein Couvert aus der Tasche, öffnete es, überflog den Inhalt und schien starr vor Verwunderung.
»Was ist es? Vorlesen! Vorlesen!« schrien zwanzig bis dreißig Stimmen auf einmal.
Langsam und bedächtig, als traue er seinen Augen kaum, las Burgeß:
»Die Äußerung, welche ich dem Fremden gegenüber tat – (Mehrere Stimmen: »Hallo, wie geht das zu?«) – lautete: ›Ihr seid noch lange kein schlechter Mensch. (Mehrere Stimmen: »Gerechter Himmel!«) Geht hin und bessert Euch.‹ (Eine Stimme: »Da schlag‘ doch das Donnerwetter drein!«) Gezeichnet von Herrn Bankier Pinkerton.«
Jetzt brach ein Höllenlärm los, über den die besonneneren Leute trauernd ihr Haupt schüttelten. Wer sich nicht mehr halten konnte, lachte daß ihm die Tränen über die Wangen liefen. Die Berichterstatter wälzten sich vor Lachen und machten solche Krakelfüße auf dem Papier, daß es nicht menschenmöglich war, nur ein Wort zu entziffern. Ein Hund, der im Winkel geschlafen hatte, schreckte auf und geriet über das Getöse so in Wut, daß er wie wahnsinnig zu bellen anfing. Jeder schrie und brüllte, was ihm gerade durch den Kopf fuhr. »Oho, immer toller! – Jetzt besitzen wir zwei Inbegriffe von Treue und Redlichkeit! – Nein, drei – man muß auch Billson mitzählen – je mehr, desto besser! – Richtig, richtig, Billson gehört dazu! – Was ist doch Wilson für ein armes Opferlamm – zwei Diebe haben ihn beraubt!«
Eine mächtige Stimme: »Stille! Der Vorsitzende holt wieder etwas aus der Tasche.«
Andere Stimmen: »Hurra! Was gibt es Neues? Vorlesen! Vorlesen!«
Der Vorsitzende (liest): »Die Äußerung, welche ich usw. ›Ihr seid noch lange kein schlechter Mensch. Geht hin‹ usw. Unterschrift: Gregor Yates.«
Dröhnende Rufe: »Vier Inbegriffe! – Der ehrliche Yates soll leben! – Weiter, weiter!«
Das Gebrüll im Saal wollte jetzt kein Ende nehmen; es galt, den Kapitalspaß von Grund aus zu genießen. Als einige von den Neunzehnern aufstanden und sich mit bleichen, angstvollen Mienen nach dem Ausgang hin zu drängen suchten, wurden von allen Seiten Rufe laut:
»Schließt die Türen! Zieht die Schlüssel ab! Kein Ehrenmann darf den Saal verlassen! Hinsetzen! Hinsetzen! Jeder auf seinen Platz!«
Alle folgten der Aufforderung.
»Immer mehr! – Vorlesen! Vorlesen!«
Burgeß zog abermals ein Couvert hervor und las die wohlbekannten Worte: »Ihr seid noch lange kein schlechter Mensch –«
»Der Name! Der Name! Was steht darunter?«
»Ingoldsby Sargent.«
»Fünf Auserwählte! Ein ganzer Haufen Inbegriffe! Weiter, weiter!«
»Ihr seid noch lange kein –«
»Den Namen her!«
»Nikolas Whitworth.«
»Hurra! Hurra! Hoch soll er leben!« »Hoch soll er leben!« fiel der ganze Saal ein; »hoch soll er leben! Dreimal hoch!!!«
»Jetzt noch ein Lebehoch für Hadleyburg, das Vorbild unbestechlicher Tugend, und für alle seine Inbegriffe und würdigen Vertreter!«
»Hadleyburg und seine Tugendspiegel sollen leben – hoch!« brüllte der Chor; »dreimal hoch!!!«
»Weiter, weiter!« tönte es jetzt aus vielen Kehlen. »Wir wollen mehr hören! Vorlesen! Alles vorlesen, was da ist!«
»Jawohl, jawohl! Das wird unsern Ruhm auf ewig begründen.«
Jetzt standen einige Männer auf, um Widerspruch zu erheben. Sie sagten, ohne Zweifel hätte sich irgend ein erbärmlicher Spaßvogel dies Possenspiel ausgedacht, das ein Schimpf für das ganze Gemeinwesen sei. Die Unterschriften müßten alle gefälscht sein, nur so ließe sich die Sache erklären. Aber sie predigten tauben Ohren.
