Der gestohlene weiße Elefant
I.
Die folgende merkwürdige Geschichte wurde mir von einem Manne erzählt, den ich zufällig auf der Eisenbahn kennen lernte. Er war ein alter Herr von mehr als siebzig Jahren, dessen gutmütiges Gesicht und aufrichtiges Wesen jedem seiner Worte den unverkennbaren Stempel der Wahrhaftigkeit aufdrückte. Er sagte:
Sie wissen, welche Verehrung der königliche weiße Elefant von Siam bei der Bevölkerung jenes Landes genießt. Sie wissen, daß er den Königen geweiht ist, daß nur Könige ihn besitzen dürfen und daß er in einer Hinsicht selbst den Königen überlegen ist, indem er nicht bloß geehrt, sondern auch angebetet wird. Nun gut; als sich vor fünf Jahren Streitigkeiten über die Grenzlinie zwischen Britisch-Indien und Siam erhoben, stellte sich alsbald heraus, daß Siam Unrecht hatte. So wurde denn die Sache rasch und zur Zufriedenheit des Vertreters von England geregelt. Teils zum Zeichen seiner Dankbarkeit, teils auch wohl, um jede noch etwa vorhandene Spur von Mißstimmung auf englischer Seite zu verwischen, beabsichtigte der König von Siam der Königin Viktoria ein Geschenk zu senden – nach orientalischen Begriffen der einzig sichere Weg, einen Feind zu beschwichtigen. Dieses Geschenk sollte nicht nur ein königliches, sondern auch in jeder Beziehung einzig sein. Was konnte sich dazu besser eignen, als ein weißer Elefant? Da ich eine angesehene Stellung im indischen Zivildienst einnahm, ward ich der Ehre gewürdigt, Ihrer Majestät das Geschenk zu überbringen. Man rüstete für mich und meine Dienerschaft nebst den Wärtern des Elefanten ein Schiff aus. Ich gelangte zur gehörigen Zeit im Hafen von New-York an und brachte meinen königlichen Schutzbefohlenen in einem prächtigen Quartiere zu Jersey-City unter. Wir mußten notgedrungen einige Zeit rasten, bevor wir die Reise fortsetzten, denn die Kräfte des Tieres verlangten Schonung.
Vierzehn Tage lang ging alles gut – dann begannen meine Nöte. Der weiße Elefant war gestohlen worden! Man hatte mich mitten in der Nacht aufgeweckt und von dem entsetzlichen Verlust benachrichtigt. Ich war einige Augenblicke außer mir vor Schreck und Angst; dann wurde ich ruhiger und sammelte meine fünf Sinne. Ich sah bald, welchen Weg ich einzuschlagen hatte – für einen vernünftigen Menschen konnte es in der Tat nur einen geben. Trotz der späten Stunde eilte ich sogleich nach New York und ließ mich von einem Schutzmann nach dem Hauptquartier der Geheimpolizei führen. Ich langte noch zur rechten Zeit an, gerade als der Chef, der berühmte Inspektor Blunt, im Begriff war, nach Hause zu gehen. Er war ein Mann von mittlerer Größe und gedrungenem Körperbau. Schon sein Anblick flößte mir Hoffnung und Vertrauen ein. Wenn er in tiefes Nachdenken versunken war, hatte er eine Art, die Brauen zusammenzuziehen und sich mit dem Zeigefinger nachdenklich auf die Stirn zu klopfen, die mich sofort überzeugte, es mit keiner gewöhnlichen Persönlichkeit zu tun zu haben. Ich trug ihm meine Sache vor: sie brachte ihn nicht im geringsten aus der Fassung; ja – machte sichtlich nicht mehr Eindruck auf seine eherne Selbstbeherrschung, als wenn es sich um einen gestohlenen Hund handelte. Er wies mir einen Sitz an und sagte ruhig:
»Bitte, lassen Sie mich ein wenig nachdenken.«
Indem er das sagte, setzte er sich an seinen Schreibtisch und stützte den Kopf mit der Hand. Einige Schreiber arbeiteten am andern Ende des Zimmers; das Kratzen ihrer Federn war das einzige Geräusch, das ich während der nächsten sechs oder sieben Minuten hörte. Mittlerweile blieb der Inspektor in tiefe Gedanken versunken; endlich erhob er das Haupt, und in den festen Zügen seines Gesichts lag etwas, was mir anzeigte, daß sein Gehirn seine Schuldigkeit getan habe und daß sein Plan fertig sei. Er sprach – seine Stimme war leise und eindringlich –:
»Kein gewöhnlicher Fall das! Jeder Schritt muß vorsichtig geschehen; jeder Schritt muß sicher gemacht werden, bevor der nächste gewagt wird. Und die Sache muß verschwiegen bleiben – tiefes, unverbrüchliches Geheimnis. Sprechen Sie mit niemand darüber, nicht einmal mit den Reportern: ich will dafür sorgen, daß sie nur erfahren und berichten, was meinen Zwecken dient.« Er schellte; ein Jüngling erschien. »Alarich, sagen Sie den Reportern, sie sollen vorläufig dableiben.« Der Jüngling verschwand. »Und nun zur Sache – und das systematisch. In meinem Beruf kann man es zu nichts bringen, ohne strenge und genaue Methode.«
Er ergriff eine Feder und legte sich einen Bogen Papier zurecht. »Nun! – der Name des Elefanten?«
»Hassan Ben Ali Ben Selim Abdallah Mohamed Moisé Alhammal Jamtsetjejeebhoy Dhulepp Sultan Ebu Bhudpoor.«
»Sehr gut. Rufname?«
»Jumbo.«
»Sehr gut. Geburtsort?«
»Die Hauptstadt von Siam.«
»Eltern lebend?«
»Nein – tot.«
»Hatten sie noch andere Nachkommenschaft?«
»Nein, er war der einzige Sohn.«
»Gut! Diese Personalien genügen für diese Rubrik. Und nun, bitte, beschreiben Sie den Elefanten und lassen Sie keine Einzelheit aus, sei sie auch noch so unbedeutend – d. h. unbedeutend von Ihrem Gesichtspunkt aus. Für Leute meines Berufs gibt es keine unbedeutenden Einzelheiten.«
Ich beschrieb und er schrieb nieder; als ich zu Ende war, sagte er:
»Hören Sie zu und berichtigen Sie mich, wenn ich einen Fehler gemacht habe.«
Er las wie folgt:
»Höhe 19 Fuß; Länge von der Stirn bis zum Schwanzansatz 26 Fuß; Länge des Rüssels 16 Fuß; Länge des Schwanzes 6 Fuß; Totallänge einschließlich Rüssel und Schwanz 48 Fuß; Länge der Fangzähne 9 1/2 Fuß; Ohren, im Verhältnis zu diesen Dimensionen; Fußspur gleicht der Spur eines Fasses, das man im Schnee aufrecht stellt: Farbe des Elefanten ein schmutziges Weiß; hat in jedem Ohr ein Loch von der Größe eines Tellers zum Einhängen von Schmucksachen; besitzt in hohem Grade die Gewohnheit, Gaffer mit Wasser zu bespritzen und mit seinem Rüssel nicht nur Leute, mit denen er bekannt ist, sondern selbst Fremde zu mißhandeln; hat eine Narbe unter der Achselhöhle, hinkt ein wenig auf dem rechten Hinterbein und hatte, als er gestohlen wurde, auf dem Rücken einen Turm mit Sitzen für fünfzehn Personen und eine Satteldecke aus Goldbrokat von der Größe eines gewöhnlichen Teppichs.«
Das Signalement war tadellos; der Inspektor schellte, händigte Alarich die Beschreibung ein und sagte:
»Lassen Sie sogleich fünfzigtausend Exemplare von diesem Signalement drucken und per Bahn an alle Polizeiämter und Pfandleiher in Nordamerika versenden.« Alarich zog sich zurück. »So, damit wären wir fertig. Nun muß ich eine Photographie des gestohlenen Eigentums haben.«
Ich gab ihm eine; er betrachtete sie kritisch und fragte:
»Sie muß genügen, da wir keine bessere haben; aber er hat den Rüssel aufgerollt und in den Mund gesteckt. Das ist schade, denn es kann leicht irre führen, weil er natürlich den Rüssel für gewöhnlich nicht so trägt.« Er schellte.
