Neunzehntes Kapitel.

Neunzehntes Kapitel.

Am siebzehnten Tage kamen wir an den höchsten Berggipfeln, die wir bis jetzt erblickt hatten, vorüber, und obwohl der Tag sehr heiß war, folgte demselben eine wirklich kalte Nacht, gegen welche wir uns kaum mit unsern Decken zu schützen vermochten.

Am neunzehnten Tage begegneten wir auf der Station am Neese River den Leuten, die an der Telegraphenlinie nach dem Osten arbeiteten, und gaben eine Depesche an Se. Excellenz Gouverneur Nye zu Carson City auf. (Entfernung: hundertsechsundfünfzig Meilen.)

Am selben Tage kamen wir durch die große amerikanische Wüste vierzig denkwürdige Meilen grundlosen Sandes, in den die Wagenräder sechs Zoll bis einen Fuß tief einsanken. Den größten Teil dieser Strecke legten wir zu Fuß zurück, indem wir neben dem Wagen hergingen. Es war ein entsetzliches Ringen mit dem Sand und zugleich mit dem Durste, denn wir hatten kein Wasser. Von einem Ende dieser Wüste bis zum andern war die Straße ganz weiß von Ochsen- und Pferdeknochen. Ich könnte fast ohne Übertreibung behaupten, daß wir die vierzig Meilen weit Schritt für Schritt den Fuß auf einen Knochen hätten setzen können. Die ganze Wüste war ein ungeheurer Friedhof. Und die Hemmketten, Radschuhe und vermodernden Reste von Fuhrwerken waren fast ebenso dicht gesäet wie die Knochen. Ich glaube, die Hemmketten, die da vor unsern Augen verrosteten, hätten in jedem Staat der Union von einer Grenze zur andern gereicht. Geben uns diese Trümmer nicht ungefähr eine schwache Vorstellung von den furchtbaren Leiden und Entbehrungen, welche die frühesten Einwanderer nach Kalifornien zu erdulden hatten?

Am Rand der Wüste liegt der Carson-See, auch ›Carson-Sink‹ genannt, ein seichter, trübseliger Wasserspiegel von achtzig bis hundert Meilen Umfang. Der Carsonfluß mündet in denselben, um zu verschwinden – geheimnisvoll versinkt er im Boden und erblickt nie das Licht der Sonne wieder – denn der See hat keinerlei Ausfluß.

Es giebt mehrere Flüsse in Nevada, die dasselbe rätselvolle Geschick haben. Sie münden in verschiedene Seen oder ›Sinks‹ und werden nicht mehr gesehen. Der Carson-, Humbold-, Walter- und Mono-See sind große Wasserbecken ohne jeden sichtbaren Abfluß. Fortwährend fließt Wasser hinein, keines sieht man je abfließen, und doch bleiben sie stets eben voll, ohne abzunehmen oder überzulaufen. Was aus ihrem Überfluß wird, weiß nur der Schöpfer.

Am Westrand der Wüste machten wir einen Augenblick Halt in Ragtown. Es bestand aus einem einzigen Blockhause und ist auf der Karte nicht verzeichnet. Dabei fällt mir etwas ein. Gleich nach unserer Abfahrt von Julesburg, am Platte, saß ich beim Postillon. Dieser fing an:

»Ich kann Ihnen eine wirklich höchst lächerliche Geschichte erzählen, wenn Sie gern zuhören wollen. Horace Greeley fuhr einstmals auf dieser Straße. Beim Abgang von Carson City sagte er zum Postillon, Hank Monk, er habe sich verbindlich gemacht, in Placerville einen Vortrag zu halten und wünsche dringend, rasch vorwärts zu kommen. Hank Monk ließ seine Peitsche knallen und fuhr in rasendem Tempo davon. Der Wagen hüpfte so schrecklich auf und nieder, daß alle Knöpfe an Horacens Rock absprangen und er schließlich geradezu mit dem Kopf durch die Wagendecke fuhr. Jetzt rief er Hank Monk zu und bat ihn, doch langsamer zu thun, er habe es jetzt nicht mehr so eilig als vor einer Weile. Aber Hank Monk meinte: ›Bleiben Sie nur ruhig sitzen, Horace, ich will Sie schon bei Zeiten hinbringen!‹ – und Sie können darauf wetten, daß er ihn zu rechter Zeit hinbrachte, das heißt, was noch von ihm übrig war.«

Einen oder zwei Tage darauf lasen wir an der Straßenkreuzung einen Mann aus Denver auf, der uns allerlei über die Umgegend und die Goldgruben von Gregory erzählte. Es schien ein recht unterhaltender Mensch zu sein, der über die Verhältnisse in Colorado gut Bescheid wußte. Nach einer Weile begann er:

»Ich kann Ihnen eine wirklich höchst lächerliche Geschichte erzählen. Horace Greeley fuhr einstmals auf dieser Straße. Beim Abgang von Carson City sagte er zum Postillon, Hank Monk, er habe sich verbindlich gemacht, in Placerville einen Vortrag zu halten und wünsche dringend, rasch vorwärts zu kommen. Hank Monk ließ seine Peitsche knallen und fuhr in rasendem Tempo davon. Der Wagen hüpfte so schrecklich auf und nieder, daß alle Knöpfe an Horacens Rock absprangen und er schließlich geradezu durch die Wagendecke fuhr. Jetzt rief er Hank Monk zu und bat ihn, doch langsamer zu thun, er habe es jetzt nicht mehr so eilig als vor einer Weile. Aber Hank Monk meinte: ›Bleiben Sie nur ruhig sitzen, Horace, ich will Sie schon bei Zeiten hinbringen!‹ – und Sie können darauf wetten, daß er ihn zu rechter Zeit hinbrachte, das heißt, was noch von ihm übrig war.«

In Fort Bridger nahmen wir ein paar Tage darauf einen Kavalleriewachtmeister an Bord, einen sehr netten Menschen von echt soldatischem Wesen. Nirgends auf unserer langen Reise trafen wir sonst jemand, der uns einen solchen Vorrat an kurzer und guter Belehrung über militärische Dinge verschafft hätte. Es war ganz überraschend, in diesen verlassenen Einöden unseres Landes einen Mann von untergeordnetem Rang zu finden, der mit allem, was für seinen Lebensberuf zu wissen von Nutzen sein kann, so gründlich vertraut und dabei so anspruchslosen Wesens war. Volle drei Stunden hörten wir ihm mit ungemindertem Interesse zu. Schließlich kam er auf das Reisen über den Kontinent zu sprechen und auf einmal begann er:

»Ich kann Ihnen eine wirklich höchst lächerliche Geschichte erzählen« – und erzählte wiederum wörtlich wie oben bis zu den Worten: »was noch von ihm übrig war.«

Acht Stunden nach unserer Abreise von der Salzseestadt stieg auf einer Zwischenstation ein Mormonenprediger ein – ein artiger Mann mit sanfter Stimme und freundlichem Wesen, zu dem jeder Fremde sich beim ersten Anblick hingezogen fühlen mußte. Nie kann ich den Ausdruck in seinen Augen vergessen, als er mit einfachen Worten die Wanderungen und grausamen Leiden seines Volkes schilderte. Keine Kanzelberedsamkeit war je so rührend und so schön, als das Bild, das dieser Fremdling von der Wanderung der ersten Mormonen durch die Prairieen entwarf, wie sie sich kummervoll nach dem Land ihrer Verbannung durchschlugen und ihren einsamen Pfad mit Gräbern bezeichneten und mit Thränen benetzten. Seine Worte ergriffen uns dergestalt, daß wir es alle als Erleichterung empfanden, als die Unterhaltung in eine heiterere Bahn einlenkte und man auf die Natureigentümlichkeiten des seltsamen Landes, in dem wir uns befanden, zu sprechen kam.

Ein Gegenstand nach dem andern wurde in angenehmer Weise erörtert, bis endlich der Fremde begann:

»Ich kann Ihnen eine wirklich höchst lächerliche Geschichte erzählen« – wörtlich wie oben bis zu den Worten: »was noch von ihm übrig war.«

Zehn Meilen hinter Ragtown fanden wir einen armen Wanderer, der sich zum Sterben niedergelegt hatte. Er war so lange gegangen, als er es imstande war, allein seine Glieder hatten ihm schließlich den Dienst versagt. Hunger und Ermüdung hatten ihn überwältigt. Es wäre unmenschlich gewesen, ihn hier liegen zu lassen. Wir bezahlten für ihn Fahrgeld bis nach Carson und hoben ihn in den Wagen. Es dauerte eine kleine Weile, bis er die ersten entschiedenen Lebenszeichen gab, aber durch Reiben und Einflößen von Branntwein brachten wir ihn zuletzt einigermaßen zum Bewußtsein. Dann gaben wir ihm ein wenig zu essen, und nach und nach schien er seine Lage zu begreifen und ein Ausdruck von Dankbarkeit milderte den starren Blick seiner Augen. Wir machten es ihm auf dem Postbeutel-Bett so bequem als möglich und richteten ihm aus unsern Röcken ein Kopfkissen her. Er schien sehr dankbar dafür zu sein. Dann schaute er uns ins Gesicht und sagte mit schwacher Stimme, in der etwas wie zarte Rührung bebte:

»Meine Herren, ich weiß nicht, wer Sie sind, aber Sie haben mir das Leben gerettet; und wenn ich Ihnen dies auch niemals vergelten kann, so fühle ich doch, daß ich Ihnen wenigstens eine Stunde Ihrer langen Reise leichter zu machen vermag. Ich nehme an, Sie sind mit dieser großen Heerstraße nicht bekannt, ich dagegen bin ganz vertraut damit. In diesem Zusammenhang kann ich Ihnen eine wirklich höchst lächerliche Geschichte erzählen, wenn Sie sie gerne hören wollen. Horace Greeley –«

Ich unterbrach ihn nachdrücklich mit den Worten: »Fremder Dulder, fahren Sie fort, wenn Sie es verantworten können. Sie sehen in mir den traurigen Schatten einer ehemals kraftvollen stolzen Männergestalt. Was hat mich so weit gebracht? Die Geschichte, die Sie eben auf der Zunge hatten. Langsam aber sicher hat diese alte langweilige Anekdote mir die Kräfte ausgesogen, die Gesundheit untergraben, das Leben ausgedörrt. Haben Sie Mitleid mit meiner Hilflosigkeit. Verschonen Sie mich nur damit und erzählen Sie mir lieber statt dessen vom jungen George Washington und seiner kleinen Axt.«

Wir waren gerettet, nicht aber unser Kranker. Bei dem Versuch, die Anekdote bei sich zu behalten, verfiel er in krampfhafte Zuckungen und verschied in unsern Armen.

Ich weiß jetzt, daß ich selbst vom stärksten Mann in jener ganzen Gegend nicht hätte verlangen sollen, was ich diesem bloßen Schatten eines Menschen zumutete, denn nach siebenjährigem Aufenthalt an der Küste des Stillen Ozeans weiß ich, daß kein Postillon oder Reisender auf der Überlandroute jemals diese Anekdote verkorkt bei sich behalten hat, ohne daran zu ersticken. Innerhalb von sechs Jahren reiste ich dreizehnmal mit der Post über die Gebirgszüge zwischen Nevada und Kalifornien hin und her und hörte dabei diese nicht umzubringende Geschichte vierhundertein- oder zweiundachtzigmal mit an. Ich habe ein Verzeichnis darüber in meinem Besitz. Die Postillone erzählten sie stets, die Kondukteure, die Wirte erzählten sie, jeder gerade einsteigende Passagier erzählte sie, sogar die Chinesen und wilden Indianer erzählten sie nach. Ich habe es erlebt, daß sie mir ein und derselbe Postillon an einem Nachmittag zwei- oder dreimal erzählte. Sie ist mir im Gewande jeder der vielen Sprachen entgegengetreten, die Babel der Welt vermacht hat, und gewürzt mit den Düften von Whiskey, Brandy, Bier, Eau de Cologne, Sozodont, Tabak, Knoblauch, Zwiebeln und Heuschrecken, kurz von allem, was auf der langen Liste aller Dinge, welche durch Mund und Nase des Menschen eingehen, einen Duft an sich hat. Nie habe ich eine Geschichte so oft zu riechen bekommen, als diese, und nie habe ich eine gerochen, die so verschiedenartig roch. Und dabei war es nicht einmal möglich, sie am Geruch zu erkennen, weil sie jedesmal, so oft man meinte, man habe ihren Geruch los, wieder mit einem andern Duft auftrat. Bayard Taylor hat über diese uralte Geschichte geschrieben, Richardson hat sie veröffentlicht, desgleichen Jones, Smith, Johnson und Roß Browne und jedes sonstige, Korrespondenzen liefernde Wesen, das irgend einmal zwischen Julesburg und S. Francisco den Fuß auf die große Überlandroute setzte; ja, wie man mir sagt, steht sie sogar im Talmud. Ich habe sie in neun verschiedenen Sprachen gedruckt gelesen; wie es heißt, bedient sich die Inquisition in Rom derselben, und jetzt vernehme ich mit betrübtem Herzen, daß sie in Musik gesetzt werden soll. Das halte ich nicht für erlaubt.

Die Überlandpost geht nicht mehr, und das Geschlecht der Postillone ist ausgestorben. Ich möchte wissen, ob sie diese Urgroßvatergeschichte ihren Nachfolgern, den Eisenbahnbremsern und Schaffnern, vermacht haben, und ob diese letzteren den schutzlosen Reisenden noch immer damit verfolgen, bis er zu der Überzeugung gelangt, die wahren Wunder der Küste des Stillen Ozeans seien nicht in Yosemite und den Riesenbäumen, sondern in Hank Monk und seinem Abenteuer mit Horace Greeley zu erblicken.

Und was diese abgedroschene Anekdote noch unausstehlicher macht, das ist, daß das Abenteuer, das sie verherrlicht, sich niemals zugetragen hat. Wäre die Geschichte gut, so läge in diesem scheinbaren Mangel gerade ihr größter Vorzug, denn Schöpferkraft gehört zur Größe; was hat dagegen derjenige verdient, der mutwillig eine solche platte Mär verbricht? Wollte ich sagen, was nach meinem Dafürhalten mit ihm geschehen sollte, man würde es übertrieben finden. Aber was steht im Propheten Daniel Kapitel 16? Aha! –

  1. Sr. Zeit ein bekannter Politiker.

Fünftes Kapitel.

Fünftes Kapitel.

Abermals eine Nacht, die abwechselnd Ruhe und Unruhe brachte. Aber der Morgen kam doch nach und nach heran. Abermals ein solches Erwachen inmitten frischer Lüfte, endlos sich ausdehnender grüner Flächen, strahlenden Sonnenscheins, einer ergreifenden, aller sichtbaren menschlichen Wesen und Wohnstätten baren Einsamkeit und einer Atmosphäre von so merkwürdig vergrößernden Eigenschaften, daß Bäume in mehr als drei Meilen Entfernung scheinbar dicht vor uns standen. Wir machten es uns wieder leicht, kletterten auf das Dach unseres dahinfliegenden Wagens, ließen die Beine auf der Seite herunterhängen, riefen gelegentlich einmal unsern tollen Maultieren zu, lediglich um zu sehen, wie sie die Ohren zurücklegten und noch flinker dahinstoben, banden unsre Hüte fest, damit uns der Wind die Haare nicht wegblase, und hielten Ausschau über den unermeßlichen Teppich, der sich um uns ausbreitete, nach beachtenswerten neuen und merkwürdigen Dingen. Noch heute durchströmt mein ganzes Wesen ein Wonnegefühl bei dem Gedanken an das Leben, die Fröhlichkeit und das unbändige Freiheitsgefühl, welche an diesen herrlichen Morgen auf unserer Fahrt meine Pulse höher schlagen ließen.

