»Nun!« sagte Maria Pawlowna, als Simonson hinausgegangen war, »da haben Sie’s! Er ist verliebt, wahnsinnig verliebt! Wer hätte das erwartet, daß Wladimir Simonson sich wie der erste beste Gymnasiast verlieben würde? Das ist unglaublich! Und ich muß sogar sagen, daß es mich ein bißchen ärgert,« fügte sie halb ernsthaft hinzu.

»Aber sie, Katja? Was meinen Sie, denkt sie von alledem?« fragte Nechludoff.

»Sie?«

Maria Pawlowna hielt inne, um einen Augenblick zu überlegen, als wenn sie ihre Antwort so klar wie möglich aussprechen wollte.

»Sie? Sehen Sie, trotz ihrer Vergangenheit ist sie eine der rechtschaffensten Personen, die ich je kennen gelernt habe … Sie hat feinere Gefühle, als wir alle … Sie liebt Sie, sie liebt Sie sehr; und sie wäre glücklich, wenn sie Ihnen wenigstens einen negativen Dienst erweisen könnte, indem sie Sie hindert, sich weiter ihretwegen Umstände zu machen. In ihren Augen wäre ihre Ehe mit Ihnen ein schrecklicher Sturz, der schlimmer als ihre ganze Vergangenheit wäre; und ich bin überzeugt, daß sie infolgedessen nie darauf eingehen würde. Ihre Anwesenheit ist für sie eine fortgesetzte Ursache der Angst.«

»Aber was raten Sie mir denn? Soll ich verschwinden?« fragte Nechludoff.

Ueber Maria Pawlownas Gesicht huschte ein sanftes Lächeln.

»Nun denn, ja, zum Teil!«

»Und wie könnte ich zum Teil verschwinden?«

»Ich bemerke, daß ich noch nicht auf Ihre erste Frage geantwortet habe,« fuhr sie fort, und suchte augenscheinlich der Unterhaltung eine andere Wendung zu geben; »ich wollte Ihnen sagen, daß Katja diese exaltierte Liebe, die Simonson für sie empfindet, gemerkt haben muß, obwohl er nie mit ihr davon gesprochen hat. Wie Sie wissen, verstehe ich mich nicht besonders auf solche Fragen; doch ich habe die Empfindung, daß dieses Gefühl nichts weiter ist, als die gewöhnlichste Liebe, trotz all der schönen Gefühle, mit der sie umkleidet ist. Wladimir behauptet, seine Liebe wäre rein platonisch und habe nur die Wirkung, seine Energie zu heben, anstatt sie niederzudrücken. Noch ich fühle wohl, daß das im Grunde gar nicht der Fall ist, daß es ganz einfach ein physisches Verlangen ist, wie das, das Nowodworoff zu Lubka Grabetz führt …«

Und Maria Pawlowna wollte sich noch weiter über dieses Thema, das ihr sehr am Herzen lag, aussprechen, als Nechludoff sie unterbrach.

»Und was raten Sie mir zu thun?« fragte er.

»Ich glaube, Sie sollten von alledem zuerst mit Katja sprechen. Sich gründlich aussprechen, das ist immer die beste Methode. Verständigen Sie sich mit Katja! Soll ich sie Ihnen herschicken?«

»Ja, ich bitte Sie darum,« sagte Nechludoff, und Maria Pawlowna verließ das Zimmer.

Seltsame Gefühle bewegten Nechludoffs Seele, – während er in dem kleinen Zimmer allein blieb und neben sich den regelmäßigen Atem Wera Efremownas und etwas weiter den unaufhörlichen Lärm der Kriminalverbrecher vernahm. Was ihm Simonson eben gesagt, hatte den Vorzug, daß es ihn von der übernommenen Verpflichtung befreite, die ihm noch in der letzten Zeit sehr oft schrecklich und peinlich erschienen war. Trotzdem war ihm das, was Simonson ihm gesagt, nicht allein unangenehm, sondern verursachte ihm auch Schmerzen, wie er sie nie vorher erduldet hatte.