»Alarich, lassen Sie sogleich fünfzigtausend Abdrücke dieser Photographie anfertigen und mit dem Signalement versenden.«
Alarich ging, um seine Befehle zu vollziehen. Der Inspektor sagte:
»Man wird natürlich eine Belohnung aussetzen müssen. Wie hoch meinen Sie?«
»Welche Summe würden Sie mir raten?«
»Vorerst würde ich sagen – nun, fünfundzwanzigtausend Dollars. Es ist eine verwickelte und schwierige Arbeit; es gibt tausend Gelegenheiten zum Entkommen und zum Verbergen. Diese Diebe haben überall Freunde und Helfershelfer – –.«
»Lieber Himmel, wissen Sie denn, wer sie sind?«
Das kluge Gesicht, geübt im Verbergen der Gedanken und Gefühle, verriet mir nicht das mindeste, ebensowenig die vollkommen ruhig geäußerte Erwiderung:
»Lassen Sie’s gut sein! Vielleicht weiß ich’s, vielleicht auch nicht. Wir gewinnen gewöhnlich einen ziemlich deutlichen Hinweis auf die Täter aus der Art und Weise, wie sie zu Werk gehen und aus der Größe ihres Raubes. Wir haben es hier nicht mit einem Taschendieb oder Uhrenabzwicker zu tun, darauf können Sie Gift nehmen – dieser Gegenstand wurde von keinem Anfänger ›aufgehoben‹. Aber, was ich sagen wollte, in Anbetracht der vielen Reisen, die gemacht werden müssen, und des Eifers, mit dem die Diebe ihre Spuren verwischen werden, mögen fünfundzwanzigtausend Dollars fast zu wenig sein; doch kann man immerhin damit anfangen.«
So einigten wir uns denn über diese Summe für den Anfang. Dann sagte der Inspektor, dem nichts entging, was nur irgendwie als Fingerzeig dienen konnte:
»Es gibt in der Polizeigeschichte Fälle, die beweisen, daß Verbrecher durch Eigentümlichkeiten in ihrer Geschmacksrichtung entdeckt worden sind. Sagen Sie, was ißt Ihr Elefant, und wieviel?«
»Was er ißt? – einfach alles! Er ißt einen Menschen, er ißt eine Bibel – er ißt alles, was zwischen Mensch und Bibel liegt.«
»Gut, wirklich sehr gut, aber zu allgemein. Ich brauche Details – Details haben in unserem Berufe allein Wert. Also, die Menschen betreffend: wie viele davon wird er, wenn sie frisch sind, zu einer Mahlzeit oder – sagen wir – während eines Tages verzehren?«
»Er wird keinen großen Unterschied machen, ob frisch oder nicht; und ich denke, daß fünf Menschen eine gewöhnliche Mahlzeit für ihn sind.«
»Sehr gut – fünf Menschen; wir wollen das notieren. Welche Rassen hat er am liebsten?«
»In dieser Beziehung ist er nicht sehr wählerisch. Er zieht Bekannte vor, hat aber keinerlei Voreingenommenheit gegen Fremde.«
»Sehr gut – nun zu den Bibeln. Wie viele Bibeln würde er zu einer Mahlzeit brauchen?«
»Eine ganze Auflage.«
»Das ist kaum genau genug. Meinen Sie die gewöhnliche Oktavbibel oder die illustrierte Familienbibel?«
»Ich glaube nicht, daß ihm an den Illustrationen viel liegen würde – d. h. er wird sie nicht höher schätzen als einfachen Druck.«
»Sie haben mich nicht recht verstanden. Es kommt auf das Gewicht an. Die gewöhnliche Oktavbibel wiegt etwa zwei und ein halbes Pfund, während die Großquartbibel mit den Illustrationen von Doré zehn bis zwölf Pfund wiegt. Wie viel Dorébibeln würde er wohl auf einmal verzehren?«
»Man sieht, daß Sie den Elefanten nicht kennen, sonst würden Sie nicht fragen. Er frißt ganz einfach soviel, als man ihm gibt.«
»Gut, drücken Sie es in Dollars und Cents aus; wir müssen uns bestimmt fassen. Die Dorébibel kostet hundert Dollars pro Exemplar, in Juchtenleder gebunden …«
»Er würde für etwa fünfzigtausend Dollars brauchen – sagen wir, eine Auflage von fünfhundert Exemplaren.«
»So, das ist genauer; ich will’s notieren. Also, er ißt gerne Menschen und Bibeln – das hätten wir! Was ißt er sonst? Ich brauche Details.«
»Hat er keine Bibeln, so ißt er Backsteine: hat er keine Backsteine, so ißt er Flaschen; hat er keine Flaschen, so ißt er Kleider; hat er keine Kleider, so ißt er Katzen; hat er keine Katzen, so ißt er Austern; er ißt ferner Schinken, Zucker, Pasteten, Kartoffeln, Kleie, Heu, Hafer und besonders Reis, denn damit wurde er hauptsächlich aufgezogen, kurzum er frißt alles, was er kriegen kann.«
»Sehr gut. – Gewöhnliche Menge zu einer Mahlzeit?«
»Nun, so zwischen sieben und acht Zentner.«
»Und er trinkt – –«
»Alles, was flüssig ist: Milch, Wasser, Schnaps, Syrup, Kastoröl, Kamphergeist, Karbolsäure – es ist unnütz, auf Einzelheiten einzugehen; was Ihnen Flüssiges einfällt, notieren Sie getrost.«
»Sehr gut. Quantität?«
»Notieren Sie acht bis fünfundzwanzig Hektoliter – sein Durst schwankt, sein Appetit wenig.«
»Das sind alles sehr bemerkenswerte Anhaltspunkte, und sehr dienlich zu seiner Aufspürung.«
Er schellte.