Später, etwa eine Stunde nach dem Frühstück, erblickten wir die ersten Dörfer von Prairiehunden, die erste Antilope und den ersten Wolf. Wenn ich mich recht entsinne, war dieser letztere der richtige Cayote der entlegeneren Wüsten. Und wenn dem so war, so war derselbe weder ein hübsches, noch auch ein respektables Geschöpf; ich machte nämlich später genaue Bekanntschaft mit seiner Sippe und kann daher mit Bestimmtheit sprechen. Der Cayote ist ein langes, schmächtiges, krank und trübselig aussehendes, mit einem grauen Wolfsfell überzogenes Gerippe mit leidlich buschiger Rute, die stets mit einem verzweifelten Ausdruck von Not und Elend herabhängt, mit scheuem, tückischem Blick und langem, spitzem Gesicht und einer etwas emporgezogenen Lippe, so daß das Gebiß zum Vorschein kommt. Sein ganzes Wesen hat etwas Schleichendes an sich. Der Cayote ist eine lebendige Verkörperung der Not. Er ist stets hungrig. Er ist stets arm, ohne Glück und ohne Freund. Die geringsten Geschöpfe verachten ihn, und wenn die Flöhe die Wahl hätten zwischen ihm und einem Velociped, würden sie letzteres vorziehen! Er ist so mutlos und feige, daß sein ganzer übriger Gesichtsausdruck für die Drohung um Verzeihung bittet, die man in seinem Zähnefletschen finden könnte. Und wie häßlich ist er! – so räudig, so klapperdürr, so struppig und erbärmlich. Wenn er einen erblickt, so zieht er die Lippe ein wenig empor und bleckt die Zähne, biegt etwas von seinem Wege ab, duckt den Kopf ein bißchen und schlägt einen langgestreckten, lautlosen Trab durch die Salbeibüsche an; dabei schaut er von Zeit zu Zeit über die Schulter nach einem zurück, bis er ungefähr aus der gewöhnlichen Pistolenschußweite ist; dann macht er Halt und faßt einen scharf ins Auge; darauf trabt er fünfzig Ellen weiter und hält wieder an und so noch einmal, bis endlich das Grau seines dahingleitenden Körpers sich mit dem Grau der Salbeibüsche mischt und er verschwindet. Alles dies ist der Fall, wenn man keine Demonstration gegen ihn macht; geschieht dies aber, dann entfaltet er ein lebhafteres Interesse an seinem Aufbruch, elektrisiert seine Fußsohlen und entfernt sich so schnell von unserer Waffe, daß man, bis der Hahn gespannt ist, schon sieht, daß eine Miniébüchse nötig wäre, und bis man ihn in Schußlinie hat, findet, daß er einer gezogenen Kanone bedürfte, und man, bis er aufs Korn genommen ist, sich sagen muß, daß ihm jetzt höchstens noch ein ungewöhnlich langgezackter Blitzstrahl beikommen könnte. Läßt man einen schnellfüßigen Hund auf ihn los, so verschafft man sich ebenso viel Vergnügen – besonders, wenn der Hund eine gute Meinung von sich hat und auf’s Laufen dressiert ist. Der Cayote wird mit sanftem Schwung in jenen trügerischen Trott verfallen und dabei in kurzen Zwischenräumen ein arglistiges Lächeln über die Achsel zurücksenden, das den Hund ganz mit Mut und weltlichem Ehrgeiz erfüllt, so daß er den Kopf noch tiefer senkt, den Hals noch weiter vorstreckt, noch wilder keucht, den Schweif noch gerader hinausstreckt und seine Beine mit noch tollerer Eile tanzen läßt, bis eine immer breitere, höhere und dichtere Wolke von Wüstensand hinter ihm aufwirbelt und seinen weiten Weg über die ebene Fläche bezeichnet! Und diese ganze Zeit über ist der Hund nur elende zwanzig Fuß hinter dem Cayote drein, und – gälte es das Heil seiner Seele – er begreift nicht, warum der Abstand nicht merklich kleiner werden will; und er ärgert sich allmählich und wird schließlich immer toller, wenn er sieht, wie sanft der Cayote dahingleitet ohne Keuchen, ohne Schwitzen und unter fortwährendem Lächeln; und er wird noch immer entrüsteter, wenn er sieht, wie schmählich er sich von einem völlig Fremden hat anführen lassen und was für ein schnöder Schwindel dieser langgestreckte, sanfte, leisetretende Trab ist. Das nächste, was er sodann merkt, ist, daß er zu ermatten anfängt und daß der Cayote in der That seine Gangart etwas mäßigen muß, um ihm nicht davon zu laufen; – jetzt aber ist dieser Stadthund allen Ernstes aus dem Häuschen, er bietet seine Kräfte auf unter Heulen und Fluchen, und wirbelt den Sand toller auf als je, um dem Cayote mit verzweifelter Anstrengung beizukommen. Infolge dieser Kraftleistung befindet er sich nun sechs Fuß hinter seinem davongleitenden Feinde und zwei Meilen weit von seinen Freunden. Als gerade eine neue wilde Hoffnung in seinem Gesichte aufleuchtet, kehrt sich der Cayote noch einmal nach ihm um mit sanftem Lächeln und einem Ausdruck, als wollte er sagen: »Nun, ich werde mich wohl von dir losreißen müssen, mein Junge – allein Geschäft ist Geschäft, und ich kann unmöglich den ganzen Tag mit solchen Narrenpossen vertrödeln« – im nächsten Augenblick hört man etwas durch die Luft sausen und siehe da, einsam und allein steht der Hund mitten in der grenzenlosen Einöde!

In seinem Kopf wirbelt es. Er hält an und schaut sich rings um; er klettert auf den nächsten Sandhügel und blickt ins Weite; er schüttelt nachdenklich den Kopf, dann macht er lautlos Kehrt und jagt zu seiner Gesellschaft zurück, wo er sich einen bescheidenen Platz unter dem hintersten Wagen sucht, sich unsäglich erbärmlich vorkommt und vor lauter Beschämung den Schwanz eine ganze Woche lang auf Halbmast trägt. Und wenn vielleicht nach Jahr und Tag wieder einmal ein gewaltiger Lärm und großes Geschrei hinter einem Cayote her losgeht, dann wird dieser Hund nur einen gelassenen Blick nach der Richtung werfen und ohne Zweifel bei sich selbst bemerken: »Ich glaube, ich danke für Obst.«

Der Cayote lebt hauptsächlich in den trostlosesten unwirtlichsten Wüsten mit der Eidechse, dem Eselskaninchen und dem Raben zusammen, wo er sich einen Ungewissen und fragwürdigen Unterhalt verdient.

Er lebt anscheinend ausschließlich von den Leichnamen von Ochsen, Maultieren und Pferden, die bei Auswandererzügen gefallen und verendet sind, von unverhofft sich darbietendem Aas und gelegentlichen Vermächtnissen von Abfall, die ihm von weißen Leuten hinterlassen werden, welchen ihre Verhältnisse gestatteten, etwas besseres aufzuschneiden als ranzigen Soldatenspeck.

Er frißt alles, was seine nächsten Vettern, die Indianerstämme der Wüste, essen; und die essen alles, was sie zu beißen imstande sind.

Der Cayote der Wüsten jenseits der Felsengebirge ist besonders übel daran, weil nämlich seine Verwandten, die Indianer, gerade so geschickt darin sind, wie er selbst, zuerst einen verführerischen Duft in der Wüstenluft zu entdecken und dem Geruche nachzugehen, bis sie den verewigten Ochsen aufgefunden haben, von welchem derselbe aufsteigt; und in solchem Falle muß er damit vorlieb nehmen, in einiger Entfernung sich hinzusetzen und zuzusehen, wie diese Leute alles Eßbare abstreifen und herausbohren und es mit fort nehmen. Dann untersucht er in Gemeinschaft mit den Raben das Knochengerüst und nagt dasselbe vollends blank ab. Man betrachtet es als einen Beweis für die Blutsverwandtschaft zwischen dem Cayote, dem Aasvogel und dem Indianer der Wüste, daß sie in der Wildnis im Verhältnis vollkommener Vertraulichkeit und Freundschaft zusammen hausen, während sie alle andern Geschöpfe hassen und ihnen den Tod wünschen. Der Cayote macht sich nichts daraus, zu seinem Frühstück hundert und zu seinem Mittagessen hundertfünfzig Meilen zurückzulegen, denn er weiß aus Erfahrung, daß von einer Mahlzeit zur andern drei bis vier Tage vergehen, und so mag er ebensowohl auf Reisen gehen und sich die Gegend ansehen, als unthätig herumliegen und seinen Eltern zur Last fallen. Wir lernten bald das scharfe, boshafte Gebell des Cayote unterscheiden, wenn derselbe des Nachts über die finstere Ebene daherkam und uns in unsern Träumen zwischen den Postsäcken störte; und beim Gedanken an seine elende Erscheinung und sein hartes Los wünschten wir ihm ernstlich das seltene Glück eines Tages voll guter Beute und einer unerschöpflichen Speisekammer für morgen.

Sechstes Kapitel.

Sechstes Kapitel.

Unser neuer, eben aufgestiegener Kondukteur hatte seit vierundzwanzig Stunden nicht geschlafen. Derartiges kam sehr häufig vor. Von St. Joseph in Missouri bis Sakramento in Kalifornien betrug der Weg mit der Postkutsche nahezu neunzehnhundert Meilen, und die Tour wurde häufig in fünfzehn Tagen gemacht (die Eisenbahn besorgt es jetzt in vier und einem halben), während die in den Postverträgen verabredete und in den Zusatzbestimmungen verlangte Zeit, wenn ich mich recht erinnere, achtzehn bis neunzehn Tage betrug. Damit sollte den durch Winterstürme, Schneefälle und sonstige unvermeidliche Umstände verursachten Verzögerungen billige Rechnung getragen werden. Die Postgesellschaft hielt alles unter strenger Aufsicht und in guter Ordnung. Über eine Wegstrecke von je zweihundertfünfzig Meilen war ein mit großer Machtfülle bekleideter Agent oder Oberaufseher gesetzt. Die Strecke selbst führte den Namen ›Division‹. Er kaufte Pferde, Maultiere, Geschirr und Lebensmittel für Menschen und Tiere ein und verteilte diese Gegenstände von Zeit zu Zeit auf die einzelnen Stationen nach seinem Ermessen. Er ließ Stationsgebäude errichten und Brunnen graben. Er besorgte die Auslöhnung der Stationswirte, Hausknechte und Hufschmiede, die er sämtlich nach Gutdünken entlassen durfte. Er war ein sehr großer Mann innerhalb seiner ›Division‹ – eine Art Großmogul, ein Sultan, in dessen Gegenwart die gemeinen Leute Bescheidenheit in Rede und Wesen annahmen und im Glanz von dessen Größe selbst der leuchtende Postillon zu einem Pfennigbüchlein zusammenschwand. Etwa acht solcher Könige gab es alles in allem auf der ganzen Überlandstrecke.

Gleich nach dem Divisionsagenten an Rang und Wichtigkeit kam der Kondukteur. Sein Bezirk war ebenso groß wie der des ersteren – zweihundertfünfzig Meilen. Er hatte seinen Platz beim Kutscher und durchfuhr nötigenfalls diese furchtbare Strecke Tag und Nacht ohne andere Ruhe oder Schlaf, als wie er sie oben auf dem dahinfliegenden Fuhrwerk hockend haben konnte. Man stelle sich das vor! Er war unbedingt verantwortlich für die Postsachen, das Eilgut, die Passagiere und den Postwagen bis zur Übergabe an seinen Nachmann gegen Bescheinigung. Er mußte demzufolge ein Mann von natürlichem Verstand, Entschiedenheit und beträchtlicher Geschäftsgewandtheit sein. Gewöhnlich war es ein ruhiger, freundlicher Mensch, der seine Obliegenheiten eifrig erfüllte und ein ziemlich wohlerzogenes Wesen an sich hatte. Der Divisionsagent brauchte nicht durchaus notwendig ein gebildeter Mann zu sein, und in der That war er dies nicht immer. Dagegen kam er an Befähigung zum Verwaltungsdienst stets einem General, und an Mut und Entschlossenheit einer Bulldogge gleich, andernfalls würde ihm der Oberbefehl über das gesetzlose Unterpersonal der Überlandpost in keinem Falle etwas anderes eingebracht haben, als nach einem Monat voll Unverschämtheiten und Widerwärtigkeiten zum Beschluß eine Kugel und einen Sarg. Auf der ganzen Strecke gab es ungefähr sechzehn oder achtzehn Kondukteure, denn täglich ging ein Wagen in jeder Richtung und bei jedem war ein Kondukteur.

Zunächst nach dem letzteren kam an amtlichem Rang und Ansehen mein Liebling, der Postillon – wir haben aber bereits gesehen, daß in den Augen der großen Menge der Postillon gegenüber dem Kondukteur dastand, wie der Admiral neben dem Kapitän des Flaggschiffes. Die Dienststrecke des Postillon war eine ziemlich lange und seine Schlafzeit auf den Stationen manchmal sehr kurz, und hätte ihn der Glanz seiner imposanten Stellung nicht einigermaßen entschädigt, so wäre sein Leben ein ebenso trauriges wie hartes und aufreibendes gewesen. Wir bekamen jeden Tag oder jede Nacht einen neuen Postillon (denn jeder derselben befuhr stets dieselbe Strecke hin und zurück) und wurden daher mit diesen Leuten nie so gut bekannt wie mit den Kondukteuren; abgesehen davon, daß es die Postillone meist unter ihrer Würde hielten, sich mit solchem Lumpenpack, wie Passagiere, gemein zu machen. Doch waren wir, so oft der Dienst wechselte, begierig, den neuen Postillon zu Gesicht zu bekommen, denn einen Tag wie den andern waren wir entweder froh, einen unangenehmen los zu werden, oder betrübt über den Abschied von einem, den wir liebgewonnen hatten und mit dem wir auf einen gemütlichen und freundschaftlichen Fuß gekommen waren.

So war stets an den Plätzen, wo wir einen neuen Kutscher bekamen, unsere erste Frage an den Kondukteur: »Was ist’s für einer?« – Das war vielleicht kein guter Stil, allein wir konnten damals noch nicht wissen, daß das einstmals gedruckt würde. So lange alles glatt ablief, war der Überland-Postillon noch ziemlich gut daran, wurde jedoch ein Kollege von ihm plötzlich krank, dann war er übel dran; denn die Post mußte weiter und so durfte denn der hohe Herr, der eben herunterklettern und üppiger Ruhe pflegen wollte nach seiner langen nächtlichen Sitzung in Wind, Regen und Finsternis, bleiben, wo er war und den Dienst für den Erkrankten versehen. Als ich einst im Felsengebirge einen Postillon fest auf dem Bocke schlafend traf, während die Maultiere in ihrer gewohnten halsbrechenden Gangart dahinstürmten, meinte der Kondukteur: »Na, lassen Sie ihn nur, es ist keine Gefahr dabei und er thut doppelten Dienst – ist fünfundsiebzig Meilen mit einem Wagen gefahren und geht jetzt dieselbe Strecke zurück, unausgeruht und ungeschlafen.«

Hundertfünfzig Meilen weit sechs bösartige Maultiere im Zaum zu halten, daß sie nicht die Bäume hinauflaufen! Es klingt unglaublich, aber ich bin dieser Mitteilung ganz sicher.

Die Stationsleute, Hausknechte u. s. w. waren gemeine rohe Menschen, wie bereits erwähnt, und vom westlichen Nebraska bis Nevada durfte man eine beträchtliche Anzahl derselben getrost als gesetzloses Gesindel – Flüchtlinge vor der Justiz, als Verbrecher bezeichnen, die sich am sichersten in einem Landstrich fühlten, wo es kein Gesetz gab und wo man nicht einmal Anspruch auf dergleichen machte.

Wenn der Abteilungsagent einem von dieser Gesellschaft einen Befehl erteilte, so war er sich dabei stets vollkommen bewußt, daß er solchen möglicherweise mit seinem Revolver werde durchsetzen müssen, und so war er denn stets gerüstet, um die Dinge im richtigen Geleise zu erhalten. Dann und wann war ein solcher Agent wirklich genötigt, einem Hausknecht irgend eine einfache Sache durch einen Schuß in den Kopf verständlich zu machen, die er ihm unter andern Umständen und in anderer Umgebung mittels eines Prügels hätte beibringen können. Allein, es waren eben schneidige, gescheite Leute, diese Agenten, und wenn sie einem Untergebenen etwas begreiflich machen wollten, »so ging es diesem in der Regel in den Kopf.«

Am fünften Tage um Mittag gelangten wir beim Übergang über den South-Platte nach ›Julesburg‹, alias ›Overland-City‹, vierhundertsiebzig Meilen von St. Joseph, das merkwürdigste, sauberste, putzigste Grenzstädtchen, auf welches unsere ungereisten Augen jemals ihre erstaunten Blicke gerichtet.

Siebentes Kapitel.

Siebentes Kapitel.

Nach einer für unser Gefühl so langen Bekanntschaft mit einer tiefen, stillen, fast leblosen und unbewohnten Einöde berührte uns der Anblick einer Stadt ganz merkwürdig! Wir stolperten hinaus auf die belebte Straße und es war uns dabei zu Mut, als seien wir von einem fremden Weltkörper herabgeflogen und plötzlich auf dieser Erde erwacht. Eine ganze Stunde lang musterten wir Overland-City mit einem Interesse, als hätten wir in unserem Leben noch nie eine Stadt gesehen. Wir hatten nämlich eine Stunde übrig, weil wir hier unsere Kutsche mit einem minder anspruchsvollen Fuhrwerke – einem sogenannten Dreckwagen – vertauschten und die Frachtstücke ausgeladen werden mußten.

Bald gingen wir wieder unter Segel. Wir kamen an den seichten, gelben, schmutzigen Platte mit seinen niedrigen Ufern, seinen überall verstreuten flachen Sandbänken und winzigen Inselchen – ein trübseliger Fluß, der sich mitten durch die unermeßliche Ebene windet und den man niemals mit bloßem Auge entdecken würde, wären nicht seine Ufer beiderseits von einer Baumreihe gleich wie von zerstreuten Schildwachen umsäumt. Es hieß, der Platte sei ›hoch‹, so daß ich gerne hätte sehen mögen, ob er sich bei niedrigem Stande noch kränklicher und trauriger hätte ausnehmen können.

Es hieß auch, es sei zur Zeit gefährlich, über den Fluß zu setzen, weil bei einem Versuch, denselben zu durchwaten, sein Treibsand leicht Pferde und Wagen samt den Passagieren verschlingen könnte. Allein die Post mußte gehen, und so machten wir den Versuch. Wirklich sanken mitten im Flusse die Räder ein- oder zweimal in so bedrohlicher Weise ein, daß wir fast gar vermeinten, wir hätten darum unser Leben lang alles, was Meer heißt, ängstlich vermieden, um zum Schlusse mitten in der Wüste in einem ›Dreckwagen‹ Schiffbruch zu leiden. Doch wir schleppten uns durch und eilten weiter der untergehenden Sonne zu.