»Oho! Schweigt nur und setzt euch wieder,« hieß es. »Ihr bekennt euch bloß schuldig – nächstens werden eure Namen an die Reihe kommen!«
»Wir fragen den Vorsitzenden, wie viele solche Briefumschläge er bekommen hat.«
»Es waren, glaube ich, neunzehn, alles in allem.«
Ein Hohngelächter erfolgte. »Vielleicht enthalten sie sämtlich das Geheimnis. Ich stelle den Antrag, von jedem derartigen Zettel die sieben ersten Wörter und die Unterschrift zu lesen. Wer stimmt dafür?«
Der Vorschlag wurde mit lautem Beifall aufgenommen und zum Beschluß erhoben. Da stand plötzlich der arme alte Reichard auf und ihm zur Seite seine Frau, das Haupt gesenkt, um ihre Tränen zu verbergen. Der Gatte gab ihr den Arm, sie zu stützen, und begann mit bebender Stimme:
»Freunde und Mitbürger, ihr kennt uns beide, Mary und mich von Jugend auf, und habt uns stets Liebe und Achtung erwiesen –«
»Entschuldigen Sie, Herr Reichard,« unterbrach ihn der Vorsitzende; »was Sie sagen, ist zwar die lautere Wahrheit – die ganze Stadt kennt Sie nicht nur, sondern ehrt und liebt Sie beide, aber –«
Hier ließ sich Hallidays Stimme vernehmen: »Wenn das auch die Meinung der Versammlung ist, so schlage ich vor, das Ehepaar Reichard leben zu lassen. Hurra, hoch!«
Lautes Beifallklatschen war die Antwort; zahllose Taschentücher wurden geschwenkt und donnernde Hochrufe erschallten. Dann fuhr der Vorsitzende fort:
»Ich wollte mir nur die Bemerkung erlauben, Herr Reichard, daß es zwar Ihrem guten Herzen Ehre macht, wir aber in diesem Fall den Missetätern keine Nachsicht gewähren dürfen.« (Zurufe: »Nein, nein!«) »Die edle Absicht steht Ihnen im Gesicht geschrieben; allein ich kann nicht gestatten, daß Sie sich für jene Männer verwenden –«
»Aber ich wollte ja nur –« »Setzen Sie sich, bitte, Herr Reichard. Wir müssen erst die übrigen Zuschriften lesen. Das verlangt schon die Billigkeit den Leuten gegenüber, deren Schuld wir bereits ans Licht gezogen haben. Sobald dies geschehen ist, wollen wir Sie anhören, das verspreche ich Ihnen.«
Zögernd nahm das Ehepaar wieder Platz. »Das Warten ist eine rechte Qual,« flüsterte Reichard seiner Frau zu. »Nun wird unsere Schande um so größer sein, wenn es sich herausstellt, daß wir nur für uns selber um Nachsicht bitten wollten.«
Jetzt ging der Spaß von neuem los; die Namen wurden gelesen.
»›Ihr seid noch lange kein schlechter Mensch –‹ Unterschrift ›Robert Titmarsch.‹
›Ihr seid noch lange kein schlechter Mensch –‹ Unterschrift: ›Eliphalet Wenks‹
›Ihr seid noch lange kein schlechter Mensch –‹ Unterschrift: ›Oskar Wilder‹«
Als der Vorsitzende so weit gekommen war, gerieten die Zuhörer auf den Einfall, ihn der Mühe zu überheben, jedesmal die sieben Wörter zu lesen, womit er sehr einverstanden war. Er hielt nun nur noch den Zettel in die Höhe und wartete, bis die Versammlung in volltönendem Chor, der fast klang wie die Melodie eines bekannten Kirchenliedes, feierlich die sieben Wörter sang: »Ihr seid noch la-an-ge kein schle-ech-ter Mensch.« Dann las er die Unterschrift: »Archibald Wilcox.« So ging es immer weiter unter allgemeinem Gaudium und zur Qual der unglücklichen Neunzehner. Jedesmal, wenn ein besonders angesehener Name verlesen ward, ließ der Chor den Vorsitzenden warten, sang die ganze Litanei von Anfang an bis zu den Worten: »zur Strafe in die Hölle gekommen, oder nach Hadleyburg – ersteres wäre noch vo-o-or-zu-ziehn« – und schloß dann mit einem mächtigen »A-a-a-a-men!«
Immer kleiner wurde die Zahl der noch zu verlesenden Papiere; Reichard wußte genau, wie viele noch fehlten und zuckte zusammen, so oft ein Name dem seinigen glich. Er wartete in qualvoller Spannung auf den Augenblick, wenn die Reihe an ihn kommen würde. Dann wollte er sich erheben und die Versammlung etwa mit folgenden Worten um Erbarmen für sich und Mary anflehen: »Bisher sind wir unsern Weg unsträflich gewandelt und haben noch nie in eine Sünde gewilligt. Aber wir sind alt und sehr arm, haben auch weder Sohn noch Tochter zur Stütze; die Versuchung war groß und wir sind unterlegen. Als ich vorhin aufstand, wollte ich mein Unrecht bekennen und bitten, daß man meinen Namen nicht öffentlich vorlesen möchte, weil ich glaubte, die Schande nicht überleben zu können; man ließ mich jedoch nicht ausreden. Ich weiß, es ist nur gerecht, wenn wir vor den andern nichts voraus haben; aber die Strafe ist hart. Unser Name war bis jetzt immer unbescholten; habt Erbarmen, denkt, daß wir stets rechtschaffene Leute gewesen sind, und laßt uns den Fehltritt nicht allzuschwer büßen.« So weit war er in seinen Gedanken gekommen, als Mary ihn anstieß, um ihn aus der Träumerei zu wecken. Eben sang der Chor: »Ihr seid noch la-a-nge kein« usw.
»Mach‘ dich bereit,« flüsterte Mary. »Jetzt ist die Reihe an dir; achtzehn Namen sind schon verlesen.«
»Weiter, weiter!« schrie die ungeduldige Menge. Langsam und zitternd erhob sich das alte Ehepaar. Burgeß steckte die Hand in die Tasche und schien einen Augenblick zu suchen. »Ich muß die Zettel alle gelesen haben,« sagte er dann.
Fast überwältigt von freudiger Überraschung sanken Reichard und seine Frau auf ihre Plätze zurück. »Gerettet!« flüsterte Mary; »Gott sei Dank. Er hat unsern Zettel verloren. Hundert Goldsäcke würden mich nicht so glücklich machen!«
Der Chor brüllte nun noch ein Lebehoch auf Hadleyburgs Redlichkeit und die achtzehn unsterblichen Vertreter seiner Tugend. Dann stand Wingate, der Sattler auf, um den wackersten Mann in der Stadt leben zu lassen, den einzigen aus der Klasse der angesehensten Bürger, der keinen Versuch gemacht habe, das Gold zu stehlen – Eduard Reichard.
