Die Abteilung des Transportzuges, der Katuscha angehörte, hatte eine Strecke von ungefähr fünftausend Kilometern zurückzulegen. Bis zur Station Perm war Katuscha auf der Eisenbahn gefahren, und erst an diesem Orte wurde sie, weil Nechludoff dringend darum bat, der Sektion der politischen Verbrecher überwiesen.

Die Bogoduschoffska, welche diesem Zuge ebenfalls angehörte, hatte ihm nämlich den Rat erteilt, darum zu ersuchen. Die Fahrt bis zur Station Perm hatte Katuscha mancherlei Leiden und Beschwerden verursacht, sowohl in körperlicher, wie auch in moralischer Hinsicht. In körperlicher Hinsicht fühlte sie sich von der qualvollen Enge, der Unsauberkeit und den ekelhaften Insekten unangenehm berührt, die die Gefangenen keine Sekunde in Ruhe ließen; in moralischer Hinsicht dagegen wurde sie von den ebenso ekelhaften Menschen belästigt, die sich überall ebenso zudringlich zeigten, wie die Insekten, und – trotzdem man bei jedem Tagemarsch einen Wechsel der Gefangenen vornahm – ebensowenig Ruhe gaben und ebensowenig abzuschütteln waren, wie das Gewürm.

Es hatte sich zwischen den Weibern, den Deportierten, den Aufsichtsbeamten und den die Trupps begleitenden Soldaten ein so gemeiner Ton entwickelt, daß jedes Mädchen unaufhaltsam vor Zudringlichkeiten auf der Hut sein mußte; dieser Zustand fortwährender Aufregungen und Angst, dieser beständige Kampf war aber im höchsten Grade entnervend und aufregend.

Ganz besonders hatte Katuscha wegen ihrer anmutigen Erscheinung und wegen ihrer Vergangenheit, die wohl für keinen ein Geheimnis geblieben war, unter diesem zudringlichen Benehmen zu leiden. Der entschlossene Widerstand, mit dem sie jetzt allen Annäherungsversuchen der Männer entgegentrat, machte auf diese den Eindruck einer persönlichen Beleidigung, und so bildete sich nach und nach eine allgemeine Mißstimmung gegen sie heraus. In dieser Hinsicht wurde ihr nur in der Nähe von Fedossja und Taraß eine gewisse Erleichterung zu teil. Der letztere hatte in Erfahrung gebracht, welchen Belästigungen seine Frau ausgesetzt gewesen war, und um ihr schützend zur Seite stehen zu können, ließ er sich verhaften und wanderte seit Nischni-Nowgorod wie jeder andere regelrecht Verurteilte in den Reihen der Gefangenen mit.

Dadurch, daß man Katuscha den politischen Gefangenen überwiesen, bekam ihre ganze Lage doch in jeder Hinsicht eine Wendung zum Bessern. Die politischen Gefangenen erhielten besseres Obdach, sie bekamen bessere Nahrung, und man behandelte sie nicht so furchtbar grob. Eine wesentliche Verbesserung erhielt ihre Lage aber dadurch, daß die Angriffe von seiten der Männer ein Ende nahmen, und man sie nicht fortwährend an ihr vergangenes Leben erinnerte, das zu vergessen ihr sehnlichster Wunsch war. Der größte Vorzug dieser Verbesserung bestand jedoch in dem Umstande, daß sie die Bekanntschaft gewisser Leute machte, die einen ausschlaggebenden Einfluß auf sie ausüben sollten.

Bei den Ruhestationen hatte Katuscha die Erlaubnis erhalten, sich bei den politischen Gefangenen aufhalten zu dürfen; doch wenn man auf dem Marsch begriffen war, wurde sie als kräftige Person wieder zu den gemeinen Verbrechern zurückgeschickt, und so wanderte sie denn die ganze Strecke von der Station Tomsk an zu Fuß. Mit ihr wanderten noch zwei andere Personen zu Fuß, die ebenfalls den politischen Gefangenen angehörten: Marie Pawlowna Schtschetinina, das schöne Mädchen mit den sanften Augen, das auf Nechludoff, als er die Bogoduschoffska besucht, einen so tiefen Eindruck gemacht, und ein gewisser Simonson, den man nach dem Gouvernement Jakutsk deportierte. Das war der schwarze Mensch mit den zerlumpten Kleidern, der Nechludoff bei demselben Besuche aufgefallen war. Maria Pawlowna wanderte zu Fuß, denn sie hatte ihren Platz im Wagen einer Frauensperson abgetreten, die sich in anderen Umständen befunden hatte. Simonson aber ging deshalb zu Fuß, weil er es nicht für richtig hielt, aus einem Vorrecht Nutzen zu ziehen, das man ihm einzig und allein auf Grund seiner gesellschaftlichen Stellung eingeräumt hatte.

Diese drei Personen brachen am andern Morgen mit den schweren Verbrechern auf und trennten sich von den politischen Gefangenen, die später per Wagen nachfolgten.

Das war auf der letzten Etappe, bevor man in einer großen Stadt anlangte, der Fall, in welcher der ganze Gefangenentransport von einem neuen Offizier übernommen werden sollte.