Den nächsten Morgen, gerade vor Dämmerung, etwa fünfhundertfünfzig Meilen weit von St. Joseph, brach unser Dreckwagen zusammen. Wir sollten einen Aufenthalt von fünf bis sechs Stunden haben. Wir folgten daher einer Einladung, uns zu Pferde bei einer Büffeljagd zu beteiligen, zu der eine Gesellschaft sich eben aufmachte. Es war ein edles Vergnügen, in der tauigen Frische des Morgens über die Ebene hinzujagen, unsrerseits nahm die Jagd jedoch ein Ende mit Schrecken und Ärger, denn ein angeschossener Stier trieb den Reisenden Bemis fast zwei Meilen weit vor sich her, bis dieser schließlich seinen Gaul im Stiche ließ und sich auf einen einzelnstehenden Baum flüchtete. Etwa vierundzwanzig Stunden lang war Bemis höchst verdrießlich über die Sache, dann fing er jedoch ganz allmählich an, sich zu besänftigen, und schließlich sagte er:

»Na, es war kein Spaß, und es war recht albern von diesen Einfaltspinseln, sich darüber so lustig zu machen. Ich sage euch, eine Weile war ich ernstlich böse darüber. Diesen langen schlotterigen Lümmel, Namens Hank, würde ich gern über den Haufen geschossen haben, wenn ich es hätte fertig bringen können, ohne noch sechs oder sieben andere zu Krüppeln zu schießen – das war natürlich rein unmöglich, der alte ›Allen‹ holt so verdammt weit aus. Ich wollte nur, diese Bummler wären oben auf dem Baume gesessen, dann wäre ihnen die Lust vergangen, so zu lachen. Wenn mein Gaul auch nur einen Pfifferling wert gewesen wäre, – aber nein, sobald er sah, wie der Stier brüllend auf ihn loskam, stieg er kerzengerade in die Luft und blieb auf den Hinterbeinen stehen. Jetzt fing der Sattel an zu rutschen; ich faßte den Gaul um den Hals und legte mich mit einem Stoßgebet fest auf ihn. Nun ließ er sich vorne nieder und streckte die Hinterhand eine Zeit lang in die Luft, so daß der Stier wirklich sein Scharren und Brüllen aufgab, um sich das unheimliche Schauspiel zu betrachten. Dann aber machte der Stier aus nächster Nähe einen mächtigen Satz auf den Gaul zu unter wahrhaft entsetzlichem Gebrüll; das muß meinem Gaul buchstäblich den Verstand verrückt und ihn völlig toll und rasend gemacht haben, und ich will des Todes sein, wenn er nicht eine ganze Viertelminute lang auf dem Kopfe stand und Thränen vergoß. Er war vollständig aus dem Häuschen – ja gewiß und wahrhaftig – und wußte wirklich nicht mehr, was er that. Jetzt kam uns der Stier auf den Leib, darauf ließ sich mein Gaul wieder auf alle Viere nieder und nahm einen neuen Anlauf, während der nächsten zehn Minuten machte er aber allen Ernstes einen Purzelbaum nach dem andern in solcher Geschwindigkeit, daß der Bulle ebenfalls außer Fassung kam und nicht mehr wußte, wo er anpacken sollte. So blieb er stehen, indem er nieste, sich Sand auf den Rücken schaufelte und dann und wann brüllte; gewiß meinte er, er habe ein Zirkuspferd für fünfzehnhundert Dollars als Frühstücksbissen vor sich. Nun, ich saß ihm also zuerst auf dem Halse – dem Gaul natürlich, nicht dem Bullen – dann unter seinem Bauch, dann auf seinem Steiß, und hatte bald den Kopf oben bald die Fersen – aber ich sage euch, es hatte etwas großartig Haarsträubendes, so zu sagen im Angesichte des Todes in dieser Weise herum geschleudert, gerissen und gewirbelt zu werden. Bald darauf that der Bulle einen Stoß nach uns und riß meinem Gaul ein Stück von seinem Schweif ab – (ich meine so, gewiß weiß ich es nicht, ich war da gerade ziemlich in Anspruch genommen); auf einmal muß der Gaul von der Sehnsucht nach Einsamkeit ergriffen worden sein, so daß er sich aufmachte, um derselben nachzujagen. Nun hättet ihr einmal dieses alte spinnenbeinige Gerippe ausgreifen sehen und beobachten sollen, wie der Büffel hinter ihm drein war – den Kopf am Boden, die Zunge außen, den Schwanz in der Luft, brüllend wie der Teufel, buchstäblich das Gras vor sich niedermähend, die Erde aufreißend und den Sand aufwühlend gleich einem Wirbelwind! Bei Gott, das war eine heiße Hetz! Ich saß samt dem Sattel dem Gaul auf dem Kreuze, die Zügel hatte ich zwischen den Zähnen und mit beiden Händen hielt ich mich am Sattelknopf. Zuerst ließen wir die Hunde hinter uns, dann kamen wir einem Eselskaninchen voraus; hierauf überholten wir einen Cayote, und wie wir eben im Begriffe waren, eine Antilope einzuholen, brach der morsche Sattelgurt, so daß ich an die dreißig Ellen weit links hinausflog, und als der Sattel dem Pferd über das Kreuz hinabrutschte, versetzte es ihm eins mit den Hufen, daß derselbe über vierhundert Ellen weit in die Luft hinauffuhr – ich will im Augenblick des Todes sein, wenn es nicht so ist. Ich fiel am Fuß des einzigen Baumes nieder, der meilenweit in der Runde stand und eine Sekunde darauf hatte ich alle zehn Fingernägel und die Zähne in die Rinde geschlagen, und saß im nächsten Augenblick rittlings auf dem Hauptast, so unbarmherzig fluchend über mein Mißgeschick, daß mein Atem stank wie ein Schwefelpfuhl. Jetzt hatte ich den Bullen dran gekriegt, wofern er nicht an eines dachte. Aber dies eine eben fürchtete ich. Es war ja eine Möglichkeit, daß der Bulle nicht daran dachte, allein das Gegenteil hatte mehr Wahrscheinlichkeit für sich. Ich überlegte, was ich im letzteren Falle nehmen wollte. Es waren von meinem Platz aus etwas über vierzig Fuß bis auf den Boden. Vorsichtig wickelte ich den Lasso vom Knopfe meines Sattels los und –«

»Deines Sattels? Nahmst du denn deinen Sattel mit auf den Baum hinauf?«

»Mit auf den Baum hinauf? Na, wie ihr herausschwatzt. Natürlich nicht. Das hätte ja kein Mensch gekonnt. Er war aus der Luft auf den Baum heruntergefallen.«

»Ah – so!«

»Gewiß. Also ich wand den Lasso los und befestigte dessen eines Ende an meinem Ast. Der Riemen war aus allerbestem Rohleder und konnte Zentner tragen. An das andere Ende machte ich eine Schleife und ließ es hinunter um zu sehen, wie weit es reiche Es ging zweiundzwanzig Fuß weit hinab, halb zum Boden. Dann versah ich sämtliche Läufe meines Allen mit doppelter Ladung. Nun war ich ruhig. Ich sagte bei mir selbst, kommt er nicht auf den Gedanken, der mir so bange macht, gut – und kommt er doch darauf, nun auch gut – ich bin darauf gefaßt. Aber ihr wißt ja doch, daß immer das eintrifft, was man nicht gerne hat, nicht wahr? So geht es stets. Ich erwartete den Büffel mit Bangen – einem Bangen, das nur ermessen kann, wer sich schon in solcher Lage befunden hat, wo er den Tod jeden Augenblick erwarten mußte. Plötzlich blitzt ein Gedanke auf im Auge des Bullen. Ich wußte es ja! sprach ich – wenn mir jetzt die Spannkraft versagt, so bin ich verloren. Richtig – es kam ganz genau, wie ich befürchtet hatte – er machte Anstalt, auf den Baum zu klettern.«

»Wie, der Büffel?« –

»Natürlich – wer denn sonst?«

»Aber ein Büffel kann ja nicht auf einen Baum klettern!«

»Kann nicht? – So, er kann nicht? Nun, wenn ihr es doch so gut versteht, habt ihr es denn schon einmal mit angesehen?«

»Nein. Der Gedanke wäre mir nicht im Traum gekommen!«

»Nun, was hat dann all euer Geschwätz darüber für einen Wert? Weil ihr’s noch nie mit angesehen habt, ist das ein Beweis, daß es nicht möglich ist?«

»Also gut – nun weiter; was thatest du nun?«

Der Stier kletterte los und kam vielleicht zehn Fuß weit ganz gut herauf, dann glitt er aus und rutschte zurück. Ich atmete auf. Er setzte wieder an und kam jetzt etwas weiter herauf, dann rutschte er wiederum ab. Aber er machte sich nochmals dran, und gab diesmal gut acht. Immer höher und höher stieg er, während mir der Mut immer tiefer sank. Immer näher rückte er – Zoll um Zoll – mit blutunterlaufenen Augen und heraushängender Zunge. Immer höher kam er herauf – jetzt stemmte er den Fuß auf einen Ast und schaute herauf, als wollte er sagen: ›Freundchen, dich freß ich auf mit Haut und Haar‹. Dann ging es wieder aufwärts – höher und höher und immer hitziger wurde er, je näher er kam. Er war keine zehn Fuß mehr von mir! Ich holte tief Atem. ›Jetzt oder nie‹ – sprach ich. Ich hielt die Schlinge meines Lasso schon in Bereitschaft, vorsichtig ließ ich sie hinab, bis sie ihm gerade über dem Kopfe hing, dann lasse ich rasch den Riemen fahren, und der Stier steckt ganz fein mit dem Kopf in der Schlinge! Ich nun schneller wie der Blitz meinen ›Allen‹ heraus und ihm die ganze Ladung ins Gesicht. Es gab einen gräßlichen Knall und der Bulle muß davon betäubt geworden sein. Wie der Rauch sich verzog, baumelte er zwanzig Fuß vom Boden in der Luft und verfiel schneller, als man zählen konnte, aus einer Todeszuckung in die andere. Ich hielt mich übrigens mit Zählen nicht auf – ich rutschte von meinem Baum herunter und machte, daß ich weiter kam.«

»Bemis, ist das alles wahr, ganz wie du es erzählt hast?«

»Ich will des Teufels sein auf der Stelle und krepieren wie ein Hund, wenn es nicht so ist.«

»Nun, wir wollen’s ja glauben, und glauben es auch gerne. Wenn man aber doch vielleicht einen Beweis –«

»Beweis! Habe ich meinen Lasso mit heim gebracht? –«

»Nein.«

»Habe ich mein Pferd mit heimgebracht?« –

»Nein.«

»Habt ihr den Stier nachher noch einmal gesehen?«

»Auch nicht.«

»Nun, was braucht es dann weiter? In meinem Leben habe ich noch keine Leute getroffen, die bei einer so einfachen Sache sich so seltsam anstellten wie ihr.« –

Nun, wenn dieser Mensch kein Lügner war, so fehlte jedenfalls nicht viel dazu. Dieses Vorkommnis erinnert mich an einen Zwischenfall während meines kurzen Aufenthalts in Siam, einige Jahre nachher. Unter den Europäern einer Stadt bei Bangkok befand sich ein merkwürdiges Exemplar Namens Eckert, ein Holländer, der wegen seiner vielen sinnreichen und verblüffend großartigen Lügen weit berühmt war. Unaufhörlich wurden seine berühmtesten Stückchen wiederholt, und stets versuchte man, in Gegenwart von Fremden etwas aus ihm herauszuziehen, allein selten mit Erfolg. Zweimal war er in dem Hause, wo ich zu Besuch war, eingeladen, aber nichts vermochte, ihm eine hervorragende Probe seiner Lügenkunst zu entlocken. Eines Tages nun lud mich ein Pflanzer Namens Bascom, ein Mann von Ansehen, stolz und manchmal aufbrausend, ein, mit ihm zu Eckert hinüberzureiten und bei diesem vorzusprechen. Während wir so dahin schlenderten, meinte er:

»Nun, wissen Sie, woran der Fehler liegt? – Daran, daß man Eckert stutzig macht. Sobald die Jungens ihn auszupumpen suchen, merkt er ganz genau, was sie vorhaben, und macht nun natürlich seine Schale zu. Das könnte sich eigentlich jeder selbst sagen. Aber wenn wir hinkommen, müssen wir ihn schlauer anpacken. Man muß ihn die Unterhaltung ganz nach seinem Gefallen wählen lassen – er mag sie fallen lassen oder wechseln, wie es ihm paßt. Er soll sehen, daß kein Mensch ihn auszuziehen sucht. Er soll ganz thun, wie er will. Dann wird es nicht lange anstehen, so vergißt er sich und die Lügen fallen nur so herunter wie das Mehl in der Mühle. Verlieren Sie nur die Geduld nicht – seien Sie ganz still und lassen Sie mich nur machen. Ich will ihn schon zum Lügen bringen. Ich meine, die Jungens müssen blind sein, um solch einen auf der Hand liegenden einfachen Kniff zu übersehen.«

Eckert nahm uns herzlich auf – ein Mann von liebenswürdigem, gebildetem Wesen. Wir saßen eine ganze Stunde auf der Veranda, schlürften englisches Ale und unterhielten uns über den König, den heiligen weißen Elefanten, das schlafende Götzenbild und alles mögliche; dabei bemerkte ich, daß mein Begleiter nie die Unterhaltung leitete oder beeinflußte, sondern einfach sich Eckerts Leitung überließ und niemals Unruhe oder Befangenheit bei irgend etwas zeigte. Der Erfolg ließ sich bald bemerken. Eckert fing an, mitteilsam zu werden, er fühlte sich immer gemütlicher und wurde immer gesprächiger und geselliger. Noch eine Stunde verfloß in derselben Weise, als Eckert ganz plötzlich äußerte:

»Ach, apropos! Beinahe hätte ich es vergessen. Ich habe etwas, das Sie in Erstaunen setzen wird. Etwas, wie es weder von Ihnen, noch von sonst irgend jemand erhört worden ist – ich habe eine Katze, die Kokosnüsse frißt! – gewöhnliche, frische Kokosnüsse – und die nicht bloß das Fleisch frißt, sondern auch die Milch trinkt. Es ist so – ich leiste einen Eid darauf.«

Ein rascher Blick von Bascom, – ein Blick, den ich verstand – dann sagte er:

»Nun, Gott verzeih‘ mir, so was habe ich noch nie gehört. Mensch, das kann nicht sein.«

»Ich wußte, daß Sie das sagen würden. Ich will die Katze holen.«

Er ging ins Haus. Bascom sagte:

»Da – was habe ich Ihnen gesagt? Nun, so muß man es machen, um Eckert dran zu kriegen. Sie sehen, ich habe ihn geduldig gekirrt und seinen Argwohn eingeschläfert. Mich freut es, daß wir hergekommen sind. Erzählen Sie es nur den Jungens, wenn Sie nach Hause kommen. Eine Katze Kokosnüsse fressen – du guter Gott! Nun, das ist ganz genau seine Art – er tischt einem die abgeschmackteste Lüge aus und überläßt es seinem Glücksstern, wie er sich dann wieder herauswickelt. Eine Katze und Kokosnüsse fressen – der einfältige Narr!«

Eckert kam ganz zuversichtlich mit seiner Katze daher. Bascom lächelte und meinte:

»Ich will die Katze halten – bringen Sie eine Kokosnuß.« Eckert öffnete eine und schnitt ein paar Stückchen davon ab. Bascom gab mir verstohlen einen Wink und hielt der Mietze einen Schnitz vor. Sie schnappte darnach, verzehrte ihn gierig und wollte dann noch mehr haben.

Auf dem Heimweg ritten wir unsere zwei Meilen stillschweigend und in weitem Abstand neben einander her. Ich wenigstens sprach nichts, während Bascom seinem Pferd reichlich Püffe und Flüche verabreichte, obwohl sich dasselbe ganz gut hielt. Als ich nach Hause abbog, meinte Bascom:

»Behalten Sie nur das Pferd bis morgen früh. Und – Sie brauchen den Jungens nichts zu erzählen von – dieser albernen Geschichte.«

Achtes Kapitel.

Achtes Kapitel.