Seine Leiden stammten von tausend verschiedenen Ursachen, deren er sich selbst nicht recht bewußt wurde. Es stammte z. B. daher, daß Simonsons Vorschlag seinem Verhalten Katuscha gegenüber den außergewöhnlichen Charakter genommen hatte, den es bis dahin in seinen eigenen Augen und den Augen der Welt gehabt hatte. Denn, wenn ein anderer Mann und ein Mann, wie dieser, der dem jungen Weibe gegenüber nicht die geringste Verpflichtung hatte, sein Schicksal mit dem ihrigen verknüpfen wollte, so hatte doch sein, Nechludoffs Opfer, nichts so Heroisches an sich! Und das Leiden Nechludoffs hatte auch eine ganz einfache Eifersucht zur Ursache; er hatte sich an den Gedanken, von Katuscha geliebt zu werden, so sehr gewöhnt, daß der Gedanke, sie liebe einen andern Mann, ihn wie eine Enttäuschung quälte. Und Nechludoff litt auch, als er seine Pläne und Projekte so zerstört sah; er hatte es sich genau zurechtgelegt, wie er neben Katuscha leben, wie er ihr Gesellschaft leisten, und bis sie ihre Strafe abgebüßt, über sie wachen wolle; wenn sie sich jetzt aber mit Simonson verheiratete, wurde seine Anwesenheit unnötig, und er mußte seinem Leben ein anderes Ziel geben. So drängten sich in ihm allerlei traurige Gedanken, als die Thür sich öffnete und Katuscha ins Zinnner trat. Der Lärm im Nebensaale wurde fortwährend betäubender; offenbar mußte etwas Ungewöhnliches dort vorgehen.

Mit schnellen Schritten, ohne die Augen zu erheben, ging Katuscha auf Nechludoff zu.

»Maria Pawlowna hat mir gesagt, Sie hätten mit mir zu sprechen,« murmelte sie mit verlegener Miene.

»Ja, Katuscha, ich habe mit dir zu sprechen! Setz‘ dich! Wladimir Iwanowitsch hatte eben mit mir deinetwegen eine Unterredung.«

Sie hatte sich gesetzt, ihre Hände auf die Kniee gelegt, und es war ihr gelungen, sich den Anschein der Ruhe zu geben. Doch sobald Nechludoff Simonsons Namen erwähnt, zitterte sie und wurde blutrot.

»Und was hat er Ihnen gesagt?« fragte sie.

»Er hat mir gesagt, er wolle sich mit dir verheiraten.«

Das Gesicht des jungen Weibes verzerrte sich, wie unter der Einwirkung eines heftigen Schmerzes. Doch sie sagte nichts und begnügte sich, von neuem die Augen niederzuschlagen.

»Er bittet mich um meine Einwilligung oder doch wenigstens um meine Ansicht,« fuhr Nechludoff fort. »Ich aber habe ihm gesagt, es hinge alles von dir ab; du allein solltest entscheiden.«

»Und weshalb das alles?« rief sie und richtete den durchbohrenden Blick ihrer etwas schielenden Augen, der stets einen so tiefen Eindruck auf ihn gemacht hatte, auf Nechludoff.

Beide blieben so eine kurze Minute sitzen und blickten sich in die Augen, und dieser Blick sagte beiden mehr, als viele Worte.

»Du allein mußt entscheiden!« wiederholte Nechludoff.

»Was habe ich zu entscheiden?« rief sie. »Es ist schon längst alles entschieden.«

»Nein, nein, Katuscha, du mußt entscheiden, ob du den Vorschlag Wladimir Iwanowitschs annimmst!«

»Kann ich mich verheiraten, ich Zuchthausbrut? Warum sollte ich Wladimir Iwanowitschs Leben vernichten?« sagte das junge Weib mit zitternder Stimme.

»Aber wenn du ihn liebst?« fragte Nechludoff.

»O, lassen Sie mich; es ist besser, nicht darüber zu sprechen,« versetzte sie, erhob sich und entfloh aus dem Zimmer.