Die Menge stimmte mit wahrer Begeisterung ein, und man pries Reichard laut, als den einzigen treuen Hüter der geheiligten Hadleyburger Überlieferung.
»Aber wer bekommt nun den Sack?« fragte eine Stimme.
Der Lohgerber (mit bitterem Spott): »Das liegt doch auf der Hand. Das Gold muß unter die achtzehn Tugendhelden verteilt werden. Jeder von ihnen hat dem armen Fremdling zwanzig Dollars gegeben – und jenen kostbaren Rat. Zweiundzwanzig Minuten hat es gedauert, bis sie einer nach dem andern bei ihm vorübermarschiert sind. Was sie für den Fremden eingezahlt haben, betrug alles in allem dreihundertsechzig Dollars; sie möchten nur ihr Geld und die Zinsen zurückhaben – die sich mit dem Kapital auf vierzigtausend Dollars belaufen.«
»Hahaha! Die armen Leute!« Allgemeines Hohngelächter.
Der Vorsitzende: »Ich bitte um Ruhe, damit ich die letzte Zuschrift des Fremden vorlesen kann. – Sie lautet: ›Falls sich niemand meldet, um Anspruch auf den Sack zu erheben, (lautes Seufzen und Stöhnen aus der Menge), so soll das Geld unter die ersten Bürger der Stadt verteilt werden, damit sie es aufs beste verwenden, um den ehrenwerten Ruf Hadleyburgs auch ferner zu erhalten und immer weiter auszubreiten. Dafür, daß sie dies nach besten Kräften tun werden, bürgt schon ihre eigene Unbescholtenheit und allgemein anerkannte Vortrefflichkeit.‹ (Spöttische Beifallsrufe von allen Seiten und lautes Händeklatschen.) Halt! Ich bin noch nicht zu Ende – hier ist eine Nachschrift:
» P. S. – Bürger von Hadleyburg!
Die ganze Sache beruht auf Erfindung – kein Mensch hatte jene Äußerung getan. (Unbeschreibliche Aufregung.) Sowohl der fremde Bettler als die geschenkten zwanzig Dollars samt dem guten Rat und Segenswunsch sind vollkommen aus der Luft gegriffen. (Großes Gewirr verwunderter und belustigter Stimmen.) Erlaubt, daß ich euch mit wenigen Worten meine Geschichte erzähle: Als ich eines Tages durch Hadleyburg reiste, tat man mir eine schwere, unverdiente Beleidigung an. Jeder andere hätte sich damit begnügt, ein paar von euch umzubringen, aber bei meiner Gemütsart würde mich eine so geringfügige Rache kaum entschädigt haben. Konnte ich euch auch nicht allen das Leben nehmen, so wollte ich doch jeden Insassen der Stadt, ob Mann oder Weib, empfindlich schädigen, wenn auch nicht an Leib und Gut, so doch an ihrer Eitelkeit – der Stelle, wo schwache und törichte Menschen am verwundbarsten sind. Verkleidet kam ich zurück und lernte euch näher kennen. Euch beizukommen war nicht schwer. Ihr besaßet einen Schatz, den ihr wie euern Augapfel hütetet, den altbewährten, hohen Ruhm unantastbarer Redlichkeit, der euern ganzen Stolz ausmachte. Sobald ich sah, daß ihr mit der größten Sorgfalt und Wachsamkeit jede Versuchung von euch und euern Kindern fernhieltet, war mein Plan gefaßt. Ihr einfältigen Menschen! Es gibt ja nichts Schwächeres auf Erden, als eine Tugend, die nicht im Feuer der Prüfung bewährt ist. Meine Absicht war, dem tugendstolzen Hadleyburg seinen Ruhm zu nehmen und fast ein halbes Hundert bisher untadeliger Männer und Frauen, die in ihrem ganzen Leben noch keine Unwahrheit gesagt und keinen Cent gestohlen hatten, zu Dieben und Lügnern zu machen. Eine Liste von Namen hatte ich bald entworfen; nur Goodson, der kein eingeborener Hadleyburger war, stand meinem Plan im Wege. Hätte ich euch damals meinen Brief vorlegen lassen, so würdet ihr ohne Zweifel gesagt haben: ›Goodson ist der einzige Bürger unserer Stadt, der einem armen Teufel zwanzig Dollars schenken könnte‹ – und ich fürchte, ihr wäret nicht in meine Falle gegangen. Sobald aber der Himmel Goodson von dieser Welt abgerufen hatte, warf ich den Köder mit vollster Zuversicht aus – ich wußte, ihr würdet anbeißen. Vielleicht fange ich nicht alle Männer, an welche ich die erdichtete Äußerung mit der Post geschickt habe, die meisten jedoch sicherlich, wie ich den Charakter der Hadleyburger kenne. Bei ihrer verkehrten Erziehung und inneren Haltlosigkeit wird selbst der Umstand, daß das Geld im Glücksspiel gewonnen ist, sie nicht hindern, es fälschlich an sich zu bringen. So hoffe ich denn, euern Stolz auf ewige Zeiten zu Grunde gerichtet zu haben, und Hadleyburg in einen ganz neuen Ruf zu bringen, der sich allenthalben verbreiten wird und den es nie wieder loswerden soll. Wenn mein Zweck erreicht ist, so öffne man den Sack und ernenne einen Ausschuß zur Erhaltung und Verbreitung des Hadleyburger Ruhmes.«
Viele Stimmen: »Der Ausschuß ist bereits erwählt. Die achtzehn Tugendhelden sollen vortreten!«
Jetzt trennte Burgeß den Sack auf und nahm eine Handvoll großer gelber Münzen heraus, die er durcheinander schüttelte und genau betrachtete.
