Meine Reise um die Welt – Erste Abteilung

Achtundzwanzigstes Kapitel.

Achtundzwanzigstes Kapitel.

Die Natur hat der Heuschrecke ein Verlangen nach Pflanzenkost verliehen; hätte der Mensch die Heuschrecke geschaffen, so würde sie nichts als Wüstensand fressen.

Querkopf Wilsons Kalender.

An der Mündung des Derwent liegt, ganz von Laubwäldern umschlossen, die Hauptstadt Tasmaniens, das freundliche Hobart, auf Hügeln, die allmählich zum Hafen abfallen und in deren Hintergrund der Wellingtonberg zu majestätischer Höhe emporsteigt. Die Gegend ist himmlisch schön; sie bietet mit ihrem Reichtum an Formen und Gruppen, ihrer Farbenpracht, dem üppigen Grün, den Buchten und Vorgebirgen, den anmutig welligen Hügeln, dem leuchtenden Sonnenglanz und den mattschimmernden Fernsichten, ein entzückendes Landschaftsbild.

Mir ist noch keine Stadt vorgekommen, in der alles so von Sauberkeit und Ordnung strahlt, wie in Hobart; nirgends sieht man hier baufällige, schäbige Häuser oder eingefallene Zäune; kein Unkraut wächst in den Vorgärten; im Hinterhof der Armen liegen weder alte Blechbüchsen noch zerrissene Stiefel oder leere Flaschen, kein Kehricht ist im Rinnstein, kein Schmutz auf dem Bürgersteig. Selbst die bescheidenste Hütte sieht aus wie gestriegelt und gebügelt; jede hat ihre Blumen, ihre Schlingpflanzen, die sie umranken, einen sauberen Zaun mit guter Tür, und auf dem Fensterbrett liegt die wohlgepflegte Katze und schläft. Der Kurator des Museums, ein Herr aus Amerika, war so freundlich, uns die Sammlungen zu zeigen. Wir sahen dort wenigstens ein halbes Dutzend verschiedener Marsupialia, unter andern den ›Tasmanischen Teufel‹, der zu dieser Gattung gehört, wie ich glaube. Auch ein Fisch war da, der durch Lungen atmet und im Schlamm weiterlebt, wenn der Fluß austrocknet. Am merkwürdigsten ist aber ein Papagei, der den Schafen nachstellt. Auf einer großen Schafweide hat er einmal in einem einzigen Jahre tausend Stück umgebracht. Da er aber nicht das ganze Schaf frißt, sondern nur das Nierenfett, so ist die Ernährung des Vogels sehr kostspielig. Er hackt das Fett mit dem Schnabel heraus und das Schaf stirbt an der Wunde. Die Geschichte dieses Papageis ist für die Entwicklungslehre von Wichtigkeit; sie zeigt, daß unter veränderten Bedingungen eine wesentliche Neubildung stattfinden kann. Als man zuerst die Schafzucht einführte, wurden gewisse Würmer vertilgt, die des Papageis Hauptnahrung gebildet hatten. Der Hunger trieb ihn dazu, Fleischreste zu verzehren, die er noch an den Schaffellen fand, welche zum Trocknen auf den Zäunen hingen. Bald schmeckte ihm das Nierenfett der Schafe am allerbesten, aber die Form seines Schnabels hinderte ihn es sich zu verschaffen. Da kam ihm die Natur zu Hilfe und bildete seinen Schnabel um, so daß er sich jetzt nach Herzenslust vom Fett seiner Mitgeschöpfe nähren kann.

Wir fuhren durch ein blühendes, duftendes Zauberland nach dem Armenasyl, einem geräumigen, bequem eingerichteten Heim mit Krankenhäusern und dgl. für Männer und Frauen. Dort waren Scharen der ältesten Leute beisammen, die mir je vorgekommen sind. Man sah sich plötzlich in eine andere Welt versetzt – eine unheimliche Welt, aus der die Jugend verbannt war, und in der nur das Alter mit seinen zahllosen Runzeln gebückten Ganges umherwandelte. Von den 359 dort untergebrachten Personen waren 223 frühere Deportierte; sie hätten ohne Zweifel aufregende Geschichten erzählen können, wären sie mitteilsam gewesen. Zweiundvierzig hatten das achtzigste Lebensjahr überschritten und einige waren nahe an neunzig; das durchschnittliche Sterbealter ist dort sechsundsiebzig Jahre. Nein, in einem so gesunden Orte möchte ich nicht leben. Siebzig ist ganz alt genug – später wird die Sache zu ungewiß. Jugend und Heiterkeit könnten verschwinden, ehe man sich’s versieht – und was bleibt dann noch übrig? Nur ein Tod bei lebendigem Leibe, der weder Wohltäter noch Befreier ist. – Unter den 185 Frauen in jenem Asyl waren 81 vormalige Strafgefangene.

Das Dampfboot machte uns einen Strich durch die Rechnung; wir hatten gedacht, es würde, wie gewöhnlich, lange in Hobart verweilen, statt dessen fuhr es nach kurzem Aufenthalt weiter, so daß wir Tasmanien nur wie im Fluge zu sehen bekamen.

Den Abend und die darauffolgende Nacht brachten wir auf dem Meere zu und erreichten am frühen Morgen die Stadt Bluff am Südende von Neuseeland. Eigentlich hätten wir nun quer nach der Westküste hinüberwandern müssen, die reich an den herrlichsten Naturschönheiten ist; hohe Schneeberge und mächtige Gletscher, wundervolle Seen und tiefe Buchten, die den norwegischen Fjords, nicht an malerischem Reiz nachstehen, daneben ein Wasserfall, der neunzehnhundert Fuß tief hinabstürzt; man nennt diese Gegend die Neuseeländer Schweiz. Doch die Umstände nötigten uns, diesen Besuch auf unbestimmte Zeit zu verschieben, so leid es uns tat.

6. November. Ein prächtiger Sommermorgen mit glänzend blauem Himmel. Hinter Invercargill kamen wir durch meilenweite grüne Ebenen, die mit Schafen wie beschneit waren – ein hübscher Anblick. Die Bewohner von Dunedin sind Schottländer. Auf ihrem Wege von der Heimat in den Himmel haben sie hier Wohnung genommen, weil sie glaubten, sie wären am Ziel ihrer Wallfahrt. Die Einwohnerzahl der Stadt wird von dem Journalisten Malcolm Roß auf 40 000 geschätzt; ein Parlamentsmitglied behauptet dagegen, sie betrüge 60 000 – aber Journalisten können nicht lügen.

Wir besuchten Dr. Hockin in seiner Wohnung. Er hat eine gute Sammlung Bücher über Neuseeland und sein Haus ist ganz mit Altertümern der Maori und Erzeugnissen ihrer Kunstfertigkeit angefüllt. Von vielen früheren Häuptlingen der Eingeborenen besitzt er Porträts in farbigen Holzschnitten. Es sind auch geschichtlich berühmte Leute darunter. Sie tragen nichts von Barbaren an sich; ihre schönen regelmäßigen Züge, der kluge Gesichtsausdruck, ihre männlich edle Haltung berühren den Beschauer aufs angenehmste. Die Ureinwohner von Australien und Tasmanien sehen wie Wilde aus, aber diese Neuseeländer Häuptlinge gleichen römischen Patriziern. Sogar die Tätowierung der Bildnisse ändert daran nichts. Die Linien sind so schön, so leicht und anmutig gezeichnet, daß man sie nur mit Wohlgefallen betrachtet. Nach den ersten zehn Minuten hat man sich an die Farben gewöhnt, nach weiteren zehn Minuten möchte man es gar nicht anders haben, und von da ab macht jedes unbemalte, europäische Gesicht einen häßlichen, unedlen Eindruck.

9. November. Der Präsident des Künstlervereins führte uns durch das Museum und die öffentliche Bildergalerie. Unter den Bildern, die teils geschenkt sind, teils durch Kauf erworben, gibt es einige sehr schöne. Von dort gingen wir in die Kunstausstellung, welche eben eröffnet war und alljährlich stattfindet. Daß eine verhältnismäßig kleine Stadt zwei solche Kunstanstalten und einen Künstlerverein hat, ist in Australien etwas ganz Gewöhnliches. Letzterer besitzt ein eigenes Gebäude, das die Mitglieder auf ihre Kosten errichtet haben.

Ich würde dies Gedeihen der Kunst begreiflich finden, wenn man es mit einer absoluten Monarchie zu tun hätte, die sich die Mittel zu ihren Zwecken nicht erst von den Abgeordneten bewilligen läßt, sondern einfach das Geld benutzt, wozu sie will. Aber die Kolonien haben republikanische Verfassung und allgemeines Stimmrecht – in Neuseeland sogar auch für die Frauen. Sonst pflegen in Republiken weder die Regierungen noch die reichen Bürger sehr geneigt zu sein, zur Ausbreitung der Kunst beizutragen; in ganz Australien werden jedoch Gemälde berühmter europäischer Künstler für die öffentlichen Galerien angeschafft. Man kauft sie entweder aus Staatsmitteln oder es sind Geschenke von wohlhabenden Bürgern, welche diese obendrein bei ihren Lebzeiten machen – nicht erst wenn sie tot sind.

  1. Die Marsupialia sind Sohlengänger und Wirbeltiere, deren Eigentümlichkeit in ihrem Beutel besteht. In einigen Ländern sind sie ausgestorben, in andern kommen sie nur selten vor. Die ersten amerikanischen Beuteltiere waren Stephen Girard, Jakob Astor und das Opossum; auf der südlichen Halbkugel sind die hauptsächlichsten Cecil Rhodes und das Känguruh. Ich selbst bin das neueste Marsupial, auch könnte ich damit prahlen, daß ich den größten Beutel von allen habe – aber, es ist nichts darin.

Neunundzwanzigstes Kapitel.

Neunundzwanzigstes Kapitel.

Die Sündhaftigkeit des Fluchens liegt nicht in den Worten, sondern in dem Zorngeist, der sie gebiert. Das Kind fängt schon an zu fluchen, ehe es noch sprechen kann.

Querkopf Wilsons Kalender.

11. November. Auf der Eisenbahn.

Die fahrplanmäßige Zeit unseres Schnellzugs ist nur zwanzig und eine halbe Meile die Stunde; aber man möchte gar nicht rascher fahren, um die wechselnde Aussicht auf Meer und Land nach Wunsch genießen zu können, wozu die behaglich eingerichteten Wagen die beste Gelegenheit bieten. Sie sind weder englisch noch amerikanisch, sondern ein Mittelding zwischen beiden, wie in der Schweiz. An der Seite hin läuft ein schmaler Vorbau, der mit einem Geländer versehen ist, so daß man während der Fahrt auf und ab gehen kann; auch gehört zu jedem Waggon eine Wasch- und Toiletteeinrichtung. Das nenne ich Fortschritt! Da zeigt sich der Geist des neunzehnten Jahrhunderts! –

Die sogenannten Schnellzüge fahren in Neuseeland zweimal die Woche. Es ist gut, wenn man das weiß, denn wer mit Zwanzigmeilenschritten das Land durchmessen will, könnte leicht an einem der fünf falschen Tage abfahren und in einen Zug geraten, der nicht einmal mit seinem eigenen Schatten Schritt hält.

Mich erinnerten die angenehmen Bahnzüge in Neuseeland, um des Gegensatzes willen, an die Zweigbahn von Maryborough auf dem australischen Festland und die Bemerkungen, welche mir ein Mitreisender auf der Fahrt über die Bahn und das dortige Hotel gemacht hat.

Ich war unterwegs eine Weile in das Rauchcoupé gegangen, wo sich noch zwei Herren befanden, die beide rückwärts fuhren und an den äußersten Enden des Wagens Platz genommen hatten. Ich setzte mich dem einen gegenüber ans Fenster; dem Anzug nach hielt ich ihn für den Prediger einer Dissentergemeinde, er hatte ein gutes, freundliches Gesicht und mochte etwa fünfzig Jahre alt sein. Unaufgefordert zündete er ein Streichholz an und hielt die Hand davor, bis meine Zigarre in Brand war. Das weitere entnehme ich meinem Tagebuche:

Um die Unterhaltung in Gang zu bringen, fragte ich ihn einiges über Maryborough, worauf er mit sehr angenehmer, wohltönender Stimme die ruhige und bestimmte Antwort gab:

»Es ist eine reizende Stadt, aber das Hotel ist ein wahrer Höllenpfuhl.«

Ich sah ihn verwundert an; es kam mir sehr merkwürdig vor, daß ein Prediger solchen Ausdruck gebrauchte.

»Jawohl,« fuhr er gelassen fort, »ein schlechteres Hotel gibt es in ganz Australien nicht.«

»Schlechte Betten?«

»Nein – gar keine. Nur Sandsäcke.«

»Auch die Kopfkissen?«

»Versteht sich. Nichts als Sand – und obendrein kein guter; er backt zusammen und ist nicht durchgesiebt, sondern grober Kies. Man schläft wie auf Haselnüssen.«

»Gibt es denn keinen feinen Sand?«

»Die Hülle und Fülle. Man findet in hiesiger Gegend einen so vorzüglich losen und lockern Sand wie sonst nirgends; aber, den kauft der Wirt nicht. Er nimmt nur Sand, der sich zusammenbackt und hart wird wie Stein.«

»Wie sind denn die Zimmer?«

»Acht Fuß groß im Viereck; der Boden ist mit eiskaltem Wachstuch bedeckt, auf das man treten muß, wenn man am Morgen aus dem Sandloch kommt.«

»Und die Beleuchtung?«

»Eine Erdöllampe.«

»Die hell brennt?«

»Nein, so düster wie möglich.«

»Ich lasse meine Lampe gern die ganze Nacht brennen.«

»Das geht bei dieser nicht; man muß sie früh auslöschen.«

»Aber man könnte doch nachts Licht brauchen und sie im Finstern nicht wieder finden.«

»O, man findet sie leicht – sie stinkt ganz abscheulich.«

»Ist ein Schrank da?«

»Nur zwei Nägel an der Tür, um sieben Anzüge aufzuhängen – falls man so viele hat.«

»Eine Klingel?«

»Ist nicht vorhanden.«

»Was tut man denn, falls man Bedienung braucht?«

»Man ruft, aber es kommt niemand.«

»Wenn nun aber das Zimmermädchen den Wassereimer ausgießen soll?«

»Dergleichen gibt es nicht. Außer in Sydney und Melbourne findet man nirgends Wassereimer in den Hotels.«

»Ach ja, das weiß ich; es ist eine Eigentümlichkeit von Australien und kommt mir sehr komisch vor. – Noch eins: ich muß morgen früh im Dunkeln aufstehen und mit dem Fünfuhrzug weiter reisen. Wenn nun der Hausknecht –«

»Den gibt es nicht.«

»Oder der Portier –«

»Es ist keiner da.«

»Aber, wer will mich denn wecken?«

»Kein Mensch. Sie müssen von selber aufwachen und sich auch hinunterleuchten. Es brennt kein Licht, weder im Gang noch anderswo. Auf der Treppe würden Sie im Dunkeln den Hals brechen.«

»Wer wird mir helfen mein Gepäck hinuntertragen?«

»Niemand. Aber, ich will Ihnen einen Rat geben. In Maryborough wohnt ein Amerikaner, schon seit einem halben Menschenalter, ein stattlicher Mann, auch wohlhabend und allgemein beliebt. Machen Sie dessen Bekanntschaft; dann sorgt er für alles und Sie können in Frieden schlafen. Morgens weckt er Sie zur rechten Zeit und bringt Sie auf den Zug. – Wo haben Sie denn Ihren Geschäftsführer gelassen?«

»In Ballarat. Er macht dort Sprachstudien; auch muß er nach Melbourne fahren, um alles für Neuseeland vorzubereiten. Es ist mein erster Versuch, mich allein durchzusteuern, und mir scheint, das ist gar nicht sehr leicht.«

»Leicht? Wo denken Sie hin – besonders auf dieser Strecke, der schwierigsten in ganz Australien. Dazu muß man ein ganz ungewöhnlich praktischer Mensch sein. Aber, das sind Sie wohl auch?«

»Ich – hm – ich glaube – indessen –«

»Ja, dann werden Sie es nun und nimmermehr allein fertig bringen. Aber der Amerikaner wird Ihnen helfen, verlassen Sie sich darauf. Haben Sie Ihr Billet?«

»Ja, zur Rundreise bis nach Sydney.«

»Aha! dacht‘ ich mir’s doch! Sie fahren um 5 Uhr morgens über Castlemaine – zwölf Meilen – weil der 7.15 Zug über Ballarat zwei Stunden länger unterwegs bleibt. Aber Ihr Billet lautet auf Ballarat – auf den zwölf Meilen ist es ungültig, und die Regierung gestattet nicht –«

»Was kümmert es denn die Regierung, welchen Weg ich wähle?«

»Das weiß der liebe Himmel. In der Eisenbahnverwaltung läßt sie sich nicht drein reden. Zuerst übergab man sie einer Gesellschaft von Blödsinnigen, das war schlimm; dann rief man Franzosen ins Land, die verstanden noch weniger davon; zuletzt übernahm die Regierung die Verwaltung selbst, und nun geht alles rückwärts. Um die Gunst eines Wählers nicht zu verscherzen, der vielleicht zwei Schafe und einen Hund besitzt, baut man ihm eine Bahn wohin er will. So kommt es, daß wir zum Beispiel in der Kolonie Viktoria achthundert Bahnhöfe haben, darunter achtzig, wo an der Kasse kaum zwanzig Schillinge die Woche einkommen.«

»Fünf Dollars? Sie scherzen wohl!«

»Es ist buchstäblich wahr.«

»Aber auf jedem Bahnhof sind doch drei oder vier Beamte angestellt, die ihr Gehalt beziehen.«

»Natürlich. Glauben Sie mir, die Bahnlinie verdient nicht einmal den Zucker in ihren Kaffee. Und gefällig sind die Beamten! Man braucht nur mit irgend einem Lappen zu wehen, so hält der Zug mitten in der Wildnis und läßt den Reisenden einsteigen. Das macht alles Kosten. Und wenn in einer Stadt viele stimmberechtigte Bürger sind, die sich einen schönen Bahnhof wünschen, so wird er gebaut. Sehen Sie sich nur den Bahnhof von Maryborough einmal an! Sämtliche Einwohner haben Platz darin, jeder kann ein Sofa für sich haben und es bleibt noch Raum übrig. Und eine Uhr ist dort – ich sage Ihnen, so etwas hat kein Bahnhof in ganz Europa aufzuweisen. Zum Glück schlägt sie nicht und hat auch keine Glocken, denn in Australien hört das Gebimmel und das ewige dong-dong Tag und Nacht nicht auf. Na, bei so vielen Prachtbauten für die Eisenbahn und Verlust beim Betrieb, können Sie sich schon denken, daß die Regierung irgendwo sparen muß. Das Betriebsmaterial muß herhalten. Achtzehn Güterwagen und für die Passagiere zwei elende Hundelöcher, die so schäbig und liederlich eingerichtet sind wie nur möglich, ohne hygienische Vorkehrungen, ohne Trinkwasser, mit aller nur denkbaren Unbequemlichkeit – das ist der Zug von Maryborough – und langsam geht er, wie eine Schneckenpost. So spart die Regierung ihr Geld. Für Tonnen Goldes baut sie Paläste auf, in denen man ein paar Minuten warten muß, und deportiert einen dann sechs Stunden lang wie den gemeinsten Verbrecher, um die vergeudeten Summen wieder einzubringen. Jeder vernünftige Mensch fühlt sich gern unbehaglich im Wartezimmer, weil ihm dann die Fahrt in einem hübschen, bequemen Zug eine angenehme Abwechslung bietet. Aber gesunden Menschenverstand sucht man bei der Eisenbahnverwaltung vergebens. Und dann steckt sie noch für die zwölf Meilen eine Extravergütung ein, erklärt ihre eigenen Fahrkarten für ungültig und – –«

»Nun aber, jedenfalls kann ich wenigstens –«

»Warten Sie nur, ich bin noch nicht fertig. Ohne den Amerikaner würden Sie überhaupt nicht fortkommen. Zuerst sieht niemand Ihr Billet an, der Schaffner läßt es sich erst zeigen, wenn der Zug schon im Abfahren ist. Dann können Sie kein Extrabillet mehr kaufen, der Zug wartet nicht, und Sie müssen wieder aussteigen.«

»Aber, kann ich es denn nicht dem Schaffner bezahlen?«

»Er ist nicht berechtigt Geld anzunehmen, und nimmt auch keins. Es bleibt Ihnen nichts übrig – Sie müssen heraus. Der Eisenbahnbetrieb ist hier das einzige, was ganz nach europäischem Muster eingerichtet ist – nicht nach englischem, nein, wie auf dem Festland. Alles wird genau so gemacht, sogar das Wiegen des Gepäcks, diese Erzplackerei, fehlt nicht.«

Jetzt hielt der Zug an der Station meines Mitreisenden. Beim Aussteigen sagte er noch: »Jawohl, in Maryborough wird es Ihnen gefallen. Sie treffen dort sehr gebildete Leute. Eine reizende Stadt! Aber das Hotel ist ein wahrer Höllenpfuhl!«

Als er fort war, wandte ich mich an den andern Herrn:

»Ihr Freund ist wohl Geistlicher?«

»Nein, aber er treibt theologische Studien.«

Drittes Kapitel.

Drittes Kapitel.

Es macht mehr Mühe, Lebensregeln aufzustellen, als das Rechte zu tun.

Querkopf Wilsons Kalender.

Endlich kam er – aber wie wurde ich enttäuscht! – Die Cholera war in der Stadt ausgebrochen und jeder Verkehr mit dem Ufer untersagt. So fiel mein neunundzwanzigjähriger Traum plötzlich ins Wasser. Zwar erhielt ich Grüße und Botschaften von den Freunden am Lande; sie selber durfte ich nicht sehen. Der Saal stand für meine Vorlesung bereit, allein ich sollte ihn nicht betreten.

