Neunundzwanzigstes Kapitel.
Die Sündhaftigkeit des Fluchens liegt nicht in den Worten, sondern in dem Zorngeist, der sie gebiert. Das Kind fängt schon an zu fluchen, ehe es noch sprechen kann.
Querkopf Wilsons Kalender.
11. November. Auf der Eisenbahn.
Die fahrplanmäßige Zeit unseres Schnellzugs ist nur zwanzig und eine halbe Meile die Stunde; aber man möchte gar nicht rascher fahren, um die wechselnde Aussicht auf Meer und Land nach Wunsch genießen zu können, wozu die behaglich eingerichteten Wagen die beste Gelegenheit bieten. Sie sind weder englisch noch amerikanisch, sondern ein Mittelding zwischen beiden, wie in der Schweiz. An der Seite hin läuft ein schmaler Vorbau, der mit einem Geländer versehen ist, so daß man während der Fahrt auf und ab gehen kann; auch gehört zu jedem Waggon eine Wasch- und Toiletteeinrichtung. Das nenne ich Fortschritt! Da zeigt sich der Geist des neunzehnten Jahrhunderts! –
Die sogenannten Schnellzüge fahren in Neuseeland zweimal die Woche. Es ist gut, wenn man das weiß, denn wer mit Zwanzigmeilenschritten das Land durchmessen will, könnte leicht an einem der fünf falschen Tage abfahren und in einen Zug geraten, der nicht einmal mit seinem eigenen Schatten Schritt hält.
Mich erinnerten die angenehmen Bahnzüge in Neuseeland, um des Gegensatzes willen, an die Zweigbahn von Maryborough auf dem australischen Festland und die Bemerkungen, welche mir ein Mitreisender auf der Fahrt über die Bahn und das dortige Hotel gemacht hat.
Ich war unterwegs eine Weile in das Rauchcoupé gegangen, wo sich noch zwei Herren befanden, die beide rückwärts fuhren und an den äußersten Enden des Wagens Platz genommen hatten. Ich setzte mich dem einen gegenüber ans Fenster; dem Anzug nach hielt ich ihn für den Prediger einer Dissentergemeinde, er hatte ein gutes, freundliches Gesicht und mochte etwa fünfzig Jahre alt sein. Unaufgefordert zündete er ein Streichholz an und hielt die Hand davor, bis meine Zigarre in Brand war. Das weitere entnehme ich meinem Tagebuche:
Um die Unterhaltung in Gang zu bringen, fragte ich ihn einiges über Maryborough, worauf er mit sehr angenehmer, wohltönender Stimme die ruhige und bestimmte Antwort gab:
»Es ist eine reizende Stadt, aber das Hotel ist ein wahrer Höllenpfuhl.«
Ich sah ihn verwundert an; es kam mir sehr merkwürdig vor, daß ein Prediger solchen Ausdruck gebrauchte.
