Nechludoff erzählte dem Gouverneur, wie die Gefangene, für die er sich interessierte, ungerecht verurteilt worden wäre, und wie sie vor ihrer Abreise nach Sibirien ein an den Zaren gerichtetes Gnadengesuch eingereicht hätte.

»Sehr gut!« sagte der Gouverneur, nachdem er aufmerksam zugehört. – »Und weiter?«

»Man hat mir versprochen, das Gnadengesuch sollte so schnell wie möglich geprüft werden, und die kaiserliche Entscheidung würde noch im Laufe dieses Monats hier eintreffen…«

Immer die Augen auf Nechludoff heftend, streckte der Gouverneur seine dicke Hand mit den kurzen Fingern nach dem Tische aus, drückte auf eine Klingel und fing wieder an, stillschweigend zuzuhören.

»Ich muß also Ew. Excellenz, wenn es möglich ist, bitten, diese Gefangene bis zu dem Moment, da man die Antwort auf ihr Gnadengesuch erhält, hier zu behalten …«

Nechludoff wurde von dem Eintritt eines Dieners in großer Militäruniform unterbrochen.

»Frage einmal nach, ob Anna Wassiljewna schon aufgestanden ist,« sagte der Gouverneur zu dem Diener, »und bringe noch Thee!«

Dann wandte er sich wieder zu Nechludoff:

»Und weiter?«

»Mein zweites Gesuch,« fuhr Nechludoff fort, »betrifft einen politischen Gefangenen, der demselben Zuge angehört.«

»So, so!« sagte der Gouverneur mit einem liebenswürdig scheltenden Kopfnicken.

»Dieser Unglückliche ist schwer krank; er liegt im Sterben. Man wird ihn jedenfalls hier im Lazarett lassen, und eine seiner Gefährtinnen, eine politische Gefangene, bittet um die Erlaubnis, bei ihm bleiben zu dürfen.«

»Sie ist nicht mit ihm verwandt?«

»Nein, aber sie ist bereit, sich mit ihm zu verheiraten, wenn sie auf diese Weise die Erlaubnis erhalten kann, bei ihm zu bleiben.«

Ohne etwas zu erwidern, betrachtete der Gouverneur Nechludoff weiter mit seinen glänzenden Augen, als wenn er ihn mit der Stärke seines Blickes hätte einschüchtern wollen.

Als Nechludoff schwieg und auf seine Antwort wartete, erhob er sich aus seinem Sessel, holte ein Buch aus seiner Bibliothek, durchblätterte es schnell und las einige Minuten eine Stelle, die er mit dem Finger verfolgte.

»Zu welcher Strafe ist diese Frauensperson verurteilt?« fragte er, endlich die Augen wieder erhebend.

»Zur Zwangsarbeit!« »Aber die Lage des Verurteilten würde durch seine Verheiratung keinerlei Veränderung erfahren.«

»Aber das ist …«

»Gestatten Sie! Selbst wenn diese Person sich mit einem freien Manne verheiratete, müßte sie ihre Strafe weiter abbüßen. Es handelt sich nur darum, ob er oder sie zu der schwereren Strafe verurteilt worden ist?«

»Alle beide sind zu derselben Strafe verurteilt, zur Zwangsarbeit auf Lebenszeit.«

»Nun, dann ist die Sache doch erledigt,« sagte der Gouverneur lächelnd, »Die Ehe würde weder für ihn, noch für sie etwas ändern. Wenn er krank ist, wird man ihn hier behalten und natürlich alles mögliche thun, damit sein Zustand sich bessere; doch sie müßte, selbst wenn sie sich mit ihm verheiratete, dem Zuge weiter folgen …«

»Die Generalin ist aufgestanden und eben zum Frühstück hinuntergegangen,« meldete der Diener.

Der Gouverneur nickte mit dem Kopfe und fuhr fort:

»Uebrigens werde ich mich noch damit beschäftigen. Wie heißen diese Verurteilten? Wollen Sie mir bitte ihre Namen auf diesem Papier ausschreiben?«

Nechludoff schrieb die Namen auf.