Von unsern Passagieren waren mehrere in Honolulu ansässig und wurden ans Land gesetzt; doch niemand durfte von dort wieder zurückkehren. Auch konnten wir die Leute, die bereits eingeschrieben waren, um mit uns nach Australien zu segeln, nicht auf der Insel abholen; wir hatten sonst vor Sydney wer weiß wie lange Quarantäne halten müssen. Tags zuvor wäre es ihnen noch möglich gewesen, nach San Francisco zu entkommen, aber jetzt war der Hafen gesperrt, und Wochen konnten vergehen, bevor ein Schiff wagen durfte, sie irgendwohin mitzunehmen. Uebrigens waren sie nicht die einzigen, denen ein Strich durch die Rechnung gemacht wurde. Eine ältere Dame aus Massachusetts hatte mit ihrem Sohn zur Erholung eine Seefahrt unternommen; unversehens waren sie immer weiter mit uns nach Westen gefahren, hatten mehrmals den Rückweg antreten wollen und zuletzt den Beschluß gefaßt, von Honolulu bestimmt umzukehren. Aber, was nützen dergleichen Vorsätze in dieser Welt! – Mutter und Sohn sahen sich jetzt gezwungen bei uns zu bleiben, bis wir Australien erreichten. Von dort konnten sie eine Reise um die Welt machen oder auf dem nämlichen Wege wieder zurückkehren; in betreff der Entfernung, der Kosten und des Zeitverlustes kam es ganz auf dasselbe heraus. So wie so mußten sie ihren beabsichtigten Ausflug von etwa fünfhundert Meilen auf vierundzwanzigtausend Meilen verlängern. Das war keine Kleinigkeit.

Auch einen Rechtsanwalt aus Victoria hatten wir an Bord, der von der Regierung in internationalen Angelegenheiten nach Honolulu geschickt worden war. Er hatte seine Frau mitgenommen und die Kinder bei den Dienstleuten zu Hause gelassen – was sollte er nun tun? Es wäre Torheit gewesen, auf die Gefahr der Ansteckung hin ans Land zu gehen. Das Ehepaar beschloß daher, nach den Fidschi-Inseln zu fahren und dort vierzehn Tage auf das nächste Schiff zu warten, um die Heimreise anzutreten. Daß es sechs Wochen dauern würde, bis sie ein solches Schiff zu Gesicht bekamen und sie inzwischen von den Kindern keinerlei Nachricht erhalten, noch ihnen irgend welche Kunde zukommen lassen könnten, hatten sie nicht vorausgesehen. Es ist kein Kunststück, in dieser Welt Pläne zu machen; auch ein Kater kann das tun. Aber man darf nur nicht vergessen, daß in jenen fernen Meeren menschliches Denken keinen größeren Wert hat, als eine Kateridee. Seine Bedeutung schrumpft dort ganz außerordentlich zusammen.

Uns blieb keine andere Wahl, als auf dem Deck im Schatten der Sonnenzelte zu sitzen und nach den fernen Inseln hinüberzusehen. Wir lagen in klaren, blauen Gewässern, landwärts wurde das Wasser glänzend grün und am Ufer brach es sich in einer langen weißen Schaumwelle, aber ohne Anprall; kein Laut erreichte unser Ohr. Die Stadt schien wie begraben in undurchdringlichem Laubwerk. Ueber die duftigen Berge war der zarteste Schmelz und Farbenglanz ausgegossen und die Klippen hüllten sich in leichte Nebel. Ich erkannte alles wieder. Gerade so hatte ich es vor langen Jahren erblickt; die Schönheit war noch unverändert, nichts fehlte an dem entzückenden Bilde.

Und doch hatte sich dort ein Wechsel vollzogen, aber er war politischer Art und vom Schiff aus nicht zu erkennen. Die damalige Monarchie hatte sich in eine Republik verwandelt, was aber keinen wesentlichen Unterschied machte. Nur den alten leeren Pomp und das unnütze, lärmende Schaugepränge bekommt man nicht mehr zu sehen, und die königliche Schutzmarke ist allenthalben verschwunden; etwas anderes würde man jedoch schwerlich vermissen. Jene Scheinmonarchie war schon zu meiner Zeit höchst absonderlich; hätte sie noch dreißig Jahre länger bestanden, so wären dem Könige gar keine Untertanen von seiner eigenen Rasse mehr übrig geblieben.

Wir hatten einen wundervollen Sonnenuntergang. Die weite Oberfläche des Meeres teilte sich in Farbenstreifen, welche scharf von einander abstachen. Einige Strecken waren dunkelblau, andere purpurrot oder von glänzender Bronzefarbe; über die wellenförmige Bergkette breiteten sich die zartesten braunen, grünen, blauen und roten Schattierungen; manche der runden schwarzen Kuppen sahen so sammetweich aus wie ein glänzender Katzenbuckel; man bekam ordentlich Lust sie zu streicheln.

Das allmählich abfallende Vorgebirge, das im Westen weit ins Meer hinausragte, hatte zuerst ein bleifarbenes, gespenstisches Aussehen, dann wurde es von einem roten Hauch übergossen, es zerfloß sozusagen in ein rosenfarbenes Traumgebilde und schien nicht der Wirklichkeit anzugehören. Urplötzlich aber sah man diesen Wolkenfels in eine wahre Feuersglut getaucht, die sich in den Wellen widerspiegelte; es war ein Anblick, bei dem man hätte trunken werden können vor Entzücken.

Zufolge meiner Gespräche mit den Passagieren, die in Honolulu zu Hause waren, und mit Hilfe einer Skizze von Frau Mary Krout, war ich imstande, das heutige Honolulu mit dem damaligen zu vergleichen. Zu meiner Zeit war es ein schönes Städtchen, das aus schneeweißen, hölzernen Landhäusern bestand, die über und über mit tropischen Schlingpflanzen bedeckt und rings von Blumen, Bäumen und Sträuchern umgeben waren; Straßen und Wege, auf Korallengrund erbaut, waren steinhart, glatt und eben und so weiß wie die Häuser selbst. Schon der äußere Anblick verriet einen Zwar bescheidenen aber behaglichen Wohlstand, der sich – das ist nicht zu viel gesagt – auf alle Bewohner erstreckte. Kostbare Häuser, Möbel und Zierate gab es nicht. In den Schlafzimmern brannte man Talglichter und im Salon eine Tranlampe. Matten aus einheimischem Fabrikat dienten statt der Teppiche, zwei oder drei Lithographien schmückten die Wände; meist waren es Bilder von Kamehameha IV., Ludwig Kossuth, Jenny Lind, oder auch ein paar Kupferstiche, z. B. Rebekka am Brunnen, Moses schlägt Wasser aus dem Felsen, Josephs Diener finden den Becher in Benjamins Sack u. dgl. Auf dem Mitteltisch lagen Bücher friedlichen Inhalts, wie: ›Menschenpflichten‹, Baxters ›Ruhe der Heiligen‹, ›Die Märtyrer‹ von Fox und Tuppers ›Philosophie in Sprichwörtern‹; auch der ›Missionsherold‹ und Pater Dämons ›Freund des Seemanns‹ in gebundenen Exemplaren.

Der Notenständer neben dem Harmonium enthielt gefühlvolle Liebeslieder, wie: ›Willie, wo weilst du nur?‹ ›Lieblicher Abendstern›, ›Wandle doch, Silbermond‹, ›Sind wir jetzt beinah dort?‹ und ähnliches, nebst einer Sammlung ausgewählter Hymnen. Auch ein Nipptischchen war vorhanden mit halb kugelförmigen gläsernen Briefbeschwerern, in denen Miniaturbilder von Schiffen, Seestürmen mit Staffage und dergleichen zu sehen waren; ferner Seemuscheln mit Bibeltexten in erhabener Arbeit, Walfischbarten, in die aufgetakelten Schiffe eingeschnitten waren und allerlei einheimische Seltenheiten. Erzeugnisse fremder Weltteile fehlten ganz, denn niemand war auf Reisen gewesen. Man machte wohl Ausflüge nach San Francisco, aber die wurden nicht mitgerechnet; im allgemeinen blieb man ruhig im Lande.

Seitdem ist Honolulu jedoch reich geworden, dadurch hat sich vieles geändert und die alte Einfachheit ist zum Teil verschwunden. Frau Krout beschreibt die moderne Wohnung wie folgt:

»Fast jedes Haus liegt inmitten ausgedehnter Rasenplätze und Gartenanlagen, die mit einer Mauer aus vulkanischem Gestein oder dichten Hecken von glänzendem Hibiskus umgeben sind.

»Im Innern sind die Häuser aufs geschmackvollste und behaglichste eingerichtet; der Fußboden aus hartem Holz ist mit Teppichen oder feinen indischen Matten belegt, die Möbel, wie man es in warmen Ländern liebt, aus Rotang oder Bambusrohr gefertigt. Auch das gewöhnliche Beiwerk von Raritäten, Büchern und Kuriositäten aus allen Teilen der Welt ist vorhanden und dient zum Schmuck sämtlicher Räume, denn die Bewohner der Sandwichinseln sind unermüdliche Reisende.

»Die meisten Häuser besitzen ein sogenanntes ›Lanai‹. Das ist ein großes, an drei Seiten offenes Gemach, von dem eine Tür oder ein gewölbter, mit Draperien geschmückter Eingang in das Empfangszimmer führt. Häufig wölben sich die verschlungenen Zweige des Stechpalmbaumes darüber zu einem dichten Dach, das weder die Sonne hindurchläßt noch den Regen, außer bei sehr heftigen Gewittern. An den Seiten werden Schlingpflanzen gezogen – Stephanotis oder irgend eine andere der zahllosen wohlriechenden und blühenden Arten, welche auf den Inseln wuchern. Gegen Sonne und Regen kann man sich auch durch herabzulassende Matten schützen.

»Der Fußboden ist meist, der Kühle wegen, ganz unbedeckt oder nur zum Teil mit Teppichen belegt; auch enthält das ›Lanai‹ bequeme Stühle und Sofas, und auf den Tischen prangen wundervolle Farnkräuter in Töpfen oder die schönsten Blumensträuße.

»Das ›Lanai‹ ist das beliebteste Gesellschaftszimmer; hier wird Musik gemacht, man reicht Eis und Kuchen herum, nimmt Morgenbesuche an und versammelt sich zum gemeinschaftlichen Ausritt, die Damen in hübschen geteilten Röcken, die sie der Bequemlichkeit wegen tragen, denn hier reiten alle auf die gleiche Weise, Europäer und Amerikaner beiderlei Geschlechts sowohl wie die Eingeborenen.

»Man kann sich kaum vorstellen, wie köstlich bequem und behaglich ein solcher Raum ist, besonders in einer Villa am Seestrande. Sanfte Lüfte, von Jasmin und Gardenien durchduftet, wehen herein; man blickt durch schwankende Zweige von Palmen und Mimosen bald auf die zackigen Berge, deren Gipfel in Wolken gehüllt sind, bald auf das violettfarbene Meer mit der weißschäumenden Brandung, die sich fort und fort an den Klippen bricht und im gelben Sonnenschein oder beim zauberischen Mondesglanz der Tropen ein noch blendenderes Weiß annimmt.« Da habt ihr den Unterschied: Teppiche, Eis und Kuchen, Bilder, Lanais, weltliche Bücher, sündhafte Raritäten aus aller Herren Ländern, und die Damen sitzen rittlings zu Pferde. Zu meiner Zeit taten das nur die eingeborenen Weiber, die weißen Damen hatten nicht den Mut, diese vernünftige Sitte mitzumachen. Damals bekam man auch in Honolulu nur selten Eis zu sehen. Segelschiffe brachten es zuweilen als Ballast aus Neuengland, und wenn dann zufällig ein Kriegsdampfer im Hafen lag, so daß Bälle und Abendgesellschaften sich drängten, wurde der Ballast oft, nach glaubwürdiger Ueberlieferung, zu sechshundert Dollars die Tonne verkauft. Jetzt ist die Eismaschine in der ganzen Welt herumgekommen, und wer will, kann sich die Erquickung bereiten. Selbst in Lappland und Spitzbergen braucht heutzutage niemand mehr Natureis, ausgenommen die Bären und Walrosse.

Vom Fahrrad steht in dem Bericht kein Wort; das ist auch nicht nötig. Wir wissen genau, daß es dort eingeführt ist, ohne uns erst zu erkundigen, denn, wo wäre es nicht zu finden? Ohne Fahrrad hätten die Menschen nun und nimmermehr ihre Sommerwohnung auf der Spitze des Mont Blanc nehmen können; der Grund und Boden dort oben hat nur nominellen Wert gehabt, ehe wir es kannten. Leider haben die Damen von Honolulu zu spät gelernt, wie man richtig zu Pferde sitzen muß. Was nützt es ihnen nun, da doch das Reitpferd sich in der ganzen Welt mehr und mehr vom Geschäft zurückzieht? In der Hauptstadt der Hawaii-Inseln wird man es bald nur noch vom Hörensagen kennen.

Zu dieser Inselgruppe gehört auch Molokai, und wir alle wissen, daß Pater Damien, der französische Priester, einst freiwillig die Welt verließ, um nach jenem traurigen Aufenthaltsort zu den Leprakranken zu gehen. Wir kennen auch seine Wirksamkeit unter den armen Ausgestoßenen, die dort ihr elendes Dasein weiter schleppen und auf den Tod warten, der sie von ihren Leiden erlösen soll. Was er vorausgesehen hatte, ging wirklich in Erfüllung: er bekam selbst den Aussatz und starb an der entsetzlichen Krankheit.

Es gibt aber noch andere Falle von Selbstaufopferung. Ich erkundigte mich nach ›Billy‹ Ragsdale, einem halbweißen jungen Mann, der zu meiner Zeit als Dolmetscher beim Parlament angestellt und ebenso hochbegabt wie allgemein beliebt war. Ein so vorzüglicher Dolmetscher ist mir nirgends wieder vorgekommen; wenn er in einer Parlamentssitzung, aufstand und die englischen Reden ins Hawaii, die hawaiischen Reden ins Englische übertrug, war seine rasche Auffassung und Zungenfertigkeit wahrhaft staunenswert. Auf eine Frage nach ihm erfuhr ich, daß seine glänzende Laufbahn ein völlig unerwartetes und rasches Ende gefunden hat, als er gerade im Begriff stand, ein schönes Mädchen gemischter Rasse zu heiraten. An einem fast unsichtbaren Zeichen auf seiner Haut hatte er erkannt, daß ihm das Gift des Aussatzes im Körper stecke. Niemand wußte um dies Geheimnis; er hätte es noch jahrelang verborgen halten können. Aber er wollte keinen Verrat an dem Mädchen üben, das er liebte, und es nicht durch die Heirat zu demselben grauenvollen Geschick verdammen, dem er entgegenging. So brachte er denn seine Angelegenheiten in Ordnung, suchte noch einmal seine Freunde auf, nahm Abschied von ihnen und segelte in dem Lepraschiff nach Molokai. Dort starb er den langsamen entsetzlichen Tod, den alle Aussätzigen sterben.

Hier möchte ich noch einige Abschnitte aus dem ›Paradies des Stillen Ozeans‹ von Pfarrer H. H. Gowen einschalten:

»Die armen Leprakranken!« sagt der Verfasser. »Es mag leicht sein, für die, welche weder Freunde noch Anverwandte unter ihnen haben, das Gebot völliger Absonderung in seiner ganzen Strenge durchzuführen! Aber, wer beschreibt die schrecklichen, herzbrechenden Auftritte, welche diese Gewaltmaßregeln im Gefolge haben?

»Ein Mann aus Hawaii wurde plötzlich festgenommen und fortgeschafft. Seine Frau, die unmittelbar vor ihrer Entbindung stand, blieb allein und hilflos zurück. Ohne Not und Gefahr zu achten, unternahm sie die Reise nach Honolulu und bat so lange und inbrünstig um die Erlaubnis, ihren leprakranken Mann in die Verbannung begleiten zu dürfen, um dort wie eine Aussätzige mit ihm zu leben, daß die Behörden ihrem Flehen nicht widerstehen konnten.

»Ueber eine glückliche Gattin und Mutter in der Blüte der Jahre wird das Urteil gefällt, daß sich bei ihr die Anfänge der Leprakrankheit zeigen; man schleppt sie ohne Aufschub aus ihrem Hause fort, und als der Mann heimkehrt, findet er nur noch seine zwei verlassenen Kleinen, die nach der verlorenen Mutter schreien.

»Luka Kaaukau, die Frau eines Aussätzigen, lebt seit zwölf Jahren mit ihrem Mann auf der Leprainsel. Der Unglückliche hat fast keine Gelenke mehr; seine Beine sind unförmlich und mit Geschwüren bedeckt. Seit vier Jahren flößt ihm die Frau alle Nahrung ein; er hat schon oft gewünscht, sie möchte ihn seinem elenden Schicksale überlassen, da sie heil und gesund ist, aber Luka sagt, daß sie gern dableiben und den Mann, den sie geliebt hat, pflegen will, bis sein Geist von der Erdenlast befreit ist.

»Ich selbst,« fährt Pfarrer Gowen fort, »habe manchen schweren Fall erlebt: Ein Mädchen, das mir scheinbar noch in voller Gesundheit geholfen hatte die Kirche beim Osterfest zu schmücken, ist, ehe es Weihnachten war, als unheilbare Leprakranke fortgeschafft worden. Eine Mutter hat ihr Söhnchen jahrelang im Gebirge verborgen gehalten, aus Furcht, man möchte es ihr entreißen; selbst ihre besten Freunde hatten keine Ahnung davon, daß das Kind noch am Leben war. Ein angesehener Weißer wurde von Frau und Kindern getrennt und gezwungen im Leprosenhause zu leben, wo er von aller Welt für tot angesehen wird, sogar von der Lebensversicherungsgesellschaft.«

Und was am meisten unser Mitleid erregt, ist, daß diese armen Dulder ganz unschuldig leiden. Der Aussatz ist nicht die Folge ihres eigenen Lebenswandels, sondern ein Fluch, der auf den Sünden ihrer Vorfahren lastet, während diese selbst von der Krankheit verschont geblieben waren.

Herr Gowen erzählt uns auch von einer ungemein rührenden und schönen Einrichtung, die auf der Leprainsel besteht: Wenn der Tod einem Leidenden die Kerkertür des Lebens auftut, so spielt das Musikchor eine Freudenhymne, um die Befreiung der gequälten Seele mit Jubel zu begrüßen.

Dreißigstes Kapitel.

Dreißigstes Kapitel.

Zeit und Flut warten auf niemand! Ein prahlerisches, dünkelhaftes Sprichwort, das sich eine Billion Jahre erhalten hat, aber heutzutage nicht mehr gilt. Wir, mit unsern elektrischen Drähten und den Schiffen mit Wasserballast, kehren es um und sagen: Niemand wartet ans Zeit und Flut. –

Querkopf Wilsons Kalender.

Auf der Fahrt bis Christchurch glaubt man im heutigen England zu sein – die Gegend sieht aus wie ein Garten. Christchurch selbst ist eine englische Stadt, mit englischen Parkanlagen und einem englischen Fluß, der sich gleich dem Avon durch die Landschaft schlängelt – er heißt auch Avon, aber nach einem Manne, nicht nach Shakespeares Fluß. An seinen grünen Ufern stehen die stattlichsten und denkwürdigsten Trauerweiden der ganzen Welt. Sie machen ihrer hohen Abkunft alle Ehre, denn sie sind aus Ablegern der Weide gezogen, die einst Napoleons Grab in Sankt Helena beschattete. In dem guten alten Städtchen finden sich alle Reize und Annehmlichkeiten, alles Behagen und alle Heiterkeit eines idealen Familienlebens beisammen. Man könnte sich einbilden, drüben in England zu sein; es fehlt nichts als die Staatskirche und der Unterschied der Stände.

Das Museum enthält Raritäten. Unter anderm sahen wir ein schönes Haus der Eingeborenen aus alter Zeit; ganz getreu nach der Natur, sowohl die grellen Farben als alle Einzelheiten. Jedes Ding war am richtigen Platz, die hübschen Matten und Teppiche, die künstlichen, wundervollen Holzschnitzereien, deren Muster und seine Ausführung mit Recht unser Staunen erregen, wenn wir bedenken, daß die Eingeborenen dazu keine bessern Werkzeuge hatten, als Feuerstein, Nephrit und Muscheln sie ihnen lieferten. Auch Totems waren da, Pfähle, auf denen sämtliche Ahnherren des Stammes, einer über dem andern, abgebildet sind. Die abscheulichen, häßlichen Teufel waren mit großem Geschick und vieler Liebe geschnitzt; sie streckten alle die Zunge heraus und falteten die Hände behaglich über dem Bauche, in dem sie die Ahnherren anderer Leute begraben hatten. In dem Haus waren auch ausgestopfte Eingeborene als Staffage, jeder wo er hingehörte, als ob sie leibten und lebten, sowie ihr ganzes Hausgerät; dicht dabei lag ein geschnitztes und reich verziertes Kriegskanoe.

Wir sahen auch kleine Götzenbilder aus Nephrit oder Beilstein, die, aber nur von Eingeborenen hohen Ranges, um den Hals getragen wurden; ferner Waffen und allerlei Schmuck, aus dem gleichen, ausnehmend harten Stein ohne jedes eiserne Werkzeug verfertigt. Durch einige Stücke waren kleine runde Löcher gebohrt; niemand weiß wie das gemacht wurde, es ist ein Geheimnis, eine verlorene Kunst. Wer jetzt in ein Stück Nephrit ein Loch gebohrt haben will, muß erst zu einem Steinschneider nach London oder Amsterdam schicken, wie man mir sagt.

Auch ein ganzes Skelett der Riesen-Moa bekamen wir zu sehen. Es war zehn Fuß hoch und muß einen netten Anblick gewährt haben, als es noch ein lebendiger Vogel war. Wie der Strauß brauchte das Tier beim Kampf nicht den Schnabel, sondern die Füße. Einen solchen Fußtritt zu bekommen, mag kein schlechtes Vergnügen gewesen sein, etwa wie wenn man von Windmühlenflügeln in die Luft geschleudert wird.