»Alarich, senden Sie Kapitän Burns herein.«
Burns erschien; Inspektor Blunt enthüllte ihm die ganze Angelegenheit Punkt für Punkt. Dann sagte er in der klaren, entschiedenen Weise eines Mannes, der sich seinen Plan genau vorgezeichnet hat und ans Befehlen gewöhnt ist:
»Kapitän Burns, weisen Sie die Detektivpolizisten Jones, Davis, Halsey, Bates und Hackett an, den Elefanten aufzuspüren.«
»Sehr wohl, Sir.«
»Weisen Sie die Detektivpolizisten Moses, Dakin, Murphy, Rogers, Tupper, Higgins und Bartholomey an, die Diebe aufzuspüren.«
»Sehr wohl, Sir.«
»Senden Sie eine starke Wache – eine Wache von dreißig auserlesenen Leuten mit einer Ablösung von dreißig Mann – an den Ort, wo der Elefant gestohlen wurde; sie sollen dort scharfe Wache halten Tag und Nacht und niemand – Reporter ausgenommen – ohne schriftliche Ermächtigung von mir in die Nähe kommen lassen.«
»Sehr wohl, Sir.«
»Verteilen Sie Detektivs in gewöhnlicher Kleidung auf den Bahnhöfen, Dampfschiffen und Landungsdepots und auf allen Wegen, die aus Jersey-City führen, mit dem Befehle, alle verdächtigen Personen zu durchsuchen.«
»Sehr wohl, Sir.«
»Versehen Sie alle diese Leute mit der Photographie und dem Signalement des Elefanten und instruieren Sie diese, alle Züge und abgehenden Fahrzeuge genau zu visitieren.«
»Sehr wohl, Sir.«
»Wenn der Elefant gefunden werden sollte, so ergreife man ihn und benachrichtige mich telegraphisch.«
»Sehr wohl, Sir.«
»Lassen Sie mich sogleich benachrichtigen, wenn eine Spur gefunden werden sollte – Fußspuren oder dergleichen.«
»Sehr wohl, Sir.«
»Erlassen Sie einen Befehl an die Hafenpolizei, fleißig am Ufer zu patrouillieren.«
»Sehr wohl, Sir.«
»Senden Sie Detektivs in gewöhnlicher Kleidung mit allen Bahnzügen ab – nördlich bis Kanada, westlich bis Ohio, südlich bis Washington.«
»Sehr wohl, Sir.« »Stellen Sie Sachverständige in allen Telegraphenämtern auf; dieselben sollen auf alle Telegramme achten und sich die chiffrierten Depeschen entziffern lassen.«
»Sehr wohl, Sir.«
»Lassen Sie dieses alles mit der äußersten Heimlichkeit ausführen – hören Sie, mit der undurchdringlichsten Heimlichkeit.«
»Sehr wohl, Sir.«
»Rapportieren Sie mir pünktlich zur gewöhnlichen Stunde.«
»Sehr wohl, Sir.«
»Nun können Sie gehen!«
»Sehr wohl, Sir« – und fort war er.
Inspektor Blunt war einen Augenblick still und nachdenklich, dann ließ das Feuer in seinen Augen nach und verlosch. Hierauf wandte er sich zu mir und sagte in ruhigem Ton:
»Ich rühme mich nicht gern, es ist das nicht meine Sache; aber wir werden den Elefanten finden.«
Ich schüttelte ihm warm die Hand und dankte ihm – der Dank kam von Herzen. Je mehr ich von dem Manne gesehen hatte, desto mehr schätzte und bewunderte ich ihn, desto mehr staunte ich über die mysteriösen Wunder seines Berufs. Dann trennten wir uns für die Nacht und ich ging nach Hause – mit viel leichterem Herzen als ich gekommen war.
II.
Am nächsten Morgen stand alles haarklein in den Zeitungen, sogar mit Zusätzen – bestehend aus Detektiv A’s, Detektiv B’s und Detektiv N. N’s ›Theorie‹ in bezug auf die Ausführung des Diebstahls, auf die Person der Diebe und auf die Richtung, in der sie mit ihrer Beute entflohen waren. Es waren elf solcher Theorien zu lesen, welche alle Möglichkeiten erschöpften, ein Beweis, was für verständige Denker die Geheimpolizisten sind. Nicht zwei von den elf Theorien stimmten überein oder glichen sich auch nur halbwegs, außer in einem einzigen auffallenden Punkt, in dem alle elf Theorien einander gleich waren. Obgleich nämlich die Rückwand des Gebäudes herausgerissen und die einzige Türe verschlossen geblieben war, stellten alle elf Theorien die Behauptung auf, daß der Elefant nicht durch jene Bresche, sondern auf irgend einem andern (noch unentdeckten) Wege entfernt worden sei, und daß die Diebe jene Öffnung nur gemacht hätten, um die Polizei irre zu führen. Daran würde ich oder irgend ein anderer Laie vielleicht nie gedacht haben, die Detektivs aber hatten den Umstand auch nicht einen Augenblick verkannt. So war das einzige Moment, hinter dem ich kein Geheimnis vermutet hatte, gerade dasjenige, worin ich am weitesten fehlgegangen war. Alle elf Theorien nannten die vermutlichen Diebe, keine zwei aber dieselben; die Totalsumme der verdächtigen Personen war siebenunddreißig. Die verschiedenen Zeitungen schlossen alle mit der wichtigsten Ansicht von allen – der des Inspektors Blunt. Dieselbe lautete im Auszug wie folgt:
»Der Chef weiß, wer die zwei Haupttäter sind – nämlich Brick Duffy und der ›rote‹ McFadden. Zehn Tage vor der Ausführung des Diebstahls wußte er bereits, daß derselbe versucht werden würde, und hat sich in aller Stille daran gemacht, diese zwei notorischen Spitzbuben zu verfolgen; unglücklicherweise aber ging in der fraglichen Nacht ihre Spur verloren, und ehe man sie wieder auffinden konnte, war der Vogel – das heißt der Elefant – ausgeflogen.