»Jawohl,« fuhr er gelassen fort, »ein schlechteres Hotel gibt es in ganz Australien nicht.«
»Schlechte Betten?«
»Nein – gar keine. Nur Sandsäcke.«
»Auch die Kopfkissen?«
»Versteht sich. Nichts als Sand – und obendrein kein guter; er backt zusammen und ist nicht durchgesiebt, sondern grober Kies. Man schläft wie auf Haselnüssen.«
»Gibt es denn keinen feinen Sand?«
»Die Hülle und Fülle. Man findet in hiesiger Gegend einen so vorzüglich losen und lockern Sand wie sonst nirgends; aber, den kauft der Wirt nicht. Er nimmt nur Sand, der sich zusammenbackt und hart wird wie Stein.«
»Wie sind denn die Zimmer?«
»Acht Fuß groß im Viereck; der Boden ist mit eiskaltem Wachstuch bedeckt, auf das man treten muß, wenn man am Morgen aus dem Sandloch kommt.«
»Und die Beleuchtung?«
»Eine Erdöllampe.«
»Die hell brennt?«
»Nein, so düster wie möglich.«
»Ich lasse meine Lampe gern die ganze Nacht brennen.«
»Das geht bei dieser nicht; man muß sie früh auslöschen.«
»Aber man könnte doch nachts Licht brauchen und sie im Finstern nicht wieder finden.«
»O, man findet sie leicht – sie stinkt ganz abscheulich.«
»Ist ein Schrank da?«
»Nur zwei Nägel an der Tür, um sieben Anzüge aufzuhängen – falls man so viele hat.«
»Eine Klingel?«
»Ist nicht vorhanden.«
»Was tut man denn, falls man Bedienung braucht?«
»Man ruft, aber es kommt niemand.«
»Wenn nun aber das Zimmermädchen den Wassereimer ausgießen soll?«
»Dergleichen gibt es nicht. Außer in Sydney und Melbourne findet man nirgends Wassereimer in den Hotels.«
»Ach ja, das weiß ich; es ist eine Eigentümlichkeit von Australien und kommt mir sehr komisch vor. – Noch eins: ich muß morgen früh im Dunkeln aufstehen und mit dem Fünfuhrzug weiter reisen. Wenn nun der Hausknecht –«
»Den gibt es nicht.«
»Oder der Portier –«
»Es ist keiner da.«
»Aber, wer will mich denn wecken?«
»Kein Mensch. Sie müssen von selber aufwachen und sich auch hinunterleuchten. Es brennt kein Licht, weder im Gang noch anderswo. Auf der Treppe würden Sie im Dunkeln den Hals brechen.«
»Wer wird mir helfen mein Gepäck hinuntertragen?«
»Niemand. Aber, ich will Ihnen einen Rat geben. In Maryborough wohnt ein Amerikaner, schon seit einem halben Menschenalter, ein stattlicher Mann, auch wohlhabend und allgemein beliebt. Machen Sie dessen Bekanntschaft; dann sorgt er für alles und Sie können in Frieden schlafen. Morgens weckt er Sie zur rechten Zeit und bringt Sie auf den Zug. – Wo haben Sie denn Ihren Geschäftsführer gelassen?«
»In Ballarat. Er macht dort Sprachstudien; auch muß er nach Melbourne fahren, um alles für Neuseeland vorzubereiten. Es ist mein erster Versuch, mich allein durchzusteuern, und mir scheint, das ist gar nicht sehr leicht.«
»Leicht? Wo denken Sie hin – besonders auf dieser Strecke, der schwierigsten in ganz Australien. Dazu muß man ein ganz ungewöhnlich praktischer Mensch sein. Aber, das sind Sie wohl auch?«
»Ich – hm – ich glaube – indessen –«
»Ja, dann werden Sie es nun und nimmermehr allein fertig bringen. Aber der Amerikaner wird Ihnen helfen, verlassen Sie sich darauf. Haben Sie Ihr Billet?«
»Ja, zur Rundreise bis nach Sydney.«
»Aha! dacht‘ ich mir’s doch! Sie fahren um 5 Uhr morgens über Castlemaine – zwölf Meilen – weil der 7.15 Zug über Ballarat zwei Stunden länger unterwegs bleibt. Aber Ihr Billet lautet auf Ballarat – auf den zwölf Meilen ist es ungültig, und die Regierung gestattet nicht –«
»Was kümmert es denn die Regierung, welchen Weg ich wähle?«