In den alten, längst vergessenen Zeiten, als das Geschlecht der Moas noch auf Erden wandelte, müssen sie in großer Menge vorhanden gewesen sein. Man findet ihre Knochen haufenweise in ungeheuren Gräbern dicht beisammen liegen, und zwar nicht in Felsenhöhlen, sondern in der Erde. Niemand weiß, wer sie dort eingescharrt hat. Da es wirkliche Knochen und keine Versteinerungen sind, können die Moas noch nicht so gar lange ausgestorben sein. Merkwürdig, daß sie die einzigen Tiere Neuseelands sind, welche in den so zahlreichen Legenden der Eingeborenen gar keine Rolle spielen. Dieser Umstand ist sehr bedeutsam und kann als Indizienbeweis dafür dienen, daß die Moas seit vierhundert Jahren von der Erde verschwunden sind, denn der Maori selbst ist nach der Ueberlieferung seit dem Ende des 15. Jahrhunderts in Neuseeland ansässig. Der erste Maori kam aus einem unbekannten Lande, ruderte in seinem Kanoe dahin zurück und kehrte in Begleitung aller Stammesangehörigen wieder; sie drängten die Ureinwohner in das Meer oder brachten sie unter den Boden und nahmen die Inseln in Besitz. So sagt die Ueberlieferung. Die Ankunft jenes ersten Maori ist begreiflich, denn jeder kann schließlich unversehens an einen Ort kommen, wohin er nicht will; aber wie der Entdecker ohne Kompaß den Weg nach der Heimat zurückfand, ist ein Rätsel, das er mit sich ins Grab genommen hat. Aus seiner Sprache ging hervor, daß er aus Polynesien stammte. Er hat auch gesagt, woher er kam, aber da er den Namen des Ortes nicht richtig buchstabieren konnte, fand man ihn nicht auf der Karte, welche von klugen Leuten gemacht ist, die den Namen ganz anders buchstabieren. Vor allem müssen doch die Namen richtig auf der Karte stehen, so daß man sich auf sie verlassen kann; das übrige ist Nebensache. In Neuseeland haben die Frauen das Recht, die Mitglieder des gesetzgebenden Körpers zu wählen, sie selbst dürfen aber nicht Abgeordnete sein. Das Gesetz, welches ihnen das Stimmrecht verleiht, wurde 1893 erlassen, als die Einwohnerzahl von Christchurch sich nach dem Census von 1891 auf 31454 belief. Die erste Wahl, nachdem das Gesetz in Kraft getreten war, fand im November statt. An der Wahlurne erschienen 6313 Männer und 5989 Frauen. Diese Zahlen liefern den Beweis, daß die Frauen der Politik nicht so gleichgültig gegenüberstehen, wie man uns glauben machen will. Die Gesamtzahl der stimmfähigen weiblichen Bevölkerung Neuseelands betrug 139 915; hiervon zeichneten 109 461 ihre Namen in die Wahllisten ein – 78,23 Prozent von allen. 90 290 erschienen wirklich an der Wahlurne und gaben ihre Stimmen ab – 85,18 Prozent. Eifriger erfüllen die Männer wohl kaum ihre politischen Pflichten, weder in Amerika noch in andern Ländern. Der amtliche Bericht spricht sich auch noch in anderer Beziehung günstig über jene Wahl aus:

»Besonders bemerkenswert,« heißt es, »war der Geist der Ordnung und Nüchternheit, der unter den Leuten herrschte. Die Frauen wurden auf keine Weise belästigt.«

Bei uns in Amerika wird als Hauptgrund gegen das weibliche Stimmrecht regelmäßig der Satz aufgestellt, daß die Frauen nicht zur Wahlurne gehen könnten, ohne sich tätlichen Beleidigungen auszusetzen. Dergleichen Weissagungen sind äußerst bequem. Seit im Jahre 1848 die Frauenbewegung begann, haben die Propheten nicht aufgehört zu verkünden, daß allerlei Unheil daraus entstehen würde; aber in einem Zeitraum von fünfzig Jahren ist noch nichts davon eingetroffen. Im Gegenteil, es ist den Frauen gelungen, aus dem amerikanischen Gesetzbuch eine große Anzahl ungerechter Verordnungen zu entfernen. Die Männer sollten alle Achtung vor ihren Müttern, Frauen und Töchtern haben und sie mit ganz andern Augen betrachten, nachdem sie sich in einer verhältnismäßig so kurzen Frist im wesentlichen aus ihrer Leibeigenschaft befreit haben. Ohne Blutvergießen hätten die Männer das nicht zustande gebracht; wenigstens haben sie es bis jetzt noch nicht getan, vermutlich, weil sie nicht wußten, wie sie es machen sollten. Aber selbst durch die friedliche und höchst wohltätige Umwälzung, welche die Frauen bewirkt haben, sind die Männer im Durchschnitt noch nicht zu überzeugen gewesen, daß die Frau Mut, Kraft, Ausdauer und Seelenstärke besitzt. Es gehört eben viel dazu, um den Durchschnittsmann von irgend etwas zu überzeugen. Vielleicht wird nichts imstande sein, ihn jemals zu der Erkenntnis zu bringen, daß die Frau ihm im Durchschnitt überlegen ist, und doch scheint das in mancher wichtigen Einzelheit wirklich der Fall zu sein, wie sich aus Tatsachen beweisen läßt. Seit Anbeginn der Welt hat der Mann das Menschengeschlecht regiert, und er wird zugeben müssen, daß die Welt bis zur Mitte dieses Jahrhunderts im allgemeinen recht träge, dumm und unwissend war. Jetzt sieht es schon weit weniger unerfreulich darin aus, und es wird mit der Zeit fort und fort besser. Die Frau hat gegenwärtig Gelegenheit zu zeigen was sie kann – und zwar zum allererstenmal. Wo wird wohl der Mann nach abermals fünfzig Jahren sein – das möchte ich wissen.

Im Gesetz von Neuseeland steht folgende Anmerkung:

»Wo in den Verordnungen das Wort Person vorkommt, ist die Frau mit inbegriffen.«

Das nenne ich doch eine Beförderung! Durch solche Erweiterung des Begriffs wird die weise Matrone, der eine fünfzigjährige Erfahrung zur Seite steht, mit einem Schlage in politischer Hinsicht gleichberechtigt mit dem einundzwanzigjährigen Bürschchen, das kaum trocken hinter den Ohren ist. Die Einwohnerzahl der Weißen in der Kolonie beläuft sich auf 626 000, die der Maori auf 42 000. Die Weißen wählen siebzig Mitglieder in das Abgeordnetenhaus und die Maori vier; auch die Maori-Frauen stimmen mit bei der Wahl ihrer vier Abgeordneten.

16. November. Nach einem viertägigen angenehmen Aufenthalt in Christchurch verlassen wir den Ort heute um Mitternacht. Mr. Kinsey hat mir einen Ornithorhynchus geschenkt, den ich zähmen will.

Sonntag den 17. Gestern abend fuhren wir in der ›Flora‹ von Lyttleton ab.

Ja, wahrlich! Und wer die Fahrt in der ›Flora‹ mitgemacht hat, wird sie sein Lebtag nicht vergessen, wie alt er auch werden mag. Das Schiff war auf wahnsinnige Art überfüllt. Wäre es in jener Nacht gesunken, so hätte man für die Hälfte der Leute, die an Bord waren, keinerlei Rettungsmittel auftreiben können. Wenn auch die Schiffseigentümer in technischer Hinsicht keinen Mordversuch gemacht hatten – von der moralischen Schuld konnte man sie nicht freisprechen.

Mir wurde ein Verschlag des großen Viehstalls zugeteilt, in welchem eine lange, doppelte Reihe Schlafkojen angebracht war, immer zwei übereinander. Ein Kattunvorhang diente als Zwischenwand; auf einer Seite befanden sich zwanzig Männer und Knaben, auf der andern zwanzig Frauen und Mädchen. Das Loch war so finster wie die Seele der Unionsgesellschaft und es roch darin wie in einem Hundestall. Als das Schiff aufs hohe Meer kam und anfing zu rollen und zu stampfen, fielen die Gefangenen in ihrer dunkeln Höhle sofort der Seekrankheit zum Raube. Durch das was nun folgte, wurden alle meine früheren Erfahrungen dieser Art völlig in den Schatten gestellt. Und dann das Heulen und Stöhnen, das Geschrei und Gekreische, die Stoßseufzer aller Art – es spottet jeglicher Beschreibung.

Die Frauen und Kinder, auch einige Männer und Knaben verbrachten die Nacht in dem Raume, weil sie zu krank waren, um sich zu rühren; wir übrigen aber standen allmählich auf und begaben uns nach dem Sturmdeck.

Nie zuvor war ich an Bord eines so abscheulichen Fahrzeugs gewesen. Als wir uns im Frühstückssalon zwischen den auf dem Boden und den Tischen dicht aneinander gelagerten, schwitzenden Passagieren hindurchwanden, ließ der Geruch an Kräftigkeit nichts zu wünschen übrig.

Beim ersten Anlegeplatz stiegen viele von uns aus, um ein anderes Schiff zu benutzen. Nach dreistündigem Warten fanden wir denn auch in dem ›Mahinapua‹ gute Unterkunft. Es war ein schmuckes kleines Fahrzeug von nur 205 Tonnengehalt, reinlich, bequem, gute Bedienung, gute Betten, ein guter Tisch und kein Gedränge. Die Wellen warfen es hin und her wie eine Ente, aber es war sicher und seetüchtig.

Ganz früh am Morgen kamen wir an den ›französischen Paß‹, eine enge Durchfahrt zwischen steilen Felswänden, die nicht viel breiter aussah wie eine Straße. Die Strömung schoß mit rasender Gewalt hindurch und das Schiff flog dahin wie ein Telegramm. In einer halben Minute lag der Engpaß hinter uns und wir kamen an eine breite Stelle, wo großartige Wasserwirbel in der Nähe von Untiefen fort und fort ihre stolze Runde machten. Ich fragte mich, wie es dem kleinen Fahrzeug wohl dabei ergehen würde. Das sollte ich nur allzubald erfahren. Die Wirbel hoben es auf, warfen es mit Leichtigkeit herum und landeten es ganz behutsam auf einer weichen, festen Sandbank. So sanft war die Berührung, daß wir sie kaum fühlten und gerade nur merkten, wie das Schiff erbebte, als es zum Stillstand kam. Das Wasser war hell wie Glas, man sah deutlich den Sand auf dem Grunde, und die Fische schienen im leeren Raum umherzuschwimmen. Rasch wurden die Angeln herausgeholt, aber noch bevor wir den Köder am Haken befestigen konnten, war das Schiff wieder flott und segelte auf und davon.

Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Es gibt Menschen, die im stande sind die edelsten Taten zu vollbringen; nur eines ist ihnen unmöglich, sie können es nicht unterlassen, Unglücklichen von ihrem Glück zu erzählen.

Querkopf Wilsons Kalender.

Nachdem wir noch Maryborough und einige andere australische Städte besucht hatten, schifften wir uns nach Neuseeland ein. Wenn es nicht den Anschein hätte, als wollte ich mich mit meiner Weisheit brüsten, so würde ich dem Leser sagen, wo Neuseeland liegt. Aber es geht ihm gewiß, wie es mir erging: er glaubt, daß er es schon weiß. Im allgemeinen ist man nämlich der Ansicht, daß Neuseeland irgendwo dicht bei Australien oder Asien liegt und man auf einer Brücke hinübergehen kann – aber das verhält sich nicht so. Neuseeland liegt nirgends dicht am Lande, sondern ganz für sich. Am nächsten ist es noch an Australien, aber doch durchaus nicht nahe, sondern zwölf bis dreizehnhundert Meilen entfernt, und eine Brücke gibt es nicht. Ich weiß das alles von einem Professor der Yale-Universität, den ich kurz vor meiner Reise nach dem Stillen Ozean auf einem Eriedampfer traf. Um mit ihm ins Gespräch zu kommen, brachte ich die Rede auf Neuseeland, in der Meinung, er werde nach einigen allgemeinen Bemerkungen dies Thema fallen lassen und von andern, ihm geläufigeren Dingen sprechen. War nur erst einmal das Eis gebrochen, so konnten wir Bekanntschaft machen und uns angenehm unterhalten. Zu meiner Ueberraschung setzte ihn jedoch meine Frage keineswegs in Verlegenheit, er schien sie vielmehr mit Freuden zu begrüßen. Fließend, ohne Anstoß, frei und zuversichtlich sprach er über den Gegenstand, während ich ihm mit Staunen und stets wachsender Bewunderung zuhörte, denn ich sah, daß er nicht nur wußte, wo Neuseeland lag, sondern auch dessen Geschichte, Politik, Religionen und Handelsverkehr bis ins einzelne kannte, und in der Flora, Fauna und Geologie, den Erzeugnissen und klimatischen Verhältnissen der Insel genau bewandert war. Als er geendet hatte, starrte ich ihn wie verzaubert an und sagte mir: der Mann weiß alles; im Reiche menschlicher Erkenntnis herrscht er als König.

Da ich begierig war, ihn noch mehr Wunder verrichten zu sehen, stellte ich ihm nun andere verfängliche Fragen, aber da erging er sich in Gemeinplätzen und kam nicht vom Fleck. Sobald man Neuseeland nicht aufs Tapet brachte, glich er dem seines Haupthaars beraubten Simson und war schwach, wie andere Menschen auch. Dies Rätsel ging mir so sehr im Kopf herum, daß ich alle Scheu überwand und ihn geradezu bat, es mir zu erklären.

Zuerst machte er Ausflüchte, dann meinte er lachend, es verlohne sich nicht der Mühe, die Sache in Dunkel zu hüllen, er wolle mir das Geheimnis anvertrauen, und erzählte folgende Geschichte:

»Letzten Herbst saß ich eines Morgens daheim bei der Arbeit, als eine Visitenkarte mit einem mir fremden Namen hereingebracht wurde; darunter stand eine Zeile, welche besagte, daß der unbekannte Besucher ein Professor der Theologie an der Wellington-Universität in Neuseeland war. Das setzte mich in große Verlegenheit, wegen der Kürze der Frist. Denn nach der Satzung unserer Hochschule mußte er von einem Mitglied der Fakultät zu Tische gebeten werden und zwar noch für den nämlichen Tag; die Einladung auf einen der folgenden zu verschieben wäre ein Verstoß gegen die herrschende Sitte gewesen. Diese verlangt außerdem, daß wenn ein fremder Gast zugegen ist, das Tischgespräch mit einem schmeichelhaften Hinweis auf sein Land, dessen große Männer, gelehrte Anstalten, Verdienste um den Kulturfortschritt und dergleichen eingeleitet wird. Dafür ist natürlich der Wirt verantwortlich; er muß entweder jene Bemerkungen selber machen oder Sorge tragen, daß ein anderer es tut. Meine Not war groß; je mehr ich mein Gedächtnis befragte, um so ängstlicher war mir zu Mute. Denn ich wußte ja gar nichts von Neuseeland, außer allenfalls wo es lag, nämlich irgendwo dicht bei Australien oder Asien, so daß man auf einer Brücke hinübergehen kann. Aber vielleicht war selbst das nicht richtig und jedenfalls genügte es nicht für das Tischgespräch. Es mußte ja der ganzen Fakultät zur Schande gereichen, wenn ich, ein Professor der ersten Universität Amerikas, eine so grobe Unwissenheit verriet; natürlich würde der Gast es weiter erzählen und sich über mich lustig machen.

»Mich überlief es heiß bei dem Gedanken. Ganz aufgeregt ging ich zu meiner Frau, sagte ihr alles und bat sie mir beizustehen, worauf sie vorschlug, sie wolle den Besuch einstweilen empfangen und sagen, ich sei ausgegangen, werde aber sogleich wiederkommen. Inzwischen solle ich zur Hintertür hinausschlüpfen und Professor Lawson ankündigen, daß er den Fremden zu Tische bitten müsse. Lawson wisse ja alles und könne gewiß die Ehre der Universität retten. Ich folgte ihrem Rat, ward aber schwer enttäuscht. Lawson – dies schrecklich gelehrte Haus – wußte nichts von Neuseeland, als daß es irgendwo dicht bei Australien oder Asien läge und man auf einer Brücke hinübergehen könne. Also war ihm alle seine Gelehrsamkeit nichts nütze, sie ließ ihn im Stich, wo er sie am nötigsten brauchte.

»Was war zu tun? Der Ruf der Universität stand auf dem Spiel; wir mußten die andern Mitglieder der Fakultät zu Hilfe holen. Vielleicht wußte doch einer von ihnen mehr über Neuseeland als wir. Zuerst riefen wir den Professor der Astronomie ans Telephon; er erwiderte, daß er nur wisse, Neuseeland läge irgendwo dicht bei Australien oder Asien und man ginge –

»Wir machten ›Schluß‹ und riefen den Professor der Biologie, welcher sagte, es sei dicht bei Aust – Abermals Schluß! – Nein, das ging nicht an, wir mußten einen andern Plan ausdenken. Lange überlegten wir hin und her und trafen endlich folgende Entscheidung: Das Mittagessen sollte bei Lawson stattfinden, und die Fakultät sofort per Telephon benachrichtigt werden, daß sie sich vorbereiten und fleißig studieren müsse, um nach acht und einer halben Stunde, wenn wir zu Tische kämen, so genau über Neuseeland unterrichtet zu sein, daß wir vor dem Gast nicht zu erröten brauchten. Um als gebildete Leute zu erscheinen, mußten wir über Bevölkerungszahl, Politik, Regierungsform, Handel, Steuern und Produkte des Landes Bescheid wissen, mußten seine alte und neue Geschichte kennen, nebst den verschiedenen Religionen, Gesetzen, klimatischen Verhältnissen, den Quellen, aus welchen sein Einkommen floß und dergleichen mehr; kurz wir mußten die Karten und das Konversationslexikon in- und auswendig lernen. Während wir uns so das Nötigste einpaukten, sollten die Damen der Fakultät nach einander, wie von ungefähr, zu meiner Frau herüber kommen und ihr beistehen, den Neuseeländer festzuhalten, damit er ja nicht ins Freie gelangen und uns bei unsern Studien stören könnte.

»Der Plan glückte vollkommen, aber er brachte alles zum Stillstand – die ganze Kulturarbeit der Universität geriet plötzlich ins Stocken. Die Annalen von Yale werden noch künftigen Geschlechtern von dem denkwürdigen Feiertage erzählen, an welchem die Räder des Fortschritts plötzlich gehemmt wurden und eine Sabbatstille eintrat, während die Fakultät sich gebührend vorbereitete, um mit Ehren in Gegenwart des Professors der Theologie aus Neuseeland bei Tische sitzen zu können.

»Als die Essensstunde kam, waren wir alle entsetzlich matt und müde, aber wohl unterrichtet, das muß ich sagen. Unsere Kenntnisse waren geradezu erstaunlich, und man konnte sich nicht genug wundern, wie natürlich und ungezwungen sie uns von den Lippen flossen. Neuseeland bildete ein völlig unerschöpfliches Thema der Unterhaltung.

»Auf einmal bemerkte jemand, daß unser Gast ganz verblüfft und stumm dasaß, und wir waren sogleich eifrig bemüht, ihn in die Unterhaltung zu ziehen. Da tat er den Mund auf und sprach uns in beredten Worten eine so ehrliche, aufrichtige Bewunderung aus, daß die Fakultät davor erröten mußte. Er sagte, er fühle sich unwürdig in der Gesellschaft solcher Männer zu sitzen – vor Staunen habe er geschwiegen, aber auch vor Scham über seine Unwissenheit. ›Achtzehn Jahre lebe ich schon in Neuseeland,‹ fuhr er fort, ›seit fünf Jahren bin ich Professor; ich sollte das Land und seine Einrichtungen genau kennen und weiß doch so gut wie nichts davon. Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß ich in diesen zwei Stunden bei Tische hundertmal mehr über Neuseeland erfahren habe, als je zuvor in der ganzen langen Zeit. Darum, bitte, meine Herren, lassen Sie mich schweigend zuhören und fahren Sie mit diesem Gespräch fort, bei dem ich Ihnen wenigstens folgen kann. Wenn Sie irgend ein anderes Thema wählen, um Ihre Gelehrsamkeit zu entfalten, würde ich mir ja ganz wie verraten und verkauft vorkommen. Wer über ein so kleines, unbedeutendes Stückchen Erde wie Neuseeland so genaue und umfassende Kenntnis besitzt, was mag der erst alles von andern Dingen wissen!‹« –

Sechsundzwanzigstes Kapitel.

Sechsundzwanzigstes Kapitel.

Die allgemeine Menschenliebe ist unser köstlichstes Gut – aber, wie selten ist es auch!

Querkopf Wilsons Kalender.

Aus dem Tagebuch. 1. November.

Wir fahren zwischen Tasmanien, dem früheren Vandiemensland, und den benachbarten Inseln hindurch. Von diesen Inseln aus haben die armen verbannten Wilden weinend nach ihrem verlorenen Heimatland hinübergeblickt, und vor Sehnsucht ist ihnen das Herz gebrochen. Mich freut es, daß die Vertilgung der eingeborenen Rassen jetzt ein Ende hat, da fast alle so gut wie ausgestorben sind. Von den Ureinwohnern Tasmaniens lebt wenigstens kein einziger mehr.

James Bonwick sagt in der Einleitung seines Buches über die ›verschwundene tasmanische Rasse‹:

»Die Eingeborenen Tasmaniens glaubten, sie seien allein auf der Welt. Ihre Haut war dunkel, ihre Augen glänzend; große Zähne, ein starker Unterkiefer, wolliges Haar, ein gekräuselter Bart, eine platte Nase, ein Leib voller Narben, wohlgeformte Füße und kleine Hände zeichneten sie aus. Die zerstreuten Stämme leben von der Jagd, den Ackerbau kannten sie nicht. Um Feuer zu machen, rieben sie zwei Holzstücke aneinander und brieten das Fleisch in der Asche. Sie besaßen weder Haus, noch Kochgerät, noch Kleidung außer rohen Tierfellen, hatten keine festen Wohnsitze und brauchten auch keine.

»Aber, trotzdem sie auf der tiefsten Stufe der Barbarei standen, waren sie weder einfältig noch unglücklich. In ihrer tausendjährigen Abgeschlossenheit hatten sie sich nicht über den rohesten Zustand erhoben, doch waren sie Menschen und konnten denken und fühlen.

»Sie hatten wenig leibliche, noch weniger seelische Bedürfnisse, dienten keinen Götzen und kannten keine Form der Gottesverehrung; nur das wilde, schauerliche Getöse von Sturm und Gewitter erfüllte sie mit unbestimmter Furcht. Ganz der Erde angehörig, Kinder an Verständnis, ohne höheres Streben, zufrieden mit der Nahrung und Freude, die ihnen der Tag brachte, lebten sie sorglos dahin, wie ihre Väter vor ihnen.

»Da landete eine andere Rasse auf der Insel, die auch das springende Känguruh verfolgte. Der Eingeborene sah einen Menschen gleich ihm, aber weiß von Haut, welcher Kleider trug und mit dem Donner bewaffnet war, den er aus dem Himmel entwendet hatte. In jene Täler und Wälder, wo sich die farbige Rasse solange unbekümmert ihres Lebens gefreut hatte, brachte der fremde Eindringling Mißtrauen und Arglist. Mit einem Schlage war alles verwandelt und ein neuer Himmel wölbte sich über den Menschenkindern.«

Die englische Flagge wurde aufgehißt und, wie in Sydney, eine Verbrecherkolonie gegründet. Zwar hatte die Regierung strengen Befehl erteilt, daß die Weißen den Eingeborenen freundlich begegnen und sie in ihrer Lebensweise nicht stören sollten, aber schon im Jahre 1804 kam es zu einem blutigen Zusammenstoß. Bei einer Känguruhjagd stürmten etwa vierhundert Eingeborene mit Frauen und Kindern den Berg hinunter; den englischen Soldaten war die Art der Wilden neu; in der Meinung, das bedeute einen kriegerischen Ueberfall, feuerten sie auf die harmlosen Leute und töteten ihrer fünfzig. Die Gegenwart der Frauen und Kinder war der sicherste Beweis friedlicher Gesinnung, aber das wußten die Soldaten nicht.