»Duffy und McFadden sind die verwegensten Schurken in der ganzen Verbrecherzunft; der Chef hat Grund zu der Annahme, daß sie die Männer sind, die letzten Winter in einer bitterkalten Nacht den Ofen aus der Polizeiwache stahlen, infolgedessen sich vor Tagesanbruch der Chef und sämtliche Geheimpolizisten in ärztlicher Behandlung befanden; – einige wegen erfrorener Füße, andere wegen erfrorener Hände, Ohren, Nasen und anderer Körperteile.«
Als ich die erste Hälfte dieser Theorie las, war ich mehr als je erstaunt über den wunderbaren Scharfsinn des seltenen Mannes: er sah nicht nur alles Gegenwärtige mit klaren Augen, auch das Zukünftige entschleierte sich vor seinem Blicke. Ich begab mich alsbald in sein Bureau und sagte ihm, ich bedauere nur, daß er jene Spitzbuben nicht habe festnehmen lassen, wodurch das ganze Unheil verhütet worden wäre; aber seine Antwort war kurz und bündig:
»Es ist nicht unseres Amtes, das Verbrechen zu verhindern, sondern es zu bestrafen. Das können wir aber erst, nachdem es begangen worden ist.«
Ich bemerkte, daß die Heimlichkeit, mit der wir zu Werk gegangen, durch die Zeitungen verletzt worden sei, nicht nur alle Tatsächlichkeiten, sondern auch alle unsere Anhaltspunkte und Absichten seien enthüllt und selbst alle verdächtigen Personen namhaft gemacht worden – letztere würden sich jetzt ohne Zweifel maskieren oder ihre geheimen Schlupfwinkel aufsuchen. »Sie sollen’s nur!« sagte der Inspektor. »Sie werden bald merken, daß, wenn ich es auf sie abgesehen habe, meine Hand auf sie niederfallen wird, so unfehlbar wie die Hand des Schicksals. Was die Zeitungen anbelangt, so müssen wir mit ihnen rechnen: Ruhm, Reputation, fortwährende öffentliche Erwähnung – sind des Geheimpolizisten täglich Brot. Er muß seine Entdeckungen veröffentlichen, sonst glaubt man, daß er keine macht; er muß seine Theorie veröffentlichen, es gibt nichts Seltsameres und Überraschenderes als die Theorie eines Polizisten, und nichts trägt ihm so viel Bewunderung und Hochachtung ein; wir müssen unsere Pläne veröffentlichen, denn die Zeitungen bestehen darauf, und wir können es ihnen nicht abschlagen, ohne sie zu beleidigen. Wir müssen dem Publikum zeigen, was wir tun, damit es nicht glaubt, daß wir nichts tun. Es ist viel angenehmer, wenn eine Zeitung schreibt: ›Inspektor Blunts geniale und ungewöhnliche Theorie lautet wie folgt,‹ als wenn sie einen unfreundlichen oder – was noch schlimmer – sarkastischen Artikel bringt.«
»Ich verkenne das Zwingende dieser Gründe nicht. – In einem Teil Ihrer Bemerkungen in den Morgenzeitungen fiel mir auf, daß Sie mit Ihrer Ansicht über einen gewissen untergeordneten Punkt zurückhielten.«
»Ja, das tun wir stets; es macht immer Effekt. Übrigens hatte ich mir über jenen Punkt eine Ansicht noch gar nicht gebildet.«
Ich deponierte bei dem Inspektor eine beträchtliche Geldsumme zur Bestreitung der laufenden Ausgaben und setzte mich dann nieder, um auf Nachrichten zu warten; jeden Augenblick konnten Telegramme einlaufen. Inzwischen blätterte ich die Zeitungen und unser Zirkularsignalement nochmals durch und entdeckte, daß anscheinend unsere 25 000 Dollars Belohnung nur für Detektivpolizisten ausgesetzt waren. Ich war der Meinung gewesen, jeder solle sie bekommen, der den Elefanten auffinden würde. Der Inspektor klärte mich auf:
»Meine Geheimen werden den Elefanten auffinden, die Belohnung muß daher an die rechte Adresse gelangen. Wenn andere Leute das Tier fänden, so wäre das nur dadurch möglich, daß sie die Polizisten ausspionieren und aus Kenntnissen und Beobachtungen der Polizisten, welche sie sich zu eigen gemacht, Vorteil ziehen; an der Berechtigung der Polizei zu der Belohnung könnte das nichts ändern. Eine solche Belohnung ist dazu da, die Männer, welche dieser Art von Arbeit ihrer Zeit und ihren ausgebildeten Scharfsinn widmen, anzuspornen, nicht aber dem ersten besten in den Schoß zu fallen, der zufällig einen Fang gemacht hat.«
Das war sicher nur recht und billig. Auf einmal begann der Telegraphenapparat in der Ecke zu ticken, das Resultat war folgende Depesche:
» Flower-Station, New York: 7.30 vorm.
Habe eine Spur. Fand eine Reihe tiefer Spuren, die über eine benachbarte Farm führen. Folgte ihnen eine halbe Stunde östlich ohne Resultat; der Elefant ging wahrscheinlich westlich. Werde ihm jetzt in jener Richtung nachspüren.
Darley, Detektiv.«
»Darley ist einer unserer tüchtigsten Polizisten,« sagte der Inspektor. »Wir werden bald mehr von ihm hören.«
Telegramm Nr. 2 kam:
» Barkers, New Jersey: 7.40 vorm.
Eben angekommen. Glasfabrik hier während der Nacht erbrochen und 800 Flaschen entwendet. Wasser in größerer Menge erst fünf Meilen von hier zu haben. Werde dahin aufbrechen. Elefant wahrscheinlich durstig. Flaschen waren leer.
Baker, Detektiv.«
»Auch das ist vielversprechend,« sagte der Inspektor. Ich sagte Ihnen, seine Begierden würden keine schlechten Fingerzeige sein.«
Weitere Telegramme:
» Taylorville, Long Island: 8.15 vorm.