Gleich nachher richtete sich all unser Sinnen und Trachten darauf, mit langgestrecktem Halse nach dem ›Ponyreiter‹ auszuschauen, dem Eilboten, der mit der Briefpost in acht Tagen neunzehnhundert Meilen weit über den Kontinent von St. Joseph bis nach Sakramento dahinjagte! Man stelle sich diese Leistung vor für Pferd und Reiter von Fleisch und Blut! Der Ponyreiter war meist ein leibarmes Männchen, dabei aber voll höchster Kühnheit und Ausdauer. Einerlei, zu welcher Tages- oder Nachtzeit sein Dienst an ihn herantrat, und einerlei, ob es Winter war oder Sommer, ob es regnete, schneite oder hagelte, ob sein ›Strich‹ ihn auf ebener gerader Straße führte, oder über halsbrechende Felsklippen und Abgründe im Gebirge, ob durch friedliche Gegenden oder durch solche, die von feindlichen Indianern wimmelten – stets mußte er bereit sein, in den Sattel zu springen und davon zu jagen wie der Wind! Muße gab es für den Ponyreiter im Dienste niemals. Fünfzig Meilen weit ritt er ohne anzuhalten, bei Tageshelle wie bei Mondenlicht, bei Sternenschein oder im Dunkel der finstern Nacht, wie es gerade kam. Das prächtige Tier, das er ritt, war ein geborener Renner und wurde in Verpflegung und Nahrung gehalten wie ein Gentleman; zehn Meilen weit hielt er es zur höchsten Schnelligkeit an, und wenn er dann bei der Station angesaust kam, wo bereits zwei Mann ein frisches feuriges Tier am Zügel hielten, so war der Reiter samt dem Postsack in einem Augenblick umgestiegen, um sofort weiter zu jagen, so daß Roß und Reiter dem Zuschauer aus dem Gesichte waren, ehe er sie recht gesehen. Wie ein Flugfeuer huschten sie davon. Der Reiter war leicht und knapp gekleidet; er trug eine Jacke ohne Schöße und eine kleine Mütze, die Beinkleider hatte er in die Stiefel gesteckt wie die Reiter bei den Rennen. Er führte keine Waffen bei sich – überhaupt nichts, was nicht durchaus notwendig war, denn selbst von den Briefen, die er bei sich hatte, war »Stück für Stück fünf Dollars wert.« Er hatte nur wenig gleichgültige Briefschaften zu befördern, seine Tasche barg meistenteils Geschäftsbriefe. Sein Tier war ebenfalls jedes überflüssigen Gewichts entledigt. Es trug einen Rennsattel, klein wie eine Oblate, unter dem keine Decke sichtbar war, und ganz leichte oder auch gar keine Hufeisen. Die kleinen, flachen, unter den Schenkeln des Reiters festgeschnallten Brieftaschen faßten an Briefschaften etwa soviel, als eine Kinderfibel Raum einnimmt. Sie enthielten viele viele wichtige geschäftliche Mitteilungen und Zeitungskorrespondenzen, aber sämtlich auf Papier so luftig und dünn wie Goldschaum, um damit an Raum und Gewicht zu sparen. Während die Postkutsche innerhalb vierundzwanzig Stunden hundert bis hundertfünfundzwanzig Meilen zurücklegte, machte der Ponyreiter etwa zweihundertfünfzig in derselben Zeit.

Ungefähr achtzig Ponyreiter saßen beständig im Sattel, Nacht und Tag, und bildeten eine lange, durch weite Strecken unterbrochene Linie vom Missouri bis nach Kalifornien; vierzig derselben flogen gen Osten und ebenso viele gen Westen, und vierhundert feurige Pferde verdienten sich unter diesen Reitern mit Anspannung aller Kräfte ihr Futter und bekamen dabei jeden Tag im Jahr ihr schönes Stück Gegend zu sehen.

Wir hatten von Anfang an den ungeduldigen Wunsch gehegt, einen Ponyreiter zu sehen, aber aus irgend welchem Grunde traf es sich stets, daß dieselben, mochten sie von hinten an uns vorbei oder uns entgegen kommen, während der Nacht vorüberschossen, so daß wir immer nur einen Husch und ein Hallo vernahmen und das flüchtige Wüstenphantom bereits entschwunden war, ehe wir den Kopf aus dem Fenster stecken konnten. Aber nun war jeden Augenblick einer zu erwarten, den wir bei hellem Tag zu sehen bekommen sollten. Eben ruft auch schon der Postillon: »Da kommt er!« Alle Hälse recken sich länger und alle Augen öffnen sich weiter. Weit weg jenseits der endlosen, toten Fläche der Prairie erscheint ein schwarzer Punkt am Himmelsrande, der sich sichtlich fortbewegt. Nun, und wie! Binnen einer oder zwei Sekunden wird Roß und Reiter daraus, auf und ab geht es, auf und ab – immer näher stürmt es auf uns zu – immer deutlicher wird es, immer schärfer umrissen – noch immer näher kommt es, und das Klappern der Hufe schlägt schwach an unser Ohr – noch ein Augenblick, und vom Dach unseres Wagens herab erschallt ein Hussa und Hurra, das der Reiter nur durch ein Winken mit der Hand erwidert, dabei sausen Roß und Reiter an unsern aufgeregten Blicken vorüber und fliegen wirbelnd dahin, wie ein verspätetes Herbstblatt im Sturm. So schnell geht alles, so ganz wie eine Geistererscheinung, daß wir ohne die Flocke weißen Schaums, die zitternd und zerfließend noch an einem der Postbeutel hing, nachdem die Erscheinung vorübergehuscht war, vielleicht allen Ernstes im Zweifel gewesen wären, ob wir überhaupt wirklich ein Pferd mit einem Reiter darauf gesehen.

Nun rasselten wir allmählich durch den Paß von Skotts Bluffs. Hier in der Gegend trafen wir irgendwo zum erstenmal auf echtes unverkennbares Alkaliwasser auf der Straße, das wir als eine Kuriosität ersten Ranges, die sich in den Briefen an die armen Ofenhocker zu Hause mit Eklat anbringen ließ, jubelnd begrüßten. Dieses Wasser ließ die Straße wie seifig erscheinen, und an vielen Stellen sah der Boden aus, als wäre er weiß getüncht. Ich glaube, das merkwürdige Alkaliwasser regte uns mindestens ebenso sehr auf, als irgend eines der Wunder, auf die wir zuvor gestoßen waren, und nachdem wir es in das Inventarium der Dinge aufgenommen, die wir gesehen hatten und andere Leute nicht, waren wir darüber voll selbstgefälliger Einbildung und sahen unser ganzes Lebensschicksal mit zufriedeneren Augen an als zuvor. Wir waren im kleinen ganz dieselben einfältigen Narren, wie die Leute, die unnötigerweise die gefährlichen Kuppen des Montblanc und Matterhorn erklettern ohne einen andern Genuß davon zu haben als das Bewußtsein, daß es keine gewöhnliche Leistung ist. Aber manchmal gleitet auch einer von diesen Bergfexen aus und saust auf dem Sitzfleisch die ganze Länge der Bergabhänge herunter, daß der gefrorene Schnee hinter ihm raucht, fliegt von Absatz zu Absatz, von Terrasse zu Terrasse, so daß er jedesmal den Boden aufwühlt an den Stellen, wo er aufschlägt; dann glitscht er abermals aus und fliegt weiter, wobei er sich alle Augenblicke einen Eiszapfen in den Leib rennt und seine Kleider in Fetzen reißt; indem er nach irgend einem Gegenstand hascht, um sich zu retten, hält er sich an Bäumen fest, die er dann samt den Wurzeln und allem sonstigen Zubehör mit sich fortreißt, bringt zuerst da und dort ein kleines Felsstück, dann immer stärkere Brocken, endlich ganze Eis- und Schneefelder und ganze Streifen Wald ins Rollen und sammelt auf seiner Fahrt immer mehr um sich an, bis er schließlich inmitten einer riesenhaften Masse an einem dreitausend Fuß tiefen Abgrunde anlangt, um unter stolzem Hutschwenken auf dem Rücken einer mächtig niederdonnernden Lawine der Ewigkeit zuzureiten!

Das ist alles recht schön, aber wir wollen uns nicht von der Aufregung hinreißen lassen, sondern uns in aller Ruhe die Frage vorlegen, wie es wohl so jemand am Tage nachher bei kühlerem Blute zu Mut ist, wenn er sechs oder siebentausend Fuß tief unter Schnee und Geröll begraben liegt?

Wir fuhren jetzt über die Sandhügel hin, in deren Nähe im Jahre 1856 der Überfall der Post und das Blutbad durch die Indianer stattfand, wobei der Postillon und der Kondukteur sowie sämtliche Fahrgäste bis auf einen einzigen umgekommen sein sollen; letzteres muß übrigens auf Irrtum beruhen, denn ich habe in der Folge zu verschiedenen Zeiten an der Küste des stillen Ozeans mit vielleicht hundertdrei- oder vierunddreißig verschiedenen Leuten Bekanntschaft gemacht, die alle bei dem Blutbad verwundet worden und kaum mit dem Leben davon gekommen waren. Ein Zweifel an der Wahrheit war in keinem dieser Fälle möglich, – ich hatte es jedesmal aus des Betreffenden eigenen Munde. Einer der Herren erzählte mir, er sei nahezu sieben Jahre lang nach dem Blutbad immer noch auf Pfeilspitzen in seinem Körper gestoßen, und ein anderer berichtete, er sei dermaßen mit Pfeilen gespickt gewesen, daß er nach dem Abzug der Indianer, als er wieder auf die Beine gekommen und sich habe betrachten können, die Thränen nicht zurückzuhalten vermocht habe, – sein Anzug sei nämlich gänzlich zu Grunde gerichtet gewesen.

Die glaubwürdigste Überlieferung versichert, es habe nur ein Mann Namens Babbitt das Blutbad überlebt, und zwar mit einer lebensgefährlichen Verwundung. Auf den Händen und dem einen Knie (sein eines Bein war gebrochen) schleppte er sich mehrere Meilen weit bis an eine Station. Er vollbrachte dies stückweise in zwei aufeinanderfolgenden Nächten, wobei er sich einen Tag ganz und den andern zum Teil versteckt hielt und über vierzig Stunden lang durch Hunger, Durst und Schmerzen unbeschreibliche Qualen litt. Die Indianer plünderten die Post vollständig aus, wobei ihnen ein nicht unbedeutender Betrag an Wertsachen und Geld in die Hände fiel.

  1. Diese, wie so manch andere Figur, welche Mark Twain in diesem Buche schildert, hat Buffalo Bill mit seiner Truppe den Europäern anschaulich vorgeführt. Der Herausg.

Neuntes Kapitel.

Neuntes Kapitel.

Nachts kamen wir durch Fort Laramie und am siebenten Morgen unserer Fahrt befanden wir uns in den Schwarzen Bergen, wo – scheinbar dicht neben uns – der Laramie Peak in gewaltiger Einsamkeit aufstieg; in tiefem dunklem vollem Indigoblau starrte uns der alte Koloß unter den seine Stirn umschattenden Gewitterwolken hervor mächtig entgegen. In Wirklichkeit war er dreißig oder vierzig Meilen weit weg, aber es schien, als stünde er nur ein kleines Stück hinter dem niedrigen Höhenzug zu unserer Rechten. Das Frühstück nahmen wir an der Horseshoe-Station ein, sechshundertsechsundsiebzig Meilen von St. Joseph entfernt. Wir waren jetzt auf feindliches Indianergebiet gekommen und fuhren am Nachmittag an der Laparelle-Station vorbei, in deren Nähe es uns fortwährend recht unbehaglich zu Mute war; wußten wir doch, daß oft hinter einem der Bäume, an denen wir auf Armeslänge vorüberfuhren, ein oder zwei Indianer auf der Lauer standen. Gerade die Nacht vorher hatte ein Wilder aus dem Hinterhalt dem Ponyreiter eine Kugel durch die Jacke gejagt; dieser war aber trotzdem ganz ruhig weiter geritten, denn ein Ponyreiter darf sich mit der Untersuchung eines derartigen Vorkommnisses nur in dem Fall aufhalten, daß er totgeschossen wird. So lange er noch lebendig genug war, hatte er am Pferde festzukleben und weiter zu reiten. Vielleicht zweieinhalb Stunden vor unserer Ankunft an der Laparelle-Station hatte der dortige Wirt viermal auf einen Indianer gefeuert, allein dieser sei, fügte er mit gekränkter Miene hinzu, »so flink herumgetanzt, daß er ihm alles verdorben habe – und dabei sei die Munition so verteufelt rar.« Offenbar wollte er durch diese Ausdrucksweise andeuten, der Indianer habe sich mit seinem ›Herumtanzen‹ einen unerlaubten Vorteil verschafft. Unser Postwagen hatte – als Andenken an seine letzte Fahrt durch diese Gegend – im Vorderteil ein allerliebstes Loch. Die Kugel, von der es herrührte, hatte den Postillon gestreift, allein dieser machte sich nicht viel daraus. Er meinte, die richtige Gegend, um einen ›dickköpfig‹ zu machen, sei die südliche Überlandroute gewesen durch das Apachengebiet, ehe die Gesellschaft die Linie weiter nach Norden verlegt habe. Die Apachen hätten ihm die ganze Zeit da unten keine Ruhe gelassen, so daß er nahe daran gewesen sei, mitten im Überfluß Hungers zu sterben, denn sie hätten ihn mit Kugeln durchlöchert wie ein Sieb, so daß er »seine Nahrung nicht mehr habe bei sich behalten können« – eine Schilderung, die keinen ausnahmslosen Glauben fand.

In dieser ersten Nacht auf feindlichem Indianergebiet zogen wir die Vorhänge möglichst dicht zu und legten uns am unsere Waffen. Manchmal schliefen wir auf denselben ein, meist aber lagen wir bloß darauf. Wir sprachen nicht viel, sondern hielten uns still und lauschten. Es war eine rabenschwarze, zeitweise regnerische Nacht. Wir steckten dermaßen zwischen lauter Wäldern, Felsen, Hügeln und Abgründen drin, daß wir beim Hinausschielen durch einen Schlitz in einem der Vorhänge schlechterdings nichts zu unterscheiden vermochten. Postillon und Kondukteur saßen ebenfalls stumm auf ihrem Bock oder sprachen höchstens in langen Zwischenräumen und mit gedämpfter Stimme, wie man zu thun pflegt, wenn man sich von unsichtbarer Gefahr umgeben weiß. Wir hörten dem Regen, der auf das Wagendach herabtropfte, dem Knirschen der Räder in dem kotigen Kies und dem dumpfen Heulen des Windes zu, und dabei wurden wir die ganze Zeit über die unsinnige Vorstellung nicht los, die mit einer nächtlichen Fahrt in dichtverhängtem Fuhrwerk stets untrennbar verbunden ist, daß wir nämlich unverrückt auf der Stelle stehen blieben trotz allem Stoßen und Schaukeln des Wagens, dem Trappeln der Pferde und dem Knarren der Räder. Lange horchten wir mit Anspannung aller Sinne und mit zurückgehaltenem Atem; wollte dann einer von uns erlahmen und mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung ein paar Worte reden, so stieß gewiß einer der Gefährten plötzlich ein ›Horcht!‹ hervor, worauf der Betreffende augenblicklich wieder starr dasaß und horchte. So schleppten sich die Minuten und Viertelstunden in ermüdendem Gange hin, bis zuletzt unsere angespannten Glieder von einer dumpfen Betäubung ergriffen wurden und wir einschliefen – woferne man unsern Zustand mit diesem starken Ausdruck bezeichnen darf; denn es war ein Schlaf mit dem Finger am Drücker der Pistole; ein Schlaf, in welchem die Fetzen und Bruchstücke unheimlicher ängstlicher Träume durcheinander wirbelten – das reinste Chaos. Plötzlich wurden Träume und Schlaf samt der düsteren nächtlichen Stille durch einen lauten Knall verscheucht, dem ein langer wilder Todesschrei folgte! Dann hörten wir nur zehn Schritt weit vom Wagen rufen:

»Hilfe! Hilfe! Hilfe!« Es war die Stimme des Postillons.

»Schlagt ihn tot, schlagt ihn tot wie einen Hund!«

»Man will mich umbringen! Leiht mir denn niemand ein Pistol?«

»Seht euch vor! Wehrt ihn ab, wehrt ihn ab!«

(Dann zwei Pistolenschüsse; Stimmengewirr und ein Getrappel, wie wenn sich eine Menschenmenge um etwas drängt; mehrere schwere dumpfe Schläge wie mit einer Keule; dann eine flehende Stimme: »Lassen Sie mich, meine Herren, ach, lassen Sie mich – ich bin ja schon tot!« Nun ein schwächeres Stöhnen und noch ein Schlag, und fort jagte die Post in die finstere Nacht hinein und ließ das gräßliche Geheimnis hinter uns.)

Was für ein Schreck das war! Kaum acht Sekunden, vielleicht nur fünf, hatte der ganze Auftritt in Anspruch genommen. Wir hatten nur Zeit, an einen der Vorhänge zu stürzen und ihn in ungeschickter, verwirrter Hast teilweise loszuschnallen und aufzuknüpfen, als ein scharfer Peitschenknall über unsern Köpfen erklang und wir mit Donnergepolter einen Berggrat hinabrollten. Die ganze Nacht vollends lebten wir von diesem Geheimnis – sie ging übrigens bereits rasch ihrem Ende zu. Ein Geheimnis mußte es vorerst noch bleiben, denn alles, was wir vom Kondukteur als Antwort auf unsere Zurufe bekommen konnten, klang durch das Klappern der Räder hindurch ungefähr wie: »Erzähl‘ es Ihnen morgen früh!«

So steckten wir denn unsere Pfeifen an, stellten in einer Ecke oben am Vorhang eine Abzugsöffnung für den Rauch her und ein jeder erzählte dann, während wir im Flüstern dalagen, wie es ihm zu Mute gewesen, wie viele Indianer seiner ersten Vorstellung nach auf uns losgestürzt seien, welcher darauffolgenden Laute er sich erinnern könne und wie dieselben der Zeit nach auf einander gekommen seien. Wir schmiedeten auch Hypothesen, doch waren wir nicht imstande, eine aufzutreiben, die es uns erklärt hätte, daß wir unsern Postillon abseits vom Wagen hatten sprechen hören, und daß die indianischen Mordgesellen ein so gutes Englisch gesprochen hatten, vorausgesetzt, daß es überhaupt Indianer gewesen.

