Man hatte abgespeist und den Thee getrunken. Nechludoff wollte eben mit der Maslow ein Gespräch beginnen, als er im Nebensaal die Stimme des Oberaufsehers vernahm. Dann trat im Saale und im Korridor ein tiefes Schweigen ein. Die Thür öffnete sich, und der Oberaufseher erschien mit zwei Wärtern, um den Abendappell vorzunehmen. Er zählte alle politischen Verurteilten, einen nach dem andern, und las ihren Namen von einer Liste ab, während einer der Aufseher sie mit dem Finger berührte.

Als der Appell beendet war, wandte sich der Oberaufseher zu Nechludoff und sagte zu ihm mit einem Gemisch von Vertraulichkeit und Respekt:

»Jetzt, Fürst, müssen Sie gehen. Man hat nicht das Recht, nach Thorschluß hier zu bleiben.«

Doch Nechludoff, welcher wußte, was diese Worte bedeuteten, näherte sich dem alten Manne und steckte ihm einen Dreirubelschein in die Hand, den er schon bereit gehalten hatte.

»Na, zwingen kann ich Sie ja nicht, bleiben Sie noch einen Augenblick,«

Der Oberaufseher wollte hinausgehen, als ein anderer Wärter in Begleitung eines großen, mageren Gefangenen, der einen großen, blauen Fleck am Auge hatte, in den Saal trat.

»Ich komme, die Kleine zu holen,« sagte der Gefangene.

»Ach, da ist ja Väterchen,« rief eine leise Kinderstimme, und ein kleiner Blondkopf erschien hinter der von der Rantzeff, Marie Pawlowna und Katuscha gebildeten Gruppe, die alle drei aus dem Rocke der Rantzeff ein neues Kleid für das kleine Mädchen nähten.

»Komm, Kleine, leg‘ dich schlafen,« sagte der Sträfling in sanftem Tone.

»Sie befindet sich hier sehr wohl,« versetzte Marie Pawlowna und betrachtete mitleidig das zerschlagene Gesicht des armen Mannes. »Lassen Sie sie uns da.«

»Die Dame macht mir ein neues Kleid, ein schönes rotes Kleid, Väterchen,« sagte das Kind und zeigte ihrem Vater die Arbeit der Emilia Rantzeff.

»Willst du bei uns schlafen?« fragte diese, indem sie sie streichelte.

»Ja, ich will wohl, aber Papa soll auch bei mir schlafen.«

Die Rantzeff lächelte, über ihr Gesicht huschte jenes Lächeln, das sie so schön machte.

»Dein Vater muß in dem andern Saal schlafen. Aber er wird uns doch erlauben, dich bei uns zu behalten, nicht wahr?« sagte sie, sich nach dem Vater umwendend.

»Machen Sie das, wie Sie wollen,« erklärte der Oberaufseher und ging mit den drei Wärtern hinaus.

Kaum hatten die Aufseher den Saal verlassen, als Nabatoff sich dem Vater des kleinen Mädchens näherte und zu ihm sagte, indem er ihm seine starke Hand auf die Schulter legte:

»Sag‘ mal, Bruder, ist es wahr, daß Karmanoff mit einem Verschickten den Namen wechseln will?«

Das ruhige Gesicht des Sträflings nahm plötzlich einen düstern Ausdruck an, und seine Augen senkten sich.

»Wir haben nichts davon gehört, Gott weiß, was für Lügen man erfindet,« erwiderte er und fuhr dann, ohne die Augen zu erheben, fort:

»Nun, Anjutka, bleibe nur vergnügt weiter bei den schönen Damen,« fügte er hinzu und ging hastig hinaus.

»Er weiß alles; was dieser Makar gesagt hat, ist sicherlich wahr,« sagte Nabatoff, sich an Nechludoff wendend.

Dann schwiegen alle, denn sie fürchteten, den Zank von neuem losbrechen zu sehen. Simonson, der den ganzen Abend über nichts gesagt, und auf seinem Lager liegen geblieben war, erhob sich plötzlich mit entschlossener Bewegung. Er bahnte sich einen Weg durch die Gruppen und näherte sich Nechludoff.

»Können Sie mir jetzt einen Augenblick Gehör schenken?«

»Aber gewiß,« versetzte Nechludoff und stand auf, um ihm zu folgen.

Als die Maslow sah, daß Nechludoff aufstand, errötete sie und wandte schnell den Kopf ab.

»Ich habe über folgendes mit Ihnen zu sprechen,« begann Simonson, nachdem er Nechludoff in das kleine Vorzimmer geführt. Dieses Vorzimmer dröhnte in diesem Augenblick ganz von dem schrecklichen Lärm wieder, den die Kriminalverbrecher im Nebenzimmer und auf dem Korridor vollführten. Nechludoff, der wie betäubt war, zog die Stirn kraus, doch Simonson hörte offenbar nichts.

»Da ich Ihre Beziehungen zu Katharina Maslow kenne,« so begann er, indem er seine gutmütigen, runden Augen gerade auf Nechludoffs Augen richtete, »so hielt ich mich verpflichtet …«

Doch als er diese Worte gesprochen, mußte er innehalten, weil in diesem Augenblicke zwei zankende Stimmen zu schreien anfingen:

»Man sagt dir doch, ich sei es nicht, du Schwein,« rief die eine.

»Gieb es mir zurück, du Dreckkerl!« schrie die andere.

Plötzlich zeigte sich Marie Pawlowna in dem Vorzimmer.