Ein Heuschober in der Nähe während der Nacht verschwand – wahrscheinlich aufgefressen. Fand eine Spur und verfolge sie eilig.
Hubbard, Detektiv.«
»Was er für Sprünge macht!« sagte der Inspektor. »Ich wußte, daß wir ein schwieriges Stück Arbeit vor uns hätten; aber wir werden ihn deshalb doch kriegen.«
» Flower-Station, New York: 9 vorm.
Verfolgte die Spuren über eine Stunde westlich – sind groß, tief und ausgezackt. Bin eben einem Farmer begegnet, der sagte, es seien keine Elefantenfußstapfen; sagt, es seien Löcher von den Bäumchen, die er letzten Winter aus dem gefrorenen Grunde ausgrub. Ich bitte um Verhaltungsbefehle bezüglich weiterer Schritte.
Darley, Detektiv.«
»Aha, ein Helfershelfer der Diebe! Die Sache wird ernst!« sagte der Inspektor und diktierte folgendes Telegramm an Darley:
»Verhaften Sie den Mann und zwingen Sie ihn, seine Komplizen zu nennen. Verfolgen Sie die Spuren weiter – bis zum Stillen Ozean, wenn’s sein muß.
Inspektor Blunt.«
Nächstes Telegramm:
» Coney-Point, Pennsylvania: 8.45 vorm.
Bureau der Gasanstalt hier während der Nacht erbrochen und die unbezahlten Gasrechnungen von drei Monaten gestohlen. Fand eine Spur und verfolge sie.
Murphy, Detektiv.«
»Himmel!« rief der Inspektor; »sollte er Gasrechnungen verzehren?«
»Wahrscheinlich aus Dummheit.« –
Darauf kam nachstehendes aufregendes Telegramm:
» Ironville, New York: 9.30 vorm.
Soeben angekommen. Stadt in Aufregung. Elefant kam hier durch, früh 5 Uhr. Einige sagen, er ging östlich, andere sagen westlich, einige nördlich, andere südlich – keiner aber weiß etwas Genaueres zu berichten. Er tötete ein Pferd; ich verschaffte mir ein Stück davon – für alle Fälle. Tötete es mit seinem Rüssel; schließe aus der Wunde; daß er von links schlug. Aus der Lage des Pferdes schließe, daß der Elefant nordwärts, die Berkley-Bahn entlang, reiste. Hat 4½ Stunden Vorsprung; folge aber sogleich seiner Spur.
Hawes, Detektiv.«
Ich konnte meine Freude nicht zurückhalten. Der Inspektor blieb so ruhig wie eine Statue. Er schellte gelassen.
»Alarich, senden Sie Kapitän Burns zu mir.«
Burns erschien.
»Wie viel Mann sind reisefertig?«
»Sechsundneunzig, Sir.«
»Senden Sie diese sogleich nach Norden; sie sollen sich längs der Berkley-Bahnlinie konzentrieren.«
»Sehr wohl, Sir.«
»Sie sollen ihre Bewegungen mit der äußersten Heimlichkeit ausführen. Sobald andere von den Leuten frei werden, sollen sie sich fertig machen!«
»Sehr wohl, Sir.«
»Sie können gehen.«
»Sehr wohl, Sir.«
Gleich darauf kam ein weiteres Telegramm:
» Sage-Corners, New York: 10.30 vorm.
Eben angelangt. Elefant kam 8.15 hier durch. Alle bis auf einen Polizisten entkamen aus der Stadt. Elefant wollte anscheinend nicht nach dem Polizisten, sondern nach einem Laternenpfahl schlagen, traf aber beide. Verschaffte mir ein Stück von dem Polizisten, um es für alle Fälle zu behalten.
Stumm, Detektiv.«
»Der Elefant hat sich also gegen Westen gewendet,« sagte der Inspektor. »Es wird ihm aber nichts helfen, denn meine Leute sind über die ganze Gegend zerstreut.«
Das nächste Telegramm besagte:
»Glovers: 11.15
Eben angelangt. Stadt verlassen, ausgenommen von Kranken und Greisen. Elefant kam durch vor dreiviertel Stunden. Die Anti-Mäßigkeits-Massenversammlung tagte; er steckte seinen Rüssel durchs Fenster hinein und spritzte alles voll Zisternenwasser. Einige schluckten das Wasser – starben seitdem; mehrere ertranken. Detektiv Croß und O’Shaugnessy passierten die Stadt, gingen aber südlich und verfehlten so den Elefanten. Ganze Gegend auf viele Stunden im Umkreis voll Entsetzen – Leute fliehen aus ihrer Heimat. Allenthalben stoßen sie auf den Elefanten; viele werden getötet.
Brant, Detektiv.«
Ich hielt kaum meine Tränen zurück, so traurig stimmte mich dieses Gemetzel, der Inspektor aber sagte nur:
»Sie sehen, wir umringen ihn. Er fühlt unsere Nähe; er hat sich wieder gegen Osten gewendet.«
Es harrten unserer bereits neue beängstigende Nachrichten. Der Telegraph meldete:
» Hoganport, 12.19 nachm.
Eben angelangt. Elefant kam vor einer halben Stunde hier durch, jähen Schrecken verbreitend; wütete durch die Straßen: zwei Arbeiter gingen vorüber – tötete den einen, der andere entkam.
O’Flaherty, Detektiv.«
»Nun ist er mitten unter meinen Leuten,« sagte der Inspektor. »Jetzt ist kein Entrinnen für ihn möglich!«
Eine Anzahl anderer Telegramme lief dazwischen ein von Detektivs, die über New Jersey und Pennsylvanien zerstreut waren. Aus zerstörten Fabriken, Scheunen und Sonntagsschulbibliotheken wiesen sie die Spur des Elefanten mit an Sicherheit grenzenden Ausdrücken nach.
Der Inspektor sagte:
»Ich wollte, ich könnte mit ihnen verkehren und sie nach Norden dirigieren, aber das ist unmöglich. Ein ›Geheimer‹ geht nur dann zum Telegraphenamt, wenn er seinen Bericht absendet; man weiß nie, wo man ihn fassen kann.«
Nun kam folgende Depesche:
» Bridgeport, Connecticut: 12.15 nachm.
Barnum bietet 4000 Doll. jährlich für ausschließliches Recht, Elefant als wandernde Reklame zu benützen, von jetzt an bis ihn Detektivs auffinden. Will Zirkusplakate auf ihn kleben. Verlangt umgehende Antwort.