So schwatzten und rauchten wir den Rest der Nacht vollends gemütlich durch; unsere ahnungsvolle Ängstlichkeit war nämlich auf einmal ganz merkwürdig verflogen, seit wir einen wirklichen Anlaß zum Schrecken hatten.

Einen völlig befriedigenden Aufschluß über den geheimnisvollen Vorgang erhielten wir niemals. Alles, was wir uns aus den stückweisen, abgerissenen Mitteilungen, die wir am Morgen erhaschten, zusammenzureimen vermochten, war, daß der Auflauf an einer Station stattfand, wo die Postillone wechselten, und daß der abgehende Postillon über irgend einen der Galgenvögel, die die dortige Gegend unsicher machten, (wie unser Kondukteur meinte, gab es nämlich dort herum keinen einzigen Menschen, auf dessen Kopf nicht ein Preis gesetzt gewesen wäre und der sich in den Ansiedelungen hätte sehen lassen dürfen) sich rücksichtslos geäußert hatte.

»Er hatte sein Maul gehen lassen über diese Kerle und hätte deshalb beim Anfahren das Pistol mit gespanntem Hahn neben sich hinlegen sollen und zuerst anfangen zu schießen; denn das mußte ja jeder Schafskopf wissen, daß sie ihm auflauern würden.«

Dies war alles, was wir herausbekommen konnten, und wir sahen wohl, daß weder der Postillon noch der Kondukteur viel Aufhebens von der Sache machten. Offenbar hatten sie keine große Achtung vor jemand, der sich beleidigend über die Leute äußerte und dann einfältig genug war, ihnen unter die Augen zu treten, ohne ›zur Vertretung seiner Meinung‹ bereit zu sein – mit diesem zarten Ausdruck bezeichneten sie das Niederschießen jedes beliebigen Nebenmenschen, dem jene Meinung nicht behagte. Und desgleichen flößte ihnen der Unverstand des Mannes, der es wagen konnte, den Grimm solcher Bestien wie dieser Auswurf der Gesellschaft, zu reizen, offenbar Geringschätzung ein, und der Kondukteur setzte zum Schluß noch hinzu:

»Ich sage Ihnen, das heißt ja sich gerade so viel getrauen, wie wenn er Slade selber wäre.«

Diese Bemerkung gab meiner Neugier eine völlig neue Richtung. Ich kümmerte mich nicht mehr um die Indianer und hatte selbst für den ermordeten Postillon kein Interesse mehr. Eine solche Zauberkraft lag in dem Namen Slade! Tag und Nacht war ich von nun an stets bereit, jeden Gesprächsgegenstand ohne weiteres fallen zu lassen, um einem neuen Bericht über Slade und seine furchtbaren Thaten zu lauschen. Schon vor unserer Ankunft in Overland City hatten wir von Slade und seiner Abteilung (er war nämlich Abteilungsagent der Überlandpost) vernommen, und seit unserer Abfahrt von dort drehte sich die Unterhaltung unserer Postillone und Kondukteure nur noch ausschließlich um dreierlei: Kalifornien, die Silbergruben in Nevada und diesen verzweifelten Gesellen Slade. Und dabei nahm dieser letztere den breitesten Raum ein. Wir waren allmählich zu der unerschütterlichen Überzeugung gelangt, daß Slade ein Mensch war, der Herz, Hände, ja seine ganze Seele in das Blut eines jeden tauchte, der seinem Selbstbewußtsein zu nahe trat; ein Mensch, der für Beleidigungen, Kränkungen, Schmähungen oder Geringschätzung irgend welcher Art furchtbare Rache nahm – wenn möglich auf der Stelle, aber auch nach Jahr und Tag erst, falls es sich nicht früher schicken wollte; ein Mensch, dem der Haß Tag und Nacht keine Ruhe ließ, bis er seine Rache gesättigt hatte – und zwar genügte ihm dazu nur eines: des Feindes unbedingter Tod – nichts Geringeres; ein Mensch, dessen Züge in schrecklicher Freude aufleuchteten, wenn er einen Feind überraschte und sich im Vorteil demselben gegenüber befand. Ein hoher und tüchtiger Angestellter der Überlandpost, selbst zum Auswurf der Gesellschaft gehörig und trotzdem die unbarmherzige Geißel dieses Gesindels, war Slade zugleich der blutigste, gefährlichste und wertvollste Bürger, den die wilden Felsennester des Gebirges beherbergten.

Knabenjahre am Mississippi

Knabenjahre am Mississippi

Als ich ein Knabe war, gab es unter meinen Kameraden in unserem Heimatsort am westlichen Ufer des Mississippi nur einen beständigen Ehrgeiz. Es war der: ein ›Dampfbootmann‹ zu werden. Wohl hatten wir hin und wieder flüchtige Begierden anderer Art, aber sie waren nur vorübergehend. Wenn ein Zirkus erschien und wieder davon zog, so brannten wir eine Zeitlang nach der Lebensstellung eines Clowns. Die erste Negerminstrel-Gesellschaft, welche in unsrer Gegend auftauchte, erweckte die Begierde in uns, es mit diesem Beruf zu versuchen. Und es gab sogar Zeiten, in denen wir ernstlich hofften, Gott würde uns, wenn wir gesund und am Leben blieben, Seeräuber werden lassen. Aber alle diese Wünsche und Träume zerrannen wieder, wie sie gekommen waren. Nur der Ehrgeiz, ein Dampfbootmann zu werden, blieb fest in unsren Seelen.

Einmal an jedem Tag kam ein kleines Packboot stromaufwärts von St. Louis, ein anderes thalabwärts von Keokuk, und legten jedesmal bei unserm Städtchen an. Ehe sich dieses Doppelereignis vollzogen hatte, war alles Leben und Erwartung. Sobald es vorüber war, wurde der Tag öde und leer. Noch heute, nach Verlauf all der Jahre, kann ich mir ein getreues Bild von damals machen: die weißen, im Sonnenschein eines heißen Sommermorgens träumenden Häuser; die Gassen öde oder doch nahezu so; vor den Läden der Uferstraße ein oder zwei Commis, die auf ihren hintenüber an die Wand gelehnten Holzstühlen eingeschlafen waren – das Kinn auf der Brust, den Schlapphut tief über das Gesicht gezogen – rings herum eine Menge Holzschnitzel und Spähne, die über den Zeitvertreib, welcher sie derartig erschöpft hatte, keinen Zweifel ließen; auf dem Seitenweg spazierte ein Mutterschwein mit seinen Jungen und thaten sich an Abfällen von Wassermelonen gütlich; am Landungsplatz lagen zwei oder drei Haufen von Frachtstücken und ein Ballen Häute umher, in deren Schatten der alkoholduftende Trunkenbold des Ortes seinen Morgenrausch verschlief; am Ende der Landungsbrücke schaukelten ein paar Flachboote auf dem Wasser, aber nirgends war eine Menschenseele, um dem leisen Getön der anschlagenden Wellen zu lauschen; und endlich der große und majestätische Mississippi mit seiner meilenbreit in der Sonne leuchtenden Flut, den dichten Waldungen des entgegengesetzten Gestades und seinen Landzungen oberhalb und unterhalb des Städtchens, wodurch er den Blick begrenzt und wie ein stiller und großartiger See erscheint. Plötzlich steigt ein schwarzes Rauchwölkchen hinter einer jener fernen Landzungen empor und ein farbiger Lastträger, weit berühmt durch sein scharfes Auge und seine Stentorstimme, stößt den Ruf aus: »D-a-mpf-b-o-o-t k-o-mmt«, und wie mit einem Zauberschlag ist die Szene verwandelt! Der Ortstrunkenbold reibt sich die Augen; die Ladendiener erwachen; Wagenrasseln und Karrenrollen ertönt; jedes Haus und jeder Laden entsendet einen Beitrag in Menschengestalt zu dem plötzlich das Ufer erfüllenden Leben, und im Handumdrehen ist das ganze Städtchen, eben noch Schlaf und Tod, ganz und gar Leben und Bewegung. Lastwagen, Schubkarren, Packträger, Arbeiter, Männer und Knaben hasten und eilen von allen Seiten her nach dem gemeinsamen Ziel des Landungsplatzes. Dort angelangt heften sich alle Blicke auf das herandampfende Boot, als wäre es ein Wunder, das sich ihnen zum erstenmale enthüllt. Und es ist auch thatsächlich ein wunderhübscher Anblick – dieses Boot, wie es scharf, sicher und selbstbewußt einherbraust. Es hat zwei hohe, oben verzierte Rauchfänge, zwischen denen ein goldenes Emblem in der Sonne glitzert; das ganz aus Glas und zierlichem Holzwerk bestehende Pilotenhäuschen ragt vom obersten Deck wie ein Zuckerbäckerkunstwerk empor; die Radkasten tragen die Namen des Bootes inmitten eines goldenen Strahlenkranzes; die verschiedenen Decks sind von sauberen weißen Geländern eingefaßt; vom Flaggenstock flattert grüßend eine prächtige Flagge hernieder; die Thüren des Heizraumes sind weit geöffnet, und die Feuer glühen lustig; die oberen Decks sind ganz schwarz voll Passagiere; der Kapitän steht oben neben der großen Glocke, stattlich und ruhig – die Bewunderung und der Neid aller; große, schwarze Massen chaotischen Rauches quellen aus den Schornsteinen – ein billiges Schauspiel, das von den Heizern dadurch hervorgebracht wurde, daß sie kurz vor der Ankunft an einem Halteplatz ein Stück harziges Pitch-Pine (das amerikanische Tannenholz) in die Feuer warfen; die Mannschaft ist auf dem Vorderdeck gruppiert; die Landungsbrücke ragt über die Seite des Boots hervor, und der beneidenswerteste aller Matrosen steht, das Ende eines dicken Taues in der Hand, malerisch und weithin sichtbar auf ihr. Jetzt tönt ein lautes Schrillen aus dem kleinen Dampfrohr, der Kapitän hebt die Hand, eine Glocke läutet, die Räder stoppen, dann schlagen sie rückwärts, das Wasser zu Schaum peitschend, und der Dampfer steht regungslos. Nun entsteht ein toller Wirrwarr, indem die einen ans Land, die andern an Bord drängen, und gleichzeitig die Frachtstücke eingeladen und ausgeladen werden; – dazwischen schreit und flucht die Mannschaft, um sich die Arbeit zu erleichtern. Zehn Minuten später, und alles ist vorüber; der Dampfer ist wieder in Fahrt; schon treibt er mitten im Strom dahin, ohne Flagge am Stock und ohne das Schauspiel qualmender Schornsteine. Nach abermals zehn Minuten verschwindet er hinter der entgegengesetzten der beiden Landzungen, und der Ort ist in seine alte Totenstille und der Ortstrunkenbold in seinen Schlummer neben den Häuten zurückgesunken.

Mein Vater war Friedensrichter des Städtchens und ich glaubte nicht anders, als daß er Gewalt über Leben und Tod aller übrigen Menschen besaß, und jeden, der ihn ärgerte, hängen lassen konnte. Das war genug, um mein Selbstgefühl zu befriedigen, aber der Wunsch, ein Dampfbootmann zu werden, machte sich trotzdem mit immer wachsender Stärke geltend. Zuerst wünschte ich Kajütsjunge zu werden, damit ich beim Anlegen des Bootes in einer weißen Schürze erscheinen und ein Tafeltuch über das Geländer hinweg ausschütteln konnte, wo mich alle meine früheren Kameraden sehen konnten. Später hielt ich es für begehrenswerter, der Matrose zu sein, welcher bei Ankunft des Dampfers mit dem Tau in der Hand auf dem Ende des vorgeschobenen Landungssteges steht, weil derselbe ganz besonders auffällt. Aber das waren nur Träume – zu himmlisch, um auch nur ferne die Annahme, daß sie je Wahrheit werden könnten, aufkommen zu lassen.

Eines Tages verschwand einer unserer Kameraden in der geheimnisvollsten Weise. Wochen und Monate hörte man nichts von ihm. Endlich sahen wir ihn wieder – sahen ihn wieder als Maschinistengehilfen auf einem Dampfboot! Dieser Vorfall schlug das ganze Gebäude meiner in der Sonntagsschule erworbenen Moral in Trümmer. Jener Knabe war von jeher ein notorisches Weltkind gewesen – während ich das gerade Gegenteil war. Und doch hatte ihn das Schicksal so hoch gehoben – während es mich in Dunkelheit und Jammer schmachten ließ. Er trug sein Glück und seine Größe ziemlich protzig zur Schau. Er wußte es stets so einzurichten, daß er, während sein Boot anlegte, irgend etwas zu putzen hatte, und dann stellte er sich gerade so zu seiner Arbeit, daß wir ihn alle sehen und beneiden konnten. Und allemal, wenn sein Boot bis zum nächsten Tage rastete, besuchte er seine Eltern und stolzierte in der Stadt herum in seinen schwärzesten und fettigsten Kleidern, so daß es absolut niemandem entgehen konnte, daß er ein Dampfbootmann sei. Zu gleicher Zeit bediente er sich in seiner Ausdrucksweise mit besonderem Fleiß allerlei technischer, auf Dampfschiffen gebräuchlicher Bezeichnungen und Redewendungen, als sei er so daran gewöhnt, daß er an die gewöhnlichen Menschen, welche nichts davon verstanden, gar nicht dachte. Er konnte von der ›Backbordseite‹ eines Pferdes in einer so ungezwungenen und natürlichen Weise sprechen, daß er den Gutmütigsten von uns wütend machte. Und dann schwatzte er immer von ›Saint Lu–u–y‹, mit einer Betonung, als wäre er einer der ältesten Bewohner jener wundervollen Stadt, und erzählte von dem letzten Feuer daselbst, welches er hatte löschen helfen, und rechnete uns vor, wie vielemale unsre Stadt abbrennen müßte, ehe wir den Ruhm einer solchen Feuersbrunst in Anspruch nehmen dürften. Zwei oder drei von uns hatten sich lange eines besonderen Ansehens erfreut, weil sie einmal in St. Louis gewesen waren und eine vage Idee von seinen Wundern hatten – aber mit ihrem Glanze war es nun aus und vorbei. Sie verfielen in demütiges Stillschweigen und suchten sich zu drücken, so oft der widerwärtige ›Maschinistenaffe‹ erschien. Und nicht genug damit, der Bursche hatte auch Geld und Haaröl dazu. Selbst eine höchst anmaßliche Silberuhr mit einer ganz unleidlich blitzenden Tombakkette besaß er. Hosenträger verachtete er und trug statt ihrer einen ebenso albernen wie auffallenden Lederriemen. Wenn je ein junger Mensch von seinen Kameraden bewundert und gehaßt wurde, so war es dieser. Kein Mädchen konnte ihm widerstehen. Er stach jeden Burschen im Orte aus. Als endlich sein Boot in die Luft flog, erfüllte dies unsre Gemüter mit einer stillen Freude und einer Beruhigung, wie wir sie seit Monaten nicht gekannt hatten. Als er aber eine Woche danach wieder leibhaftig im Städtchen ankam, und über und über mit Pflastern und Binden bedeckt am Sonntag in der Kirche erschien, ein strahlender Held, angestarrt und angestaunt von jedermann: da schien es uns denn doch, als habe die Parteilichkeit der Vorsehung für ein unwertes Reptil einen Grad erreicht, daß die übrige Menschheit zur Kritik herausgefordert wurde.

Das Leben und die Laufbahn dieses Geschöpfes konnte nur eine Folge haben, und dieselbe ließ nicht lange auf sich warten. Knabe um Knabe ging auf den Fluß! Der Sohn des Geistlichen wurde Maschinist; die Söhne des Doktors und des Postmeisters erlangten Stellungen als Gepäck- und Frachtschreiber. Der des Spirituosenhändlers brachte es zum Schenkwirt auf einem Missouriboot. Die vier Jungen des Hauptellenwarenhändlers des Ortes und die zwei des Bezirksrichters endlich wurden Lotsen. Lotsen war das Höchste von allem. Selbst in jenen Zeiten der Sparsamkeit und der geringen Bezahlungen erhielt ein Lotse einen fürstlichen Gehalt: hundertfünfzig bis zweihundertfünfzig Dollars den Monat und alles frei. Zwei Monate seines Einkommens kamen dem Jahresgehalt eines Geistlichen gleich! Man denke sich die Verzweiflung derer von uns, die zurückbleiben mußten, die nicht – wenigstens nicht mit dem Willen ihrer Eltern – auf den Fluß durften!

Und so geschah es denn eines Tages – daß ich durchging! Ich schwur mir zu, niemals zurückzukehren, außer als Lotse und in vollster Glorie. Aber wie ernst ich es auch meinte – es wollte und sollte mir damit nicht glücken. Ich machte in aller Bescheidenheit meine Aufwartung an Bord verschiedener Dampfer, welche, Sardinen gleich zusammengeschichtet, längs der Werft von St. Louis lagen und erkundigte mich demütig nach den Lotsen; wurde aber von den Matrosen und sonstigen Angestellten kurz und kühl abgewiesen. Wohl oder übel mußte ich mir diese Behandlung gefallen lassen und tröstete mich mit den Bildern einer besseren Zukunft, wenn ich ein großer und berühmter Lotse sein würde, mit Geld genug, um einem Heer von diesen Matrosen und Schreibern den Garaus zu machen und den Schaden zahlen zu können.