»Werte Freunde,« sagte er, »es sind nur Scheiben aus vergoldetem Blech.«
Lautes Gelächter folgte auf diese Neuigkeit. Vergebens rief man nach den Mitgliedern des Ausschusses, um ihnen das Gold einzuhändigen; keiner rührte sich vom Platze. Endlich nahm der Sattler das Wort:
»Von allen unsern vornehmen Bürgern hat sich nur einer als redlich bewährt. Der Mann braucht Geld und verdient eine Unterstützung. Ich schlage daher vor, daß Jack Halliday den Auftrag erhält, den Sack voll vergoldeter Zwanzigdollarstücke hier öffentlich zu versteigern und den Ertrag Herrn Eduard Reichard zu übermitteln, denn er ist ein Mann von echtem Schrot und Korn, dem Hadleyburg mit Freuden alle Ehre erweist.«
Die Leute klatschten Beifall, der Hund bellte und die Versteigerung begann. Zuerst bot der Sattler einen Dollar; mehrere Bewohner von Brixton und Barnums Vertreter trieben sich gegenseitig in die Höhe. Bei jedem neuen Angebot jubelte die Menge; die Aufregung wuchs, die Bietenden wurden hartnäckiger und kühner. Von einem Dollar stieg der Preis auf fünf, auf zehn, auf zwanzig, auf fünfzig, auf hundert und immer höher.
Als der Antrag zuerst gestellt wurde, hatte Reichard seiner Frau in kläglichem Ton zugeflüstert: »O Mary, das dürfen wir nicht gestatten; es ist ein Zeugnis für die Reinheit unseres Charakters, ein Ehrengeschenk, und – und – wir können es doch nicht dulden! Sollen wir nicht lieber aufstehen und – Mary, was fangen wir nur an – was meinst du, daß wir –«
(Hallidays Stimme: »Fünfzehn für den Sack! Fünfzehn zum ersten – zwanzig – danke bestens – dreißig – dreißig zum – höre ich recht? – Vierzig – bieten Sie weiter, meine Herren – fünfzig zum ersten, zum zweiten, zum – siebzig – neunzig – bravo! Immer höher! – Hundert – hundertzwanzig – vierzig – noch ist es Zeit! – Hundertfünfzig – zweihundert – zweihundertfünfzig – keiner mehr? –«)
»Es ist eine neue Versuchung, Eduard – ich zittere an allen Gliedern. Aus der ersten sind wir glücklich errettet worden; das sollte uns zur Warnung dienen –« [»Habe ich recht gehört? Sechs – meinen Dank – sechshundertfünfzig – siebenhundert.«] »Und doch, wenn man’s recht bedenkt, – kein Mensch argwöhnt –« [Achthundert Dollars! Hurra! Neunhundert wäre noch besser! – Haben Sie neunhundert gesagt, Herr Parsons? – Ganz recht – also dieser schöne Sack, mit echtem Blech gefüllt, soll samt der Vergoldung für nur neunhundert Dollars – tausend – sehr verbunden! Will niemand elfhundert bieten für den Sack, der als eine der berühmtesten Raritäten in den Vereinigten Staaten –«] »O Eduard,« schluchzte Mary, »wir sind so arm – aber – tu‘ was dir am besten dünkt – ich hindere dich nicht.«
Eduard erlag der Versuchung, das heißt, er saß still und beschwichtigte sein Gewissen damit, daß die Umstände ihm keine Wahl ließen.
Während der ganzen Zeit war ein Fremder, welcher aussah wie ein als englischer Graf verkleideter Geheimpolizist, den Verhandlungen mit dem größten Interesse gefolgt. Jetzt trug sein Gesicht einen hochbefriedigten Ausdruck, und was er bei sich dachte, war ungefähr folgendes: »Die achtzehn Tugendhelden bieten nicht mit, das ist nicht in der Ordnung, es verstößt gegen die poetische Gerechtigkeit. Sie müssen im Gegenteil den Sack kaufen, den sie stehlen wollten, und einen ordentlichen Preis dafür zahlen – denn es sind reiche Leute darunter. Außerdem hat der einzige Hadleyburger, der meine Berechnung zu Schanden gemacht hat, eine hohe Prämie verdient, und sie darf ihm nicht entgehen. Der arme alte Reichard ist ein ehrlicher Mann, das muß ich zugeben, obgleich es mir unfaßlich scheint. Jedenfalls soll er den Glückstopf ausleeren, wie es ihm von Rechts wegen gebührt. Daß er mich Lügen gestraft hat, will ich ihm nicht nachtragen.«
Gespannt beobachtete der Fremde den weiteren Verlauf der Auktion. Nachdem tausend Dollars geboten waren, ging der Preis nur noch langsam in die Höhe. Ein Liebhaber nach dem andern zog sich zurück. Nun bot der Fremde selbst ein paarmal mit, erst fünf Dollars mehr, jemand steigerte ihn noch um drei Dollars, dann fügte er rasch fünfzig hinzu und der Sack wurde ihm für eintausendzweihundertundzweiundachtzig Dollars zugeschlagen. Die Menge brach in schallende Hochrufe aus, doch trat gleich darauf eine lautlose Stille ein, als der Fremde mit der Hand winkte und zu reden begann:
»Gestatten Sie mir ein Wort, geehrte Anwesende. Ich bin Raritätenhändler und habe in der ganzen Welt Verbindungen mit Leuten, die seltene Münzen sammeln. Zwar könnte ich den Sack, so wie er ist, mit Gewinn verkaufen, aber einen ungleich größeren Vorteil würde ich daraus ziehen, wenn Sie mir eine Bitte gewähren wollten, welche ich Ihnen sogleich vortragen werde. Ich könnte dann jede einzelne dieser blechernen Münzen mindestens für ein echtes Zwanzigdollarstück verkaufen und würde gern einen Teil meines Profits Ihrem Mitbürger, Herrn Reichard, überlassen, dessen unerschütterliche Redlichkeit heute von Ihnen mit vollem Rechte anerkannt und gepriesen worden ist. Sein Anteil würde zehntausend Dollars betragen, die ich ihm morgen einhändigen will.« [Großer Beifall der Menge; Reichard und seine Frau wurden dunkelrot bei dem Lob, das schadete jedoch nichts, man legte es ihnen als Bescheidenheit aus.] »Der besondere Wert einer Rarität hängt meistens davon ab, ob sie die Wißbegierde reizt oder viel besprochen wird. Deshalb möchte ich Sie bitten, mir zu erlauben, daß ich auf diese vergoldeten Blechmünzen hier die Namen der achtzehn Herren stempeln lassen darf, welche –«
Mit Ausnahme einer kleinen Minderheit erhob sich die ganze Versammlung wie ein Mann, um unter Lachen und Beifallklatschen ihre Zustimmung zu geben. Als jedoch der Fremde seinen Dank dafür aussprechen wollte, daß man so bereitwillig auf seinen Vorschlag eingegangen war, erhoben sämtliche Tugendhelden außer Doktor Harkneß den heftigsten Widerspruch; sie wollten es sich nicht gefallen lassen, daß man ihnen solchen Schimpf antäte, und stießen sogar Drohungen gegen den Fremden aus, der jedoch ganz ruhig blieb.