Von da ab scheiterten alle Bemühungen, das Vertrauen der Eingeborenen wieder zu gewinnen, und sie nährten einen unversöhnlichen Haß gegen die Weißen. Kein Wunder, denn sie kamen fast nur mit dem Auswurf derselben in Berührung: mit entflohenen Verbrechern, die als sogenannte Buschranger in den Wäldern hausten und vor keiner Schandtat zurückbebten und mit andern Bösewichten, meist früheren Deportierten, die auf einsamen Stationen als Diener der Weißen zerstreut in der Wildnis Tasmaniens wohnten, oft mit den Schwarzen in Streit gerieten und sie niederschossen.

Natürlich übten die Wilden Wiedervergeltung an allen Weißen, die in ihre Hände fielen, und der Kampf der Rassen ward Jahrzehnte lang auf beiden Seiten mit großer Grausamkeit fortgesetzt, wie sehr auch die Regierung bemüht war, eine Versöhnung herbeizuführen und die Eingeborenen zu schonen. Diese waren nicht zahlreich, aber wachsam, schlau und behende; sie kannten jeden Schlupfwinkel in ihrem Lande und es glückte ihnen trotz ihrer geringen Anzahl lange Zeit Widerstand zu leisten, so daß sie vielen Weißen Tod und Verderben brachten.

Die Regierung ergriff die verschiedensten Maßregeln, um womöglich die gänzliche Ausrottung der Eingeborenen zu verhindern: Sie wollte diese auf eine benachbarte Insel schaffen lassen und bot für jeden lebendig eingelieferten Schwarzen fünf Pfund als Prämie. Einen Wilden zu fangen ist aber kein leichtes Werk, und bei den Streifzügen der Weißen wurde meist, um einen Gefangenen zu machen, ein halbes Dutzend getötet. Das lag nun nicht in den Absichten der Regierung und man schritt daher zu einem andern Versuch: die Schwarzen wurden alle nach einem Ende der Insel getrieben und man zog zur Abwehr eine Truppenkette quer durch das Land, Auch das half wenig, denn die Eingeborenen brachen unaufhörlich durch und fuhren fort zu sengen und zu morden.

Nun erließ der Gouverneur eine gedruckte Proklamation, welche den Schwarzen befahl, die öde Gegend, die man ihnen angewiesen hatte, nicht zu verlassen! Aber das nützte nichts, weil keiner sie zu lesen verstand. Es folgte nun eine Proklamation in Bilderschrift, die auf Bretter gemalt und im Walde angenagelt wurde. Ich füge hier einen photographischen Abdruck derselben bei.

Ihre Bedeutung war im wesentlichen folgende:

  1. Der Gouverneur wünscht, daß Schwarze und Weiße einander lieben sollen.
  2. Er liebt seine farbigen Untertanen.
  3. Wenn ein Schwarzer einen Weißen tötet, wird er gehängt.
  4. Wenn ein Weißer einen Schwarzen tötet, wird er gehängt.

Die Ausführung ihrer mancherlei Pläne kostete der Regierung etwa 30 000 Pfund; mehrere Tausend Weiße strengten jahrelang alle Kraft und allen Scharfsinn an, um den gewünschten Zweck zu erreichen – aber, es war ein erfolgloses Bemühen. Endlich, nachdem die Feindseligkeiten zwischen beiden Rassen ein Vierteljahrhundert gedauert hatten, wurde der rechte Mann gefunden. Dies war Georg August Robinson, den die Geschichte ›den Versöhner‹ nennt. Er war zwar weder ein gebildeter noch ein angesehener Mann, sondern lebte als gewöhnlicher Maurer in der Stadt Hobart, doch muß er eine ganz wunderbare Persönlichkeit gewesen sein. Ich wäre gern weit gereist, um ihn einmal zu Gesicht zu bekommen, denn mag es auch irgendwo seinesgleichen in der Weltgeschichte gegeben haben, so ist mir doch davon nichts bekannt.

Die Aufgabe, die er sich stellte, war ein unerhörtes Wagestück. Er wollte in die Wildnis hinausgehen, wo sich die zu Tode gehetzten Eingeborenen, die kein Erbarmen kannten, in Sümpfen und Bergschluchten versteckten; unbewaffnet wollte er unter sie treten und sie durch Liebe und Güte bewegen, das wilde freie Leben in der Heimat, das ihrem Herzen so teuer war, aufzugeben und ihm zu den verhaßten Weißen zu folgen. Unter ihrem Schutz und Schirm und von ihren Wohltaten lebend, sollten die Eingeborenen dann den Rest ihres Daseins verbringen.

Auf den ersten Blick glaubte man es mit dem Hirngespinst eines Wahnsinnigen zu tun zu haben; alle Welt lachte und spottete darüber. Zwanzig Jahre früher hatte auch die Regierung gelacht, aber jetzt lieh sie dem Plan ihr Ohr; alle vernünftigen Maßregeln waren umsonst erschöpft worden, weshalb sollte man es nicht einmal mit einer unvernünftigen versuchen? Es konnte viel Gutes daraus entstehen und nichts Schlimmes – außer für den ›Versöhner‹ selbst.

Die Lage der Dinge war einzig in ihrer Art, etwas Aehnliches hatte die Welt noch nicht erlebt. Die weiße Bevölkerung belief sich im Jahre 1831 auf vierzigtausend, die Zahl der Eingeborenen betrug dreihundert, Weiber und Kinder mit eingeschlossen. Die Weißen waren mit Flinten bewaffnet, die Schwarzen mit Keule und Speer. So hatten sie einander seit fünfundzwanzig Jahren befehdet, ohne daß die Weißen den Sieg davontrugen, obwohl sie kein Mittel unversucht ließen, um die Eingeborenen zu fangen, zu töten und zur Unterwerfung zu zwingen. Die dreihundert unüberwindlichen Wilden wollten nicht nachgeben, keine Bedingungen annehmen und sich bis zum letzten Blutstropfen verteidigen. Dabei war nicht einmal ein Dichter unter ihnen, der ihren Heldenmut neu entfachen und ihre beispiellose Vaterlandsliebe in feurigen Gesängen preisen konnte!

Nach einem Vierteljahrhundert erbitterten Kampfes trotzten die überlebenden dreihundert nackten Wilden dem Gouverneur und seinen 40 000 noch ungebrochenen Mutes. Man wußte sich weder Rat noch Hilfe.

Da ging der Maurer Robinson – jener Wundermann – in die Wildnis hinaus, ohne Waffen und ohne Schutz, nur der Macht seiner Rede, seiner treuen Augen und seines menschenfreundlichen Herzens vertrauend. Er spürte die grimmigen Wilden in ihren Schlupfwinkeln auf, folgte ihnen in die dunkeln Wälder und auf die beschneiten Berggipfel und bezwang sie durch die Menschenliebe, die in ihm wohnte und mit überzeugender Gewalt aus seinem Wort und Wesen sprach. Vier Jahre lang ging er geduldig jeder einzelnen Gruppe der Schwarzen nach über Berg und Tal, viele hundert Meilen weit. Kam er zuerst in ihre Nähe, so stürmten sie auf ihn zu, um ihn zu töten, aber er wich und wankte nie, unbewaffnet stand er vor ihnen und zwang sie ihn anzuhören. Aber alle, die seine Rede vernahmen, warfen ihre Speere weg und zogen mit ihm.

In vier Jahren hatte er die Eingeborenen sämtlich herbeigebracht, ohne einen Tropfen Blut zu vergießen; freiwillig waren sie ihm gefolgt, hatten sich dem Gouverneur als Gefangene ergeben und dem Krieg ein Ende gemacht, der seit dem Jahre 1804 von vielen Tausenden mit Pulver und Blei vergebens geführt worden war.

Marsyas, der einst wilde Tiere durch den Zauber seiner Musik gezähmt haben soll, gehört ins Fabelreich; aber das Wunder, das Robinson vollbracht hat, ist eine geschichtlich beglaubigte Tatsache, die uns mit Staunen und Ehrfurcht erfüllt. Weder das Altertum noch die Neuzeit hat etwas aufzuweisen, das sich ihr an die Seite stellen ließe. Und zum Andenken des größten Mannes, den Australien und Ozeanien je hervorgebracht, ist dem ›Versöhner‹ Georg August Robinson von der dankbaren Nachwelt ein stattliches Denkmal errichtet worden, das in – – ach nein, ich bin im Irrtum – es ist das Denkmal eines andern Mannes, dessen Namen ich vergessen habe.

Robinsons eigene Zeitgenossen haben es jedoch nicht an Ehrenbezeigungen für ihn fehlen lassen und sich dadurch selbst geehrt. Die Regierung belohnte ihn mit einer großen Summe und verlieh ihm tausend Morgen Land; das Volk aber hielt Massenversammlungen, um seine Tat zu verherrlichen und es ward ihm, zum Zeichen der allgemeinen Hochachtung, ein reiches Geldgeschenk übergeben.

Uebrigens hatte Robinson sein großes Unternehmen nicht unbedachtsam begonnen; er war kein törichter Schwärmer, der sich blindlings in Todesgefahr stürzt. Vor allem verlangte er, daß die Feindseligkeiten seitens der Weißen gänzlich eingestellt würden, solange er sein Friedenswerk betrieb. Für das Gelingen derselben verließ er sich vor allem auf seine jahrlange genaue Kenntnis des Charakters der Eingeborenen, die er als menschliche Wesen betrachtete und nicht als wilde Bestien, wie es die Leute taten, die seinen Plan verspotteten. Auch ging er nur ungern allein; aber, obgleich hohe Summen geboten wurden, fand sich kein Weißer, der ihm unbewaffnet in die Wildnis folgen wollte, nur mehrere Eingeborene beiderlei Geschlechts, die sich den Weißen unterworfen hatten, ließen sich überreden, ihn zu begleiten, trotzdem sie einem beinahe sichern Untergang entgegengingen. Ein Beweis, wie groß sein Einfluß auf die Gemüter war.

Wenn wir bedenken, welchen Gefahren Robinson und seine schwarzen Führer trotzen mußten, so erfüllt uns die größte Bewunderung für seine Kühnheit und ihre unwandelbare Treue. Die wilden Stämme waren nirgends vereinigt, sie hausten in einzelnen Gruppen von zwanzig, zwölf, sechs oder selbst drei Personen in den Bergen, und es galt weite Strecken der ödesten Gegenden zu durchwandern, wo kein lebendes Geschöpf, selbst kein Vogel zu sehen war, weil sich dort keinerlei Nahrung vorfand. Mitten im Winter mußten die Friedensboten unter unsagbarer Mühsal über tiefe, reißende Ströme setzen, sechstausend Fuß hohe Berge erklimmen und sich durch gefährliches Dickicht ihren Weg bahnen.

»Bei allen Beschwerden und Entbehrungen bewies die kleine Schar jedoch einen wahren Heldenmut. In einem an den Sekretär Burnett gerichteten Brief vom 2. Oktober 1844 hat Robinson später die Schrecken geschildert, welche sie umgaben. Er sagt, die Eingeborenen hätten ein förmliches Grauen vor den furchtbaren Bergpässen gehabt; sieben Tage lang seien sie über ›endlose Eisfelder gewandert, wo die Schwarzen oft über die Hüften im Schnee versanken‹. Doch der ermutigende Zuruf ihres hochherzigen Freundes hielt die armen, schlecht gekleideten und genährten, bis aufs äußerste ermatteten Männer und Weiber immer wieder aufrecht, und sie wankten nicht in ihrer Ergebenheit.«

Bonwick, der uns dies alles schildert, sagt auch, daß Robinsons friedlicher Sieg über den Big River-Stamm die größte Tat war, die er vollbracht hat. Dieser Stamm stand unter dem allergefürchtetsten Häuptling und war der Schrecken der ganzen Kolonie. Lange mußte Robinson suchen und Drangsale aller Art durchmachen, bis er die grimmigen schwarzen Krieger endlich im Westen einer wilden Berggegend des Innern fand. Jetzt kam der entscheidende Augenblick. War auch das Unternehmen bisher von Erfolg gekrönt gewesen, so hoffte doch Robinson hier selbst auf kein Gelingen; er glaubte, seine Todesstunde sei gekommen.

In drohender Haltung, den achtzehn Fuß langen Speer in der Hand, stand der fürchterliche Häuptling da, hinter ihm seine kampfbereiten Krieger mit haßerfüllten Mienen, aus denen der alte Ingrimm gegen die weiße Rasse sprach. »Sie rasselten mit den Speeren und stießen ihr Kriegsgeschrei aus.« Die Weiber hielten einen neuen Vorrat von Waffen bereit, und alle harrten nur auf das Zeichen des Häuptlings zum Angriff.

Da nahm Robinson seinen ganzen Mut und alle Ueberredungskunst zusammen. Er begann seine Ansprache in des Stammes eigenem Dialekt, was den Häuptling verwunderte und ihm zu gefallen schien.

»Wer seid ihr?« fragte er.

»Eure Freunde.«

»Wo sind eure Schießgewehre?«

»Wir haben keine.«

Der Krieger staunte.

»Und eure kleinen Flinten (Pistolen)?«

»Wir haben keine.«

Es vergingen einige Minuten – die Stammesgenossen berieten untereinander. Inzwischen hatten sich Robinsons eingeborene Begleiterinnen zu den wilden Frauen hinübergewagt, um sie günstig zu stimmen. Der Häuptling aber trat zu den alten Weibern, welchen »die eigentliche Entscheidung über Krieg oder Frieden oblag,« um mit ihnen zu beraten.

»Auf das Schlimmste gefaßt,« fährt Bonwick fort, »harrte die kleine beherzte Schar des Ausgangs; ihre ängstliche Spannung war jedoch nur von kurzer Dauer. Da reckten die Frauen des Stammes dreimal die Arme in die Höhe, das war ein untrügliches Friedenszeichen. Die Speere senkten sich, und mit einem Seufzer der Erleichterung aus tiefer Brust und einem dankbaren Blick nach oben wagten die Geretteten näher heran zu treten. Als die Wilden in ihren Reihen Angehörige des eigenen Stammes erblickten, stürzten sie jubelnd und weinend auf sie zu. Nun folgte ein allgemeines Freudenfest, und mit Lachen und frohen Tänzen endete der ereignisreiche Tag.

»So war auch dieser gefürchtete Stamm zu friedlicher Unterwerfung gebracht worden. Um eine Handvoll Feinde zu bekämpfen, die sich nur mit hölzernen Speeren verteidigten, hatte die Regierung Riesensummen verausgabt und die ganze Bevölkerung der Kolonie zu den Waffen gerufen – das erfuhr man jetzt mit Staunen und Ueberraschung. Der berüchtigte Big River-Stamm, unter dem sich die Europäer in ihrer Furcht ein ganzes Heer vorgestellt hatten, bestand nur aus sechzehn Männern, neun Frauen und einem Kinde. Aber wieviel Unheil hatten sie in der ganzen Gegend angerichtet, welche wunderbaren Märsche hatten sie gemacht, wieviel Beweise von Mut und kriegerischer Tüchtigkeit gegeben! Alle eingeborenen Völkerschaften, welche je den Engländern Widerstand geleistet hatten, sowohl die Zulus in Afrika als die Maori in Neuseeland und die Araber im Sudan waren besser mit Waffen versehen, auch weit zahlreicher und erfahrener in der Kriegskunst als die nackten Tasmanier, die sich als so gefährliche Feinde erwiesen. Mit Recht hat sie der Gouverneur Arthur eine edle Rasse genannt.«

Ein wunderbares Volk, diese Eingeborenen! Man hätte sie nicht aussterben lassen, sondern sie mit der weißen Rasse vermischen sollen; dieser wäre das nur vorteilhaft gewesen, und den Eingeborenen hätte es keinen Schaden getan. Statt dessen wurde das Leben jener kühnen, wilden Menschenkinder unnütz vergeudet. Man pferchte sie auf den benachbarten Inseln in kleinen Ansiedlungen zusammen und die Regierung nahm sich ihrer väterlich an, ließ ihnen Religionsunterricht erteilen und verbot ihnen das Tabakrauchen, weil der Superintendent der Sonntagsschule das Tabakrauchen nicht leiden konnte und das Rauchen für sündhaft erklärte.

Die Eingeborenen waren weder an Kleider noch Häuser, noch regelmäßige Zeiteinteilung gewöhnt, Kirche, Schule, Sonntagsfeier, Arbeit und alle andern übelangebrachten Quälereien der Zivilisation hatten keinen Reiz für sie, und sie wurden die Sehnsucht nach dem freien, ungebundenen Leben in der Heimat nicht los. Zu spät bereuten sie, ihren Himmel gegen diese Hölle eingetauscht zu haben. Klagend saßen sie auf den fremden Felsenklippen und schauten Tag für Tag mit nassen Augen ins Meer hinaus, wo in der Ferne ihr einstiges Paradies in nebligen Umrissen auftauchte; so verzehrten sie sich einer nach dem andern in ungestilltem Verlangen, bis ihnen das Herz vor Heimweh brach.

Nach einigen Jahren war nur noch ein kleiner Ueberrest am Leben. Wenige schleppten sich weiter bis ins Alter. 1864 starb der letzte Mann und 1876 das letzte Weib; es lebte nun niemand mehr von den Spartanern Australiens.

Selbst der gutherzigste Weiße ist nun und nimmermehr befähigt für das Wohl der Wilden zu sorgen, das ist eine alte Erfahrung. Er sollte nur einmal versuchen den Spieß umzudrehen und sich vorzustellen, wie ihm zu Mute sein würde, wenn ein wohlmeinender Wilder ihm sein Haus, seine Kirche, seine Kleider, Bücher und Leckerbissen nehmen und ihn in eine schauerliche Einöde verbannen wollte, unter Sand und Klippen, Schnee und Eis, Hagel, Sturm und Sonnenglut, wo Schlangen, Aas und Gewürm seine einzige Nahrung wären und er kein Obdach, kein Lager, keine Decke fände, um seinen nackten Leib zu schützen. Das wäre für ihn die Hölle auf Erden. Warum kann er denn nun nicht einsehen, daß seine Zivilisation für den Wilden genau solche Hölle ist? Wahrlich, er sollte Verstand genug haben, um das zu begreifen; aber daran fehlt es ihm eben, daran hat es ihm zu allen Zeiten gefehlt. Wie wäre er sonst imstande gewesen, die unglücklichen Eingeborenen zu der entsetzlichen Qual seiner Zivilisation zu verdammen, und ein solches Verbrechen obendrein im besten Glauben zu begehen? – Er sah die armen Geschöpfe in ihrer Pein, schaute sie voll ratloser Unruhe an und ahnte nicht, was ihnen fehlen könne. Fast tun uns jene Missetäter leid in ihrer bodenlosen Unwissenheit; sie haben es so aufrichtig gemeint, sie waren so reich an guten, menschenfreundlichen Absichten! Weshalb die verbannten Wilden dahinstarben, war und blieb ihnen unbegreiflich, bis endlich ein Mann in einem gleichen Fall in Neusüdwales den Ausspruch tat: »Sie vergingen vor dem Zorn Gottes, der vom Himmel offenbar wurde gegen alle Sündhaftigkeit und Gottlosigkeit der Menschen.«

Das erklärt ja die Sache!

Neunzehntes Kapitel.

Neunzehntes Kapitel.

Es ist leichter gar nicht hineinzugehen als wieder herauszukommen.

Querkopf Wilsons Kalender.

Der Zug kam jetzt auf seiner Fahrt durch ein freundliches Hügelland und schlängelte sich an lachenden, grünen Tälern vorüber. Wir sahen Gummibäume der verschiedensten Art, darunter wahre Riesen. Einige hatten die Form und Rinde von Sykomoren, andere sahen höchst absonderlich aus und erinnerten an die seltsamen Apfelbäume auf japanischen Bildern. Ein ganz prächtiger Baum war mir völlig unbekannt; er trug Tannennadeln in großen Büscheln, die untere Hälfte hatte eine glänzend braune oder dunkle Goldfarbe, der obere Teil ein kräftiges, lebhaftes, beinahe schreiendes Grün – die Farbenwirkung war zauberhaft. Der Baum muß wohl sehr selten sein; alle Exemplare, welche wir zu sehen bekamen, standen auf einer Strecke, durch die wir in einer halben Stunde fuhren. Noch ein anderer Baum fiel mir auf, eine Art Fichte, wie man uns sagte. Die grüne Masse seines Laubwerks schien aus haarfeinen Fäden gewoben und wölbte sich als Krone über dem geraden, kahlen Stamme, wie eine aufsteigende zarte Rauchwolke. Er wuchs nicht gesellig in Gruppen oder Paaren; jeder einzelne Baum stand abgesondert von seinem Nachbar da. So verteilten sie sich in ihrer einsamen Größe weit über Abhänge und grasbewachsene, schwellende Hügel, wo der herrlichste Sonnenschein sie umflutete. Und so lange man den Baum noch erblicken konnte, sah man auch seinen kohlschwarzen Schatten auf dem glänzend grünen Teppich an seinem Fuß.

Wir fuhren häufig an blühenden Ginsterbüschen vorbei; die Pflanze ist aus England eingeführt. Ein Herr, der vorübergehend in unser Coupé kam, wollte mir den Unterschied zwischen gemeinem Ginster und Stechginster erklären; es wurde ihm jedoch schwer, da er ihn selbst nicht wußte. Zur Entschuldigung seiner Unkenntnis sagte er: vor diese Frage sei er im Verlauf von mehr als fünfzig Jahren, die er bereits in Australien lebe, noch niemals gestellt worden, und so hätte er sich nicht damit abgegeben. Zu entschuldigen brauchte er sich eigentlich kaum, denn nichts ist so allgemein verbreitet wie diese Untugend. Um alles Neue und Fremdartige bekümmern wir uns, aber sich für das Nächstliegende zu interessieren verstößt gegen die menschliche Natur. – Die verschiedenen Ginsterarten bildeten einen großen Schmuck der Landschaft. Hier und da hob sich plötzlich ihr grelles Gelb mit so leuchtendem Schein von dem düstern Hintergrund ab, daß man den Atem anhalten mußte vor Staunen und Ueberraschung. Dazu kam noch die einheimische Akazie mit ihrer üppigen Fülle goldgelber Blüten. Sie wächst als Busch oder Baum und ist wegen ihres Wohlgeruchs bei den Australiern sehr beliebt, denn den meisten dortigen Blumen fehlt der Duft.

