Als Nechludoff am nächsten Morgen gegen neun Uhr erwachte, übergab ihm die wohlbeleibte Wirtin ein Couvert, das einer der der Etappe angehörenden Soldaten schon vor zwei Stunden für ihn gebracht hatte. Es war ein Billet von Marie Powlowna.

Das junge Mädchen teilte Nechludoff mit, der bei Krülzoff am vorigen Abend eingetretene Anfall wäre viel ernster, als man ursprünglich geglaubt hatte.

»Wir hatten die Absicht, ihn ein bis zwei Tage hier zu lassen und bei ihm zu bleiben, doch man hat es uns nicht erlaubt; deshalb nehmen wir ihn mit, haben aber große Furcht. Können Sie es nicht durchsetzen, daß, wenn sein Zustand ihn zwingt, in S… zu bleiben (das war die folgende Etappe des Zuges), einer von uns die Erlaubnis erhält, bei ihm zu bleiben? Sollte diese Erlaubnis etwa von neuem verweigert werden, und ich die Autorisation, bei ihm zu bleiben, nur bekommen, wenn ich Krülzoffs Frau werde, so brauche ich Ihnen wohl nicht erst zu sagen, daß ich auf diese Formalität gern eingehe.«

Nechludoff ließ seinen Wagen anspannen und packte eiligst seinen Koffer. Er hatte sein zweites Glas Thee noch nicht ausgetrunken, als er auf dem gefrorenen Boden der Landstraße, der so dumpf wie das Pflaster klang, das Klappern der Räder der Troika vernahm, die ihn abholen wollte. Er bezahlte seine Rechnung, stieg in den Wagen und sagte dem Kutscher, er solle so schnell wie möglich fahren, um den Zug recht bald einholen zu können.

Thatsächlich sah er nach einer scharfen, einstündigen Fahrt auf der Landstraße die schwarze Reihe der Wagen vor sich, die mit dem Gepäck des ganzen Zuges die kranken Gefangenen und die politischen Verurteilten fortbrachten. Der Offizier war wie am vorigen Tage vorausgefahren, um den Abmarsch der Kriminalverbrecher zu leiten und zu überwachen. Hinter den Wagen und neben ihnen, auf beiden Seiten der Landstraße marschierten die Soldaten mit fröhlichem und lebhaftem Schritte, wie Männer, die vor ihrem Aufbruch einen guten Schluck getrunken haben.

Es waren eine große Anzahl von Wagen, wenigstens zwanzig Stück. In den letzten, denen Nechludoff zuerst begegnete, saßen zu sechs und sechs zusammengedrängt, die Kriminalverbrecher; in den ersten befanden sich zu drei und drei die politischen Gefangenen. Nowodworoff reiste in Gesellschaft Markels und der Grabetz, Emilja Rantzeff und Nabatoff hatten die Frau in anderen Umständen bei sich, der Maria Pawlowna ihren Platz abgetreten hatte. Endlich sah Nechludoff in einem dritten Wagen Krülzoff auf einem Strohlager, mit Kissen unter dem Kopf, ausgestreckt; neben ihm saß auf dem Rücksitz Maria Pawlowna.

Nechludoff befahl seinem Kutscher zu halten, stieg aus und näherte sich dem Wagen, in welchem Krülzoff lag. Die Soldaten, welche den Wagen umgaben, machten ihm ein Zeichen, er solle seiner Wege gehen; doch er war schon daran gewöhnt, auf diese Art Warnung nichts zu geben, und thatsächlich ließen ihn die Soldaten nach ihrem ersten Proteste, so lange er nur wollte, neben dem Wagen hergehen.

In seinen Pelz eingehüllt und seine Lammfellmütze auf dem Kopfe, ein Taschentuch um den Mund gebunden, lag Krülzoff da und schien noch magerer und blasser als vorher. Nur seine Augen schienen in dem ganzen Gesichte zu leben; sie glänzten so eigentümlich, daß sie ganz ungewöhnlich groß erschienen. Unaufhörlich von dem Rütteln des Wagens hin- und hergeschüttelt, starrte er mit einem Ausdruck lebhaften Schmerzes vor sich hin, und als Nechludoff ihn fragte, wie er sich fühle, beschränkte er sich darauf, einen Moment die Augen zu schließen und wandte dann mit zorniger Miene den Kopf ab. Alle Energie seines Wesens beschränkte sich augenscheinlich darauf, die Erschütterungen des Wagens zu ertragen.

Sobald Maria Pawlowna Nechludoff bemerkt hatte, warf sie ihm einen Blick zu, in welchem er ihre ganze Unruhe klar und deutlich las; doch gleich darauf fing sie wieder mit dem ruhigsten und fröhlichsten Ton zu reden an, indem sie möglichst laut, um das Getöse der Räder zu übertönen, ausrief:

»Eine gute Neuigkeit! Denken Sie, der Offizier muß sich geschämt haben, er hat dem Vater des kleinen Mädchens heute morgen die Handfesseln abnehmen lassen, und ihm erlaubt, sein Kind zu tragen. Wera hat mir ihren Platz abgetreten, und nun fahre ich im Wagen, während sie vor uns mit Simonson und Katja zu Fuß wandert.«

Dann trat einige Minuten Ruhe ein; und plötzlich sprach Krülzoff, indem er das Taschentuch, das seinen Mund bedeckte, abriß, einige Worte, die weder Maria Pawlowna, noch Nechludoff verstehen konnten. Der Kranke sah sie darauf mit ungeduldigem Blicke an und schloß von neuem die Augen, indem er sich bemühte, nicht zu husten. Maria Pawlowna neigte sich über ihn und lauschte, während Krülzoff sich wieder aufrichtete und im Flüstertone sagte:

»Jetzt fühle ich mich weit besser! Wenn ich mich nicht erkälte, bin ich gerettet!«

Dann wandte er sich mit gequältem Lächeln zu Nechludoff.