Während nun die andern Siebzehn fortfuhren, zu bitten und zu drohen, benutzte Harkneß die günstige Gelegenheit, welche sich ihm bot. Er und Pinkerton waren die reichsten Männer der Stadt und Gegenkandidaten bei der Abgeordnetenwahl, um die ein heißer Kampf zwischen ihnen entbrannt war. Im Repräsentantenhaus verhandelte man gerade über den Bau einer neuen Eisenbahn; beide Männer besaßen große Strecken Landes und jeder hoffte, es bei der Regierung dahin zu bringen, daß die Bahn durch sein Besitztum geleitet würde, was ihm ein Vermögen einbringen mußte. Eine einzige Stimme konnte dabei vielleicht den Ausschlag geben. Vor einer gewagten Spekulation zurückzuschrecken, war Harkneß‘ Sache nicht, und hier galt es ein hohes Spiel. Der Fremde saß in seiner Nähe und die Unruhe im Saal war groß. Rasch beugte sich Harkneß vor und sagte:
»Wieviel verlangen Sie für den Sack?«
»Vierzigtausend Dollars.«
»Ich biete Ihnen zwanzigtausend.«
»Nein.«
»Fünfundzwanzig.«
»Nein.«
»Was sagen Sie zu dreißig?«
»Ich fordere vierzigtausend Dollars und keinen Pfennig weniger.«
»Sehr wohl; ich will den Preis zahlen. Morgen früh um zehn Uhr komme ich zu Ihnen ins Hotel; doch möchte ich nicht, daß es bekannt würde; ich wünsche Sie allein zu sprechen.«
Der Fremde war damit einverstanden; dann erhob er sich, um sich bei der Versammlung zu verabschieden; er dankte den Anwesenden nochmals für die Gewährung seiner Bitte, ersuchte den Vorsitzenden, ihm den Sack bis morgen aufzuheben und Herrn Reichard einstweilen drei Fünfhundertdollarscheine einzuhändigen. Nachdem Burgeß diese in Empfang genommen, fuhr der Fremde fort: »Morgen früh um neun will ich den Sack abholen und um elf Uhr Herrn Reichard den Rest der zehntausend Dollars persönlich in seinem Hause übergeben. Gute Nacht!«
Er entfernte sich rasch aus dem Saal, wo der Lärm jetzt von neuem anhob: Hurrarufe, Zischen, Beifallklatschen, Hundegebell, und dazwischen der Chorgesang: »Ihr seid noch la-a-nge kein schle-e-ech-ter Mensch –« erschallten in wildem Durcheinander.
IV.
Zu Hause angekommen mußte das Ehepaar Reichard noch bis Mitternacht fortwährend Glückwünsche und Lobsprüche über sich ergehen lassen. Als sie endlich allein waren, saßen sie mit betrübten Mienen stumm und traurig da, bis Mary zuletzt tief aufseufzte:
»Glaubst du, Eduard, daß wir sehr, sehr unrecht getan haben?« fragte sie und schaute nach den Beweisen ihrer Schuld, den drei großen Kassenscheinen, welche die Leute vorhin mit so verlangenden Blicken betrachtet und kaum anzurühren gewagt hatten. Eduard schwieg eine Weile, dann kam ein Seufzer auch aus seiner Brust.
»Wir – wir konnten nichts dafür, Mary – es war eine Fügung des Himmels – wie alles in dieser Welt,« erwiderte er zögernd.
Mary sah ihn mit großen Augen an, aber er senkte den Blick.
»Ich war der Meinung,« sagte sie, »daß Lob und Anerkennung der Menschen immer Freude machten – aber jetzt scheint mir – höre, Eduard?«
»Was denn?«
»Wirst du deine Stelle bei der Bank behalten?«
»N – nein.«
»Was willst du tun?«
»Morgen früh meinen Abschied schriftlich einreichen.«
»Das wird wohl am besten sein.«
Reichard starrte unverwandt vor sich hin. »Bisher hatte ich keine Furcht, wenn mir auch das Geld anderer Leute stromweise durch die Hände floß,« murmelte er. »O Mary, ich bin müde zum Umfallen.«
»Laß uns zu Bette gehen.«
Am andern Morgen um neun Uhr holte der Fremde den Sack ab und fuhr damit in einer Droschke nach dem Hotel. Dort hatte Harkneß um zehn ein Privatgespräch mit ihm. Der Fremde ließ sich fünf Wechsel – zahlbar an den Überbringer – auf eine New Yorker Bank ausstellen, einen zu vierunddreißigtausend Dollars und vier zu fünfzehnhundert Dollars. Von letzteren steckte er einen in sein Taschenbuch, alle übrigen legte er in ein Couvert und schrieb ein Briefchen dazu, nachdem Harkneß fort war. Um elf Uhr klingelte er am Reichard’schen Hause; Mary guckte erst durch den Fensterladen, dann nahm sie an der Tür das Kuvert in Empfang, welches ihr der Fremde einhändigte, ohne ein Wort zu sagen. In großer Erregung kehrte sie ins Zimmer zurück.