»Auch das darf ich nicht gestatten,« sagte der Gouverneur, als Nechludoff ihn für sich selbst um die Erlaubnis gebeten hatte, den Kranken besuchen zu dürfen. »Glauben Sie nicht etwa, daß ich den geringsten Verdacht gegen Sie hege,« fuhr er fort, »aber ich sehe, wie die Sache zusammenhängt. Sie interessieren sich für diese Leute, Sie wollen ihnen Dienste erweisen, und dann haben Sie auch Geld. Bei uns ist aber alles käuflich. Man sagt mir oft: Sie sollten den Versuch machen, die Käuflichkeit auszurotten! Aber wie soll ich sie ausrotten, wenn ein jeder, von oben bis unten, sich verkauft? Und dann überwachen Sie doch Beamte auf eine Ausdehnung von 5000 Werst! Jeder von ihnen ist ein kleiner Czar, ganz wie ich hier!« fügte der Gouverneur mit derbem Lachen hinzu, »Ja, ich sehe schon, wie es steht! Auf Ihrer ganzen Reise hat man Ihnen gestattet, die politischen Gefangenen zu besuchen, Sie haben Trinkgelder gegeben, und man hat Sie durchgelassen. So ist es doch, nicht wahr?«

»Ja, das ist richtig!«

»Ich begreife, daß Sie das gethan haben; Sie haben eben gethan, was Sie thun mußten! Sie wollten einen politischen Verurteilten sprechen und gebrauchten die dazu notwendigen Mittel. Und der Polizeileutnant oder Aufseher ließ Sie gegen ein Trinkgeld hinein, weil sein Sold nicht hinreicht, um seiner Familie ohne kleine Zuwendungen dieser Art den Lebensunterhalt zu verschaffen. Er hatte Recht und Sie auch, und an Ihrer oder seiner Stelle hätte ich genau dasselbe gethan. Doch an meiner Stelle kann ich nicht die vorgeschriebene Verletzung der vorgeschriebenen Regel gestatten, und das um so weniger, je mehr ich von Haus aus geneigt bin, Nachsicht walten zu lassen. Ich bin mit einer Mission beauftragt, die man mir unter bestimmten Bedingungen anvertraut hat, und ich muß dieses Vertrauen rechtfertigen. So! Das ist alles, was ich Ihnen über die fragliche Angelegenheit sagen kann! Doch nun erzählen Sie mir auch ein bischen, was bei Ihnen in Europa, in Petersburg, in Moskau vorgeht!«

Und nun drang der Gouverneur mit verschiedenen Fragen in Nechludoff, weniger, um sich zu unterrichten, als um gleichzeitig seine Wichtigkeit und seine Freundlichkeit zu zeigen.

»Und wo wohnen Sie hier? Bei Dukoff? Man logiert da nicht übel, doch so gut wie das »Sibiria-Hotel« ist es nicht! Aber hören Sie mal,« fügte der Gouverneur hinzu, als Nechludoff sich verabschieden wollte, »sagen Sie mal, Sie kommen doch zu uns zum Diner? Um fünf Uhr! Nicht wahr, Sie sprechen englisch?«

»Ja, ich spreche englisch!«

»Na, schön, das trifft sich ja wunderbar! – Denken Sie sich, wir haben in diesem Augenblick einen Engländer hier, einen Reisenden. Er hat in Petersburg die Erlaubnis erhalten, unsere Gefängnisse und unsere Rastgebäude zu besuchen. Und er speist heute Abend gerade bei uns! Kommen Sie ganz bestimmt. Sie würden uns sicherlich sehr zu Dank verpflichten! Und bei der Gelegenheit werde ich Ihnen auch die Antwort wegen dieser Frau mitteilen, die auf ihre Begnadigung wartet, und wir sprechen auch noch über Ihren Kranken! Ich werde sehen, ob es nicht möglich ist, etwas für sie zu thun!«