Zwölftes Kapitel.
Wir können uns das Wohlgefallen anderer Menschen sichern, wenn wir uns nichts zu schulden kommen lassen und ihnen zu Diensten sind; aber unser eigener Beifall ist hundertmal mehr wert, und es ist noch kein Mittel entdeckt worden, uns den zu sichern.
Querkopf Wilsons Kalender.
Vier Jahre nach Ankunft der ersten Sträflinge zählte die Kolonie deren etwa 2500. Einige – vielleicht eine ziemliche Menge – waren wohl sehr schlechte Menschen, selbst für die damalige Zeit; aber die meisten werden vermutlich nicht viel verderbter gewesen sein, als es die Leute, die daheim blieben, im allgemeinen waren. Wir können kaum umhin das zu glauben. Ein Volk, das es unentwegt mit ansehen konnte, wie man Frauen, die von Frost und Hunger getrieben ein Stück Speck oder einen alten Lumpen stahlen, an den Galgen brachte, wie man Knaben ihrer Mutter und den Vater seiner Familie entriß, um sie wegen ähnlicher kleiner Vergehen auf lange Jahre in die Strafkolonie zu schleppen – ein solches Volk läßt sich doch unmöglich als ›zivilisiert‹ bezeichnen. Auch muß sein Fortschritt in der Zivilisation weder rasch noch bedeutend gewesen sein, da alle wußten wie es jenen Unglücklichen in der Verbannung erging und sich vierzig Jahre lang ruhig darein ergaben.
Wenn wir uns zudem noch den Charakter und das Verhalten der hohen Herren und der Beamten vergegenwärtigen, welche für Aufsicht, Ernährung und Zucht der Sträflinge zu sorgen hatten, so finden wir auch da keinen wesentlichen Unterschied der Moral oder Gesittung im Vergleich mit den Sträflingen selbst oder ihren Volksgenossen im Heimatland. Sie standen so ziemlich alle auf der gleichen Stufe.
Nicht lange, so begannen sich auch freiwillige Ansiedler in der Kolonie niederzulassen, und diese sowohl als die schon beträchtliche Anzahl der Deportierten, bedurften des Schutzes für den Fall, daß Zwistigkeiten unter ihnen selbst oder mit den Eingeborenen entstünden. Letztere kamen auch einigermaßen in Betracht, wiewohl sie sehr wenig zahlreich waren. Zu einer Zeit, als man sie noch ziemlich ungestört ließ, weil sie niemand im Wege standen, rechnete man in Neusüdwales etwa einen Eingeborenen auf ein Gebiet von 45 000 Morgen.
Wie sollte man die Kolonie schützen? Kein Offizier der regulären Armee hätte sich um einen Dienst am andern Ende der Welt beworben, bei dem weder Ehre noch Auszeichnung zu holen war. So sah sich denn England genötigt, eine Art uniformierter Bürgermiliz auszurüsten und einzuschiffen, das sogenannte ›Korps von Neusüdwales‹, das aus tausend Mann bestand.
Für die Kolonie war das ein furchtbarer Schlag, der sie fast zu Boden schmetterte. Anschaulicher hätte der moralische Zustand Englands außerhalb der Gefängnisse gar nicht dargestellt werden können, als durch diese Korps. Die Kolonisten zitterten vor Angst, daß man ihnen nächstens auch noch eine Schiffsladung von Adligen herüberbringen würde.
Anfänglich vermochte die Kolonie sich noch nicht selbst zu erhalten. Nahrung, Kleidung und alle andern Lebensbedürfnisse wurden aus England geschickt und in großen Warenhäusern der Regierung aufgestapelt. An die Sträflinge verteilte man was sie brauchten, und den Ansiedlern verkaufte man es mit einem kleinen Profit über den Selbstkostenpreis. Diesen Umstand machte sich das Korps zu nutze. Sämtliche Offiziere begannen Handel zu treiben und zwar auf völlig gesetzlose Weise. Allen Warnungen und Verboten der Regierung zum Trotz führten sie Spirituosen ein und errichteten eigene Branntweinbrennereien im Lande. Sie schlossen einen Bund, der den Markt beherrschte und die Regierung samt allen andern Händlern boykottierte; auch verstanden sie es, ihr Monopol streng aufrecht zu erhalten. Kam ein mit Rum befrachtetes Schiff an, so wurde außer ihnen kein Käufer zugelassen, und sie zwangen den Eigentümer, seine Ladung zu dem niedrigen Preise herzugeben, welchen sie bestimmten. Durchschnittlich kauften sie den Rum zu zwei Dollars die Gallone und verkauften ihn zu zehn Dollars; ja, sie machten den Rum zur Hauptwährung im Lande, denn Geld gab es damals so gut wie gar nicht. Achtzehn oder zwanzig Jahre lang beherrschten sie die Kolonie ausschließlich und setzten ihren verderblichen Einfluß fort, bis es endlich der Regierung gelang, sie zu besiegen und zu vernichten.
Es kann kaum Wunder nehmen, daß sich bei diesen Verhältnissen die Trunksucht unter der gesamten Einwohnerschaft verbreitete; mancher Ansiedler hatte seine Farm nach und nach gegen Rum verschachert, und die Offiziere des Korps waren steinreich geworden. Wenn ein Farmer sich vor Durst nicht mehr zu lassen wußte, nahmen sie ihren Vorteil wahr, um ihn bis aufs Blut zu schinden. Einmal verkauften sie einem Mann eine Gallone Rum, die zwei Dollars wert war, für ein Grundstück, dessen Preis später bis auf 100 000 Dollars stieg.
Als die Kolonie etwa zwanzig Jahre lang bestanden hatte, entdeckte man, daß sich das Land vorzüglich zur Schafzucht eigne. Damit war sein Wohlstand begründet, es trat mit seiner Wolle in den Welthandel ein; bald fand man auch reiche Schätze an Edelmetallen, Einwanderer strömten herbei, auch Kapitalien blieben nicht aus.
So hat sich im Laufe der Zeit das große, begüterte und aufgeklärte Staatswesen von Neusüdwales gebildet. Bergbau, Schafzucht, Straßen- und Eisenbahnen, Dampferlinien, Zeitungen, Schulen, Universitäten, botanische Gärten, Bildergalerien, Bibliotheken, Museen, Hospitäler – alles ist dort in Fülle vorhanden. Jede Art von Kultur, jedes praktische Unternehmen findet Anklang und bereitwillige Förderung; Kirchen gibt es wie Sand am Meere, und Rennbahnen im Ueberfluß.