»Schon gestern abend kam es mir vor, als müßte ich ihn früher irgendwo gesehen haben; aber jetzt habe ich ihn wiedererkannt.«
»Es ist wohl der Mann, der den Sack gebracht hat?«
»Ja, ich mochte darauf schwören.«
»Dann ist er auch der angebliche Stephenson, der die Bürger mit seinem erfundenen Geheimnis zum Narren gehalten hat. Wenn er uns nun Wechsel statt Geld bringt, sind wir noch einmal angeführt, während wir uns eben in Sicherheit wiegten. Nach der Nachtruhe war mir schon ganz behaglich zu Mute, aber dies Kuvert verdirbt alles wieder, es ist viel zu dünn. Achttausendfünfhundert Dollars, selbst in den größten Banknoten, wären ein dickeres Paket.«
»Was hast du denn gegen Wechsel einzuwenden?«
»Wenn sie dieser Stephenson ausgestellt hat! – Ich habe mich zwar darein gegeben, die 8500 Dollars in Banknoten anzunehmen, weil es der Himmel nun einmal so gefügt hat. Aber Wechsel einzulösen, welche jene verhängnisvolle Unterschrift tragen – nein, dazu fehlt mir der Mut. Es könnte eine Falle sein. Schon einmal hat mich der Mensch fast in seine Hände bekommen, und wir sind ihm wie durch ein Wunder entgangen. Jetzt versucht er es auf andere Weise. Wenn Wechsel in dem Couvert sind –«
»O Eduard, wie schrecklich!« Weinend hielt sie die Wechsel in die Höhe.
»Wirf sie ins Feuer, rasch, damit wir nicht in Versuchung kommen. Es ist nur eine Hinterlist, um uns ins Verderben zu locken – uns dem Hohn und Spott der Leute preiszugeben wie die andern. Wenn du es nicht tun kannst, gib sie mir.« Er riß ihr die Wechsel aus der Hand und wankte damit zum Ofen. Doch er war Kassierer von Beruf und konnte nicht umhin, zuvor noch einen Blick auf die Unterschrift zu werfen. Fast wäre er in Ohnmacht gefallen.
»Mary, Mary, halte mich – sie sind so gut wie Gold!«
»O Eduard, wie herrlich! Aber ist es auch ganz gewiß?«
»Harkneß hat die Wechsel ausgestellt. Das ist mir ein unerklärliches Rätsel.«
»Glaubst du denn, Eduard –«
»So sieh doch nur her! Fünfzehn – fünfzehn – fünfzehn – vierunddreißig! Achtunddreißigtausendfünfhundert! Was sagst du dazu, Mary? – Der Sack ist keine zwölf Dollars wert und Harkneß hat offenbar diese Riesensumme dafür gezahlt.«
»Und du glaubst, das alles soll uns gehören? Nicht nur die versprochenen Zehntausend?«
»Es hat ganz den Anschein. Überdies lauten die Wechsel auf den ›Überbringer.‹«
»Ist das günstig, Eduard? Was hat das zu bedeuten?«
»Man kann das Geld bei jeder beliebigen Bank erheben. Vielleicht wünscht Harkneß nicht, daß die Sache hier ruchbar wird. Was ist denn das – – ein Brief?«
»Ja, er lag bei den Wechseln.«
Das Schreiben war von Stephensons Hand, trug aber keine Unterschrift. Reichard las:
»Ich habe mich in Ihnen getäuscht; Ihre Ehrlichkeit ist über jede Versuchung erhaben. Als ich das Gegenteil annahm, tat ich Ihnen unrecht, und bitte Sie aufrichtig, es mir zu verzeihen. Sie verdienen meine vollste Hochachtung, und Ihre Mitbürger sind nicht wert, Ihnen die Schuhriemen aufzulösen. Ich bin mit mir selbst eine Wette eingegangen, daß sich in Ihrer tugendstolzen Stadt neunzehn Männer zur Unredlichkeit verführen lassen würden. Die Wette habe ich verloren. Nehmen Sie den ganzen Einsatz; er gebührt Ihnen von Rechts wegen.«
Reichard tat einen tiefen Atemzug: »Das brennt, als wäre es mit Feuer geschrieben,« sagte er. »Mir ist wieder ganz erbärmlich zu Mute, Mary.«
»Mir auch. Ach, hätten wir doch – –«
»Stelle dir nur vor, Mary – er glaubt an mich.«
»Schweig‘ still davon – ich halte es sonst nicht aus.«
»Wenn ich dies schöne Lob verdiente – und Gott weiß, ich glaube, früher war das der Fall – so gäbe ich wahrhaftig die vierzigtausend Dollars dafür hin. Sein Schreiben aber würde ich heilig aufbewahren, es wäre mir mehr wert, als Gold und Juwelen. Doch jetzt müßte es uns ein ewiger Vorwurf sein, darum fort mit ihm.«
Er warf das Papier in die Flammen. –
Indem kam ein Bote, der einen Brief brachte. Burgeß hatte ihn geschickt; er lautete:
»Sie waren mein Retter zur Zeit der Not. Zum Dank dafür habe ich Sie gestern gerettet. Ich mußte es auf Kosten der Wahrheit tun, doch habe ich das Opfer gern gebracht, es reut mich nicht. Es weiß doch keiner Ihrer Mitbürger so gut wie ich, daß Sie ein braver, wackerer und edler Mensch sind. Sie wissen, welches Fehltritts man mich anklagt, und da man allgemein von meiner Schuld überzeugt ist, kann ich auf Ihre Achtung keinen Anspruch machen. Aber der Gedanke, daß Sie mich wenigstens nicht für einen Undankbaren halten, wird mir die Last erleichtern, die ich tragen muß.