Drei Monate später – und diese und ähnliche Hoffnungen hatten den Todeskampf in mir gekämpft. Ich erwachte eines Morgens ohne irgend einen Ehrgeiz, aber ich schämte mich, nach Hause zurückzukehren. Ich befand mich gerade in Cincinnati und entschloß mich, an die Wahl eines neuen Lebensberufes zu gehen. Der Zufall wollte, daß ich kurz vorher von den neuesten Entdeckungen im Gebiet des Amazonenstromes durch eine von unsrer Regierung dahin entsendete Erforschungsexpedition gelesen hatte. Es war darin gesagt, daß infolge gewisser unüberwindlicher Schwierigkeiten ein Teil des fraglichen Gebietes, der an den Quellen des Stromes etwa 4000 Meilen von seiner Mündung entfernt lag, unerforscht hatte bleiben müssen. Von Cincinnati nach New-Orleans war es nicht ganz fünfzehnhundert Meilen. Ich hoffte bestimmt, dort ein Schiff zu finden, um damit den Rest der acht- bis zehntausend Meilen nach den Quellen des Amazonenstromes zurückzulegen. Ich hatte gerade noch dreißig Dollars übrig – was konnte ich Besseres damit thun, als hingehen und die Erforschung des Amazonenstromgebietes vollenden? Weitere Gedanken machte ich mir bei der Sache nicht. Es ist nie meine Stärke gewesen, mich mit Kleinigkeiten und Einzelheiten abzugeben. Ich packte meinen Handkoffer und nahm auf einem der ältesten ›Kasten‹, der den Ohio und Mississippi damals unheimlich machte, dem ›Paul Jones‹, Passage nach New-Orleans. Für den Betrag von sechzehn Dollars hatte ich den Vorteil, alleiniger Inhaber der verwitterten und abgeschabten Pracht des ›Hauptsalons‹ zu sein, da das Boot jeden Vorzug der Welt besaß, nur den nicht, anspruchsvollere oder weisere Reisende anzuziehen.

Als wir nun den breiten und grünen Ohio hinabkeuchten, wurde ich plötzlich ein neues Wesen und der Gegenstand meiner eignen Bewunderung. Ich war ein Reisender! Nie schien mir ein Wort in meinem Munde einen so wundervollen Klang gehabt zu haben. Ich hatte ein überströmendes Gefühl, ein schwellendes Bewußtsein in mir, mich auf dem besten Wege nach den geheimnisvollsten Ländern, nach den entlegensten Klimaten zu befinden, – ein Gefühl und ein Bewußtsein, wie ich sie seitdem nie wieder gehabt habe. So erhebend und verklärend waren beide, daß alles unedle Fühlen von mir wich, und ich es sogar über mich vermochte, auf die nicht reisende Welt mit einem Mitleid herabzublicken, welches durch keine Beimischung von Verächtlichkeit entadelt wurde. Dennoch konnte ich es mir nicht versagen, wenn wir an kleinen Städtchen und sonstigen Uferplätzen anlegten, mich nachlässig über das Geländer des obern Decks zu lehnen und mich in dem Neide zu sonnen, den ich der am Landungsplatz versammelten Jugend einflößte. Schien es mir, als ob sie mich nicht entdecken wollte, so hustete ich wohl oder schneuzte mich mit möglichster Deutlichkeit, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen, oder suchte mir einen Platz aus, wo nichts sie davor retten konnte, mich zu sehen. Und sobald sie mich sahen, begann ich zu gähnen, mich zu dehnen und zu räkeln, mit einem Wort in allen jenen Kundgebungen zu ergehen, durch die ein Reisender seine Ermüdung und seinen Widerwillen gegen das Reisen zu erkennen zu geben pflegt.

Gleichzeitig hatte ich es mir zur Regel gemacht, barhaupt einherzugehen und mich möglichst an Plätzen aufzustellen, wo Sonne, Wind und Wetter uneingeschränkte Verfügung über mein Gesicht hätten – alles nur, um das Ansehen eines echten, bronzierten, verwitterten Reisenden zu bekommen. Und in der That, ehe der zweite Tag vorüber war, empfand ich eine Genugthuung, die mich ganz und gar mit Seligkeit erfüllte, denn ich bemerkte, daß meine Haut am Hals und im Gesicht sich abzuschälen begann. Ich wollte nur, die Knaben und Mädchen in meiner Heimat hätten mich jetzt sehen können.

Wir kamen rechtzeitig nach Louisville – oder doch wenigstens in die Nähe, gerieten aber auf die mitten im Fluß befindlichen Felsen und blieben hier so fest sitzen, daß wir erst nach vier Tagen weiter kamen. Was mich anbelangt, so erweckten die gemeinsam überstandenen Schwierigkeiten und Gefahren ein ebenso unwillkürliches wie starkes Gefühl der Zugehörigkeit zu dem Fahrzeug und der auf ihm heimischen Personen in mir. Ich kam mir wie eine Art Sohn des Kapitäns oder ein jüngerer Bruder der Offiziere vor, und vergebens würde ich mich bemühen, dem Stolz Worte zu leihen, der ob dieser eingebildeten Würde mein Herz schwellte, oder die Hingebung zu schildern, die mich an diese Menschen kettete. Allerdings wußte ich damals noch nicht, welche geringe Wertschätzung der flußbeherrschende Dampfbootsmann für derartige Empfindungen einer anmaßenden Landratte zu hegen pflegt! Nur zu bald sollte ich es erfahren.

Vor allen Dingen war es der riesige erste Steuermann, von dem ich um’s Leben gern irgend ein geringes Zeichen der Beachtung erhalten hätte. Mit ängstlicher Aufmerksamkeit lauerte ich auf die Gelegenheit, durch eine kleine Gefälligkeit oder einen Dienst mir diese Gunst des Schicksals zu gewinnen. Endlich bot sie sich dar. Unter dem bei dergleichen Anlässen üblichen Spektakel wurde eine neue Spiere (Ladebaum) auf dem Vorderdeck angebracht. Ich stand in bescheidener Zurückhaltung in der Nähe und sah zu, als plötzlich der Steuermann nach einer Handspake rief. Im Nu war ich an seiner Seite: »Sagen Sie nur, wo sie ist, und ich hole sie.« Wenn ein Lumpensammler der New-Yorker Waterstreet sich plötzlich dem Kaiser von Rußland zu einer diplomatischen Sendung zur Verfügung stellen würde, so könnte dieser in kein größeres Erstaunen versetzt werden, als mein riesiger Steuermann durch mein kleines Anerbieten, ihm die Handspake zu holen. Sogar sein Fluch blieb ihm in der Kehle stecken. Er stand regungslos und starrte zu mir nieder. Mindestens zehn Sekunden kostete es ihm, bis er seine gebannten Geister wieder gesammelt hatte. Dann stieß er mit einem mir unvergeßlichen Ausdruck die Worte hervor: » Well, wenn das nicht über den Teufel geht –«, und machte sich wieder an die Arbeit mit der Miene eines Mannes, dem eben etwas ganz Besonderes in die Quere gekommen war.

Ich schlich mich hinweg und begrub mich für den Rest des Tages in die Einsamkeit meiner Koje. Ich ging nicht zum Mittagessen, und selbst am Abendtisch erschien ich erst, als alle übrigen längst fertig waren. Mein Zugehörigkeitsgefühl zu der Schiffsfamilie war jetzt lange nicht mehr so stark wie vordem. Erst allmählich kehrte mein Mut und mein Selbstvertrauen wieder zurück. Es that mir leid, daß ich gegen den Steuermann mit so bitterem Haß erfüllt war, denn man konnte nicht anders als ihn bewundern. Er war sechs Schuh hoch und hatte die Kraft eines Stiers. Sein Gesicht war ganz und gar bärtig. Auf seinem rechten Arm war eine rote und eine blaue Frau tättowiert, jede mit einem blauen, an rotem Seile hängenden Anker zur Seite. Und endlich war er die Vollkommenheit selbst im Fluchen. Wenn unter seiner Aufsicht Ladung gelöscht oder eingenommen wurde, so stellte ich mich immer so, daß ich alles hören und sehen konnte. Er fühlte die ganze Größe seiner Stellung und versäumte auch keine Gelegenheit, sie der Welt fühlbar zu machen. Selbst den einfachsten Befehl erteilte er, als gelte es, einen plötzlichen Blitz zu schleudern und mit einem lange anhaltenden Donner von Verwünschungen zu begleiten. Man konnte nicht umhin, die Art und Weise, in der eine gewöhnliche Landratte einen Befehl erteilen würde, mit der Großartigkeit, mit der dieser Steuermann es that, zu vergleichen. Eine Landratte, die den Landungssteg um einen oder zwei Fuß weiter vorangeschoben haben wollte, würde sich etwa wie folgt ausgedrückt haben: »James oder William – sei einer von euch so gut, das Brett da vorzuschieben!« Mein Steuermann dagegen ließ aus derselben Veranlassung den folgenden Wortkatarakt los: »Hier, Jungens, das Gangbrett voran! Verd–t noch einmal, vorwärts – sag‘ ich. Was sagt er? Haut ihn auf den Schnabel! Hierher – hier! So, Jungens, – noch ein Stück, – noch eins! Verwünscht, Herr, wollen Sie auf dem Brett einschlafen – oder darauf wohnen bleiben? Weiter nach hinten, sag‘ ich. Genug so! Oder soll es gleich hinten über Bord, he? Wohin geht ihr mit dem verd–ten Faß da? Wenn ihr nicht gleich macht, daß ihr mir damit aus den Augen kommt, laß‘ ich’s euch gleich verschlucken oder ich will des Teufels sein, ihr verd–es Zwitterding von Schildkröte und lahmem Esel!«

Und da sollte man dabeistehen und nicht von dem Wunsch verzehrt werden, ebenso sprechen zu können?!

Als sich meine Beschämung und mein Kummer über das Abenteuer mit dem Steuermann etwas zu legen begonnen, richteten sich meine Blicke auf den letzten und bescheidensten Angestellten des Bootes, den Decknachtwächter, und ich beschloß, wenigstens mit diesem ein persönliches Verhältnis zu erzwingen. Zwar wies auch er meine Annäherungsversuche zuerst in der unfreundlichsten Art zurück, als ich ihm jedoch eine neue Thonpfeife schenkte, wurde er weicher. Erst erlaubte er mir, mit ihm auf dem Sturmdeck bei der großen Glocke zu sitzen, dann schmolz seine Zurückhaltung in zusammenhanglos hingeworfene Worte, und endlich schlossen sich diese zu einer vollständigen Unterhaltung zusammen. Es blieb ihm wohl nichts anderes übrig. Ich hing mit solcher Hingebung an seinen Lippen und machte aus meinen Empfindungen so wenig ein Hehl, daß es ihm nicht entgehen konnte, wie sehr mich seine Herablassung beglückte und erhob. Er nannte mir die Namen von dämmernden Ufervorsprüngen und dunkeln Flußinseln, als wir in der feierlichen Nacht unter dem friedlichen Blinken der Sterne daran vorüberglitten, und schließlich kam er auch auf sich selbst zu sprechen. Für einen Menschen, dessen wöchentlicher Gehalt sechs Dollars betrug, war er vielleicht ein wenig zu gefühlvoll, oder richtiger gesagt, er hätte einer ältern und erfahrenern Person als mir leicht so erscheinen können. Aber ich trank seine Worte in mein dürstendes Gemüt und nahm sie mit einer Gläubigkeit auf, die Berge hätten versetzen müssen, wenn man sie hiezu verwendet hätte. Was scherte es mich, daß er schäbig aussah und schmierig war, und daß er auf weite Entfernungen nach Genever duftete? Was scherte es mich, daß seine Grammatik schlecht, seine Aussprache noch schlechter war und daß die Art, wie er das unerläßliche Fluchen betrieb, so sehr jedes künstlerischen Hauches entbehrte, daß es seine Unterhaltung, anstatt ihr einen höheren Reiz zu verleihen, vielmehr beeinträchtigte? Er war ein Mann, dem übel mitgespielt worden war, der stürmische Zeiten gesehen, der gelitten hatte. Das war für mich entscheidend. Als ich seinen Stolz soweit überwunden hatte, daß er mir seine traurige Geschichte erzählte, fielen ihm Thränen von den Wimpern auf die Laterne in seinem Schoß, und ich schluchzte vor Mitgefühl laut auf. Er teilte mir mit, daß er der Sohn eines englischen Edelmanns sei, – er wußte nicht recht, ob eines Grafen oder eines Ratsherrn, meinte aber, wahrscheinlich von beiden. Sein Vater liebte ihn zärtlich, aber seine Mutter haßte ihn von der Wiege an. Noch als kleiner Knabe wurde er nach einem von den »alten, uralten Kolleges geschickt«, – er erinnerte sich nicht mehr recht, nach welchem. Dann starb sein Vater plötzlich, und die Mutter riß das ganze Vermögen an sich und setzte ihn »vor die Thüre«. In dieser Lage boten verschiedene Mitglieder der englischen Aristokratie, mit denen er aufgezogen worden, ihren ganzen Einfluß auf, um eine Volontär-Schiffsjungenstelle auf einem Westindienfahrer zu besorgen. Und so war er aufs Wasser gekommen. Einmal bei diesem Punkt in seiner Lebensgeschichte angelangt, verlor mein Nachtwächter jeden Faden, und die Fortsetzung seiner Erzählung war nur noch ein einziges Chaos von Daten, Örtlichkeiten, Namen und unglaublichen Abenteuern, eine epische Sündflut, so voller Schrecknisse und um eines Haares Breite abgewendeter Lebensgefahren, so strotzend von bewußter und unbewußter menschlicher Schlechtigkeit und so triefend von Blut und Thränen, daß ich sprachlos dasaß, lauschend, bewundernd, staunend und anbetend!

Es war kein kleiner Schmerz für mich, als ich später dahinterkam, daß er ein gemeiner, unwissender, sentimentaler, halbverrückter Schwindler war, ein nie in der Welt gewesener Eingeborner der Wildnisse von Illinois, welcher eine Unmasse von Kolportageromanen verschlungen und ihre Ungeheuerlichkeiten in sich aufgenommen hatte, bis er am Ende aus den verschiedensten Fäden seine eigene wirre Geschichte zusammengewoben, die er unerfahrenem, halb flüggem Volke, wie mir, erzählte, bis er schließlich selbst daran glaubte.

  1. Negro Minstrels = Sängergesellschaft von Negern.

Zehntes Kapitel.

Zehntes Kapitel.

Bereits seit dem Tage vor unserem Eintreffen in Julesburg hatten sich gewiß und wahrhaftig zwei Drittel dessen, was Kutscher und Kondukteur sprachen, mit Slade beschäftigt. Um nun dem Leser ein deutliches Bild von einem ›Desperado‹ des Felsengebirges auf der höchsten Stufe seiner Entwickelung zu verschaffen, will ich die ganze Masse von Geschichten, die bei der Überlandpost über denselben im Umlauf sind, im Nachstehenden zu einer zusammenhängenden Erzählung zusammenfassen:

Slade stammte aus Illinois, von achtbaren Eltern. Mit ungefähr sechsundzwanzig Jahren erschlug er jemand im Streite und floh aus dem Land. In St. Joseph im Staat Missouri schloß er sich einem der ersten Auswandererzüge nach Kalifornien an und wurde mit dessen Führung betraut. Eines Tages bekam er auf der Prairie einen heftigen Zank mit einem seiner Fuhrleute und beide zogen den Revolver heraus. Der Fuhrmann war jedoch der flinkere Künstler und hatte den Hahn an seiner Waffe zuerst gespannt. Deshalb meinte Slade, es sei doch nicht der Mühe wert, einander wegen einer solchen Kleinigkeit die Hälse zu brechen und schlug vor, die Pistolen wegzuwerfen und den Streit mit den Fäusten auszumachen. Arglos ging der Fuhrmann darauf ein und ließ seine Pistole fallen, – woraus ihn Slade unter höhnischem Lachen über seine Einfalt einfach über den Haufen schoß!

Er machte sich daraufhin flüchtig und führte eine Zeit lang ein wildes Leben, das er zur Hälfte mit Indianerkämpfen und zur andern Hälfte mit dem Bestreben zubrachte, einem Gerichtsbeamten des Staates Illinois auszuweichen, der behufs seiner Festnahme wegen seiner ersten Mordthat gegen ihn ausgesandt worden war. Damals soll er in einem Kampfe mit Indianern drei Wilde mit eigener Hand getötet und nachher deren abgeschnittene Ohren dem Häuptling des Stammes mit seinen Grüßen überschickt haben.

Bald stand Slade allenthalben im Rufe furchtloser Entschlossenheit, und dieses Verdienst war hinreichend, um ihm die wichtige Stelle eines Abteilungsagenten bei der Überlandpost in Julesburg als Nachfolger eines gewissen Jules zu verschaffen, der seine Entlassung erhielt. Kurz zuvor war es häufig vorgekommen, daß der Gesellschaft Pferde gestohlen und Kutschen aufgehalten wurden und zwar durch Banden flüchtiger Verbrecher, denen der Gedanke, es könnte jemand so tollkühn sein wollen, derlei Missethaten zu ahnden, stets nur ein höhnisches Lachen entlockte. Slade ahndete dieselben unverzüglich. Das Gesindel hatte bald herausgefunden, daß Slade ein Mann war, der sich vor nichts fürchtete, was da atmete. Wer sich gegen Gesetz und Ordnung verging, mit dem machte er kurzen Prozeß. Das Ergebnis war, daß kein Aufenthalt bei den Postfahrten mehr vorkam, daß das Eigentum der Gesellschaft unangetastet blieb und daß Slades Kutschen stets ohne Störung rechtzeitig eintrafen, einerlei, was dabei vorkam und wer dabei Schaden hatte! Allerdings, um diese heilsame Veränderung zuwege zu bringen, mußte Stade ein paar Menschen aus der Welt schaffen – die einen behaupten drei, andere vier, wieder andere sechs – aber das war ein Verlust, bei dem die Welt nur gewann.