Der Herr, dem ich den Mangel an Belehrung über die Ginsterarten verdankte, erzählte mir, er sei vor fünfzig Jahren mit sechsunddreißig Schillingen in der Tasche aus England in die Provinz Südaustralien eingewandert. Er kam als Abenteurer, ohne Gewerbe, ohne Beruf, ohne Freunde, doch hatte er ein bestimmtes Ziel vor Augen: er wollte im Lande bleiben, bis er sich 200 Pfund Sterling erworben hatte und dann wieder nach der Heimat zurückkehren. In fünf Jahren hoffte er dies Vermögen zu sammeln.

»Das ist jetzt über fünfzig Jahre her,« fügte er hinzu, »und ich bin noch immer da.«

Beim Hinausgehen traf er in der Tür mit einem Freunde zusammen, den er mir vorstellte. Wir plauderten und rauchten eine Weile miteinander, der Freund und ich, und dabei kamen wir auf jene Unterhaltung zu sprechen. Ich sagte, der Gedanke an das halbe Jahrhundert, welches sein Freund in der Verbannung verlebt habe, sei für mich tief ergreifend, und ich wollte, es wäre ihm gelungen, die 200 Pfund zu erwerben.

»O, darum machen Sie sich keine Sorge,« erhielt ich zur Antwort. »Ihm ist es nicht schlecht ergangen, das Glück war ihm hold. Er hat nur aus Bescheidenheit einige Einzelheiten seiner Geschichte verschwiegen. Damals kam er gerade rechtzeitig nach Südaustralien, um bei der Entdeckung der Burra-Burra-Kupferminen mitzuhelfen, die in den ersten drei Jahren 700 000 Pfund Sterling eingebracht haben. Bis jetzt beläuft sich ihr Gesamtertrag auf 20 000 000 Pfund, wovon mein Freund seinen Anteil erhalten hat. Er war noch nicht zwei Jahre im Lande, da hätte er heimkehren und sich ein ganzes Dorf kaufen können, und ich glaube, wenn er wollte, könnte er sich jetzt eine Stadt kaufen. Nein, der Mensch ist nicht zu beklagen; sein Kupfer wurde zu jener Zeit eine wahre Rettung für Südaustralien, denn eben waren die großen Landspekulationen fehlgeschlagen und alle Geschäfte lagen darnieder.«

Habe ich’s nicht gesagt? – Die romanhaftesten Geschichten sind in diesem Erdteil ganz an der Tagesordnung!

Im Jahre 1829 hatte Südaustralien noch keinen Weißen gesehen. 1836 gründete das britische Parlament dort in der Wüste eine Provinz, ernannte den Gouverneur und setzte die Regierung ein. Nun bemächtigten sich eifrige Unternehmer der Sache, man erwarb große Strecken Landes, beförderte die Einwanderung und lockte die Leute durch glänzende Versprechungen. In London wurden die Aktien der Gesellschaft fleißig ausgeboten und Mitglieder aller Stände, selbst des Adels und der Geistlichkeit, kauften was sie nur bekommen konnten. Die Ansiedlung begann; in den Sandregionen und den Sümpfen am Meeresstrande, die der Mangrove-Baum durchwurzelte, wurde Land abgesteckt, wo eine Stadt gegründet oder eine Farm angelegt werden sollte. Immer neue Scharen strömten herbei, der Preis für Grund und Boden stieg fort und fort; alles freute sich seines Lebens und der Schwindel wuchs ins Riesengroße. Mitten im Sande – da wo jetzt Adelaide liegt – sah man Hütten von Eisenblech und hölzerne Schuppen gleich Pilzen in die Höhe schießen; in den Wigwams des so rasch entstandenen Dorfes machte sich jedoch die neueste Mode breit. Reich gekleidete Damen spielten auf kostbaren Klavieren, Londoner Stutzer mit Frack und Lackstiefeln stolzierten umher; die seine Gesellschaft trank Champagner und führte in der armseligen Scheunenstadt ein Leben, wie sie es in den vornehmen Vierteln der großen Weltstadt gewohnt gewesen. Man errichtete Prachtgebäude für die Provinzialregierung und mitten in Gärten erhob sich ein Palast. Der Gouverneur, der darin seinen Sitz hatte, umgab sich mit einer Leibwache und einem Hofstaat. Straßen, Schiffswerften und Hospitäler wurden angelegt. Alles auf Kredit, auf dem Papier, für künstlich gesteigerte oder gefälschte Werte – nichts als Wind und leerer Schein!

Vier oder fünf Jahre lang ging die Sache flott, dann brach plötzlich alles zusammen. Rechnungen für ungeheure Summen, die der Gouverneur einschickte, wurden vom Schatzamt zurückgewiesen, der Kredit der Kolonialgesellschaft ging in Rauch auf, es entstand eine Panik, alle Werte fielen mit rasender Schnelligkeit. Die Einwanderer griffen entsetzt nach Ranzen und Stab, und die Gegend, in der es noch soeben von Menschen gewimmelt hatte, wie in einem Bienenkorb, war zur Einöde geworden.

Adelaide hatte sich schnell entvölkert; es zählte nur noch 3000 Einwohner. Zwei Jahre lang dauerte die Todeserstarrung, es war keine Aussicht auf Wiederbelebung, allmählich schwand jede Hoffnung. Dann folgte auf den raschen Niedergang ebenso plötzlich die Auferstehung. Die wunderbar reichen Kupferminen wurden entdeckt, der Leichnam erwachte zu neuem Leben und tat vor Freuden einen Luftsprung.

Im Nu war alles wie umgewandelt. Die Wollproduktion nahm einen gewaltigen Aufschwung, der Getreidebau blühte und zwar so üppig, daß die kleine Kolonie, welche früher ihr Mehl zu hohem Preise einführen mußte – man bezahlte einmal 50 $ für das Faß – schon vier oder fünf Jahre nach Auffindung des Kupfers einen bedeutenden Getreidehandel trieb. Und noch immer war das Glück nicht erschöpft: Nach einigen Jahren gefiel es der Vorsehung, ihr liebevolles Interesse für Neusüdwales an den Tag zu legen und vor aller Welt zu bezeugen, daß diese Kolonie um ihrer hohen Tugend und Gerechtigkeit willen, einen besonderen Beweis der göttlichen Gnade verdiene. In Broken Hill wurde – wie bereits gesagt – ein Silberschatz von unermeßlichem Wert entdeckt; aber Südaustralien ging über die Grenze und nahm ihn mit Lob und Dank in Besitz. Unter unsern Mitreisenden war ein Amerikaner, der einen Beruf hatte, den kein anderer Mensch auf Erden betreibt. Er kaufte nämlich sämtliche Känguruhfelle in Australien und Tasmanien für ein New Yorker Handelshaus. Die Preise waren nicht hoch, da kein Wettbewerb bestand, aber doch kosteten ihn die Felle jährlich 30 000 Pfund. Das wunderte mich, da ich mir eingebildet hatte, das Känguruh wäre in Tasmanien fast ausgestorben und auch auf dem australischen Festland nur noch selten zu finden. In Amerika werden die Felle gegerbt und zu Schuhen verarbeitet. Das gegerbte Leder bekommt einen neuen Namen, den ich jedoch vergessen habe; soviel ich weiß, erinnert er ganz und gar nicht an seine Abstammung vom Känguruh. Vor einigen Jahren versuchten die Deutschen eine Zeitlang dem Manne Konkurrenz zu machen; da sie aber das Geheimnis der Zubereitung des Leders nicht entdecken konnten, gaben sie das Geschäft wieder auf. Also habe ich wirklich einen Menschen gesehen, dessen Tätigkeit einzig in ihrer Art ist. Mir fällt wenigstens kein anderes Beispiel ein, daß ein einzelner einen ganzen Berufszweig für sich hat. Es gibt mehr als einen Papst, mehr als einen Kaiser, sogar mehr als einen Gott, der noch auf Erden wandelt und vor dem die Menschen auf den Knieen liegen. Ich habe selbst in Indien ein paar solcher Wesen gesehen und gesprochen, und von einem sogar seinen Autographen erhalten. Der kann mir gewiß noch einmal als Passierschein irgendwo Einlaß verschaffen.

In der Nähe von Adelaide verließen wir den Zug und fuhren im offenen Wagen über die Hügel zur Stadt hinunter. Die Fahrt dauerte etwa eine Stunde und war unbeschreiblich schön. In vielen Windungen zog sich die Straße an Klüften und Schluchten vorbei und bot die wechselvollsten Aussichten und Szenerien: Berge, Klippen, Landhäuser, Gärten und Wälder in wunderbarem Farbenglanz; die Luft war kräftig und frisch, der Himmel blau, kein Wölkchen verdunkelte die herrliche Sonne. Zuletzt öffnete sich die Bergkette, und nun breitete sich unten die weite Ebene aus, die nach allen Seiten hin in zarten, weichen, duftigen Farbentönen mit der nebligen Ferne verschwamm. An ihrem Rande dicht in unserer Nähe lag Adelaide.

Wir fuhren hinunter und besichtigten die Stadt, in der nichts mehr an die elenden Hütten und Holzschuppen erinnerte, aus denen sie zur Zeit des Länderschwindels bestand. Sie macht im Gegenteil einen ganz modernen Eindruck mit ihren breiten, dicht bebauten Straßen, den schönen Privathäusern, die in Laubwerk und Blumen wie begraben sind, und der stattlichen Menge öffentlicher Gebäude, in edlem, vornehmem Stil.

Das Land hatte gerade wieder einen großen Glücksfall zu verzeichnen, der alles in Aufregung brachte. Die Vorsehung wollte jetzt ihr liebevolles Interesse für die benachbarte Kolonie – Westaustralien – an den Tag legen und vor aller Welt bezeugen, daß sie wegen ihrer hohen Tugend und Gerechtigkeit einen besonderen Beweis göttlicher Gnade verdiene. Deshalb war in dieser Provinz kürzlich die goldene Schatzkammer von Coolgardie eröffnet worden; aber Südaustralien kam auch diesmal herbeigeschlichen und eignete sich mit Lob und Dank den riesigen Goldschatz an. Wer brav ist und geduldig wartet, dem fällt alles in den Schoß; er kann sogar die Pläne der Vorsehung durchkreuzen. Südaustralien besitzt jedoch auch eigene hohe Verdienste; es gewährt zum Beispiel jedem Fremden, der dort Zuflucht sucht, die gastlichste Aufnahme – ihm und seiner Religion. Nach der letzten Volkszählung hat es zwar nur 320 000 Einwohner, die Verschiedenartigkeit ihrer Religionen läßt jedoch darauf schließen, daß sich Leute von allen Orten und Enden des Erdballs darunter befinden. Das Verzeichnis aller dieser Religionen macht einen höchst merkwürdigen Eindruck; man würde Mühe haben irgendwo ein ähnliches aufzutreiben. Ich will eine Abschrift davon aus der amtlichen Liste hierhersetzen:

Englische Staatskirche 89 271
Römische Katholiken 47 179
Wesleyaner 49 159
Lutheraner 23 328
Presbyterianer 18 206
Independenten 11 882
Bibel-Christen 15 762
Aeltere Methodisten 11 654
Baptisten 17 547
Christliche Brüder 465
Jüngere Methodisten 39
Unitarier 688
Kirche Christi 3 367
Gesellschaft der Freunde 100
Heilsarmee 4 356
Kirche des neuen Jerusalem 168
Juden 640
Protestanten 5 532
Mohammedaner 299
Anhänger des Konfucius etc 3 884
Andere Religionen 1719
Konfessionslos 6 940
Nicht angegeben 8 046
320 431

Unter der Bezeichnung ›Andere Religionen‹, sind nach dem amtlichen Bericht folgende zu verstehen:

Agnostiker 50
Atheisten 22
Christgläubige 4
Buddhisten 52
Calvinisten 45
Christadelphianer 186
Christen 308
Christkapelle 9
Christliches Israel 2
Christlich Soziale 6
Gotteskirche 6
Kosmopoliten 3
Deisten 14
Evangelisten 60
Exklusive Brüder 8
Freie Kirche 21
Freie Methodisten 5
Evangelische Gemeinde 11
Griechische Kirche 44
Hugenotten 2
Hussiten 1
Ungläubige 9
Maroniten 2
Mennoniten 1
Mährische Brüder 139
Mormonen 4
Naturalisten 2
Orthodoxe 4
Unbestimmt 17
Heiden 20
Pantheisten 3
Plymouth-Brüder 111
Rationalisten 4
Reformierte 7
Freidenker 258
Anhänger Jesu 8
Shaker 1
Sintoisten 24
Spiritisten 37
Theosophisten 9
Sekularisten 12
Adventisten 203
Gesellschaft f. inn. Mission 16
Walliser Kirche 27
Anhänger des Zoroaster 2
Zwinglianer 1

Man sieht daraus wie gesund die dortige Atmosphäre für die Religionen ist. Alle kommen darin fort: Agnostiker, Atheisten, Freidenker, Ungläubige, Mormonen, Heiden, unbestimmte Bekenntnisse. Und die großen Sekten der Welt fristen dort nicht nur ihr Dasein, sondern blühen, gedeihen und breiten sich aus – alle, außer den Spiritisten und Theosophisten. Das ist noch die wunderbarste Seite dieser merkwürdigen Tabelle. Warum spielen die Geister wohl eine so kleine Rolle? Weshalb verschwinden sie hier fast ganz vom Schauplatz, während man sich doch aus dem Verkehr mit ihnen in der ganzen übrigen Welt einen willkommenen Zeitvertreib macht? –

Zweites Kapitel.

Zweites Kapitel.

Im Zweifelsfall sprich die Wahrheit!

Querkopf Wilsons Kalender

Am fünften Tag nachdem wir Victoria verlassen hatten, wurde das Wetter heiß und alle männlichen Passagiere an Bord erschienen in weißen Leinwandanzügen. Einige Tage später passierten wir den 25. Grad nördlicher Breite, worauf sämtliche Schiffsoffiziere auf Befehl die blaue Uniform ablegten und sich in weiße Leinwand kleideten. Auch die Damen waren bereits ganz in Weiß. Auf dem Promenadendeck sah es so verlockend kühl und vergnüglich aus, von allen den schneeweißen Kostümen, wie bei einem großen Picknick.

*

Aus meinem Tagebuch:

Es gibt mancherlei Uebel in der Welt, denen der Mensch nie ganz entfliehen kann, er mag reisen so weit er will. Ist man dem einen glücklich entgangen, so fällt man dem andern sicherlich in die Klauen. Die Lügengeschichten von Seeschlangen und Haifischen sind wir endlich los geworden, das ist ein tröstlicher Gedanke. Aber nun kommen wir in das Bereich des Bumerangs, und es wird uns wieder weh zu Mute. Der erste Offizier erzählte, er habe einen Mann gesehen, der sich vor seinem Feinde hinter einem Baum versteckte; aber der Feind schleuderte seinen Bumerang hoch in die Luft, daß er weit fortflog, dann kam er zurück, fiel herunter und tötete den Mann hinter dem Baum. Der nach Australien bestimmte Passagier hatte gesehen, wie dasselbe Geschick zwei Männer hinter zwei Bäumen ereilte und zwar mit ein und demselben Wurf des Bumerangs.

Da bei dieser Behauptung alle schwiegen, weil sie ihnen zweifelhaft erschien, bekräftigte er sie noch durch die Mitteilung, daß sein Bruder einmal gesehen hätte, wie der Bumerang einen Vogel auf hundert Meter Entfernung getötet und ihn dann dem Werfer gebracht hätte. – Es gibt keine Hilfe gegen derlei Uebel; man muß sie eben ertragen.

Vom Bumerang ging das Gespräch auf Träume über – gewöhnlich ein fruchtbares Thema zu Wasser und zu Land – aber diesmal war der Ertrag nur gering. Dann kam man auf Fälle von außerordentlichem Gedächtnis zu reden, das hatte bessern Erfolg. Jemand erwähnte den blinden Tom, einen schwarzen Klavierspieler, der jedes noch so lange und schwierige Stück richtig spielen konnte, nachdem er es einmal gehört hatte. Ein halbes Jahr später konnte er es abermals fehlerlos vortragen, ohne es inzwischen gespielt zu haben. Das auffallendste Beispiel erzählte uns aber ein Herr, der im Stabe des Vizekönigs von Indien gedient hatte. Er las uns vieles aus seinem Notizbuch vor, wo er die ganze Begebenheit auf frischer Tat eingetragen hatte, damit er sie, wie er sagte, Schwarz auf Weiß besäße und nicht in Versuchung käme zu glauben, er habe sie geträumt oder erfunden.

Der Vizekönig machte eine Rundreise, und unter den Festlichkeiten, die der Maharajah von Mysore ihm zu Ehren veranstaltete, war auch eine Vorstellung der Gedächtniskunst. Nachdem der Vizekönig mit dreißig Herren seines Gefolges in einer Reihe Platz genommen hatte, wurde der Gedächtniskünstler, ein vornehmer Mann aus der Brahminenkaste, hereingeführt und setzte sich ihnen gegenüber auf den Fußboden. Außer seiner eigenen Sprache konnte er nur Englisch, erbot sich aber, die gewünschten Gedächtnisproben auch in jeder beliebigen fremden Sprache abzulegen. Sein merkwürdiges Programm bestand in folgendem: Er ließ sich von einem Herrn ein Wort aus einem Satze sagen und den Platz angeben, den es darin einnahm. Das französische Wort est wurde ihm genannt; es war in einem Satz von drei Wörtern das zweite. Ein anderer Herr gab ihm das deutsche Wort verloren, als das dritte in einem Satz von vier Wörtern. Von dem nächsten Herrn ließ er sich eine Zahl zum Addieren, dann eine zum Subtrahieren nennen, auch andere Ziffern aus allerlei Rechenexempeln. Ferner erhielt er einzelne Wörter aus dem Griechischen, Lateinischen, Spanischen, Portugiesischen, Italienischen und andern Sprachen, nebst den Angaben ihrer Stelle im Satze. Als ihm jeder der Anwesenden das Bruchstück eines Satzes oder eine Zahl genannt hatte, fing er wieder von vorne an und ließ sich das zweite Wort und seine Stellung im Satze und die zweite Zahl in der Rechnung nennen, und so immer fort. Wieder und wieder nahm er alles vom Anfang an durch, bis er die sämtlichen Teile der Exempel und Sätze beisammen hatte, aber natürlich ganz durcheinander, ohne irgend welche Reihenfolge. Das dauerte zwei Stunden lang.

Nun starrte der Brahmine eine Weile schweigend und nachdenklich vor sich hin und begann hierauf alle Sätze in richtiger Wortstellung zu wiederholen, die verwirrten Zahlen der Rechenexempel zu ordnen und für jedes die entsprechende Lösung anzugeben.

Beim Beginn der Vorstellung hatte er die Zuschauer aufgefordert, ihn zwei Stunden lang mit Mandeln zu bewerfen, er wolle dann sagen, wie viele jeder von den Herren geworfen habe. Dies unterblieb jedoch, weil der Vizekönig meinte, das Kunststück wäre ohnehin schon anstrengend genug, man brauche es nicht noch zu erschweren.

Auch General Grant hatte ein treffliches Gedächtnis, besonders für Namen und Gesichter. Davon hätte ich ein Beispiel zum besten geben können, aber es fiel mir gerade nicht ein. Bald nach seiner ersten Wahl zum Präsidenten kam ich von der Küste des Stillen Ozeans in Washington an, wo ich fremd war und das Publikum noch nichts von mir wußte. Als ich nun eines Morgens am Weißen Hause vorüberging, begegnete mir ein Bekannter, ein Senator aus Nevada, der mich fragte, ob ich wohl Lust hätte, den Präsidenten zu sehen. Ich erwiderte, daß es mir sehr angenehm sein würde und wir traten ein. Wenn ich aber gedacht hätte, ich würde den Präsidenten von einer Menschenschar umgeben finden, so daß ich ihn von ferne in aller Gemütsruhe betrachten könnte, wie die Katz den Kaiser ansieht, so befand ich mich im Irrtum. Es war noch früh am Tage und ich ahnte nicht, daß der Senator sich ein Vorrecht seines Amtes zu nutze machen wollte, um das Staatsoberhaupt in seinen Arbeitsstunden zu stören. Ehe ich mich’s versah standen wir vor ihm, und außer uns dreien war niemand zugegen. General Grant erhob sich langsam vom Schreibtisch, legte die Feder hin und trat mit dem steinernen Ausdruck eines Mannes, der seit sieben Jahren nicht gelacht hat und auch in den nächsten sieben Jahren nicht zu lachen gedenkt, auf uns zu. Er schaute mich groß an, da schwand mir der Mut und ich senkte den Blick. Ich hatte noch nie einem bedeutenden Manne gegenüber gestanden und im Bewußtsein meiner eigenen Nichtigkeit überkam mich eine erbärmliche Angst.

»Herr Präsident,« sagte der Senator, »darf ich mir erlauben, Ihnen Herrn Clemens vorzustellen?«

Der Präsident hielt meine Hand einen Augenblick teilnahmslos in der seinen und ließ sie wieder los; er sprach kein Wort und stand nur stocksteif da. In meiner Not fiel mir auch nicht das geringste ein, was ich hätte sagen können und ich wünschte mich hundert Meilen weit weg. Es folgte eine unangenehme, trübselige, entsetzliche Pause. Da kam mir ein Gedanke; ich sah empor in sein unbewegliches Gesicht und sagte schüchtern:

»Herr Präsident, ich – ich bin in rechter Verlegenheit. Sie wohl auch?«

Seine Züge erhellten sich – nur ganz wenig – der schwache Schimmer eines Lächelns, der volle sieben Jahre zu früh kam, blitzte darin auf. So schnell wie er wieder verschwand, war auch ich zur Türe hinaus.

Zehn Jahre darauf sah ich Grant zum zweitenmal. Ich war inzwischen eine bekannte Persönlichkeit geworden und hatte den Auftrag erhalten, bei einem Bankett, das die Armee von Tennessee dem General nach seiner Rückkehr von der Reise um die Welt in Chicago gab, einen längeren Toast auszubringen. Mitten in der Nacht war ich angekommen und stand morgens spät auf. Alle Treppen und Gänge des Hotels waren dicht voll Menschen, die General Grant erwarteten, der sich auf den für ihn bestimmten Platz begeben sollte, wo der große Festzug vorüberzog. Ich drängte mich an einer ganzen Reihe von überfüllten Wohnzimmern vorbei, bis ich endlich an der Ecke des Hauses ein offenes Fenster sah, das auf eine geräumige, mit Teppichen und Fahnen geschmückte Plattform hinausging. Als ich sie betrat, gewahrte ich unter mir Millionen von Menschen, welche die Straßen besetzt hatten; weitere Millionen schauten aus allen Fenstern und von den Hausdächern rings umher. Diese Menschenmassen hielten mich alle für General Grant und brachen in donnernde Hochrufe aus. Es war aber ein sehr guter Platz um den Festzug zu sehen, deshalb blieb ich dort.