Boggs, Detektiv.«
»Das ist doch zu lächerlich!« rief ich aus.
»Ja freilich,« sagte der Inspektor. »Herr Barnum, der sich für so gewitzigt hält, kennt mich offenbar nicht – aber ich kenne ihn.«
Dann diktierte er folgende Antwortdepesche:
»Herrn Barnums Anerbieten abgelehnt. Entweder Doll. 7000 oder nichts.
Inspektor Blunt.«
»So. Wir werden nicht lange auf Antwort zu warten brauchen. Herr Barnum ist nicht zu Hause; er ist gewöhnlich auf dem Telegraphenamt, wenn es einen Handel gilt. Vor drei Uhr –«
»Abgemacht. – P. S. Barnum.«
So unterbrach der tickende Telegraphenapparat. Ehe ich mir einen Vers machen konnte auf diesen ungewöhnlichen Zwischenfall, leitete folgende Depesche meine Gedanken in ein anderes und sehr betrübendes Fahrwasser:
» Bolivia, New York: 12.50 nachm.
Elefant kam hier an aus dem Süden und passierte den Wald um 11.50, er sprengte einen daherkommenden Leichenzug auseinander und verminderte die Leidtragenden um zwei. Bürger feuerten einige Schüsse aus einem kleinen Böller auf ihn ab und flohen dann. Detektiv Burke und ich langten zehn Minuten später aus dem Norden an, hielten aber ein paar Vertiefungen fälschlich für Fußstapfen und verloren so ziemlich viel Zeit; endlich aber kamen wir auf die rechte Spur und verfolgten sie bis zu den Wäldern. Wir krochen nun auf Händen und Knien vorwärts, verfolgten die Spur mit scharfem Auge und gelangten so ins Gebüsch. Burke war voraus. Unglücklicherweise hat das Tier angehalten, um auszuruhen; Burke, der auf die Spur erpicht, die Augen auf den Boden geheftet hatte, stieß plötzlich, ehe er die Nähe des Elefanten gewahr wurde, gegen dessen Hinterbeine. Burke sprang sogleich auf die Füße, ergriff den Schwanz und rief freudig aus: ›ich beanspruche die Be – –,‹ kam aber nicht weiter, denn ein einziger Schlag mit dem mächtigen Rüssel streckte den braven Burschen tot nieder. Ich floh zurück, aber der Elefant wandte sich um und verfolgte mich bis an den Rand des Gehölzes in schrecklicher Eile; ich wäre unrettbar verloren gewesen, wenn nicht zufällig der Rest des Leichenzuges dem Tiere in den Weg gekommen wäre und seine Aufmerksamkeit abgelenkt hätte. Erfahre soeben, daß von jenem Leichenzug nichts mehr vorhanden ist; schadet nichts, Stoff genug für andere vorhanden. Elefant mittlerweile wieder verschwunden.
Mulrooney, Detektiv.«
Wir hörten keine weiteren Neuigkeiten außer von den eifrigen und zuversichtlichen Detektivs, die über New Jersey, Pennsylvanien, Delaware und Virginia zerstreut waren – sie folgten alle frischen und vielversprechenden Spuren – bis kurz nach 2 Uhr nachmittags folgendes Telegramm ankam:
»Baxter-Centre: 2.15 nachm.
Elefant hier gewesen, über und über mit Zirkusplakaten beklebt; zerstreute ein Methodisten-Revivalmeeting und erschlug und verletzte viele, die eben im Begriffe waren, ein besseres Leben anzufangen. Bürger pferchten ihn ein und stellten eine Wache auf. Als Detektiv Brown und ich ankamen, betraten wir die Umzäunung und schritten zur Feststellung der Identität des Elefanten an der Hand der Photographie und des Signalements. Alle Zeichen stimmten genau, ausgenommen eines, das wir nicht sehen konnten – die Narbe unter der Achselhöhle. Um sich darüber zu vergewissern, kroch Brown unter das Tier, – er lag im nächsten Augenblick mit zerschmetterter Hirnschale am Boden. Alle flohen, so auch der Elefant, der mit viel Effekt nach rechts und links um sich schlug. Entkam, ließ aber starke Blutspuren von Böllerwunden zurück. Wiederauffindung gewiß. Brach südwärts durch einen dichten Wald; ich ihm unverzüglich nach.
Brent, Detektiv.«
Dies war das letzte Telegramm. Gegen Abend sank ein Nebel auf alles herab – so dicht, daß man auf drei Schritte Entfernung nicht das geringste unterscheiden konnte. Er hielt die ganze Nacht über an. Die Dampfboote und selbst die Omnibusse mußten ihre Fahrt einstellen.
III.