Die erste erhebliche Schwierigkeit hatte er mit dem Ex-Agenten Jules, der selbst im Rufe eines gewissenlosen, verzweifelten Menschen stand. Derselbe hatte auf Slade, der ihn um seine Stelle gebracht, einen tödlichen Haß geworfen und wartete nur auf eine schickliche Gelegenheit, um sich an diesem zu reiben. Endlich lauerte er ihm hinter einer Ladenthür auf und jagte ihm einen Flintenschuß in den Unterleib, allein Slade brachte ihn durch ein paar wohlgezielte Schüsse aus seinem historischen Revolver gleichfalls zu Fall. Jules, der zuerst wieder genas, zog sich ins Gebirge zurück, um dort in Sicherheit Kräfte für den Tag der endgültigen Abrechnung zu sammeln. Nach Jahr und Tag gelang es Slades Myrmidonen, Jules in einem seiner Felsenschlupfwinkel aufzutreiben und gefesselt seinem Todfeind in die Hände zu liefern, der ihn mit teuflischem Behagen langsam abschlachtete.

Inzwischen war Slade, nachdem die Gesellschaft sich überzeugt, daß seine energische Verwaltung auf einer der schlimmsten Strecken ihrer Route Frieden und Ordnung wiederhergestellt hatte, an die Rocky Ridge Division im Felsengebirge versetzt worden; man wollte sehen, ob er imstande sein würde, hier ein kleines Wunderwerk zu verrichten. Diese Strecke war nämlich das reinste Paradies der Gesetzverächter und Desperados. Hier bestand auch nicht der leiseste Schalten von Gesetz und Recht. Gewalt war an der Tagesordnung, Stärke die einzige anerkannte Macht. Die allergewöhnlichsten Mißverständnisse wurden auf der Stelle mit Pistole und Messer ausgemacht. Mordthaten kamen am hellen Tage und zwar recht häufig vor, ohne daß es einem Menschen einfiel, sich darum zu kümmern. Man ging davon aus, daß die Leute, wenn sie einander umbringen, ihre eigenen guten Gründe dazu haben; eine Einmischung Dritter in die Sache würde als Taktlosigkeit erschienen sein. Alles, was die Etikette von Rocky Ridge vom Augenzeugen einer Mordthat verlangte, war, daß derselbe dem Herrn Mörder sein Opfer begraben half – andernfalls würde man seiner Ungefälligkeit beim ersten Anlaß gedacht haben, wo er selber jemand umgebracht hatte und nachbarlichen Beistand zu dessen Beerdigung bedurfte.

In aller Ruhe und Gemütlichkeit schlug Slade seinen Wohnsitz inmitten dieses Bienenstockes von Pferdedieben und Banditen auf, und gleich das allererstemal, wo einer derselben sein unverschämtes Maul in seiner Gegenwart laufen ließ, schoß er ihn nieder. Er begann eine Razzia gegen das gesetzlose Gesindel, und in merkwürdig kurzer Zeit hatte er den Beraubungen des Eigentums der Gesellschaft Einhalt gethan, eine große Zahl gestohlener Pferde zurückerobert, mehrere der schlimmsten Desperados der Gegend aus der Welt geschafft und sich bei den übrigen ein so furchtbares Ansehen errungen, daß sie Achtung, Bewunderung, Furcht für ihn empfanden und ihm Gehorsam leisteten. Er brachte denselben Umschwung in den Verhältnissen der Gemeinschaft zuwege, der seine Verwaltung in Overland City gekennzeichnet hatte. Zwei Bursche, die sich am Eigentum der Gesellschaft vergriffen hatten, fing er ein und henkte sie mit eigener Hand. Er war oberster Richter in seinem Bezirk und zugleich Schwurgericht und Scharfrichter – und zwar nicht nur in Fällen, die seine Brotherren betrafen, sondern auch in Sachen durchziehender Auswanderer.

Im Schießen mit seinem Matrosenrevolver that es niemand Slade gleich. Wie die Sage erzählt, sah er eines Morgens in Rocky Ridge, als er eben recht gut aufgelegt war, einen Mann daherkommen, der ihm einige Tage vorher zu nahe getreten war. Er zog seinen Revolver mit den Worten: »Meine Herren, ein Schuß auf gut zwanzig Schritt – ich halte auf den dritten Rockknopf!« Und er traf den Knopf zur Bewunderung aller Umstehenden. Diese gingen denn auch sämtlich mit zur Leiche. Einmal fiel Slade in die Hände einer Bande, die sich zusammen gethan hatte, um ihn zu lynchen. Er wurde entwaffnet und in einem starken Blockhause bewacht. Da überredete er seine Feinde, seine Frau holen zu lassen, um sie noch ein letztesmal zu sehen. Sie war ein tapferes, mutiges Weib und ihm unbedingt ergeben. Sofort warf sie sich auf ein Pferd und ritt davon auf Leben und Tod. Man ließ sie undurchsucht zu ihm hinein, und ehe man noch die Thür zu schließen vermochte, hatte sie ein paar Pistolen hervorgeholt, unter deren Schutz sie samt ihrem Herrn Gemahl siegreich herausdrang, worauf sie beide unter lebhaftem Feuer ihre Pferde bestiegen und unverletzt davonsprengten!

Fahrplanmäßig waren wir indessen bei einer Poststation angerasselt und ließen uns mit einer halbwilden Gesellschaft bewaffneter bärtiger Gebirgsbewohner, Bauern und Stationsleute, zum Frühstück nieder. Nirgends noch hatten wir einen so anständigen, ruhigen und freundlichen Beamten auf unserer ganzen Reise getroffen, wie den, der hier am Tische obenan saß, Schulter an Schulter neben mir. Wer beschreibt mein Staunen und mein Entsetzen, als ich ihn Slade nennen hörte.

Hier saß der Romanheld, und ich ihm gegenüber Aug‘ in Auge! Ich sah ihn, – berührte ihn – trank sozusagen mit ihm aus einem Glase! Da, dicht neben mir saß der Menschenfresser, der in Gefechten, bei Raufereien und sonstigen Anlässen sechsundzwanzig Menschen das Lebenslicht ausgeblasen hatte, es müßte denn alle Welt an ihm zum Lügner geworden sein. In diesem Augenblick erfüllte mich ein Gefühl des Stolzes, wie es wohl vor mir noch nie ein so junges Bürschchen empfunden hatte, das ausgezogen war, um fremde Länder und merkwürdige Menschen zu schauen.

Er war so freundlich und artig, daß ich mich trotz seiner abstoßenden Lebensgeschichte zu ihm hingezogen fühlte. Man vermochte es nur mit Mühe zu fassen, daß diese angenehme Persönlichkeit die erbarmungslose Geißel verbrecherischen Gesindels, der Popanz und wilde Mann war, mit dem die Mütter im Gebirge ihre kleinen Kinder fürchten machten. Und noch heute wüßte ich von Slade nichts irgend Auffallendes zu berichten, als daß sein Gesicht über die Backenknochen herüber ziemlich breit war, während diese selbst niedrig standen, und daß er auffallend schmale und gerade geschnittene Lippen hatte. Doch genügten diese Züge, um einen nachhaltigen Eindruck auf mich zu machen, denn so ich seither ein Gesicht mit den erwähnten besonderen Merkmalen sehe, muß ich fast immer in dem Besitzer desselben einen gefährlichen Menschen vermuten.

Der Kaffee ging zur Neige. Wenigstens war nur noch eine einzige Blechtasse voll da, welche Slade eben für sich nehmen wollte, als er sah, daß ich eine leere Tasse vor mir hatte. Höflich bot er mir an, mir solche zu füllen, was ich, obwohl ich den Kaffee recht gut brauchen konnte, ebenso höflich ablehnte. Ich fürchtete, daß er an jenem Morgen vielleicht noch niemand umgebracht haben und deshalb einer Zerstreuung benötigen könnte. Allein er bestand mit fester Höflichkeit darauf, mir die Tasse vollzugießen und meinte, ich sei die ganze Nacht durch gefahren und habe es nötiger als er – und unter diesen Worten schenkte er mir den Kaffee bis auf den letzten Tropfen ein. Dankend trank ich denselben aus, allein er schmeckte mir nicht sonderlich, denn ich konnte immer noch nicht gewiß wissen, ob ihn seine Freigebigkeit nicht gereuen und er mich dann etwa umbringen würde, um seine Gedanken von seinem Verluste abzulenken. Es kam jedoch nichts derart vor. Als wir uns von ihm verabschiedeten, hatte er nicht mehr als sechsundzwanzig Blutthaten auf dem Gewissen und ich empfand eine recht angenehme Befriedigung bei dem Gedanken, daß ich durch die weise Rücksicht, die ich der Nummer 1 am Frühstückstisch hatte zu teil werden lassen, mir das Schicksal erspart hatte, Nummer 27 zu werden. Slade kam heraus an den Wagen und sah uns zu beim Wegfahren, nachdem er zuvor die Postsäcke bequemer für uns hatte packen lassen; dann nahmen wir Abschied von ihm, mit der angenehmen Hoffnung, bald wieder etwas von ihm zu vernehmen und waren nur begierig, in welchem Zusammenhang dies der Fall sein werde.

Elftes Kapitel.

Elftes Kapitel.

Und richtig hörten wir zwei oder drei Jahre darauf wieder von ihm. Da traf die Kunde an den Gestaden des Stillen Ozeans ein, daß er vom Sicherheitsausschuß in Montana (dahin war er von Rocky Ridge aus übergesiedelt) gehenkt worden sei.

Slade hatte sich hier dem Trunke ergeben. Während er in nüchternem Zustand für einen aufmerksamen Ehegatten, einen höchst gastfreien Wirt und einen höflichen Mann gelten mußte, konnte dagegen jeder, der ihm im Branntweinrausch inmitten einer Bande bewaffneter Lümmel begegnete, in ihm nur einen eingefleischten Teufel erblicken. Oft sah man ihn mit einem oder einigen seiner Genossen auf einem und demselben Pferde in der Stadt Virginia erscheinen, wo er unter Jauchzen, Brüllen und Pistolenschüssen durch die Straßen galoppierte. Er ritt dann in Läden hinein, zerbrach die Ladentische, warf die Wagschalen auf die Straße und überschüttete die Anwesenden mit den gröbsten Beleidigungen. Er trat in Schank- und Tanzlokale und schoß nach den Lampen, so daß alles Reißaus nahm. Es war etwas ganz Alltägliches, daß die Kaufleute, wenn Slade ›sich einen Jux machte‹, die Läden schlossen und die Lichter löschten. So machte er sich viele Feinde und schließlich kam es zur entscheidenden Wendung.

Slade war wieder einmal betrunken gewesen und hatte die Stadt zur reinen Hölle gemacht. Am andern Morgen verhaftete ihn der Sheriff und brachte ihn vor Gericht, wo er ihm den Verhaftsbefehl vorzulesen versuchte. Allein Slade, wütend darüber, nahm das Schriftstück, zerriß es und trat es mit Füßen. Gleichzeitig hörte man an den Revolvern aller seiner Gefährten die Hähne knacken; so mußte der Sheriff vorläufig nachgeben und Slade als Herrn der Situation, triumphierend über Gesetz und Recht, ziehen lassen. Damit war der Krieg erklärt. Der Sicherheitsausschuß fühlte, daß jetzt bei diesem Anlaß die Frage zur Entscheidung kommen müsse, ob die gesellschaftliche Ordnung und die gesetzliebenden Bürger oder Slades dreister Übermut die Oberhand behalten sollten. Seinen Tod wollte man noch nicht, nur gezüchtigt und gebändigt sollte er werden. Ein Mitglied des Ausschusses warnte ihn und erteilte ihm den Rat, unverzüglich zu Pferde zu steigen und nach Hause zu reiten. Allein er schlug die Warnung in den Wind. Nun sollte er abermals verhaftet werden, und da man zu zeigen wünschte, daß im ganzen Thale eine und dieselbe Anschauung über die Sache herrsche, so wurde ein Bote nach Nevada geschickt, um die maßgebenden Persönlichkeiten von den Vorgängen zu unterrichten. Darauf traten die Bergleute in Masse zusammen, verließen ihre Arbeit und rückten in einer sechshundert Mann starken Abteilung, sämtlich bis an die Zähne bewaffnet, nach Virginia hinauf. Der Führer kannte die Erbitterung seiner Leute gegen Slade und seine Genossen. Er jagte voraus, rief den Ausschuß zusammen und sagte offen, die Bergleute nehmen die Sache ernst; sich in einem Straßenkampfe von Slade und dessen Leuten totschießen zu lassen, dazu hätten sie keine Lust, sie hätten vielmehr vor, denselben zu fassen und zu hängen. Obwohl der Ausschuß dieses Äußerste nicht wollte, erklärte derselbe schließlich doch, er wolle sich dem Willen der Bergleute fügen und die Sache in deren Hände legen.

Slade befand sich gerade in einem Kaufladen, als die Kolonne der Bergleute im Geschwindschritt vor denselben rückte. Der Vollstreckungsbeamte des Ausschusses trat vor und verhaftete Slade mit der Eröffnung, daß sein Tod beschlossen sei. Dieser war hierüber im höchsten Maße betroffen; er versank in die tiefste Niedergeschlagenheit und bat unaufhörlich um sein Leben sowie um die Vergünstigung, seine Frau sehen zu dürfen, die auf ihrem Rancho am Madisonflusse wohnte. Sie wurde durch einen Boten benachrichtigt, worauf sie sich ohne Besinnen aufs Pferd warf, um die zwölf Meilen rauhen Felsbodens, die sie von dem Gegenstand ihrer heißen Liebe trennten, im Fluge zu durcheilen.

Inzwischen hatte eine Anzahl Freiwilliger die erforderlichen Vorkehrungen für die Hinrichtung getroffen. In einem Viehhof mit hohem Thor wurde dieses letztere zu einem Galgen hergerichtet, indem man den Strick am oberen Querbalken befestigte. Eine Kiste wurde als Tritt darunter gestellt. Hierher wurde Slade von einer starken wohlbewaffneten Mannschaft geleitet. Er hatte sich mit Thränen, Gebeten und Klagen dermaßen erschöpft, daß er kaum imstande war, sich unter dem verhängnisvollen Balken auf den Füßen zu halten. So bot sich auch bei ihm das psychologisch so merkwürdige und doch im Charakter des echten Desperado tief begründete Schauspiel, daß ein Mann, der in den gefährlichsten Lagen des Lebens jederzeit einen bis zur Tollkühnheit gehenden Mut bewiesen, angesichts eines der Aufregung des Kampfes entbehrenden Todes die Fassung völlig verlor. Seine Frau bekam er all seines Bittens und Flehens ungeachtet nicht mehr zu sehen. Dieselbe würde jedenfalls den Versuch gemacht haben, ihn mit Hilfe ihrer Freunde zu befreien, und die Rücksicht auf die damit unvermeidlich verbundenen blutigen Folgen erlaubte es nicht, seinem Verlangen zu willfahren. Sobald alles bereit war, erging der Befehl: »Leute, thut eure Pflicht!« Die Kiste wurde ihm unter den Füßen weggezogen und fast augenblicklich war der Tod eingetreten.

Nach einer Weile wurde der Leichnam abgeschnitten und in einem verdunkelten Zimmer des Virginia-Hotels aufgebahrt. Kaum war man damit zustandegekommen, so kam die unglückliche Lebensgefährtin des Hingerichteten angesprengt, aber nur um sich zu überzeugen, daß alles bereits vorüber und sie Witwe geworden.

Zwölftes Kapitel.

Zwölftes Kapitel.

Gleich hinter der Frühstücksstation holten wir einen Zug mormonischer Auswanderer von dreiunddreißig Wagen ein. Müde einherschreitend und ihre Viehherde vor sich hertreibend, kamen Dutzende grob gekleideter Männer, Weiber und Kinder mit trübseligen Mienen an uns vorüber, die so wie heute acht endlose Wochen lang Tag für Tag marschiert waren, um eine Strecke zurückzulegen, die wir mit der Post in acht Tagen und drei Stunden durchmessen hatten – siebenhundertachtundneunzig Meilen. Sie waren staubüberzogen und ungekämmt, ohne Kopfbedeckung, zerlumpt und sahen, ach, so müde aus!

Nach dem Frühstück nahmen wir ein Bad im Horse Creek, einem (voreinst) klaren, perlenden Bache – ein sehr schätzenswerter Genuß – denn es kam höchst selten vor, daß unsre rasende Kutsche lange genug hielt, um uns etwas derartiges zu gestatten. Alle vierundzwanzig Stunden wechselten wir zehn- oder zwölfmal die Pferde – oder vielmehr die Maultiere – sechs Maultiere – und dazu brauchten wir fast immer nur vier Minuten. Da ging es lebhaft zu. Sobald unsre Kutsche an der Station angerasselt kam, schritten sechs angeschirrte Maultiere frisch und munter aus dem Stalle; und fast mit Augenblickesschnelle war der alte Zug aus- und der neue eingespannt und wir schon wieder auf und davon.