Nicht lange, so ertönte von ferne Militärmusik; der Zug kam die Straße herauf und machte sich Bahn durch die jubelnde Menge. An der Spitze ritt Sheridan, die kriegerischste Gestalt aus dem ganzen Feldzug, in seiner Generalleutnants-Uniform.

Da trat General Grant Arm in Arm mit Major Harrison auf die Plattform; ihm folgten paarweise im Galaanzug die Mitglieder des Empfangskomités mit ihren Abzeichen. Der General sah genau so aus wie vor zehn Jahren bei jenem unangenehmen Besuch, eisern und unnahbar in seiner unerschütterlichen Selbstbeherrschung. Harrison kam und führte mich zu Grant, dem er mich feierlich vorstellte. Aber ehe ich noch die passenden Worte finden konnte, sagte der General:

»Herr Clemens, Sie sind wohl in Verlegenheit? Ich nicht.« Und dabei blitzte wieder, wie vor zehn Jahren, jenes schwache Lächeln in seinen Zügen auf.

Seitdem sind siebzehn Jahre vergangen, und während ich dies schreibe ist ganz New York auf den Straßen versammelt, um den sterblichen Ueberresten des großen Kriegers, die man zu ihrem letzten Ruheplatz unter dem Denkmal trägt, das Ehrengeleit zu geben. Kanonenschüsse und Trauergeläute schallen durch die Lüfte und viele Millionen Amerikaner gedenken des Mannes, der die Union gerettet, ihr Banner hochgehalten und der Volksregierung zu neuem Leben verholfen hat, so daß sie unter den segensreichen menschlichen Institutionen ihren Platz dauernd behaupten wird, wie wir hoffen und glauben.

Eine Geschichte ohne Ende.

Abends, wenn wir Männer uns nach dem öden, einförmigen Tageslauf im Rauchzimmer erfrischen wollten, vertrieben wir uns manchmal die Zeit damit, unvollendete Geschichten zu vervollständigen. Das heißt, jemand erzählte eine Geschichte bis auf das Ende und die andern versuchten den Schluß aus eigener Erfindung zu ergänzen. Wenn jeder, der wollte, seine Lesart zum besten gegeben hatte, fügte der erste Erzähler den ursprünglichen Schluß hinzu und überließ uns die Wahl. Manchmal gefiel uns eines der neuen Enden besser als das alte. Eine Geschichte jedoch, mit der wir uns am eifrigsten und längsten beschäftigten, hatte überhaupt keinen Schluß, man konnte daher auch keinen Vergleich anstellen, ob eine unserer Erfindungen besser gewesen wäre. Der Erzähler sagte, er könne die einzelnen Tatsachen nur bis zu einem gewissen Punkte berichten, weiter wisse er selber nichts. Er hätte die Geschichte vor fünfundzwanzig Jahren gelesen, sei aber unterbrochen worden, ehe er ans Ende kam. Nun wolle er demjenigen, der einen befriedigenden Schluß dazu fände, fünfzig Dollars geben; wir möchten Richter aus unserer Mitte wählen, die zu entscheiden hätten, wem der Preis gebühre. Das taten wir und gingen der Geschichte wacker zu Leibe; aber, obgleich wir uns dies und jenes Ende ausdachten, so verwarfen die Richter doch alles, was vorgebracht wurde – und sie hatten recht. Einen befriedigenden Schluß für diese Geschichte hätte nur der Verfasser selbst möglicherweise finden können, und wenn ihm das gelungen ist, so möchte ich wohl wissen wie. Ihr Inhalt ist etwa folgender:

John Brown, ein guter, sanfter, ängstlicher und schüchterner Mensch von einunddreißig Jahren, wohnte in einem friedlichen Dorfe des Staates Missouri, wo er das Amt eines Vorstands der presbyterianischen Sonntagsschule bekleidete. Das war an sich nichts Großes, aber doch das Einzige, womit er in die Öffentlichkeit trat. Er betrieb es mit Treue und Eifer und war in aller Bescheidenheit stolz darauf. Jedermann kannte seine große Menschenfreundlichkeit und die Leute sagten, er sei ganz aus Güte und Schüchternheit zusammengesetzt. Auf seine Hilfe könne man immer rechnen, wo sie gebraucht werde und auch auf seine Schüchternheit, mochte sie am Platze sein oder nicht.

Mary Taylor, ein sittsames, liebenswürdiges und schönes Mädchen von dreiundzwanzig Jahren, war sein ein und alles, und auch ihr Herz gehörte ihm fast ganz. Noch schwankte sie zwar, ob sie ihm ihr Jawort geben sollte, aber er war doch voller Hoffnung. Ihre Mutter hatte im Anfang allerlei Einwendungen gehabt; jetzt neigte sie sich zu seinen Gunsten. Offenbar hatte sein warmes Interesse für ihre beiden Schützlinge und seine Beisteuer zu deren Unterhalt ihr Herz gerührt und erobert. Diese Schützlinge waren nämlich zwei alte einsame Schwestern, die in einer Holzhütte an einem entlegenen Kreuzweg, vier Meilen weit von Frau Taylors Farm wohnten. Eine der Schwestern war irrsinnig und manchmal sogar gewalttätig, aber das kam nicht häufig vor.

Eines Tages glaubte Brown, daß der rechte Augenblick für den entscheidenden Antrag gekommen sei. Er nahm allen Mut zusammen und beschloß, der Mutter, um sie günstig zu stimmen, die doppelte Summe wie gewöhnlich zu überreichen. War erst ihr Widerstand gebrochen, so durfte er eines schnellen Sieges gewiß sein.

An einem schönen Sonntagnachmittag machte er sich also bei mildem Sommerwetter auf den Weg, gehörig ausstaffiert, wie es die Gelegenheit verlangte. Er war ganz in weiße Leinwand gekleidet, trug ein blaues Band als Krawatte und enge Lackstiefel; sein Einspänner war der feinste aus dem ganzen Mietstall, mit einer nagelneuen, weißleinenen Wagendecke, deren breiter, gestickter Rand an Schönheit und Kunst seinesgleichen suchte.

Schon war er vier Meilen gefahren, als er in einsamer Gegend über eine hölzerne Brücke kam; da flog ihm der Strohhut vom Kopfe, fiel in den Fluß und wurde stromabwärts getrieben, bis er an einem Balken hängen blieb. Brown besann sich, was er tun sollte; den Hut mußte er wiederbekommen, das verstand sich von selbst, aber wie ließ sich das bewerkstelligen?

Da kam ihm ein Gedanke. Die Straße war menschenleer, nichts regte sich. Ja, er wollte es wagen. Nachdem er sein Tier an den Rain geführt hatte, wo es nach Belieben grasen konnte, zog er sich aus, legte seine Kleider in den Wagen, streichelte dem Pferde den Hals, zum Zeichen beiderseitigen Wohlwollens, und eilte zum Fluß. Er schwamm nach dem Balken und gelangte rasch wieder in Besitz seines Hutes; als er aber ans Ufer zurückkehrte, waren Pferd und Wagen fort.

Der Schrecken fuhr ihm in alle Glieder. Da er aber sah, wie das Pferd im Schritt den Weg weiter verfolgte, trabte er hinterdrein. »Halt, halt,« rief er, »warte mein gutes Tier!« Aber so oft er nahe genug herankam und sich im Sprung auf den Wagen schwingen wollte, lief das Pferd schneller und vereitelte sein Bemühen. In Todesangst rannte der nackte Mann immer weiter, jeden Augenblick fürchtend, einen Menschen zu Gesicht zu bekommen. Er bat, er beschwor das Tier stillzustehen; aber erst als er nicht mehr weit von Frau Taylors Behausung war, gelang es ihm endlich, in den Wagen zu springen. Rasch warf er das Hemd über, band seine Krawatte um, schlüpfte in den Rock und langte nach den – aber ach, zu spät! Er setzte sich plötzlich nieder und zog die Wagendecke in die Höhe, denn er sah jemand durch das Hoftor kommen – eine Frau, wie ihm schien. Eilig lenkte er das Pferd zur Linken auf den Kreuzweg. Der war schnurgerade und von allen Seiten sichtbar, aber in einiger Entfernung kam eine Waldecke, wo die Straße eine scharfe Krümmung machte. Er pries sich glücklich, als er die Stelle erreicht hatte, ließ das Pferd im Schritt gehen und langte nach den Ho – aber leider wiederum zu spät.

Gerade als er um die Ecke bog, stieß er auf Frau Enderby, Frau Glossop, Frau Taylor und Mary, die zu Fuß einherkamen und sehr müde und aufgeregt schienen. Sie traten an den Wagen, schüttelten Brown die Hand und versicherten alle zusammen aufs lebhafteste, wie froh sie wären ihn zu sehen und was für ein Glück es sei, daß er da wäre. Frau Enderby fügte mit großem Nachdruck hinzu:

»Mag es auch wie ein Zufall aussehen, daß er gerade jetzt kommt, so halte ich es doch für eine Sünde, das anzunehmen – nein, er ist uns gewißlich vom Himmel gesendet.«

Alle waren gerührt und Frau Glossop flüsterte mit ehrfurchtsvoller Scheu:

»Da hast du ein wahres Wort gesprochen, Sarah Enderby. Es ist kein Zufall, sondern die Vorsehung hat es so gewollt. Als Engel hat sie ihn uns geschickt; er kommt als ein Retter und Befreier. Nun soll mir noch jemand sagen, daß es keine besonderen Fügungen des Himmels gibt; wir haben hier den klarsten Beweis vor uns.«

»Ja,« fiel Frau Taylor begeistert ein, »das ist auch meine Ueberzeugung. Wahrhaftig, John Brown, ich könnte vor Ihnen niederknieen und Sie anbeten. Fühlten Sie es nicht im Herzen – trieb Sie nicht eine innere Stimme hierher? O, ich könnte den Saum Ihrer Wagendecke küssen.«

Er brachte kein Wort heraus; Scham und Furcht lähmten ihm die Zunge.

»Mag man die Sache betrachten wie man will, Julia Glossop,« fuhr Frau Taylor fort, »in allem läßt sich die Hand der Vorsehung sichtbarlich erkennen. Gegen Mittag sahen wir den Rauch aufsteigen. ›Die Hütte der alten Schwestern brennt, Julia‹, sagte ich. Nicht wahr, du kannst es bezeugen?«

»Jawohl, Nancy, ich stand dicht bei dir und habe es deutlich gehört. Du warst ganz blaß geworden und sahst so weiß aus wie hier die Wagendecke.«

»Kein Wunder! Und dann rief ich Mary zu, der Knecht solle gleich das Gefährt anspannen, wir müßten den Aermsten zu Hilfe eilen. Aber der war aufs Land gefahren, um seine Angehörigen zu besuchen. Ich hatte ihm selbst erlaubt, über den Sonntag zu bleiben, es jedoch ganz vergessen. So gingen wir denn zu Fuß und trafen Sarah unterwegs.«

»Ja, und ich ging mit euch,« fiel Frau Enderby ein. »Wir fanden die Hütte in Asche liegen; die Irrsinnige hatte sie in Brand gesteckt. Die beiden alten Geschöpfe waren so schwach und hinfällig, daß wir sie nicht mitnehmen konnten. Wir führten sie an einen schattigen Platz, machten es ihnen behaglich so gut es ging und zerbrachen uns den Kopf, wie wir es anfangen sollten, um sie bis nach Nancys Haus zu schaffen. Da brach ich das Schweigen, und wißt ihr noch, was ich gesagt habe? ›Wir wollen es der Vorsehung anheimstellen!‹ Ja, das waren meine Worte.«

»Richtig, das hatte ich ganz vergessen. So wahr ich lebe, du hast es gesagt. Wie wunderbar!«

»Dann sind wir zusammen zwei Meilen weit bis zu Mosleys gegangen, aber wir fanden niemand zu Hause, alle waren im Feldgottesdienst. Wir kamen die zwei Meilen zurück und dann noch eine Meile hieher. Und nun schickt uns die Vorsehung Hilfe in der Not, das seht ihr ja selbst.«

Alle blickten einander an, hoben die Hände empor und riefen wie aus einem Munde:

»Es ist zu wunderbar!«

»Wie wollen wir es nun aber machen?« fragte Frau Glossop. »Soll Herr Brown die alten Schwestern einzeln zu Frau Taylor fahren oder sie alle beide auf einmal in den Wagen setzen und das Pferd am Zügel führen?«

Brown holte tief Atem.

»Ja, das ist recht schwierig zu entscheiden,« meinte Frau Enderby. »Wir sind alle todmüde, und wenn Herr Brown die beiden schwachen Geschöpfe in den Wagen heben soll, so muß eine von uns mitgehen und ihm helfen; allein bringt er das nicht fertig.«

»Wie wär’s denn aber, wenn ich mit Herrn Brown hinführe?« sagte Frau Taylor, »und ihr andern ginget nach meinem Haus, um alles in Bereitschaft zu setzen? Wir heben die eine Alte zusammen in den Wagen und fahren mit ihr –«

»Wer wird denn aber unterdessen auf die andere acht geben?« fragte Frau Enderby. »Sie kann doch nicht allein im Walde bleiben – die Irrsinnige schon gar nicht. Bis man hin- und zurückkommt dauert’s gute anderthalb Stunden.«

Alle hatten sich, um auszuruhen, neben den Wagen ins Gras gesetzt und dachten schweigend nach, um einen Ausweg zu finden.

»Jetzt hab‘ ich’s,« rief endlich Frau Enderby, frohlockend. »Daß wir nicht mehr zu Fuß gehen können ist klar; seit Mittag haben wir neun Meilen zurückgelegt ohne einen Bissen zu essen – vier Meilen hin, zwei Meilen zu Mosley macht sechs, und dann noch bis hierher – es ist kaum zu glauben! Also, eine von uns muß mit Herrn Brown hinfahren und mit einer Alten zurückkommen; Brown leistet der anderen Gesellschaft. Die übrigen gehen nach Nancys Wohnung, ruhen sich aus und warten; dann fährt eine von uns zurück, holt die andere Alte, und Herr Brown geht zu Fuß.«

»Vortrefflich,« riefen die Damen, »das können wir tun, so läßt sich’s machen!«

Frau Enderbys Plan ward sehr gelobt, und um ihren Scharfsinn zu ehren, beschloß man, daß sie zuerst mit Brown zurückfahren solle. Glücklich und leichten Herzens standen alle vom Rasen auf, strichen ihre Kleider glatt und schickten sich zur Heimkehr an, während Frau Enderby schon den Fuß auf den Wagentritt setzte, um einzusteigen. Da endlich konnte Brown Worte finden und stieß keuchend hervor:

»Bitte, rufen Sie die Damen zurück – ich fühle mich unwohl – ich kann nicht zu Fuß gehen – es ist mir völlig unmöglich.«

»O, lieber Herr Brown, Sie sehen wirklich ganz blaß aus! Weshalb habe ich das nur nicht gleich bemerkt? Kommt alle zurück, hört ihr! Herr Brown ist krank. Ach, es tut mir so leid. Kann ich Ihnen helfen? Haben Sie Schmerzen?«

»Nein, o nein, mir fehlt nichts, ich fühle mich nur in letzter Zeit zu schwach – sonst hat es gar nichts auf sich.«

Die Damen kehrten um und waren voller Teilnahme und Mitgefühl. Auch machten sie sich bittere Vorwürfe, weil ihnen Browns blasses Aussehen nicht sofort aufgefallen war. Augenblicklich entwarfen sie einen neuen Plan und kamen bald überein, daß es sich so am allerbesten machen würde: Zuerst wollten sie alle zu Frau Taylor gehen; dort sollte sich Herr Brown im Wohnzimmer auf das Sofa legen und sich von Mary und ihrer Mutter pflegen lassen, während die andern Damen erst eine der alten Schwestern abholten und dann die andere, welcher eine von ihnen inzwischen Gesellschaft geleistet hatte, und –

Unter solchen Beratungen waren sie zu dem Pferde getreten und schickten sich an, den Wagen zu wenden. Aber in der höchsten Gefahr fand Brown die Stimme wieder und das war seine Rettung.

»Meine Damen,« sagte er, »Sie übersehen einen Umstand, der den Plan unausführbar macht. Wenn Sie die eine alte Schwester nach Hause bringen und jemand mit der anderen dort bleibt, so sind drei Personen an Ort und Stelle, wenn eine von Ihnen zurückkommt, um die andere Alte zu holen. Aber drei haben nicht Platz im Wagen und jemand muß doch kutschieren.«

»Ganz recht, so ist es,« riefen alle in großer Bestürzung.

»Was sollen wir nur anfangen?« sagte Frau Glossop seufzend; »eine so verwickelte Geschichte ist mir noch nie vorgekommen. Die Sache mit dem Wolf, der Ziege und dem Kohlkopf ist dagegen nur ein Kinderspiel.«

Ganz ermattet setzten sie sich abermals nieder, um sich aufs neue das Hirn zu zermartern und einen Ausweg zu suchen. Mary hatte bisher noch keinen Vorschlag gemacht, endlich tat sie aber den Mund auf:

»Ich bin jung, stark und gut zu Fuße,« sagte sie, »auch habe ich jetzt eine Weile ausgeruht. Bringt Herrn Brown in unser Haus und sorgt für ihn – man sieht ihm ja an, wie sehr er der Pflege bedarf. Inzwischen will ich die beiden Alten behüten, in einer halben Stunde kann ich dort sein. Ihr andern aber führt unsern ersten Plan aus und paßt auf, bis ein Wagen auf der Landstraße vorbeifährt, den schickt ihr hin und laßt uns alle drei holen. Die Pächter kommen jetzt bald aus der Stadt zurück, da braucht ihr nicht lange zu warten. Der alten Polly will ich schon zureden, daß sie Geduld hat und guten Mutes bleibt – bei der Irrsinnigen ist das nicht nötig.«

Der Plan ward reiflich erwogen und gut befunden; etwas Besseres ließ sich unter den Umständen nicht tun, und den beiden Alten wurde gewiß die Zeit schon lang. Brown fühlte sich wie erlöst und von Herzen dankbar. Wenn er nur erst auf der Landstraße war, wollte er schon Mittel und Wege finden, dem Unheil zu entgehen.

»Die Abendkühle wird früh hereinbrechen,« sagte jetzt Frau Taylor, »und die armen Abgebrannten haben nichts, um sich zu erwärmen. Nimm die Wagendecke mit, liebes Kind, das ist wenigstens ein Notbehelf.«

»Das kann ich ja tun, Mutter, wenn du meinst,« versetzte Mary. Sie trat zum Wagen und streckte die Hand nach der Decke aus –

*

Weiter ging die Geschichte nicht. Der Passagier, der sie uns erzählte, sagte, er sei vor fünfundzwanzig Jahren, als er sie im Eisenbahnwagen las, an diesem Punkt unterbrochen worden, weil der Zug von einer Brücke ins Wasser stürzte.

Zuerst glaubten wir, es würde ein Leichtes sein, die Geschichte zu Ende zu bringen und gingen sehr zuversichtlich ans Werk. Bald stellte sich jedoch heraus, daß die Sache keineswegs so einfach war, sondern im Gegenteil höchst verworren und schwierig. Daran war Browns Charakter schuld – seine Großmut und Güte, verbunden mit außerordentlicher Schüchternheit und Befangenheit, besonders in Gegenwart von Damen. Ferner kam seine Liebe zu Mary mit ins Spiel, die zwar sehr hoffnungsvoll, aber noch keineswegs der Erhörung sicher war – das heißt, gerade in einem Stadium, wo die größte Vorsicht geboten schien, um weder einen Mißgriff zu begehen, noch Anstoß zu erregen. Und es galt die Mutter zu berücksichtigen, die noch schwankte, ob sie einwilligen solle, und die sich vielleicht jetzt oder nie gewinnen ließ, wenn man sie geschickt zu behandeln wußte. Im Walde warteten die beiden hilflosen Alten – ihr Schicksal und Browns künftiges Lebensglück hing von der nächsten Sekunde ab. Mary streckte die Hand nach der Wagendecke aus; es war keine Zeit zu verlieren.

Natürlich konnte der Preis nur jemand zuerkannt werden, der die Sache zu einen: glücklichen Ende brachte. Browns Ansehen bei den Damen durfte nicht geschmälert, seine Selbstlosigkeit nicht in Frage gestellt, sein Anstandsgefühl nicht verletzt werden. Er mußte helfen die beiden Alten aus dem Walde zu holen, so daß man ihn als ihren Wohltäter pries, sein Lob in aller Munde war und sein Name mit Stolz und Freude genannt wurde.

Wir versuchten es so einzurichten; aber auf allen Seiten stellten sich uns unüberwindliche Schwierigkeiten entgegen. Natürlich würde Brown aus Scham und Befangenheit die Wagendecke nicht hergeben wollen. Dies mußten Mary und ihre Mutter übel nehmen, und auch die anderen Damen würden sich sehr darüber verwundern, denn ein solches Benehmen, wo es den unglücklichen Alten zu helfen galt, paßte nicht zu Browns Charakter; er war ja als Engel vom Himmel gesandt und konnte unmöglich so eigennützig handeln. Hätte man eine Erklärung von ihm verlangt, so wäre er viel zu schüchtern gewesen, um die Wahrheit zu bekennen, und aus Mangel an Uebung und Erfindungsgeist würde ihm keine glaubhafte Lüge eingefallen sein.

Wir arbeiteten bis drei Uhr morgens an dem schwierigen Problem herum; aber noch immer langte Mary nach der Wagendecke. Da gaben wir es auf und ließen sie weiter die Hand danach ausstrecken. – Nun kann sich der Leser selbst das Vergnügen machen, zu entscheiden, was aus der Sache geworden ist.

Am siebenten Tage unserer Fahrt sahen wir eine ungeheure dunkle Masse in schwachen Umrissen aus den Fluten des Stillen Ozeans aufsteigen und wußten, daß dies gespenstische Vorgebirge der Diamantfels war, den ich zuletzt vor neunundzwanzig Jahren erblickt hatte. Wir näherten uns also Honolulu, der Hauptstadt der Sandwichinseln, die für mich das Paradies waren; ich hatte die ganze lange Zeit über gewünscht, sie noch einmal wiederzusehen. Nichts in der weiten Welt hätte mich so aufregen können, wie der Anblick jenes Bergriesen.