Es war sehr frühzeitig, der Septembertag ließ sich recht trübselig an. Bald darauf begann es zu regnen, dann fiel Schnee, und dazu blies ein scharfer, kalter Wind. Sämtliche Gefangenen des Transportzuges, etwa vierhundert Männer und fünfzig Weiber an der Zahl, hatten bereits im Hofe der Station Aufstellung genommen. Die einen umstanden einen alten Unteroffizier, der das Proviantgeld, das immer auf zwei Tage gezahlt wurde, an die Aeltesten verteilte; die andern kauften den Hökerinnen, denen man den Zutritt in den Hof gestattet hatte, Lebensmittel ab.

Man hörte ein lautes Stimmengewirr unter den Gefangenen, welche das Geld nachzählten und ihre Einkäufe besorgten, und dazwischen ertönte das Gekreisch und Geschrei der Hökerweiber.

Katuscha und Marie Pawlowna, die beide große Stiefel und Halbpelze trugen, welche sie sich mit dicken Tüchern festgebunden hatten, traten aus dem Schlafsaal der Etappe in den Hof hinaus und wandten sich den Marktweibern zu, die an der Nordmauer postiert waren, und hier, vor dem Winde geschützt, ihre Ware ausschrieen, die in frischen Broten, Piroggen (Brotkuchen), Nudeln, Fischen, Backwaren, Graupen, Hasen, Rindfleisch und Milch bestand. Die eine bot sogar ein gebratenes Ferkel feil.

Simonson, der einen Regenmantel und Gummischuhe trug, die er über seinen seidenen Strümpfen mit Bindfaden festgebunden hatte, – er war strenger Vegetarier und gebrauchte deshalb nichts, was aus dem Fell getöteter Tiere hergestellt wurde – stand auf dem Hofe, und wartete, daß der Aufbruch der Abteilung befohlen wurde. Er stand im Vordergrunde und schrieb sich eine Betrachtung, die ihm plötzlich, aufgefallen war, in sein Notizbuch. Diese Betrachtung lautete folgendermaßen:

»Wenn eine Bazille den Finger eines Menschen untersuchte und beobachtete, so würde sie ihn als ein unorganisches Wesen ansehen. Und ebenso sehen auch wir, wenn wir uns mit der Betrachtung der Erdrinde beschäftigen, diese als ein unorganisches Wesen an. Das entspricht aber nicht der Wahrheit.«

Katuscha kaufte Eier, frische Bretzeln, die auf eine Schnur gereiht waren, Fische und frische Brötchen ein, und packte das alles in ihren Reisesack, während Marie Pawlowna die Hökerin bezahlte. Plötzlich machte sich unter den Gefangenen eine heftige Bewegung bemerkbar, alles wurde still, und die Gefangenen fingen an, Aufstellung zu nehmen. Dann erschien der Offizier und erteilte die letzten Anordnungen, bevor der Aufbruch erfolgte.

Alles spielte sich genau so wie sonst ab. Man nahm die Abzählung der Gefangenen vor und untersuchte die Fesseln.

Plötzlich aber stieß der Offizier einen wütenden Ruf aus, während sich das weinerliche Geschrei eines Kindes vernehmen ließ. Alles wurde auf eine Sekunde ruhig, dann erhob sich ein dumpfes Murren aus der Menge. Katuscha und Marie Pawlowna wandten sich der Stelle zu, wo sie den Lärm vernommen hatten.

Als Marie Pawlowna und Katuscha in die Nähe der Stelle kamen, wo sich der Lärm erhoben hatte, erblickten sie den Offizier, einen Mann von untersetzter Gestalt mit langem blonden Schnurrbart, der heftig schimpfte und dazu zornige Grimassen schnitt. Vor ihm stand in einer ganz kurzen Bluse und noch kürzeren Hose ein hochgewachsener Gefangener von magerer Gestalt und glattrasiertem Kopf, der in den Armen ein kleines Mädchen hielt, das in ein dünnes Tüchelchen gewickelt war und heftig weinte.

»Ich werde dich lehren, auch noch Redensarten zu machen,« brüllte der Offizier, »bringt mal Handschellen her!«

Der Offizier hatte befohlen, man solle dem Gefangenen, der das kleine Mädchen den ganzen Weg über auf den Armen trug, Handfesseln anlegen. (Dieses Kind hatte ihm seine Frau, die in Tomsk am Typhus verstorben war, hinterlassen.) Der Sträfling hatte erklärt, er könne das Kind mit Fesseln an den Händen nicht tragen, und diese Bemerkung hatte den Offizier, der überdies schon übel gelaunt war, in die höchste Wut versetzt. Dem Gefangenen gegenüber standen ein Soldat und ein anderer Gefangener von kräftiger Gestalt mit schwarzem Vollbart, der Fesseln an der Hand trug und den Offizier mit düsterer Miene von unten herauf anstarrte, denn er nahm an, er solle mit dem Vater des kleinen Mädchens zusammengekoppelt werden.