Burgeß.«
»Wieder von einer Angst befreit und unter welchen Bedingungen!« Er warf den Brief ins Feuer. »Ich – ich wollte, ich wäre tot, Mary, da hätte die Sache ein für allemal ein Ende.«
»Das sind jetzt rechte Leidenstage für uns, Eduard. So viel Großmut muß einem schier das Herz zermalmen – und das geht immer Schlag auf Schlag. –«
Drei Tage vor der Abgeordnetenwahl wurde jedem der zweitausend Wähler als kostbares Erinnerungszeichen eine der wohlbekannten falschen Doppelkronen zugestellt. Auf der einen Seite der Münze las man am Rand die Inschrift: ›Die Worte, die ich zu dem armen Fremdling sagte, lauteten –‹ Auf der andern Seite stand: ›Geht hin und bessert Euch! Pinkerton.‹
So wurde alles, was noch von dem großen Possenspiel an Unrat übrig geblieben war, über ein einziges Haupt ausgegossen, und die Wirkung war verhängnisvoll. Das furchtbare Hohngelächter begann von neuem und richtete sich ausschließlich gegen Pinkerton, so daß bei Harkneß‘ Wahl von einem Kampf überhaupt nicht mehr die Rede war.
Herr und Frau Reichard hatten inzwischen Zeit gehabt, ihr Gewissen über die Annahme der Wechsel zu beruhigen; sie machten sich keine Vorwürfe mehr wegen ihrer Sünde. Doch sollten sie noch inne werden, welche Schreckensgestalt eine böse Tat annehmen kann, sobald die Möglichkeit ihrer Entdeckung vorhanden scheint. Die Sünde selbst gewinnt dadurch eine völlig neue Bedeutung und Wichtigkeit.
Am nächsten Sonntag war die Predigt in der Kirche ganz so wie immer. Dieselben alten Sachen wurden in hergebrachter Weise vorgetragen. Die Eheleute hatten das alles schon tausendmal gehört, ohne sich davon getroffen zu fühlen; es war oft ordentlich schwer gewesen, nicht dabei einzuschlafen, weil es ihnen so unerheblich und abgedroschen vorkam. Aber auf einmal war das ganz anders. Die Predigt schien voller Anschuldigungen und ganz besonders auf Leute gemünzt, die eine schwere Sünde vor der Welt verbergen möchten. Als der Gottesdienst zu Ende war, wich das Ehepaar so viel wie möglich der sie beglückwünschenden Menge aus; von unbestimmter Furcht und Bangigkeit erfüllt, kehrten sie in tiefster Niedergeschlagenheit heim. Unterwegs sahen sie zufällig von ferne Herrn Burgeß, der um die Straßenecke bog, ohne ihren Gruß zu erwidern. Er hatte sie nicht gesehen, aber da sie das nicht wußten, fragten sie sich besorgt, was es wohl bedeuten möchte. Sollte er erfahren haben, daß Reichard seine Unschuld damals hätte an den Tag bringen können? Vielleicht wartete er nur eine günstige Gelegenheit ab, um die Rechnung mit ihm ins Reine zu bringen. – Daheim fingen sie vor lauter Angst an, sich einzubilden, ihre Magd müsse sie im Nebenzimmer belauscht haben, als Reichard seiner Frau erzählte, er wisse, daß Burgeß unschuldig sei. Sie glaubten sich sogar zu erinnern, daß sie damals dort ein Rascheln gehört hätten; kein Zweifel, Sara war die Verräterin. Sie riefen die Magd ins Zimmer und stellten ihr so unzusammenhängende, wunderliche Fragen, daß Sara bald auf den Gedanken kam, der Verstand der alten Leute müsse bei dem plötzlichen Glückswechsel gelitten haben. Als sie nun unter ihren forschenden, mißtrauischen Blicken errötend ängstlich und befangen wurde, sah das Ehepaar dies für den deutlichen Beweis ihrer Schuld an. Sobald Sara das Zimmer verließ, redeten sie weiter über diese Entdeckung und quälten sich mit den gewagtesten Trugschlüssen und Vermutungen, plötzlich stöhnte Reichard laut auf.
»Was gibt es? – Fehlt dir etwas?«
»Burgeß‘ Brief geht mir im Kopf herum. Jetzt erst verstehe ich seinen beißenden Spott. Man kann ja zwischen den Zeilen lesen, wie gut er weiß, daß ich seine Unschuld kannte. Und ich Narr nahm sein Lob für bare Münze. Du weißt doch, Mary –«
»Daß er dir deine Abschrift nicht wiedergeschickt hat – den Zettel mit der erlogenen Äußerung. Ja, das ist entsetzlich.«
»Er behält ihn, um uns damit zu Grunde zu richten. Einigen Leuten muß er ihn schon gezeigt haben; ich sah es ihnen nach der Kirche am Gesicht an. Nein, ich täusche mich nicht. Er hätte doch auch unsern Gruß erwidert, wenn er nichts Böses gegen uns im Schilde führte.«
In der Nacht wurde der Arzt zu Reichard gerufen und am Morgen verbreitete sich das Gerücht, die alten Leute seien ernstlich erkrankt. Die gewaltige Aufregung über das Glück, welches ihnen so unerwartet in den Schoß gefallen war, das späte Aufbleiben und die vielen Gratulationsbesuche seien schuld daran, meinte der Doktor. Die Hadleyburger hörten es mit großer Betrübnis, denn dies Ehepaar war ja das einzige, worauf sie noch stolz sein konnten.