»Das weiß der liebe Himmel. In der Eisenbahnverwaltung läßt sie sich nicht drein reden. Zuerst übergab man sie einer Gesellschaft von Blödsinnigen, das war schlimm; dann rief man Franzosen ins Land, die verstanden noch weniger davon; zuletzt übernahm die Regierung die Verwaltung selbst, und nun geht alles rückwärts. Um die Gunst eines Wählers nicht zu verscherzen, der vielleicht zwei Schafe und einen Hund besitzt, baut man ihm eine Bahn wohin er will. So kommt es, daß wir zum Beispiel in der Kolonie Viktoria achthundert Bahnhöfe haben, darunter achtzig, wo an der Kasse kaum zwanzig Schillinge die Woche einkommen.«
»Fünf Dollars? Sie scherzen wohl!«
»Es ist buchstäblich wahr.«
»Aber auf jedem Bahnhof sind doch drei oder vier Beamte angestellt, die ihr Gehalt beziehen.«
»Natürlich. Glauben Sie mir, die Bahnlinie verdient nicht einmal den Zucker in ihren Kaffee. Und gefällig sind die Beamten! Man braucht nur mit irgend einem Lappen zu wehen, so hält der Zug mitten in der Wildnis und läßt den Reisenden einsteigen. Das macht alles Kosten. Und wenn in einer Stadt viele stimmberechtigte Bürger sind, die sich einen schönen Bahnhof wünschen, so wird er gebaut. Sehen Sie sich nur den Bahnhof von Maryborough einmal an! Sämtliche Einwohner haben Platz darin, jeder kann ein Sofa für sich haben und es bleibt noch Raum übrig. Und eine Uhr ist dort – ich sage Ihnen, so etwas hat kein Bahnhof in ganz Europa aufzuweisen. Zum Glück schlägt sie nicht und hat auch keine Glocken, denn in Australien hört das Gebimmel und das ewige dong-dong Tag und Nacht nicht auf. Na, bei so vielen Prachtbauten für die Eisenbahn und Verlust beim Betrieb, können Sie sich schon denken, daß die Regierung irgendwo sparen muß. Das Betriebsmaterial muß herhalten. Achtzehn Güterwagen und für die Passagiere zwei elende Hundelöcher, die so schäbig und liederlich eingerichtet sind wie nur möglich, ohne hygienische Vorkehrungen, ohne Trinkwasser, mit aller nur denkbaren Unbequemlichkeit – das ist der Zug von Maryborough – und langsam geht er, wie eine Schneckenpost. So spart die Regierung ihr Geld. Für Tonnen Goldes baut sie Paläste auf, in denen man ein paar Minuten warten muß, und deportiert einen dann sechs Stunden lang wie den gemeinsten Verbrecher, um die vergeudeten Summen wieder einzubringen. Jeder vernünftige Mensch fühlt sich gern unbehaglich im Wartezimmer, weil ihm dann die Fahrt in einem hübschen, bequemen Zug eine angenehme Abwechslung bietet. Aber gesunden Menschenverstand sucht man bei der Eisenbahnverwaltung vergebens. Und dann steckt sie noch für die zwölf Meilen eine Extravergütung ein, erklärt ihre eigenen Fahrkarten für ungültig und – –«
»Nun aber, jedenfalls kann ich wenigstens –«
»Warten Sie nur, ich bin noch nicht fertig. Ohne den Amerikaner würden Sie überhaupt nicht fortkommen. Zuerst sieht niemand Ihr Billet an, der Schaffner läßt es sich erst zeigen, wenn der Zug schon im Abfahren ist. Dann können Sie kein Extrabillet mehr kaufen, der Zug wartet nicht, und Sie müssen wieder aussteigen.«
»Aber, kann ich es denn nicht dem Schaffner bezahlen?«
»Er ist nicht berechtigt Geld anzunehmen, und nimmt auch keins. Es bleibt Ihnen nichts übrig – Sie müssen heraus. Der Eisenbahnbetrieb ist hier das einzige, was ganz nach europäischem Muster eingerichtet ist – nicht nach englischem, nein, wie auf dem Festland. Alles wird genau so gemacht, sogar das Wiegen des Gepäcks, diese Erzplackerei, fehlt nicht.«
Jetzt hielt der Zug an der Station meines Mitreisenden. Beim Aussteigen sagte er noch: »Jawohl, in Maryborough wird es Ihnen gefallen. Sie treffen dort sehr gebildete Leute. Eine reizende Stadt! Aber das Hotel ist ein wahrer Höllenpfuhl!«
Als er fort war, wandte ich mich an den andern Herrn:
»Ihr Freund ist wohl Geistlicher?«
»Nein, aber er treibt theologische Studien.«