Am nächsten Morgen waren die Zeitungen ebenso voll Theorien wie am vorhergehenden; sie brachten ausführlich alle uns bekannten tragischen Ereignisse, dazu noch eine Menge weiterer telegraphischer Berichte, die sie von ihren Korrespondenten erhalten hatten. Spalte auf Spalte begegnete ich herzzerreißenden Artikelüberschriften. Der Grundton derselben war stets derselbe; etwa wie folgt:
»Der weiße Elefant ist los! Er schreitet weiter auf seinem verhängnisvollen Marsche! Ganze Ortschaften verlassen von den entsetzten Einwohnern! Furcht und Schrecken gehen vor ihm her, Tod und Verwüstung folgen ihm. Diesen nach die Detektivs. Scheunen verwüstet. Werkstätten beraubt. Ernten verzehrt. Öffentliche Versammlungen gesprengt, begleitet von Blutszenen, die nicht zu beschreiben sind! Berichte von vierunddreißig der ausgezeichnetsten Detektivpolizisten! Bericht des Inspektors Blunt!«
»Ah!« rief Inspektor Blunt, der Erregung nahe; »das ist prächtig! Das ist die größte Leistung, die je eine polizeiliche Organisation vollbracht hat. Die Welt wird davon sprechen.«
Für mich aber gab es keine Freude; mir war zu Mute, als ob ich alle diese blutigen Verbrechen begangen hätte und der Elefant mein unverantwortliches Werkzeug wäre. Und wie die Unfalliste angewachsen war! In einem Orte hatte er sich in »eine Wahl gemischt und fünf Agitatoren getötet.« Er hatte dieser Tat die Vernichtung zweier armer Teufel folgen lassen – armer O’Donohue, armer Mc Flannigan! – die »erst am Tage vorher in der Heimat der Unterdrückten aller Länder eine Zuflucht gefunden hatten und im Begriffe waren, zum erstenmale das kostbare Recht amerikanischer Bürger an der Urne auszuüben, als sie niedergeschmettert wurden von der mitleidslosen Hand der Geißel Siams.« An einem anderen Orte hatte er »einen verrückten Sensationsprediger niedergerannt, der eben für die nächste Saison seine heroischen Angriffe auf den Tanz, das Theater und ähnliches Teufelswerk vorbereitete.« In einem dritten Orte hatte er »einen Blitzableiteragenten erschlagen.« Und so ging die Liste weiter und wurde immer blutiger und herzzerreißender. Sechzig Personen hatte er getötet, zweihundertvierzig verwundet. Alle Berichte legten vollgültiges Zeugnis ab von der Tätigkeit und dem hingebenden Eifer der Detektivs, und alle schlössen mit der Bemerkung, daß »dreimalhunderttausend Bürger und vier Detektivs das schreckliche Wesen sahen, sowie daß er zwei von letzteren ums Leben brachte.«
Nur mit Angst hörte ich von neuem das Ticken des Telegraphenapparates; es regnete förmlich Depeschen, aber glücklicherweise rechtfertigte ihr Inhalt meine Befürchtungen nicht. Es stellte sich bald heraus, daß jede Spur des Elefanten verloren war: der Nebel hatte es ihm ermöglicht, sich unbemerkt ein gutes Versteck zu suchen. Telegramme von Punkten, die lächerlich weit entfernt waren, berichteten, daß man zu der und der Stunde eine ungeheure trübe Masse durch den Nebel habe schimmern sehen! Es sei das »unzweifelhaft der Elefant gewesen.« Diese trübe ungeheure Masse hatte man in New Haven, in New Jersey, in Pennsylvania, im Staate New York, in Brooklyn und sogar in der City von New York selbst gesehen! Immer aber war die trübe ungeheure Masse rasch wieder verschwunden, ohne eine Spur zu hinterlassen. Jeder von den Hunderten über diese ungeheure Landstrecke zerstreuten Detektivs sandte stündlich seinen Rapport, und jeder hatte eine Spur, verfolgte sie und war dem Elefanten dicht auf den Fersen.
Aber der Tag verging ohne weiteres Resultat. Ebenso der nächste Tag. Der dritte desgleichen.
Die Zeitungsberichte mit ihren nichtssagenden Tatsachen, ihren Spuren, die zu nichts führten, und ihren blendenden, sinnverwirrenden Theorien, fingen an, langweilig zu werden.
Auf den Rat des Inspektors verdoppelte ich die Belohnung.
Vier weitere eintönige Tage folgten; dann kam ein schwerer Schlag für die armen geplagten Detektivs – die Zeitungen lehnten es ab, ihre Konjekturen zu drucken, und sagten kühl: Laßt uns in Ruhe.
Vierzehn Tage nach dem Verschwinden des Elefanten erhöhte ich auf des Inspektors Rat die Belohnung auf 75 000 Dollars. Es war das eine große Summe; aber ich wollte lieber mein ganzes Vermögen opfern, als mein Ansehen bei der Regierung einbüßen. Jetzt, da die Detektivs in Nöten waren, begannen die Zeitungen über sie herzufallen und die beißendsten Sarkasmen gegen sie zu schleudern. Das war Futter für die Bänkelsänger! Sie kostümierten sich als Detektivs, und führten auf der Bühne die Jagd nach dem verlorenen Elefanten auf. Die Karrikaturenzeichner entwarfen Skizzen von Detektivs, die das Land mit Feldstechern absuchten, während der Elefant hinter ihrem Rücken Apfel aus den Taschen holte, und machten das Wappenzeichen der Detektivs – ein weitgeöffnetes Auge mit der Devise: »Wir schlafen nie« – auf alle mögliche Weise lächerlich. Die Luft war geschwängert mit Sarkasmen.
Aber einen Mann gab es, der bei alledem ruhig, gelassen und unerschütterlich blieb – es war jenes eichenfeste Herz, der Inspektor Blunt. Sein kühnes Auge senkte sich nie, seine heitere Zuversicht wankte nie; er wiederholte nur:
»Laßt sie spotten; wer zuletzt lacht, lacht am besten.«
Meine Bewunderung für den Mann grenzte an Vergötterung. Ich war stets an seiner Seite. Sein Büro war ein qualvoller Aufenthalt für mich geworden und wurde es täglich mehr; doch solange er es dort aushalten konnte, war auch ich entschlossen zu bleiben – solang als irgend möglich. So kam ich denn regelmäßig und blieb – zu jedermanns Verwunderung. Es war mir oft, als müsse ich davonlaufen; wenn ich dann aber in jenes ruhige und anscheinend leidenschaftslose Antlitz blickte, hielt ich wieder stand.
Etwa drei Wochen nach dem Verschwinden des Elefanten war ich eines Morgens eben im Begriff zu sagen: ich werde die Segel streichen und mich zurückziehen müssen, als der große Detektiv diesen feigen Gedanken wieder zurückscheuchte, indem er einen neuen meisterhaften Schachzug vorschlug – nämlich, mit den Dieben einen Kompromiß zu schließen. Die Fruchtbarkeit der Erfindungsgabe dieses Mannes überstieg alles, was ich je erlebt, und das will etwas sagen, war ich doch mit den auserlesensten Geistern der Welt in Berührung gekommen. Er sagte, er sei der besten Zuversicht, daß er für 100 000 Dollars einen Kompromiß schließen und den Elefanten wieder erlangen könne. Ich sagte, ich würde am Ende die Summe aufbringen können; aber was sollte mit den armen Detektivs werden, die so wacker gearbeitet hatten? Er entgegnete:
»Bei Kompromissen bekommen sie stets die Hälfte.« Das beseitigte meinen einzigen Einwand, und so schrieb denn der Inspektor zwei Noten wie folgt:
»Werte Frau, – Ihr Gatte kann sich viel Geld machen (und das ganz ohne Gefahr vor dem Strafgesetz), wenn er sich sogleich bei mir einfinden will.
Chef Blunt.«
Von diesen beiden Noten sandte er die eine durch seinen vertrauten Boten an die ›wohlgeborene Frau‹ Brick Duffys, die andere an die ›wohlgeborene Frau‹ des roten Mc Fadden.
Innerhalb einer Stunde kamen folgende beiliegende Antworten zurück:
»Sie alter Narr! Brick Mc Duffy ist gestorben, schon vor zwei Jahren.
