Nechludoff wartete auf den Augenblick, wo er nach dem Abendessen sich allein mit Katuscha unterhalten konnte, wie er das immer that, wenn er den Abend im Rastgebäude zubrachte. Jetzt saß er neben Krülzoff und unterhielt sich mit ihm.

Er erzählte ihm unter andern, wie ihn der Sträfling Makar angesprochen, und alles, was er von der Geschichte dieses Unglücklichen wußte. Krülzoff hörte ihm aufmerksam zu und sah ihn starr mit seinen großen, glänzenden Augen an.

»Ja, so ist’s,« sagte er plötzlich, »ich denke oft daran, wie seltsam doch eigentlich unsere Lage ist. Wir reisen mit diesen Leuten nach Sibirien; was sage ich, eben wegen dieser Leute gehen wir dahin, und doch kennen wir sie nicht nur nicht, nein, wir machen auch nicht einmal den Versuch, sie kennen zu lernen. Sie aber verabscheuen uns obendrein und betrachten uns als ihre Feinde. Ist das nicht entsetzlich?«

»Daran ist nichts Entsetzliches,« erklärte Nowodworoff, der an Krülzoffs Bett herangetreten war. »Die Massen sind stets grob und ungebildet und haben nur vor der Macht Respekt,« fuhr er mit seiner klangvollen Stimme fort. »Die Macht aber hat heute die Regierung in Händen; darum respektieren diese Leute die Regierung und verabscheuen uns. Wenn wir morgen die Macht ergreifen, so werden sie uns respektieren.«

In demselben Augenblicke hörte man in dem Nebensaal, wie gegen die Wand geschlagen wurde, man vernahm Kettengerassel, Geschrei und Geheul. Man schlug jemand, der um Hilfe schrie.

»Hören Sie diese wilden Bestien? Welche Beziehung soll wohl zwischen ihnen und uns existieren?« fragte Nowodworoff in ruhigem Tone.

»Wilde Bestien, sagst du? – Höre nur, was mir Nechludoff eben von einem dieser Menschen erzählt hat.«

Und nun wiederholte Krülzoff in erregtem Tone die Worte Nechludoffs und berichtete, wie der Sträfling Makar sein Leben aufs Spiel gesetzt, um einen seiner Gefährten zu retten.

»Ist das das Werk einer wilden Bestie?« fragte er.

»Sentimentalität!« entgegnete Nowodworoff mit seinem ironischen Lächeln. – »Als wenn wir die Gedanken dieser Leute und die Motive ihrer Handlungen begreifen könnten! Was du für Heroismus hältst, ist vielleicht ganz einfach Haß gegen einen andern Sträfling.«

»Und du, du willst nie etwas Gutes bei andern sehen,« rief Marie Pawlowna, die alle ihre Gefährten duzte.

»Warum sollte ich denn etwas sehen, was nicht vorhanden ist?«

»Wie kann man einem Menschen die Bewunderung versagen, der sich, freiwillig einem gräßlichen Tode aussetzt?«

»Ich bin der Meinung,« erklärte Nowodworoff in trockenem Tone, »wenn wir unser Werk vollbringen wollen, so muß die erste Bedingung die sein, daß wir nicht träumen und die Dinge stets so ansehen, wie sie sind.«

Markel schloß das Buch, das er bei der Lampe las, trat ebenfalls näher und hörte eifrig alle Worte des Mannes mit an, den er sich zum Meister und Vorbild genommen hatte. Nowodworoff aber fuhr in feierlichem und entschlossenem Tone, als wenn er einen Vortrag hielte, fort: »Unsere Pflicht besteht darin, alles für das Volk zu thun, aber nichts von ihm zu erwarten. Das Volk muß der Gegenstand unserer Bemühungen sein, doch es darf nicht mit uns mitarbeiten, wenigstens nicht solange es in seinem augenblicklichen Zustande des Stumpfsinnes verharrt. Nichts wäre illusorischer, als vom Volke die geringste Mitwirkung zu erhoffen, bis zu dem Tage, da sich seine geistige Entwicklung vollziehen wird, die Entwicklung, zu der wir es vorbereiten.«

»Was für eine Entwicklung?« fragte Krülzoff, sich von seinem Lager erhebend. »Wir behaupten immer, wir kämpfen gegen den Despotismus; doch ist eine solche Handlungsweise nicht ein ebenso empörender Despotismus wie der, den wir vernichten wollen?«

»Wo siehst du denn da Despotismus?« versetzte Nowodworoff mit derselben Ruhe. »Ich, sage nur, daß ich den Weg kenne, den das Volk zu seiner Entwicklung verfolgen muß, und daß ich ihm diesen Weg zeigen kann.«

»Aber wer erlaubt dir denn zu behaupten, daß dieser Weg, den du ihm zeigst, der gute ist? Hat man nicht im Namen derselben Prinzipien die Inquisition eingeführt? Hat nicht im Namen derselben Prinzipien die französische Revolution ihre Verbrechen begangen? Auch sie glaubte, in der Wissenschaft den einzigen Weg gefunden zu haben, dem man folgen mußte.«

»Die Thatsache, daß andere sich getäuscht, beweist noch nicht, daß ich mich auch täuschen muß. Und dann darf man auch keine Analogie aufstellen zwischen den Albernheiten der Ideologen und den positiven Grundlagen der volkswirtschaftlichen Wissenschaft.«

Die starke Stimme Nowodworoffs durchdrang den ganzen Saal. Niemand wagte, ihn zu unterbrechen.

»Weshalb zankt ihr euch immer?« sagte Marie Pawlowna, als er ausgesprochen hatte.

»Und wie ist Ihre Ansicht darüber?« fragte Nechludoff das junge Mädchen.

»Ich bin der Ansicht, Anatole hat recht, und wir haben nicht die Berechtigung, unsere Ideen dem Volk aufzudrängen.«

»Das ist eine merkwürdige Art und Weise, unsere Rolle aufzufassen,« sagte Nowodworoff, zündete sich eine Cigarette an und entfernte sich mit ärgerlicher Miene.

»Es geht über meine Kräfte, ich kann nicht mit ihm sprechen, ohne außer mir zu geraten,« flüsterte Krülzoff Nechludoff ins Ohr, und Nechludoff konnte sich des Gedankens nicht erwehren, daß auch er dasselbe Gefühl empfand.