»Nun, und wie weit sind Sie mit dem Problem der drei Körper? Haben Sie eine Lösung gefunden?«

Nechludoff sah ihn ängstlich an und begriff nicht, was er sagen wollte; doch Maria Pawlowna erklärte ihm, die Gelehrten nannten so ein die astronomischen Beziehungen der Sonne, der Erde und des Mondes betreffendes Problem; Krülzoff hätte schon am vorigen Tage aus Scherz mit diesem Prinzip das Problem der Beziehungen Nechludoffs, Simonsons und der Maslow verglichen. Krülzoff machte ein Zeichen mit dem Kopfe, um die Erklärung des jungen Mädchens zu bestätigen.

»Die Lösung hängt nicht von mir ab,« sagte Nechludoff.

»Sie haben meinen Brief erhalten? Sie werden thun, um was ich Sie gebeten habe?« fragte Maria Pawlowna.

»Zählen Sie auf mich!« versetzte Nechludoff.

Nechludoff glaubte nun von neuem zu sehen, wie Krülzoffs Gesicht sich verzerrte, als wäre ihm diese Unterhaltung, an der er nicht teilnehmen konnte, lästig; deshalb trat Nechludoff zur Seite und ging wieder zu seinem Wagen zurück. Die Anspielung Krülzoffs hatte ihn wieder an seine eigene Lage erinnert, die er seit dem vorigen Tage zu vergessen bemüht war; und der Wunsch war in ihm aufgestiegen, schnell zu Katuscha zu eilen und eine ausschlaggebende Unterredung mit ihr herbeizuführen. Von neuem befahl er dem Kutscher, seine Pferde laufen zu lassen, und mit heftigem Herzklopfen bemerkte er vor sich nach einer Fahrt von zwei bis drei Werst das blaue Tuch, das den Kopf der Maslow bedeckte. Die junge Frau schritt am Ende des Zuges in Begleitung von Wera Efremowna und Simonson, der im Begriff war, seinen Gefährtinnen mit eifrigen Bewegungen seiner langen, mageren Arme etwas zu erklären.

Als Nechludoff sie eingeholt hatte, begrüßten ihn die beiden Frauen lächelnd, während Simonson mit ganz besonderem Eifer seine Mütze abnahm. Noch Nechludoff fühlte nicht den Mut, mit ihnen zu sprechen, als er sie so zusammensah. Im Augenblick, als er seinen Wagen halten lassen wollte, besann er sich eines anderen, und bald fuhr er an dem Zuge vorüber, der sich mit der gewöhnlichen Begleitung von Geschrei, Lachen und Kettenklirren an der Landstraße hinzog.

Der Weg, den der Wagen verfolgte, führte ihn in einen finsteren Wald, wo Birken- und Lärchenbäume seinen Augen die tausenderlei Abstufungen ihrer gelben Blätter darboten. Dann verschwand der Wald; auf den beiden Seiten der Landstraße dehnten sich ungeheure Felder aus, und in der Ferne bemerkte Nechludoff die Kuppeln und vergoldeten Kreuze eines Klosters.

Indessen hatte sich das Wetter plötzlich aufgeklärt, die Wolken hatten sich zerstreut, die Sonne war über den Feldern aufgegangen, der Hagel, der gefrorene Schmutz der Landstraße, die Kuppeln und Kreuze glänzten in mildem Schimmer; und dieses Licht ließ die Ausdehnung der Felder, die sich bis zur blauen Linie der Berge, die den Horizont begrenzten, hinzogen, noch ungeheurer erscheinen.

Endlich fuhr die Troika in ein großes Dorf, einen Vorort der Stadt, nach welcher Nechludoff sich begab. Die Straße dieses Dorfes war voller Menschen, Russen wie Ausländer, die eine außergewöhnliche Mannigfaltigkeit in Kostümen und Frisuren zur Schau trugen. Einzelne Gruppen unterhielten sich, zankten sich und lachten vor den Thüren der Läden, Ausspannungen und Schenken, Leiterwagen fuhren schwerfällig durch die Straße und hielten mitten auf dein Wege. Alles deutete auf die Nähe der Stadt hin.

Der Kutscher richtete sich auf seinem Bocke auf, um sich von der vorteilhaftesten Seite zu zeigen, peitschte auf seine Pferde los und ließ sie trotz der Menschenmenge, die sie anfüllte, im Galopp durch die lange Dorfstraße laufen. Die Troika hielt erst am Ufer eines Flusses, der die Stadt vom Dorfe trennte, und über den man aus einer breiten Fähre hinübersetzte.

Die Fähre befand sich in der Mitte des Flusses und schwamm auf das Ufer zu, an dem Nechludoff stand. Etwa zwanzig Wagen standen hier, die auf sie warteten; doch die beiden Männer, die die Fähre lenkten, gaben Nechludoffs Kutscher ein Zeichen, er könnte seinen Wagen vor all den anderen hinauffahren. Als die Fähre voll war, schlossen sie die auf dieselbe führende Schranke, ohne sich um die Proteste der zahlreichen Kutscher zu kümmern, deren Wagen keinen Platz hatten finden können.

Und langsam begann die Fähre über die Oberfläche des Wassers zu gleiten, und man hörte kein anderes Geräusch, als das der Wogen, die sich an ihrem Rande brachen, und zeitweise das der Pferdehufe, die auf den Bretterboden schlugen.