»Was hat denn das für einen Sinn, sich hier zu unterhalten?« sagte sie. »Kommen Sie lieber in unsere Stube, ich glaube, sie ist leer.«

Sie führte Simonson und Nechludoff in die zweite der beiden Stuben, ein kleines, viereckiges Gemach, in welchem die Frauen der Abteilung schliefen. Das Zimmer war aber doch nicht leer; denn die Bogoduschoffska befand sich darin; sie lag in ihrem Bett und wandte das Gesicht nach der Wand zu.

»Sie hat Kopfschmerz; sie schläft und wird euch nicht hören; ich gehe!« sagte Marie Pawlowna.

»Im Gegenteil, du würdest mir ein Vergnügen bereiten, wenn du bleibst,« sagte Simonson. »Ich habe vor niemandem Geheimnisse, namentlich aber nicht vor dir!«

»Gut, wie du willst,« sagte Maria Pawlowna, setzte sich mit ihren kindlich-anmutigen Bewegungen auf eines der Betten und schickte sich an, die Unterhaltung der beiden Männer anzuhören.

»Die Sache, von der ich mit Ihnen sprechen will, besteht in folgendem,« wiederholte Simonson. »Da ich Ihre Beziehungen zu Katharina Maslow kenne, so hielt ich mich für verpflichtet, Sie von meinen eigenen Beziehungen zu ihr in Kenntnis zu setzen.«

»Was heißt das?« fragte Nechludoff, von heftigem Schrecken ergriffen.

»Das heißt, ich möchte mich mit Katharina Michaelowna verheiraten …«

»Wirklich?« rief Maria Pawlowna, indem sie ihre schönen, blauen Augen auf Simonson richtete.

»Und ich habe mich entschlossen, sie zu fragen, ob sie mein Weib werden will,« fuhr Simonson fort.

»Was kann ich dazu thun? Das hängt nur von ihr ab,« erklärte Nechludoff trocken.

»Ja, aber ich weiß, daß sie mir nicht ohne Ihre Erlaubnis antworten wird.«

»Und warum?«

»Weil Katharina Michaelowna, so lange die Frage ihrer Beziehungen zu Ihnen nicht gelöst ist, keinen Entschluß fassen wird.«

»Was mich angeht,« versetzte Nechludoff, »so ist die Frage vollständig gelöst. Ich habe thun wollen, was ich für meine Pflicht hielt, und habe auch versucht, die Lage der Maslow so viel wie möglich zu lindern, doch um keinen Preis möchte ich mich ihr aufdrängen oder sie in ihren Entschlüssen beeinflussen.«

»Gewiß, aber sie will Ihr Opfer nicht.«

»Es handelt sich um kein Opfer.«

»Ich weiß, ihr Entschluß ist in diesem Punkte unerschütterlich!«

»Aber wozu unterhalten Sie sich dann mit mir?« fragte Nechludoff.

»Sie sollen mir das Zugeständnis machen, daß Sie sich nicht mehr mit ihr beschäftigen werden.«

»Wie kann ich Ihnen versprechen, daß ich das nicht mehr thun werde, was ich für meine Pflicht halte? Ich kann ihr nur das eine sagen: obwohl ich ihr gegenüber nicht frei bin, so ist sie doch mir gegenüber vollkommen frei!«

Simonson blieb einige Augenblicke nachdenklich sitzen, ohne ein Wort zu erwidern.

»Gut,« fuhr er fort, »ich werde ihr das sagen. Aber glauben Sie nicht etwa, daß ich in sie verliebt bin! Ich liebe sie, wie ich eine Schwester lieben würde, eine Freundin, die viel gelitten hat, und die ich trösten möchte. Ich verlange nichts von ihr, nichts; ich will ihr nur hilfreich zur Seite stehen, ihre Lage lindern …«

Trotz der Aufregung, die sich seiner selbst bemächtigt hatte, fühlte Nechludoff, wie Simonsons Stimme heftig zitterte.

»Ihre Lage lindern,« fuhr Simonson fort. »Sie will Ihre Hilfe nicht annehmen, aber vielleicht wäre sie geneigt, die meine anzunehmen. Wenn sie einwilligt, so werde ich ein Gesuch einreichen, in die Stadt verschickt zu werden, in der sie ihre Strafe abbüßt. Vier Jahre sind schnell vorüber! Ich werde bei ihr leben, und vielleicht wird es mir gelingen, ihr Leben weniger schwer zu gestalten …«

Von neuem hielt er inne, denn er war dem Weinen nahe.

»Was soll ich Ihnen sagen« versetzte Nechludoff, »Ich bin glücklich, daß sie einen Beschützer wie Sie gefunden hat …«

»Ach, das wollte ich nur wissen,« rief Simonson. »Ich wollte wissen, ob Sie, wenn Sie meine Gefühle für Katharina Michaelowna kennen, wenn Sie wissen, wie sehr ich ihr Wohl im Auge habe, eine Heirat mit mir als ein Glück für sie ansehen würden?«

»Ja, das würde ich,« versetzte Nechludoff in entschlossenem Tone.

»An sie allein denke ich! Ich wünsche nur, diese leidende Seele möge ein wenig Ruhe finden!« sagte Simonson, indem er Nechludoff mit einem so demütigen, so flehentlichen Blicke ansah, wie man ihn bei einem gewöhnlich so zurückhaltenden und düstern Manne nie erwartet hätte.

Dann näherte er sich Nechludoff plötzlich, ergriff seine Hand, lächelte ihm schüchtern zu und küßte ihn auf die Wangen.

»Ich werde ihr das alles sagen; ich werde ihr das alles sagen,« erklärte er und verließ das Zimmer.