Bei Nacht gingen wir eine Meile vom Ufer vor Anker. Durch meine Kajütenfenster konnte ich die Lichter von Honolulu funkeln sehen; zur Rechten und Linken dehnten sich schwarze Gebirgszüge aus. Das schöne Nuuana-Tal vermochte ich nicht zu entdecken, aber ich wußte, wo es lag und sah es in der Erinnerung noch deutlich vor mir. Wir jungen Leute pflegten dies Tal öfters zu Pferde zu durchstreifen und in einer sandigen Gegend, wo König Kamehameha eine seiner ersten Schlachten geschlagen hatte, Totenknochen zu sammeln.

Das war ein merkwürdiger Mensch; merkwürdig nicht nur als König, sondern auch als Barbar. Noch ein kleiner, unbedeutender Fürst, als Kapitän Cook 1778 ins Land kam, faßte er vier Jahre später den Entschluß, ›seine Machtsphäre auszudehnen‹. Dies ist die beliebte Redewendung, durch die man heutzutage bezeichnet, daß jemand Raub an seinem Nachbar begeht, und zwar zu dessen eigenem Vorteil – eine Wohltätigkeitsvorstellung, bei welcher als Ort der Handlung hauptsächlich Afrika benützt wird. Kamehameha unternahm einen Kriegszug, vertrieb im Lauf von zehn Jahren alle andern Könige und machte sich zum Herrn der sämtlichen neun oder zehn Inseln, welche die Gruppe der Sandwichinseln bilden. Aber er tat noch mehr. Er kaufte Schiffe, belud sie mit Sandelholz und andern heimischen Produkten und schickte sie bis nach Südamerika und China. Die fremden Stoffe, Werkzeuge und Gerätschaften, welche die Schiffe zurückbrachten, verkaufte er an seine Wilden und wurde so der Begründer der Zivilisation. Ob die Geschichte irgend eines andern Barbaren Aehnliches aufzuweisen hat, möchte ich bezweifeln. Die Wilden sind meist eifrig bemüht, dem weißen Manne neue Methoden abzulernen, wie sie einander umbringen können; aber seine höheren und edleren Anschauungen pflegen sie sich nicht anzueignen. Bei Kamehameha sehen wir dagegen, daß er stets bemüht war, alles gründlich zu untersuchen, was ihm die Weißen Neues boten, und unter den Proben, die er zu Gesicht bekam, eine einsichtsvolle Auswahl zu treffen.

Nach meiner Meinung bewies er dabei weit größeren Scharfsinn als sein Sohn und Nachfolger Liholiho. Dieser hätte sich vielleicht zum Reformator geeignet, aber als König verfehlte er seinen Beruf, und zwar, weil er zugleich König und Reformator sein wollte. Das heißt aber, Feuer und Schießpulver untereinander mischen. Ein König sollte sich verständigerweise mit Reformen nichts zu schaffen machen. Das Beste, was er tun kann, ist, die Zustände zu lassen wie sie sind, und wo das nicht angeht, sie möglichst zu verschlechtern. Ich sage das nicht nur obenhin, denn ich habe mir die Sache reiflich überlegt, damit ich, falls sich mir einmal die Gelegenheit bietet König zu werden, gleich weiß, wie ich es am besten anzugreifen habe.

Als Liholiho seinem Vater in der Regierung folgte, fand er sich im Besitz königlicher Vorrechte und Befugnisse, die ein weiserer Fürst verstanden hätte mit Vorteil auszunützen. Im ganzen Reich herrschte nur ein Szepter, das er in Händen hielt, und eine Staatskirche, deren Haupt er war. Den Oberbefehl seines Heeres, das aus 114 Gemeinen, 27 Generalen und einem Feldmarschall bestand, führte er allein. Ein stolzer alter Erbadel war im Lande ansässig. Und dann gab es noch eine merkwürdige Einrichtung, welche ›Tabu‹ genannt wurde. Dies war eine geheimnisvolle und furchtbare Macht, wie sie kein europäischer Monarch jemals besessen hat, ein Mittel und Werkzeug von unschätzbarem Wert für den Gewalthaber. Liholiho war auch Herr und Meister des ›Tabu‹. Es war die wirksamste und sinnreichste Erfindung, die je gemacht worden ist, um die Ansprüche des Volkes in bescheidenen Grenzen zu halten.

Dies ›Tabu‹ (das Wort bedeutet ein Ding, das verboten ist) verlangte, daß beide Geschlechter in verschiedenen Häusern wohnten; aber essen durften sie nicht in den Häusern, dazu gab es einen andern Ort. Es untersagte den Frauen, ihres Mannes Haus zu betreten. Auch durften beide Geschlechter nicht zusammen essen; zuerst aßen die Männer, und die Weiber mußten sie bedienen. Dann konnten die Weiber essen, was übrig blieb – wenn überhaupt noch etwas da war – und sich selbst bedienen. Das heißt, sie bekamen nur die Reste der gröbsten, unschmackhaftesten Kost. Alle guten, leckern und auserlesenen Eßwaren, wie Schweinefleisch, Geflügel, Bananen, Kokosnüsse, die bessern Fischsorten und dergleichen, bestimmte das ›Tabu‹ ausschließlich zur Speise für die Männer. Die Weiber mußten sich ihr Lebenlang mit einem ungestillten Sehnen danach begnügen, und mußten sterben ohne je zu erfahren, wie das alles schmeckte.

Diese Regeln waren, wie man sieht, sehr klar und verständlich, auch leicht zu behalten, und nützlich. Denn auf jeder Uebertretung eines Verbots aus der ganzen Liste stand Todesstrafe. Was Wunder, wenn die Frauen es gern zufrieden waren, Haifische, Hundefleisch und Torowurzeln zu verzehren, da sie andere Nahrungsmittel so teuer bezahlen mußten.

Dem Tode verfiel, wer über verbotenen Grund und Boden ging, wer einen vom ›Tabu‹ geheiligten Gegenstand durch seine Berührung entweihte, wer einem Häuptling nicht kriechende Ehrerbietung zollte oder auf des Königs Schatten trat. Edelleute, Priester und Könige hängten immer bald hier bald da kleine Lappen auf, um dem Volke kund zu tun, daß der Ort oder das Ding mit ›Tabu‹ belegt war und der Tod in der Nähe lauerte. Der Kampf ums Dasein muß wohl zu jener Zeit auf den Inseln höchst ungewiß und schwierig gewesen sein.

Alle diese Vorteile besaß der neue König, und was war das erste, das er nach seinem Regierungsantritt tat? Er rottete die Staatskirche mit Stumpf und Stil aus. Bildlich gesprochen glich er einem Seemann, der sein wackeres Schiff verbrennt und sich einem unsicheren Floß anvertraut. Jene Kirche war eine gräßliche Anstalt, die das ganze Land aufs schwerste bedrückte, und durch düstere, geheimnisvolle Drohungen alles in Furcht und Zittern erhielt. Sie schlachtete ihre Opfer an den Altären greulicher Götzen aus Holz oder Stein; sie ängstigte und schreckte das Volk und zwang es zu sklavischer Unterwürfigkeit gegen die Priester und durch diese gegen den König! Wahrlich, eine bessere und zuverlässigere Stütze hätte sich kein König wünschen können! Wenn ein berufsmäßiger Reformator die furchtbare, verderbliche Gewalt dieser Kirche zerstörte, so gebührte ihm Lob und Preis; aber ein König, der das unternahm, verdiente den schwersten Tadel, dem sich höchstens ein Gefühl des Mitleids zugesellen könnte, daß er so ganz und gar untauglich für seine Stellung war.

Weil er die Torheit beging, seine Staatskirche abzuschaffen und ihre Götzen zu verbrennen, ist das Königreich jetzt zur Republik geworden. Das kommt davon!

Zwar läßt sich nicht leugnen, daß es einen Fortschritt in der Zivilisation und zum Wohl seines Volkes bedeutete, aber geschäftsmäßig war es nicht, sondern höchst unköniglich und einfältig. Es brachte auch seinem Hause großen Verdruß. Noch rauchten die verbrannten Götzen auf den Altären, als amerikanische Missionäre ins Land kamen. Sie fanden das Volk ohne Religion und beeilten sich dem Mangel abzuhelfen, indem sie ihm ihre eigene Religion darboten, die mit Dank angenommen wurde. Aber dem unumschränkten Königtum gewährte sie keine Stütze und seit jener Stunde begann seine Herrschermacht zu sinken. Als ich siebenundvierzig Jahre nachher auf die Inseln kam, stellte Kamehameha V. gerade den Versuch an, Liholihos Mißgriff wieder gut zu machen, aber es gelang ihm nicht. Er errichtete eine Staatskirche und trat als Haupt derselben auf, doch war das nichts als Flickwerk und unechte Nachahmung – eine Seifenblase, ein leeres Schaugepränge. Die Kirche besaß keine Macht und brachte dem Könige keinen Nutzen. Sie konnte das Volk weder aussaugen noch verbrennen und totschlagen; der wunderbaren Maschinerie, welche Liholiho zerstört hatte, glich sie in keiner Weise. Es war eine Staatskirche ohne Gemeinde, denn das ganze Volk bestand aus Nonkonformisten.

Das Königtum selbst war schon längst nur noch ein bloßer Name und Schein. Die Missionäre hatten es frühzeitig in eine Art Republik verwandelt, und in letzter Zeit haben es die handeltreibenden Weißen ganz und gar zum Freistaat gemacht.

In Kapitän Cooks Zeit (1778) schätzte man die eingeborene Bevölkerung auf 400 000 Köpfe, 1836 betrug sie noch etwa 200 000, 1866 kaum 50 000 und die heutige Volkszählung weist 25 000 auf. Alle einsichtsvollen Leute rühmen Kamehameha I. und Liholiho, weil sie ihrem Volke die Zivilisation zum Geschenk gemacht haben. Natürlich würde ich das auch tun, wäre nicht mein Verstand durch Ueberarbeitung jetzt etwas in die Brüche geraten. Als ich vor fast einem Menschenalter in Honolulu war, verkehrte ich dort mit einem jungen amerikanischen Ehepaar, das ein allerliebstes Söhnchen hatte; leider konnte ich mich mit dem Knaben nicht viel abgeben, weil er kein Englisch verstand. Er hatte von Geburt an auf der Pflanzung seines Vaters mit den kleinen Kanakas gespielt und solches Wohlgefallen an ihrer Sprache gefunden, daß er keine andere lernen wollte. Einen Monat nach meiner Ankunft zog die Familie von der Insel fort und alsbald vergaß der Knabe die Kanakasprache und lernte Englisch; im zwölften Jahre konnte er kein Wort Kanaka mehr. Neun Jahre später, als er einundzwanzig war, traf ich mit der Familie an einem der Seen im Staate New York zusammen, und die Mutter erzählte mir von einem Erlebnis, das ihr Sohn kürzlich gehabt hatte. Er war Taucher von Beruf. Bei einem Sturm auf dem See war ein Passagierdampfer mit Mann und Maus untergegangen, und einige Tage darauf ließ sich der junge Mann in vollem Taucheranzug in die Tiefe und betrat den Speisesaal des Bootes. Er stand auf der Kajütentreppe, hielt sich mit der Hand am Geländer fest und starrte in die düstere Flut. Da berührte ihn von hinten etwas an der Schulter; er wandte sich um und sah einen Toten, der dicht neben ihm auf und nieder tanzte und ihn forschend zu betrachten schien. Der Schrecken lähmte ihm alle Glieder. Er hatte, ohne es zu wissen, beim Herabtauchen das Wasser bewegt, und nun sah er von allen Seiten Leichen auf sich zuschwimmen, die mit dem Kopfe wackelten und sich hin- und herwälzten, wie schlaflose Menschen zu tun pflegen. Ihm schwanden die Sinne; er wurde in bewußtlosem Zustand wieder an die Oberfläche gezogen und verfiel in eine Krankheit. Mehrere Tage lang redete er in seinen Fieberphantasien unaufhörlich und fließend in der Kanakasprache und kein Wort Englisch. Auch als man mich an sein Bett führte, sprach er mit mir Kanaka, was ich natürlich nicht verstand.

Wir wissen aus medizinischen Büchern, daß derartige Fälle nicht selten vorkommen; da sollten die Aerzte doch nach einem Mittel forschen, um solche Resultate öfter erzielen zu können. Wie viele Sprachen und Tatsachen geraten in unsern Köpfen in Vergessenheit und kommen nie wieder zum Vorschein, bloß weil man dies Mittel nicht kennt!

Während wir die Nacht über bei der Insel vor Anker lagen, tauchten allerlei Erinnerungen an Honolulu wieder in mir auf. Entzückende Bilder zogen ohne Ende an meinem Geiste vorüber und ich erwartete den kommenden Morgen mit der größten Ungeduld.

Zwanzigstes Kapitel.

Zwanzigstes Kapitel.

Der Mensch tut viel, um geliebt zu werden; um beneidet zu werden, tut er alles.

Querkopf Wilsons Kalender

Der botanische Garten von Adelaide ist ein wahres Eden; bei uns zu Lande wäre aber eine so paradiesische Schöpfung einfach ein Ding der Unmöglichkeit. Wenn wir auch ein viele Morgen großes Glashaus mit Dampfheizung bauen wollten, so bliebe das doch immer nur ein Notbehelf, denn die schwüle Hitze, die enge, dumpfe Luft, die uns zu ersticken droht, würden wir doch nicht los. In Australien dagegen lacht die helle Sonne vom blauen Himmel, uns umfächelt ein köstlicher Windhauch, und wir können alles, was bei uns im Treibhaus wächst, üppig im Freien wuchern sehen. Als der erste weiße Ansiedler in das Land kam, war es an Pflanzenarten fast so arm wie die Wüste Sahara; jetzt findet man dort und in Ozeanien alles was die Erde trägt. Mit wie gutem Erfolg Australien seinen Tribut von der Flora der ganzen übrigen Welt eingesammelt hat, erkennt man allenthalben, wohin man blickt, in Feld, Garten und Wald, sowie in dem üppigen Grün, das die Landstraßen umsäumt. Bei jedem auffallend schönen und merkwürdigen Baum, Busch oder sonstigen Gewächs, nach dem man fragt, erhält man sicherlich zur Antwort, daß es aus irgend einem fremden Lande – Indien, Afrika, Japan, China, England, Amerika, Java, Sumatra, Neu Guinea, Polynesien oder anderswoher stammt.

Im zoologischen Garten von Adelaide sah ich den einzigen ›Lachenden Hans‹ ober Rieseneisvogel, der sich jemals gestimmt zeigte, mir Aufmerksamkeit zu erweisen. Er sperrte den langen Schnabel weit auf und lachte wie ein Dämon oder wie ein Verrückter, der bei dem abgedroschensten Wortwitz in ein Hohngelächter ausbricht. Es klang nicht wie tierische Laute; ich wäre überzeugt gewesen, daß ich einen Menschen lachen hörte, hätte ich den wunderlichen Vogel nicht vor mir gesehen, dessen Kopf und Schnabel viel zu groß sind für den übrigen Körper. Mit der Zeit werden alle wilden Tiere Australiens vermutlich ausgerottet werden, nur dieser Räuber wird übrig bleiben, weil ihm der Mensch wohlgesinnt ist und ihm nicht nachstellt. Das hat natürlich seinen guten Grund, wie immer, wenn wir einem wilden Geschöpf Barmherzigkeit erweisen – sei es Mensch oder Tier. Man verschont den Vogel, weil er die Schlangen tötet. Ich kann dem ›Lachenden Hans‹, den man auch Königsfischer nennt, zu seinem eigenen Besten nur ernstlich raten, nicht alle zu vertilgen, sondern stets ein paar Schlangen am Leben zu lassen.

Ebendaselbst sah ich auch den wilden australischen Hund, den Dingo. Es war ein schönes, ebenmäßig gebautes Tier, das zwar etwas an den Wolf erinnerte, aber einen freundlichen Ausdruck in den Augen hatte und gesellige Neigungen zeigte. Der Dingo ist nicht importiert worden. Als die Weißen zuerst auf das Festland kamen, fanden sie ihn schon in großer Menge vor. Er gilt für den ältesten Hund in der Naturgeschichte, man kennt seinen Ursprung und die Gegend, aus der seine Vorfahren stammen, ebensowenig wie die Herkunft des Kamels. Zwar ist er der vorzüglichste Hund, den es gibt, denn er bellt nicht; aber er hat leider in einer schwachen Stunde der Versuchung nicht widerstehen können und ist in die Schafhürden eingebrochen, um seinen Hunger zu stillen. Damit war sein Geschick besiegelt; man jagt ihn jetzt, als wäre er ein Wolf, weil man beschlossen hat ihn zu vertilgen, und dies Todesurteil wird sicherlich vollzogen werden. Dagegen läßt sich nichts einwenden, es ist vollkommen gerechtfertigt, denn die Erde ist für den Menschen geschaffen worden – das heißt, für den Weißen.

Der Name Südaustralien ist recht unpassend gewählt, weil alle australischen Kolonien – außer Queensland – eine südliche Lage haben. Man hätte die Provinz Mittelaustralien nennen sollen, denn sie geht gerade mitten durch das Festland hindurch, wie die eingelegte Platte in einem runden Tisch. Sie mißt 2000 Meilen von Süden nach Norden und ihre Breite beträgt etwa ein Drittel der Länge. In einem winzig kleinen Stückchen der südöstlichen Ecke wohnen neun Zehntel der Bevölkerung. Das übrige Zehntel verteilt sich in andere Gegenden, wo es sich nach Gefallen ausbreiten kann – Raum genug ist dazu vorhanden. Südaustralien hat in den Jahren 1871 und 72 eine zweitausend Meilen lange Telegraphenverbindung, zwischen Adelaide und Port Darwin an der Nordküste, in gerader Linie durch die Wüste und die Wildnis gelegt. Die Einwohnerzahl betrug damals erst 185 000. Es war ein großes Unternehmen, denn es gab weder Weg noch Steg, und ein Teil der Strecke – dreizehnhundert Meilen – war vorher nur ein einzigesmal von weißen Männern durchwandert worden. Alle Lebensmittel, alle Stangen und Telegraphendrähte mußten durch weite Wüsten mitgeführt werden; ja, man war genötigt, unterwegs Brunnen zu graben, damit Menschen und Tiere nicht vor Durst umkamen.

Da bereits ein Kabel von Port Darwin nach Java und von dort nach Indien gelegt war, und auch zwischen England und Indien telegraphische Verbindung bestand, so brauchte Adelaide nur die Linie nach Port Darwin zu eröffnen, um mit der ganzen Welt Anschluß zu haben. Das Werk gelang, und nun konnte man täglich die Schwankungen des Londoner Marktes beobachten, was den Wollproduzenten Australiens sofort einen ungeheuren Gewinn brachte.

Einige Monate nach meinem ersten Aufenthalt besuchte ich Adelaide abermals, um den Nationalfesttag der Provinz mitzubegehen. Alle Welt strömte nach der benachbarten Stadt Glenelg, wo zur Erinnerung an die Gründung der Kolonie, die Proklamation von 1836 öffentlich verlesen wurde. Das Fest ward mit großem Jubel gefeiert; es ist das höchste im ganzen Jahr, und das will viel sagen in diesem Lande, wo eine Sucht nach Feiertagen herrscht, die den Engländern sonst fern ist. Es sind meistens Arbeiterfeiertage, denn in Südaustralien ist der Arbeiter die Hauptperson: er gibt den Ausschlag bei allen Wahlen, jeder Politiker bewirbt sich um seine Stimme. Das Parlament ist nur dazu da, um den Willen des Arbeiters zu verkünden, und die Regierung um ihn zu vollstrecken. Ueberall in Australien spielt der Arbeiter eine große Rolle, aber die Provinz Südaustralien ist sein Paradies. Mich freut, daß er eins gefunden hat, denn es ist ihm sauer genug geworden in der Welt und er hat es wohl verdient.

Wie duldsam die Provinz in religiöser Beziehung ist, haben wir bereits gesehen. Sie zeichnet sich aber auch noch auf andere Weise aus: ihre mittlere Temperatur beträgt 62°, und die Sterblichkeitsziffer 13 vom 1000 – etwa halb so viel wie in New York. Das heißt, das ist die Zahl für den Durchschnittsgänger; alte Leute sind ausgeschlossen, denen kann der Tod hier nichts anhaben, wie es scheint. Es waren ihrer sechs beim Festbankett zugegen, die sich noch an Cromwell erinnerten; auch hatten sie die Verlesung der ursprünglichen Proklamation im Jahre 1836 mit angehört. Aeußerlich waren sie zwar von der Zeit nicht unberührt geblieben, aber ihre Herzen hatten sich jung und froh erhalten. Sie wurden nicht müde als Redner aufzutreten und Geschichten aus ihrer Jugendzeit zu erzählen nebst allem was sie erlebt und gelitten hatten, als es galt, unter harter Arbeit die starken Grundpfeiler ihres Gemeinwesens, Freiheit und Duldsamkeit, aufzurichten.

Einer der sechs alten Herren machte mir später noch verschiedene interessante Mitteilungen, hauptsächlich über die Ureinwohner des Landes, von denen er sagte, sie wären in mancher Beziehung merkwürdig begabt gewesen und hätten, neben einzelnen unangenehmen Eigenschaften, auch ihre großen Vorzüge gehabt, weshalb das Aussterben der Rasse sehr zu beklagen sei. Als Beispiele ihres erfinderischen Geistes nannte er den Bumerang und das ›Weetweet‹, mit denen sie Wunder der Geschicklichkeit verrichteten, die kein einziger Weißer je im stande gewesen sei, ihnen nachzumachen. Nur der Eingeborene, meinte der Alte, vermöchte die Bewegung des Bumerangs so zu lenken, daß er ihm allen Willen tut. Auch erzählte er mir die unglaublichsten Dinge, welche die Neger mit dem seltsamen Wurfgeschoß in seiner Gegenwart vollbracht hätten; sie sind mir später durch andere alte Ansiedler bestätigt worden, und auch in australischen Büchern habe ich davon gelesen.

Man behauptet – und wir wollen es nicht bestreiten –, daß einige wilde Stämme in Europa den Bumerang schon zur Römerzeit gekannt haben; Belege hiefür finden sich bei Vergil und noch zwei anderen römischen Dichtern. Auch den alten Aegyptern soll er nicht fremd gewesen sein.