Der Offizier erteilte dem Soldaten noch einmal den Befehl, das Mädchen fortzureißen, und das dumpfe Murren unter den Gefangenen wurde jeden Augenblick stärker.

»Er hat ja schon seit Tomsk keine Handschellen mehr getragen,« ließ sich eine feine Stimme aus den hinteren Reihen vernehmen.

»Wo soll er denn mit dem Mädel hin?«

»Das ist gegen das Gesetz,« rief ein Dritter.

»Was wollt ihr?« brüllte der Offizier und stürzte in heftiger Wut auf die Menge los. »Ich werde euch gleich beibringen, was gesetzlich ist, und was nicht. Wer hat das gesagt, du oder du?«

»Alle haben es gesagt, denn …« entgegnete ein Gefangener mit vierschrötiger Gestalt und dickem Gesicht.

»Was, empören wollt ihr euch?« schrie der Offizier, »reißt das Mädel fort; ich werde euch lehren.«

In der Menge wurde es still. Ein Soldat führte das verzweifelt weinende Kind fort, während ein anderer dem Gefangenen, der jetzt ganz still seine Hand hinhielt, die Handfesseln anlegte.

»Bringt das Balg zu den Weibern hinüber,« rief der Offizier den Soldaten zu und schob sein Portepee am Säbel wieder zurecht.

Das kleine Mädchen bemühte sich indessen, seine Hände aus dem Tuch zu befreien und schrie fortwährend mit blutrotem Gesicht.

Marie Pawlowna trat aus der Schar hervor und wandte sich den Soldaten zu.

»Wenn Sie nichts dagegen haben, Herr Leutnant, so werde ich das Kind tragen.«

Der Soldat, der das Mädchen bei der Hand hielt, blieb stehen, während der Offizier in mürrischem Tone fragte:

»Wer bist du denn?«

»Eine politische Gefangene, Herr!«

Das schöne Gesicht von Marie Pawlowna und ihre großen, stark hervortretenden Augen, die er schon bemerkt hatte, als er das Kommando übernommen, machten auf den Offizier einen tiefen Eindruck. Er sah sie längere Zeit, ohne etwas zu erwidern, an, schien sich die Sache zu überlegen und erklärte dann:

»Nehmen Sie sie meinetwegen, wenn Sie wollen. Es ist ja ganz recht, daß sie Ihnen leid thut, aber wer bürgt mir dafür, daß er nicht ausrückt?«

»Wie sollte er denn mit dem Kinde ausrücken?« entgegnete Marie Pawlowna.

»Ach was, ich habe mich mit Ihnen nicht zu unterhalten; wenn Sie wollen, können Sie sie nehmen.«

»Soll ich sie übergeben?« fragte der Soldat seinen Vorgesetzten.

»Ja, ja, gieb sie nur!«

»Komm‘ zu mir her,« sagte Maria Pawlowna und versuchte nun, die Kleine zu sich herüberzuziehen.

Doch die Kleine brüllte fortwährend weiter, versuchte, als der Soldat sie losgelassen, wieder zu ihrem Vater zurückzulaufen, und wollte nicht zu Marie Pawlowna gehen.

»Warten Sie, Marie Pawlowna,« sagte Katuscha, und holte eine Bretzel aus ihrem Reisesack hervor.

Das Kind kannte Katuscha, und als es ihr Gesicht und das Gebäck bemerkte, beruhigte es sich zusehends.

Alles wurde wieder still. Das große Thor wurde aufgerissen, der Zug der Gefangenen wanderte hinaus, und nahm Aufstellung, während die Soldaten die Trennung der Sträflinge wieder vornahmen, das Gepäck auf die Wagen packten, es dort festbanden und den Schwächlichen und Kranken die Erlaubnis zum Einsteigen erteilten.

Katuscha, die das kleine Mädchen auf dem Arm trug, ging zu den Frauen zurück und nahm neben Fedossja Aufstellung. Simonson aber, der die ganze Zeit über den Vorgang, ohne ein Wort zu sagen, angesehen hatte, trat jetzt mit festem, entschiedenem Schritt auf den Offizier zu, der alle seine Befehle erteilt und seine Anordnungen getroffen hatte und sich ebenfalls in seinen Wagen setzen wollte.

»Was Sie da gethan haben, war schlecht, Herr Leutnant,« sagte Simonson.

»Begeben Sie sich an Ihren Platz, das geht Sie gar nichts an,« versetzte der Offizier.

»Doch geht es mich etwas an, und es ist meine Pflicht, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß Sie unrecht gehandelt haben,« versetzte Simonson und warf dem Offizier aus seinen dunklen Augen einen durchbohrenden Blick zu.

»Fertig, vorwärts marsch!« schrie der Offizier, ohne Simonson weiter die geringste Beachtung zu schenken; dann stützte er sich auf die Schulter des Soldaten, der bei ihm Kutscherdienste versah, und stieg in den Wagen.

Wieder setzte sich der Zug der Gefangenen in Bewegung und wanderte hinaus in die ausgetretene, mit Kot bedeckte und durch einen dichten Wald führende Landstraße, neben der sich auf beiden Seiten tiefe Gräben hinzogen.