Zwei Tage später lautete der Bericht noch schlimmer; Reichard lag im Fieber und benahm sich sehr sonderbar. Nach Aussage der Wärterinnen, hatte er seine Wechsel sehen lassen, die aber nicht auf 8500 Dollars, sondern auf die Riesensumme von 38 000 Dollars ausgestellt waren. Wie kamen die Leute zu einem so ungeheuren Vermögen?
Tags darauf wußten die Wärterinnen noch wunderbarere Dinge zu erzählen. Sie hatten die Wechsel in Verwahrung nehmen wollen, damit sie nicht beschädigt würden, aber als man danach suchte, fand man sie unter dem Kissen des Kranken nicht mehr: sie waren und blieben verschwunden.
»Was wollt ihr mit meinem Kissen?« hatte Reichard gefragt; »laßt mich in Ruhe!«
»Wir möchten nur, daß die Wechsel –«
»Die werdet ihr nie mehr erblicken, die sind vernichtet. Es war Satanswerk; ich habe das Brandmal der Hölle darauf gesehen; ihr Zweck war, mich in Sünde und Schande zu stürzen.« Dann begann er schreckliche Reden zu führen über ganz unverständliche Dinge und der Doktor ermahnte die Umstehenden, nichts davon weiterzusagen.
Doch mußte eine Wärterin wohl im Schlaf die Fieberphantasien des Kranken ausgeplaudert haben, denn bald darauf sprach man in der ganzen Stadt davon. Die Leute erzählten sich, Reichard hätte so gut wie die andern Anspruch auf den Sack erhoben, was durch Burgeß zuerst verheimlicht und dann aus Bosheit verraten worden sei.
Als man Burgeß dies vorhielt, leugnete er standhaft und meinte, es sei ungerecht, den Worten, die ein kranker alter Mann im Fieberwahn geredet, irgend welche Bedeutung beizumessen. Allein der Argwohn war nun einmal wach geworden und jeder ließ seiner Zunge freien Lauf.
Nach zwei Tagen lag auch Frau Reichard im Fieber, und was sie sprach, war nur eine Wiederholung von ihres Mannes Reden. Da zweifelte niemand mehr, daß es auch mit der Vortrefflichkeit des einen unbescholtenen Bürgers, den Hadleyburg noch unter seinen ersten Familien besessen hatte, nicht sonderlich beschaffen sein könne, und mit dem Stolz auf ihn war es ein für allemal vorbei.
Wieder vergingen sechs Tage, da lag das alte Ehepaar im Sterben. Kurz vor seinem Tode kam Reichard noch einmal zu klarem Bewußtsein und ließ Burgeß rufen. Der Pastor bat die Anwesenden, das Zimmer zu verlassen, da der Kranke gewiß wünsche, mit ihm allein zu reden.
»Nein,« sagte Reichard, »ich muß Zeugen haben. Ihr alle sollt mein Bekenntnis hören, denn ich will wie ein Mann sterben und nicht wie ein elender Heuchler. Ich war rechtschaffen, aber nur gewohnheitsmäßig – wie alle übrigen Hadleyburger, und gleich meinen Mitbürgern bin ich der ersten wirklichen Versuchung unterlegen. Ich unterschrieb eine Lüge, um in den Besitz des erbärmlichen Sackes zu gelangen. Pastor Burgeß erinnerte sich, daß ich ihm einmal einen Dienst erwiesen hatte; aus Dankbarkeit behielt er meinen Brief zurück, um meine Ehre zu retten. Er wußte nicht, daß ich die Anklage, welche vor Jahren gegen ihn geschleudert wurde, durch mein Zeugnis hätte entkräften können. Aber ich war ein Feigling und gab ihn der Schande preis –«
»Nein, nein, Herr Reichard, Sie haben – –«
»Meine Dienstmagd hat ihm dieses Geheimnis verraten –«
»Kein Mensch hat mir ein Sterbenswort gesagt –«
– »und darauf tat er etwas, das vollständig natürlich und gerechtfertigt war. Seine Güte und Nachsicht gegen mich reute ihn und er offenbarte meine Schuld, wie ich es verdiente.«
»Niemals – das schwöre ich –«
»Ich vergebe es ihm von ganzem Herzen.«
Des Pastors Beteuerungen waren umsonst, er predigte tauben Ohren. Der Sterbende hauchte seinen letzten Seufzer aus, ohne noch zu erfahren, daß er dem armen Burgeß wiederum ein Unrecht zugefügt hatte. In der folgenden Nacht starb auch die alte Frau Reichard. So war denn der letzte der Neunzehner eine Beute des teuflischen Sackes geworden, und die Stadt hatte ihren alten Ruhm für ewige Zeit eingebüßt. Ihre Trauer darüber trug sie zwar nicht zur Schau, aber sie war tief und aufrichtig.
Nach vielen Bitten und Eingaben erhielt Hadleyburg von der Regierung die Erlaubnis, einen andern Namen anzunehmen (einerlei, welchen, ich will ihn nicht ausplaudern), und aus dem uralten Motto seines Stadtsiegels ein Wort fortzulassen.
Es ist jetzt wieder eine rechtschaffene Stadt, und wer sie noch einmal überrumpeln wollte, der müßte früh aufstehen.