Dadurch entstehen zweierlei Möglichkeiten: entweder ist jemand in frühster Zeit mit einem Bumerang nach Australien gekommen, bevor noch in Europa die Kunde davon verloren gegangen war, oder – die Ureinwohner jenes Erdteils haben ihn neu erfunden. Es wird nicht leicht sein, ausfindig zu machen, auf welche von den beiden Arten die Sache wirklich vor sich gegangen ist. Aber es hat keine Eile, man kann sich alle Zeit zu der Untersuchung nehmen.

Einundzwanzigstes Kapitel.

Einundzwanzigstes Kapitel.

Wir besitzen in unserm Lande drei unschätzbare Güter, für die wir Gott gar nicht genug danken können: Redefreiheit, Gewissensfreiheit und die Klugheit, uns weder der ersteren noch der letzteren jemals zu bedienen.

Querkopf Wilsons Kalender.

Ehe ich nach Australien kam, hatte ich überhaupt noch nie von dem ›Weetweet‹ reden hören, auch sind mir nur wenige Leute begegnet, die selbst gesehen hatten, wie man es wirft. Es gleicht einer dicken hölzernen Zigarre, welche man mit dem stumpfen Ende an einen biegsamen Zweig befestigt hat; das ganze Ding ist ein paar Fuß lang, wiegt aber kaum zwei Lot. Man schnellt es nicht in die Luft, sondern wirft es eine Strecke weit vor sich auf den Boden, von dem es abspringt, um ihn in langen Sätzen immer wieder zu berühren, wie der flache Stein, den ein Knabe über das Wasser hüpfen läßt. Freilich, der Stein findet auf der glatten Fläche keinerlei Hindernis; ein Mann kann ihn mit starkem Arm fünfzig bis fünfundsiebzig Meter weit springen lassen. Das ›Weetweet‹ hat es viel schwerer, denn es trifft bald auf Gras, bald auf Sand und Erde, und doch hat ein geschickter Eingeborener es schon zweihundert und zwanzig Meter weit hüpfen lassen, bis das Gestrüpp von Farnkraut und Unterholz ihm den Weg versperrten. Hätte nicht Mr. Brough Smyth dies mit eigenen Augen gesehen, die Strecke ausgemessen und die Tatsache in seinem Buch über das Leben der Eingeborenen verzeichnet, das er im Auftrag der Regierung von Viktoria geschrieben hat, so würde ich es für unmöglich erklären, daß ein so federleichtes Ding auf unebenem Boden so weit springen kann. Wie wird aber dies Kunststück gemacht? – Niemand weiß das; es verstößt anscheinend gegen alle Gesetze der Natur, und keiner hat mir das Rätsel lösen können.

Mein Ansiedler sagte, das ›Weetweet‹ sei fast ebenso wunderbar wie der Bumerang; er hätte es in seiner Jugend ganz unglaublich weit fliegen sehen. Der Missionar I. G. Wood findet eine große Aehnlichkeit zwischen den Sprüngen des ›Weetweet‹ und denen einer Känguruh-Ratte, die angstvoll vor ihren Verfolgern flieht und den langen Schwanz nachschleppt. »Das ›Weetweet‹,« sagt er, »schießt mit dem zischenden, unheilverkündenden Laut einer Flintenkugel durch die Luft, erhebt sich aber höchstens sieben oder acht Fuß vom Boden; es ist ganz erstaunlich, wie weit die Australneger es werfen können.«

Sie müssen wirklich einen gehörigen Vorrat von Scharfsinn und Schlauheit besessen haben, diese nackten, spindeldürren Eingeborenen, wie hätten sie sonst so unnachahmliche Pfadfinder, so unvergleichliche Bumerang- und Weetweet-Werfer sein können! Wahrscheinlich ist es dem Rassenhaß zuzuschreiben, daß man so lange in der ganzen Welt der Meinung war und noch heutzutage behauptet, sie stünden auf einer der niedrigsten geistigen Stufen.

Träge sind sie allezeit gewesen, das ist wahr, und Trägheit ist ein schlimmer Fehler, der Todfeind jedes höheren Strebens. Sie hätten doch gewiß die Kunst erfinden können, wie man ein ordentliches Haus baut, oder wie man das Land urbar macht und bepflanzt, aber das taten sie nicht. Sie hatten kein Obdach, gingen nackt einher, nährten sich von Fischen, Früchten, Beeren und mancherlei Gewürm und blieben bei all ihrer Schlauheit doch nach wie vor echte Wilde.

Ihr Land, in dem sie hätten wachsen und sich mehren sollen, war so groß wie die Vereinigten Staaten, und ansteckende Krankheiten wurden ihnen erst durch die Weißen gebracht, nebst den anderen Wohltaten der Zivilisation. Trotzdem hat die australische Rasse wohl zu keiner Zeit mehr als 100 000 Köpfe gezählt. Die Ureinwohner duldeten keine Uebervölkerung; sie beschränkten ihre Zahl mit allem Fleiß, teils durch Kindermord, teils durch gewisse andere Methoden. Als sie jedoch mit den Weißen in Berührung kamen, brauchten sie sich in dieser Beziehung nicht länger zu bemühen.

Die Zunahme der Bevölkerung zu hindern, verstand der Weiße noch viel besser als der Eingeborene; er konnte die Zahl der Ureinwohner eines Landes binnen zwanzig Jahren um achtzig Prozent verringern. So weit hatte es der Australneger noch nie gebracht.

Als die Engländer in den dreißiger Jahren zuerst in Australien landeten, sollen in der jetzigen Kolonie Viktoria noch 4500 Eingeborene gelebt haben; davon kamen 1000 auf das sogenannte ›Gippsland‹ von denen nach vierzig Jahren etwa 200 übrig waren. Der Geelong-Stamm schmolz noch rascher zusammen: nach zwanzig Jahren lebten von 173 Leuten noch 34 und nach abermals zwanzig Jahren war nur noch ein einziger Mann am Leben. Die beiden Melbourne-Stämme zählten 300 Köpfe, und 1875, als die Weißen siebenunddreißig Jahre im Lande waren, höchstens 20. Zwar haben sich noch hier und da Ueberreste verschiedener Stämme in der Kolonie Viktoria erhalten, aber Vollblut-Eingeborene sollen jetzt, wie man mir sagt, eine große Seltenheit sein; nur in den ausgedehnten Länderstrecken von Queensland trifft man sie noch in ziemlicher Menge.

Die ersten Weißen waren nicht an den Verkehr mit Wilden gewöhnt. Sie kannten nicht einmal das Grundgesetz der Eingeborenen, wonach der ganze Stamm für jede Unbill verantwortlich ist, die einer seiner Angehörigen jemand zugefügt hat. Man darf sich an jedem einzelnen dafür rächen, ohne erst lange nach dem Schuldigen zu suchen. Wenn nun ein Weißer einen Neger tötete, so handelten die Eingeborenen nach ihrem uralten Gesetz und brachten den ersten besten Weißen um, der ihren Weg kreuzte. Das kam den Europäern ganz schauderhaft vor und sie hielten es in ihrer Entrüstung für völlig gerechtfertigt, derartige Geschöpfe vom Erdboden zu vertilgen. Zwar brachten sie nicht alle Schwarzen um, aber doch so viele, als es ihre eigene Sicherheit verlangte. Diese Vorsichtsmaßregel haben sie von Anbeginn der Zivilisation bis auf den heutigen Tag stets angewendet.

In den ›Skizzen aus dem Leben in Australien‹ von Mrs. Campbell Praed, die ihre Kindheit in Queensland zugebracht hat, finden wir lehrreiche Beispiele von der Art, wie Weiße und Schwarze einander anfänglich zu reformieren suchten.

Ueber die Zeit, als die ersten Ansiedler sich in der ungeheuren Wildnis von Queensland niederließen, berichtet Mrs. Praed u. a.: »Zuerst zogen sich die Eingeborenen vor den Weißen zurück und beunruhigten sie wenig; höchstens töteten sie dann und wann ein Stück Vieh aus der Herde durch einen Speerwurf. Aber die Zahl der Squatter wuchs; jeder nahm große Strecken Landes für sich in Besitz und brachte zwei oder drei Dienstleute mit, so daß die Schäferhütten und die Stationen der Viehzüchter vereinzelt und schutzlos inmitten feindlicher Negerstämme lagen. Da wurden auch die Raubzüge der Schwarzen häufiger, und Mordtaten waren bald an der Tagesordnung.

»Wie einsam es im australischen Busch ist, läßt sich kaum in Worten schildern. Meilenweit dehnt sich der Urwald, den noch nie der Fuß eines Weißen betreten hat, nach allen Seiten aus. Unabsehbare Strecken sind mit den mächtigen Stämmen des Eukalyptus bewachsen, welche den roten Gummi ausschwitzen, der wie phantastische Tropfsteingebilde von den dünnen Zweigen herabhängt. An den steilen Schluchten wuchert langes Gras in dichten Massen. Große baumlose Ebenen wechseln mit hügligem Weideland, das hier und da von einem Gebirgszug, einer tiefen Kluft oder einem ausgetrockneten Flußbett durchschritten wird. Alles ist wild, pfadlos und menschenleer; überall begegnet dem Auge dasselbe einförmige Grau, außer wo der Akazienbusch zur Blütezeit seine geflügelten, goldgelben Blumen entfaltet, oder der ›Scrub‹, der in seiner Undurchdringlichkeit einem indischen Dschungel gleicht, wie ein grüner, glänzender Gürtel die Einöde durchzieht.

»Das Gefühl der Verlassenheit wird noch durch die seltsamen Laute der Tierwelt verstärkt, die wohl geeignet sind, selbst starke Nerven zu erschüttern. Bei Tage hört man zuweilen das Getrampel einer Herde Känguruhs, die in wilder Flucht dahinstürmen, das Rascheln der Beutelratte oder den Fußtritt des Dingos, der durch das hohe Gras zu seiner Höhle schleicht. Dazwischen schwirren Heuschrecken, der Lachvogel läßt sein dämonisches ha! ha! ha! erschallen, Kakadus und Papageien kreischen, die Krageneidechse zischt, und zahllose Insekten, die sich im dichten Unterholz verbergen, summen ohne Unterlaß. Dazu gesellt sich bei Nacht noch der schauerliche Klagelaut der Sumpfvögel, das Geheul des Dingos und das ohrenzerreißende Gequake der Frösche. Kein Wunder, wenn sich bange Furcht in das Herz des einsamen Squatters schleicht und der Schlaf sein Lager flieht.«

Dies war der Schauplatz, auf dem sich so manches Drama mit blutigem Ausgang abgespielt hat. Es ließ sich auch kaum etwas Anderes erwarten, wenn man alle Einzelheiten bedenkt: Die Stationen der Viehzüchter waren über die ganze ungeheure Wildnis verteilt, kaum ein halbes Dutzend Leute wohnten beisammen in meilenweiten Zwischenräumen. Sie hatten große Herden, während die Eingeborenen bei dürftiger Nahrung stets Hunger litten. Und doch war das Land ihr Eigentum; die Weißen hatten es nicht gekauft, das konnten sie gar nicht, denn die Stämme besaßen keine Häuptlinge. Niemand war da, der die Befugnis gehabt hätte, einen Handel abzuschließen, auch wären die Neger außer stande gewesen, einen solchen Wechsel des Landbesitzes zu begreifen. Ueberdies verachteten die weißen Eindringlinge die Stämme, deren Grund und Boden sie in Besitz genommen hatten, und zeigten ihnen ihre Geringschätzung bei jeder Gelegenheit. Wie hätte da der Beginn der Feindseligkeiten lange ausbleiben können?

»Auf der Nie Nie-Station,« erzählt Mrs. Praed, »hatte der arglose Squatter in einer dunklen Nacht seine Hütte, wie er glaubte, vor jedem Angriff sicher verwahrt und lag, in seine Decke gewickelt, in festem Schlummer. Da kamen die Schwarzen geräuschlos durch den Kamin herabgeglitten und schlugen ihm den Schädel ein, während er schlief.«

Diese wenigen Zeilen geben uns einen klaren Einblick in den Stand der Dinge. Der Kampf hatte begonnen und sollte nicht eher enden, bis eine der beiden Parteien sich dauernd der Obergewalt bemächtigt hatte. »Verrat lauerte auf beiden Seiten,« fährt die Erzählerin fort. »Die Schwarzen töteten die Weißen, sobald diese unbeschützt waren, und die Weißen erschlugen die Schwarzen massenhaft, ohne Gnade und Barmherzigkeit, so daß sich mein kindliches Gerechtigkeitsgefühl oft gewaltig darüber empörte … Die Neger wurden für wenig besser als Tiere geachtet und in einigen Fällen hat man sie förmlich vertilgt wie Ungeziefer.

»Ich will nur ein Beispiel anführen: Ein Squatter, dessen Weideplatz von Negern umschwärmt wurde, denen er feindliche Absichten zutraute, trat vor seine Hüttentür und hielt ihnen eine Ansprache. Er sagte, es sei jetzt Weihnachtszeit, und da pflegten alle Menschen sich gütlich zu tun, sie möchten schwarz oder weiß sein. Nun habe er aber viel Mehl, Rosinen und allerlei gute Dinge in der Vorratskammer, und er wolle ihnen einen Pudding machen, wie sie ihn ihr Lebtag noch nicht gekostet hätten, einen so großen Pudding, daß alle davon essen könnten, bis sie satt wären. Die Neger hörten auf seine Worte, und da war es um sie geschehen. Von dem Pudding bekam jeder sein Teil; aber am nächsten Morgen ging lautes Heulen und Wehklagen durch das Lager. Der Zucker war mit Arsenik vermischt gewesen.«

Eigentlich war der Squatter ganz in seinem Recht, verwerflich war nur die Methode. Seine Gesinnung unterschied sich in nichts von derjenigen, welche der zivilisierte Weiße gewöhnlich gegen den Neger hegte, aber die Anwendung des Gifts war ungebräuchlich. Darin lag auch meiner Meinung nach das hauptsächlichste Unrecht. Im übrigen scheint mir sein Verfahren besser, menschenfreundlicher, rascher und weniger unbarmherzig als manches andere, welches die Sitte geheiligt hat. Vor der Anwendung so ungewöhnlicher Mittel muß man sich hüten, weil sie die Einbildungskraft des Publikums auf krankhafte Weise beschäftigen. Sie machen den Eindruck nutzloser Grausamkeit und bringen unsere Zivilisation in Verruf, was bei den alten gewalttätigen Methoden nicht der Fall ist, weil sie längst hergebracht und also unschuldig sind. In vielen Ländern haben wir den Wilden angekettet und Hungers sterben lassen oder ihn am Marterpfahl verbrannt; wir haben die Schwarzen, samt Frauen und Kindern, mit Hunden durch Wälder und Sümpfe gehetzt, um uns ein Jagdvergnügen zu machen und haben uns totlachen wollen über ihre verzweifelten Sprünge, ihr Geschrei und ihr Flehen um Erbarmen. Wo wir konnten, haben wir dem Neger Grund und Boden genommen und ihn zu unserem Sklaven gemacht; wir haben ihm täglich die Peitsche gegeben, seinen Stolz gebrochen, ihn gezwungen zu arbeiten, bis er vor Erschöpfung zusammenbrach und den Tod als sein einziges Heil ansah. Wäre es da nicht im Vergleich eine wahre Wohltat gewesen, ihn rasch durch Gift zu töten? – Noch heute bleiben wir im Matabele-Land der vom Alter geheiligten Sitte treu, wir südafrikanischen Millionäre und englischen Herzöge – kein Mensch macht ein Aufhebens davon; wer möchte auch an den alten heiligen Bräuchen rütteln? Wir verlangen nur, daß keine neuen, aufregenden Methoden eingeführt werden, die unsere Gewissensruhe stören. Mrs. Praed sagt über den Giftmischer: »Dieser Squatter verdient, daß sein Name für alle Zeiten mit Abscheu von der Nachwelt genannt werde.«

Es tut mir leid, dies Urteil zu hören. Ich selbst habe, wie gesagt, nur das eine an dem Menschen auszusetzen, daß er eine neue Methode eingeführt hat, die geeignet ist, ein schlechtes Licht auf unsere Zivilisation zu werfen. Das hätte er bleiben lassen sollen. Im übrigen zeichnete sich dieser Squatter in mancher Beziehung vorteilhaft aus. Wenn er irrte, so war daran mehr sein Verstand schuld als sein Herz. Er ist fast der einzige Pionier unserer Zivilisation, von dem die Geschichte erzählt, daß er sich über die angeerbten Vorurteile seiner Kaste hinwegzusetzen vermochte und versucht hat, bei dem Verkehr der höher begabten Rasse mit dem Wilden menschliches Erbarmen walten zu lassen. Es ist zu beklagen, daß man seinen Namen nicht kennt, denn er verdient von der Nachwelt mit Preis und Verehrung genannt zu werden.

In einer Londoner Zeitung stand folgender Artikel zu lesen:

»Wenn wir wissen wollen, auf welche Weise Frankreich die Segnungen der Zivilisation in seinen auswärtigen Besitzungen verbreitet, so brauchen wir nur einen Blick nach Neu-Kaledonien zu werfen. Um freie Ansiedler zur Auswanderung nach dieser Strafkolonie zu bewegen, nahm M. Feillet, der Gouverneur, den Kanakas ihre besten Pflanzungen zwangsweise fort und gab ihnen dafür eine lächerliche Entschädigung, trotz des Einspruchs, den der Generalrat der Insel dagegen erhob. Wer sich entschloß, übers Meer zu fahren, um sich dort niederzulassen, wurde sofort Besitzer von zahlreichen Kaffee-, Kakao-, Bananen- und Brotfruchtbäumen, welche die armen Eingeborenen unter jahrelanger Mühe und Arbeit großgezogen hatten; diese selber aber behielten nichts, als ein paar Frankenstücke, die sie in den Branntweinschenken von Noumea vertrinken konnten.«

Was ist das anders als Beraubung, Unterdrückung und langsamer Mord durch Mangel und durch das Feuerwasser der Weißen? Der einzige edle, großmütige und selbstlose Freund, den der Neger je gehabt hat, war leider nicht zur Stelle, um ihm mit seinem vergifteten Pudding ein gnädiges, rasches Ende zu bereiten.

Es gibt wunderliche Dinge in der Welt; aber eins der lächerlichsten ist die Einbildung des weißen Mannes, daß er weniger barbarisch sei als die andern Wilden.

Die Australneger pflegen sich im allgemeinen nicht von der romantischen Seite zu zeigen, bis auf einzelne Ausnahmen. Mrs. Praed erwähnt ein solches Beispiel. Zur Zeit als die Weißen und Schwarzen einander im ganzen Lande verfolgten und umbrachten, reiste Mr. Murray, (der Vater von Mrs. Praed) mit Frau und Kindern und einigen schwarzen Dienern durch die Wildnis, um einer ihm befreundeten Familie beizustehen. Unterwegs rasteten sie in einer Gegend, wo ein gewisser Douga Billy, ein starker und berühmter schwarzer Krieger, häufig mit seinen Gefährten umherschweifte. Bald bemerkte man denn auch die Spuren eines Negerlagers in nächster Nähe.

»Es stand kein Mond am tiefblauen Himmel,« sagt Mrs. Praed, »nur die lieben Sterne leuchteten durch die Nacht – der Orion, das Unterste zu oberst gekehrt, der Skorpion, das Kreuz des Südens – und das Lagerfeuer erhellte einen dunkeln Fleck Erde, wo hohes Gras über alten Baumstämmen wucherte. Neben den mächtigen Gummibäumen nahmen sich die Grasbäume mit den langen Büscheln ganz gespensterhaft aus; wie müde Schildwachen hielten sie ihre braunen Speere in schräger Richtung. In das Summen der Insekten mischte sich das klägliche Geschrei der Nachtvögel und das Stampfen der Rosse. Mein Vater saß am Feuer, beschäftigt, sich eine Peitschenschnur zu flechten, als ich unsern Tombo heranschleichen sah.

»›Massa, ich glaube es lauern wilde Schwarze im Hinterhalt.‹

»Kaum hatte er das gesagt, als eine zweite dunkle Gestalt aus dem Schatten der Bäume herangeschlichen kam – ein Neger, der nur einen Gürtel trug, sonst war er unbekleidet und mit roter und blauer Farbe tätowiert und bemalt; am Halse hatte er Schnüre von Schilfperlen und auf seiner starken Brust hing ein Amulett aus Knochen. Er war mit Speer, Bumerang und Nulla-Nulla versehen, doch hielt er die Waffen nicht zum Angriff bereit. Es lag etwas Freimütiges und Furchtloses in seinem Wesen; offenbar hatte er weder nächtlichen Verrat noch sonst einen Mordplan im Sinne.

»Mein Vater blickte auf und sah den Schwarzen. Doch griff er nicht nach seiner Flinte, die in der Nähe des Platzes, wo er saß, an einem Baum lehnte. Nun entspann sich die folgende Unterhaltung:

»›Murray?‹

»›Ja.‹

»›Ich bin Donga Billy. Meine schwarzen Gefährten sagen, du bist böse auf mich.‹

»›Ja‹, wiederholte mein Vater mit unerschütterlicher Ruhe; dann erklärte er, Donga Billy habe häufig auf den Ansiedlungen, die er besuche, Aufruhr erregt und die Schwarzen veranlaßt, das Vieh mit Speerwürfen zu töten, deshalb werde er seine Gegenwart in Naraigin, wo er wohne, nicht dulden.

»›Gut!‹ lautete die Antwort. ›Ich fürchte mich nicht. Ich werde nach Naraigin kommen. Wenn du böse bist, wirst du eine Pistole nehmen und ich habe Speer, Nulla-Nulla und Bumerang. Wir wollen sehen, wer von uns am stärksten ist und den andern tötet.‹

»Als Donga Billy mit seiner Rede fertig war, richtete er sich stolz in die Höhe wie ein Held und wartete, ob die Herausforderung angenommen würde.

»›Ja. Ich verstehe. Aber gehe jetzt weg!‹

»›Gut; ich gehe!‹ und er entfernte sich.

»Es vergingen einige Wochen, dann trafen sich die beiden in der Schlacht. Donga Billy gehörte zu den wenigen Schwarzen, die sich ihrem Gegner im offenen Kampfe stellen. Dies war vielleicht die erste und letzte Gelegenheit im Leben des mutigen Eingeborenen, seine Waffen gegen die Verteidigungsmittel der Weißen zu erproben. Mein Vater erinnerte sich an jene Herausforderung und suchte ihn im Kampfe auf. Donga Billy trat ihm tapfer gegenüber und focht wie ein Mann. Meines Vaters Pferd ward vom Speer getroffen und er selbst mit dem Bumerang schwer verwundet; aber die Pistole behielt die Oberhand und Donga Billy ward zu seinen Vätern versammelt.«