Während des Nachmittags kamen wir an Sweetwater Creek, Independance Rock, Devils Gate und Devils Gap vorüber. Die letzteren boten eine wilde, hochromantische und interessante Scenerie – wir waren jetzt im Herzen der Felsengebirge. Auch am ›Alkali-‹ oder ›Soda-See‹ kamen wir vorbei; und als der Postillon bemerkte, daß die Mormonen häufig von der Salzseestadt aus hieher kämen, um Saleratus zu holen, kam es uns doch recht zum Bewußtsein, daß wir schon ein hübsches Stückchen Welt durchreist hatten. Erst wenige Tage vorher hätten sie zwei Wagenladungen reinen Saleratus vom Boden des Sees (dieser lag trocken) aufgeschaufelt, der nichts koste und den sie zu Hause für fünfundzwanzig Cents das Pfund verkaufen könnten.

In der Nacht fuhren wir an einer höchst beachtenswerten Merkwürdigkeit vorüber, von der wir seit einem oder zwei Tagen viel hatten reden hören und auf die wir sehr begierig waren. Es war dies sozusagen ein natürlicher Eiskeller. Es war jetzt August und unter Tags glühend heiß, und doch brauchte man auf einer Station den Boden unter einigen Felsbrocken am Bergesabhang nur sechs Zoll tief aufzuscharren, um reine Eisblöcke herauszuschneiden – hart, festgefroren und kristallklar!

Gegen Morgengrauen gingen wir wieder unter Segel, und während wir eben bei aufgezogenen Vorhängen unsere Morgenpfeife genossen und den ersten Schimmer der aufgehenden Sonne betrachteten, wie er an der langen Reihe von Bergkuppen hinschwebte und Zacke um Zacke, Gipfel um Gipfel vergoldete, als wenn der unsichtbare Schöpfer Heerschau über seine Veteranen hielte und diese ihm lächelnd ihren Gruß entböten, kamen wir in Sicht der Südpaßstadt. Der Gasthofbesitzer, der Postmeister, der Grobschmied, der Bürgermeister, der Konstabler, der Stadtmarschall und der ansehnlichste Bürger und Hausbesitzer, sie allesamt kamen freundlich grüßend heraus und wir wünschten ihnen guten Tag. Sie erzählten uns einiges von den Indianern und aus dem Gebirge, und wir berichteten dagegen etwas von den Ebenen. Dann zogen die Herrschaften sich in ihre einsame Größe zurück, während wir zwischen den wolkenumhangenen Felszacken weiter aufwärts kletterten. Die Südpaßstadt bestand aus vier Blockhütten, worunter eine noch unfertige, und zählte zehn Bürger. Der vornehmste derselben vereinigte in seiner Person die sämtlichen oben erwähnten Ämter und Titel. Man denke nur: Gasthofbesitzer, Postmeister, Grobschmied, Bürgermeister, Konstabler, Stadtmarschall und erster Bürger – alles zu einer Person verdichtet und in eine Haut gestopft! Bemis meinte, das sei ein wahrer Allen-Revolver von Würden, sollte der Mann, in seiner Eigenschaft als Postmeister oder als Grobschmied, oder auch am Ende in diesen beiden Eigenschaften mit Tod abgehen, so wäre das vielleicht für die Bürgerschaft noch zu ertragen; müßte er dagegen in all seinen Eigenschaften zugleich sterben, so wäre dies ein ganz entsetzlicher Verlust für die Gemeinde.

Und so waren wir denn endlich in dem berühmten Südpasse und rollten lustig über der gemeinen Welt dahin. Wir fuhren auf der höchsten Stelle der Hauptkette des Felsengebirges, nach der wir Tag und Nacht geduldig, unablässig emporgeklettert waren, inmitten einer Versammlung von Bergkönigen, die ihre Häupter zehn-, zwölf-, ja dreizehntausend Fuß erhoben. Diese Sultane des Gebirges trugen Turbane aus zusammengeballten Wolkenmassen, die sich bisweilen in einzelne Fetzen auflösten und zerfranst und zerzaust davonschwebten, ihre langgedehnten Schatten hinter sich her schleifend, bis sie bald wieder an einem Felshorn hängen blieben. Sie hüllten dasselbe eine Zeitlang brütend ein und zogen darauf abermals in Fetzen davon, indem sie die Felsenspitze mit einer flaumigen Decke blendend weißen Schnees zurückließen. Im Vorüberschweben hingen diese riesigen Wolkenfetzen tief herab und fegten dicht über unsern Köpfen hin, so daß die Fransen uns fast das Gesicht streiften und wir dann allemal uns unwillkürlich versucht fühlten zurückzufahren.

Wir rollten lustig weiter und kamen jetzt, auf dem eigentlichen Gipfel, an eine Quelle, welche ihr Wasser durch zwei verschiedene Abflüsse nach entgegengesetzten Richtungen sandte. Wie der Kondukteur erklärte, ging der eine der beiden vor unsern Augen dahinfließenden Bäche geradeswegs durch Hunderte, ja Tausende von Meilen wüsten, öden Landes dem Kalifornischen Busen des stillen Ozeans zu, während der andere die Schneegipfel seiner Geburtsstätte verließ, um eine ähnliche noch mühseligere Reise nach Osten anzutreten. Er plätscherte über die Abhänge und durch die Schluchten des Gebirges, lief weiter zwischen den Ufern des Yellowstone und gelangte endlich im Schoße des Missouri und des Mississippi nach zwei langen Monaten voll von Vergnügen, Abenteuern und Gefahren bis in den Mexikanischen Golf, um dort am Busen der tropischen See zur Ruhe zu gehen und die heimischen Schneegipfel auf ewig zu vergessen.

Ich gab einem Blatt in Gedanken eine Botschaft an die Freunde in der Heimat mit und ließ es in den Bach fallen. Allein da ich keine Postmarke darauf klebte, so ist dasselbe irgendwo unterwegs nicht weiter befördert worden.

Noch oben auf der Höhe holten wir einen Auswandererzug mit vielen Wagen, vielen müden Männern und Weibern und vielen maßleidigen Schafen und Kühen ein. In dem traurig mit Staub überzogenen Reiter, der den Zug anführte, erkannte ich John ***. Von allen Menschen auf der Welt war er der letzte, dem ich auf dem Kamm des Felsengebirges, Tausende von Meilen fern von der Heimat zu begegnen erwartet hätte. Wir waren Schulkameraden und Jahre lang warme Freunde gewesen. Ein Knabenstreich von meiner Seite hatte jedoch die Freundschaft zerrissen, und dieselbe war nicht wieder angeknüpft worden. Der Vorfall, den ich meine, war der folgende. Ich besuchte manchmal einen Zeitungsredakteur, dessen Zimmer drei Treppen hoch lag und auf die Straße ging. Eines Tages erhielt ich von ihm eine Wassermelone, die ich sofort zu verspeisen Anstalt machte, als ich zufällig aus dem Fenster schaute und John gerade unter demselben stehen sah. Ein unwiderstehliches Verlangen wandelte mich an, John die Melone auf den Kopf fallen zu lassen, was ich denn auch sogleich that. Ich hatte den Schaden davon, denn die Melone ging entzwei und John verzieh es mir nie, wir brachen unsern Verkehr völlig ab und kamen auseinander; jetzt, unter solchen Umständen trafen wir uns wieder.

Wir erkannten uns gleichzeitig und drückten uns die Hände so warm, als hätte nie eine Erkältung zwischen uns bestanden und erwähnten dieselbe auch mit keiner Silbe. Alle Empfindlichkeiten waren begraben, und die einfache Thatsache, an dieser einsamen Stelle so ferne der Heimat ein bekanntes Gesicht anzutreffen, genügte, um uns alles vergessen zu lassen außer den angenehmen Erinnerungen. Als wir uns wieder trennen mußten, erklang ein aufrichtiges ›Lebe wohl‹ und ›Gottes Segen mit dir‹ von beiden Seiten.

Manche saure Stunde lang waren wir die langgestreckten Schultern des Felsengebirges hinaufgeklettert – jetzt ging es wieder abwärts. Und es ging in keinem schlechten Tempo.

Wir ließen die schneebedeckten Windriver Berge und das Uinta-Gebirge hinter uns und jagten weiter, stets durch prächtige Landschaften, aber auch gelegentlich an langen Reihen von Maultier- und Ochsengerippen vorüber – Denkmälern der gewaltigen Auswanderung früherer Tage – und da und dort bemerkte man senkrecht in die Erde gesteckte Pfähle und kleine Steinhaufen, welche, wie der Postillon sagte, die Ruheplätze wertvollerer Überreste bezeichneten. Für ein Grab konnte es keinen einsameren Platz geben. Hier herrschte der Cayote und der Rabe – damit ist die völlig trostlose Einöde genügend bezeichnet. In feuchten, trüben Nächten strömte von diesen verstreuten Gerippen ein fahles, gespenstiges Glühlicht aus, so daß die öde Fläche an manchen Stellen wie von schwachem Mondschein beleuchtet dalag. Diese Erscheinung rührte von dem in den Knochen enthaltenen Phosphor her. Allein trotz dieser wissenschaftlichen Erklärung konnte man sich doch eines Schauders nicht erwehren, wenn man an einem dieser gespenstischen Lichter vorüberkam und sich vorstellte, daß dasselbe von einem Totenschädel ausging.

Um Mitternacht fing es an zu regnen, wie ich es noch nie in meinem Leben gesehen habe – das heißt, ich sah auch diesmal nichts davon, weil es zu finster war. Wir zogen die Vorhänge fest herunter und verstopften die Fenster sogar noch mit Kleidungsstücken, aber der Regen strömte demungeachtet an Dutzend Stellen herein. Da war kein Entrinnen. Zog man seine Füße aus einem Strom heraus, so geriet man mit dem Oberkörper in einen andern; und brachte man diesen beiseite, so traf er einen sonst irgendwo. Strampelte man sich aus den triefend nassen Decken heraus und setzte sich auf, so mußte man sich einen Wasserfall ins Genick fließen lassen. Inzwischen irrte unsere Kutsche über eine Ebene voll gähnender Löcher hin; der Postillon war nämlich nicht imstande, eine Spanne weit zu sehen und konnte sich nicht auf der Straße halten; und der Sturm peitschte so unbarmherzig, daß es keine Möglichkeit gab, die Pferde zum Stillstehen zu bringen. Sobald das Unwetter etwas nachließ, machte sich der Kondukteur mit einer Laterne auf, um die Straße zu suchen, und fiel dabei gleich in einen etwa vierzehn Fuß tiefen Abgrund hinab, wobei ihm seine Laterne nachflog wie eine Sternschnuppe. Sobald er Boden unter den Füßen hatte, schrie er wie toll: »Nur nicht daher kommen!« worauf der Postillon, der über den Abhang blickte, hinter welchem jener verschwunden war, mit beleidigter Miene versetzte: »Halten mich scheint’s für einen verdammten Esel?«

Über eine Stunde brauchte der Kondukteur, bis er die Straße aufgefunden hatte, – daraus konnten wir entnehmen, wie weit wir uns verirrt hatten und was uns alles hätte begegnen können. An zwei Stellen verfolgte er die Spuren unsrer Räder bis hart an den Rand drohender Gefahr. Ich war immer froh darüber, daß wir in jener Nacht nicht umkamen.

An unserm zehnten Reisetage morgens setzten wir über den Green River, einen schönen, breiten, klaren Fluß, in dem wir so tief steckten, daß das Wasser bis an den oberen Rand unseres Postsackbettes reichte. Wir mußten auf Vorspannpferde warten, um uns das steile Ufer hinaufziehen zu lassen. Es war recht kühles Wasser, das uns übrigens nirgends nässer zu machen vermochte, als wir zuvor schon waren.

Auf der Green River-Station nahmen wir unser Frühstück ein – warme Biskuits, frische Antilopensteaks und Kaffee – die einzige ordentliche Mahlzeit, die wir zwischen den Vereinigten Staaten und der Salzseestadt zu kosten bekamen, und die einzige, für die wir wirklich dankbar waren. Man stelle sich nur die einförmige Abscheulichkeit der dreißig vorhergehenden vor und man wird es begreifen, daß dies eine einfache Frühstück nach so vielen Jahren noch wie ein Wartturm in meiner Erinnerung emporragt.

Um fünf Uhr nachmittags erreichten wir Fort Bridger, hundertsiebzehn Meilen vom Südpaß und tausendfünfundzwanzig von St. Joseph entfernt. Zweiundfünfzig Meilen weiter, in der Nähe des Eingangs zum Echo Cañon, stießen wir auf sechzig Soldaten der Vereinigten Staaten von Camp Floyd. Dieselben hatten den Tag vorher auf drei- oder vierhundert Indianer gefeuert, die sich ihrer Überzeugung nach in keiner guten Absicht zusammengeschart hatten. In dem darauffolgenden Gefechte waren vier Indianer zu Gefangenen gemacht und der Haupthaufen vier Meilen weit gejagt, aber niemand getötet worden. Wir wollten zuerst aussteigen und uns den sechzig Soldaten anschließen; als wir uns jedoch überlegten, daß die Indianer vierhundert Mann stark seien, beschlossen wir, weiterzufahren und uns den Rothäuten zuzugesellen.

Der Echo-Cañon hat eine Länge von zwanzig Meilen. Er hatte das Ansehen einer langen, ebenen, engen Straße, die sich allmählich senkte und von ungeheuren, senkrecht aufsteigenden, roh gefügten Mauern, an vielen Stellen vierhundert Fuß hoch und von Türmen wie mittelalterliche Burgen überragt, eingeschlossen war. Es war die tadelloseste Wegstrecke im ganzen Gebirge, so daß der Postillon meinte, da wolle er sein Gespann einmal laufen lassen. Dies that er denn auch; und wenn die Eilzüge nach dem Stillen Ozean jetzt etwa noch rascher durchsausen, als wir damals mit unserer Postkutsche, so beneide ich die Passagiere um ihr Vergnügen. Es war, als ob wir nicht mehr auf Rädern fuhren, sondern nur noch flögen, und die Postsachen schwebten geradezu frei in der Luft. Ich bin kein Freund von Übertreibungen, und wenn ich etwas sage, so ist es auch so.

Indes, die Zeit drängte. Um vier Uhr nachmittags langten wir auf der Höhe des Big Mountain, fünfzehn Meilen von der Salzseestadt, an, während eben die sinkende Sonne die Welt mit ihren Strahlen verklärte und sich plötzlich ein wunderbares Panorama von Berggipfeln, das alles bisher Geschaute übertraf, vor unsern Blicken ausbreitete. Über uns wölbte sich ein glänzender Regenbogen, während wir das erhabene Bild betrachteten. Selbst der Postillon hielt seine Pferde an, um zu schauen.

Vielleicht eine halbe Stunde später wechselten wir die Pferde und speisten bei einem mormonischen ›Würgengel‹ zu Abend. ›Würgengel‹ sind, soviel ich verstand, ›Heilige des jüngsten Tages‹, die von der Kirche mit der besonderen Aufgabe betraut sind, beständig für das Verschwinden solcher Bürger zu sorgen, die sich überlästig gemacht haben. Ich hatte viel von diesen mormonischen Würgengeln und von ihren dunkeln, blutigen Thaten gehört, so daß ich beim Betreten dieses Hauses auf einen gehörigen Schauder gefaßt war. Aber, o wehe, all unsre Romantik war sofort verflogen – wir trafen nichts als einen lärmenden, gemeinen, schimpfenden Schurken! Mordgierig genug war er vielleicht wohl, um das Amt eines Würgers zu versehen, aber wer möchte sich wohl irgend eine Art von Engel ohne alle Würde und Hoheit vorstellen? Wer wollte sich einen Engel in unsauberem Hemd und ohne Hosenträger gefallen lassen? Und wer könnte einem Engel Ehrfurcht zollen, der wiehert, statt zu lachen, und aufschneidet wie ein Bukanier?

Noch mehr solcher Schufte waren da – Kameraden des ersteren; außerdem auch ein anständig aussehender, großer, wohlgewachsener junger Mann von vielleicht dreißig Jahren. Eine Schar schlampiger Weiber trippelte eilig mit Kaffeekannen, Tellern voll Brot und sonstigem Zubehör zum Abendessen hin und her, und das sollten die Frauen des Engels sein oder wenigstens einige derselben. Und natürlich war es so; denn wären sie gemietete ›Aushilfen‹ gewesen, sie hätten sich dieses über sie Hineinwettern und Fluchen von dem himmlischen Engel gewiß nicht gefallen lassen.

Dies war die erste Bekanntschaft, die wir mit der ›eigentümlichen Einrichtung‹ des Westens – wie der Mormonenstaat diplomatisch bezeichnet wird – machten, und dieselbe war nicht gerade einnehmender Art. Wir hielten uns mit deren Beobachtung auch nicht weiter auf, sondern eilten weiter, der Heimat der ›Heiligen des jüngsten Tages‹, der Burg des Propheten, der Hauptstadt des einzigen absoluten Alleinherrschers in Amerika – der Großen Salzseestadt, zu. Da die Nacht hereinbrach, so nahmen wir Herberge im Salzseehotel und packten unsere Sachen aus.

  1. Cañons heißen die tiefeingeschnittenen Flußbette der Felsengebirge.
  2. ›Heilige des jüngsten Tages‹ – ein Beiname der Mormonen.