Bridget Mahoney.«
»Chef-Nachteule, – der rote Mc Fadden ist gehangen und im Himmel seit achtzehn Monaten. Jeder Esel außer einem Detektiv weiß das.
Mary O’Hooligan.«
»Ich hatte das lange vermutet,« sagte der Inspektor; »es beweist mir nur die nie irrende Schärfe meines Instinkts.«
Sobald ein Mittel sich als erfolglos erwies, war er nie um ein anderes verlegen. Er schrieb sogleich ein Inserat für die Morgenblätter, von dem ich eine Abschrift aufbewahre –
»A. – xwblv. 142 N. Tjnd – fz 328 wmlg. Ozpo,–; 2 m! ogw. Mum.«
»Lebt der Dieb noch,« erklärte mir der Inspektor, »so wird ihn das sicher an den gewöhnlichen Rendezvousplatz bringen.« Es sei dies ein Platz, wo alle geschäftlichen Angelegenheiten zwischen Detektivs und Verbrecher abgemacht werden. Die gesuchte Begegnung solle in der nächsten Nacht um zwölf Uhr stattfinden. Bis dahin war nichts zu tun; ich verließ also ohne Verzug und dankbaren Herzens das Büro.
Um elf Uhr in der nächsten Nacht legte ich 100 000 Dollars in die Hände des Inspektors, und gleich darauf verabschiedete er sich, die heldenmütige alte ungetrübte Zuversicht in seinen Augen. Eine fast unerträglich lange Stunde schlich zu Ende, da hörte ich seinen willkommenen Tritt, erhob mich keuchend und wankte ihm entgegen. Wie seine schönen Augen im Triumph glänzten! Er sagte –:
»Wir haben einen Vergleich geschlossen! Die Spötter werden morgen ein anderes Lied singen! Folgen Sie mir!«
Er ergriff eine brennende Kerze und schritt voran, hinab in das ungeheure gewölbte Erdgeschoß, wo fortwährend sechzig Detektivs schliefen und wo jetzt etwa zwanzig Karten spielten, um sich die Zeit zu vertreiben. Ich folgte ihm auf den Fersen. Er schritt rasch hinab an das düstere, ferne Ende des Platzes, und in dem Augenblick, da ich in der dicken Stickluft ohnmächtig umsank, strauchelte und fiel er über die ausgestreckten Gliedmaßen eines mächtigen Körpers, und ich hörte ihn gerade noch beim Hinfallen ausrufen:
»Unser edler Beruf ist gerechtfertigt. Hier ist Ihr Elefant!«
Ich wurde in das Büro hinaufgetragen und mit Karbolsäure wieder zum Bewußtsein gebracht. Die ganze Detektivmannschaft schwärmte herein, und es folgte eine Siegesfeier, wie ich noch keine erlebt hatte. Die Reporter wurden geholt, der Champagner floß in Strömen, Toaste wurden ausgebracht, die Händedrücke und Beglückwünschungen waren enthusiastisch und wollten kein Ende nehmen. Der Chef war natürlich der Held des Tages, und sein Glück war so vollständig und es war mit so viel Ausdauer, Würde und Bravour verdient worden, daß es mich beglückte, Zeuge davon zu sein; obgleich ich dastand als ein heimatloser Bettler; – denn mein unschätzbarer Schutzbefohlener war tot und ich meiner Stellung im Dienste meines Vaterlandes verlustig, weil ich unmöglich den üblen Schein, als habe ich das in mich gesetzte hohe Vertrauen durch eine sorglose Ausführung meines Auftrags getäuscht, von mir abzuwenden vermochte. Manches beredte Auge bezeugte seine hohe Bewunderung für den Chef, und manches Detektivs Stimme murmelte: »Seht ihn an, den König der Profession – gebt ihm nur die Spur von einer Spur, – und es bleibt nichts vor ihm verborgen.« Die Teilung der 50 000 Dollars machte viel Vergnügen; als sie vollzogen war, hielt der Chef, während er seinen Anteil in die Tasche steckte, eine kleine Rede, in der er sagte: »Genießt das Geld, denn ihr habt es verdient; und mehr als das – ihr habt unserem schönen Berufe unsterblichen Ruhm erworben.«
Ein Telegramm langte an, folgenden Inhalts: –
» Monroe, Michigan: 10. – nachm.
Zum erstenmal seit drei Wochen erreichte ich eben ein Telegraphenamt. Folgte jenen Fußstapfen zu Pferde durch die Wälder, etwa zweihundert Meilen bis hieher: sie werden täglich stärker, größer und frischer. Quälen Sie sich nicht unnötig ab – ehe acht Tage verflossen sind, habe ich den Elefanten – auf mein Wort!
Darley, Detektiv.«
Der Chef brachte drei Hochrufe aus auf »Darley, einen der feinsten Köpfe unter der Mannschaft,« in welche sämtliche Anwesenden begeistert einstimmten; dann ließ er an Darley telegraphieren, er möge heimkehren und seinen Anteil an der Belohnung in Empfang nehmen.
So endete jene wunderbare Episode von dem gestohlenen Elefanten. Die Zeitungen waren am nächsten Tage wieder voll Anerkennung – mit einer nichtssagenden Ausnahme. Ein Blatt schrieb nämlich: »Groß ist der Detektiv! Er mag im Auffinden eines kleinen Gegenstandes, wie es ein verlorener Elefant ist, ein wenig langsam sein – er mag ihn drei Wochen lang den ganzen Tag verfolgen und des Nachts neben seinem verwesenden Kadaver schlafen, aber er wird ihn endlich finden, – sobald er nur den Mann, der den Elefanten verloren hat, dahin bringt, ihm den Platz zu zeigen.«
Der arme Hassan war auf ewig für mich verloren. Die Böllerschüsse hatten ihn tödlich verwundet. Er war im Nebel an jenen düsteren Platz gekrochen; und dort, umgeben von seinen Feinden und fortwährend in Gefahr entdeckt zu werden, war er dahingeschwunden vor Hunger und Leiden, bis der Tod ihn erlöste.
Der Kompromiß kostete mich 100 000 Dollars; meine Auslagen für die Detektivs betrugen weitere 42 000 Dollars; ich bewarb mich nie wieder um eine Anstellung im Dienste meiner Regierung; ich bin ein ruinierter Mann und ein unstäter Wanderer auf Erden – aber meine Bewunderung für jenen Mann, den ich für den größten Geheimpolizisten halte, welchen die Welt hervorgebracht hat, bleibt unvermindert bis auf diesen Tag und wird so bleiben bis an mein seliges Ende.