Nach dem schwelgerischen und erschlaffenden Leben, das Katuscha in den letzten sechs Jahren in der Stadt geführt, und den zwei Monaten, die sie unter den Verbrechern im Gefängnisse verlebt, erschien ihr das Leben, das sie jetzt bei den politischen Gefangenen führte, trotz aller Mühseligkeiten und Unannehmlichkeiten, die sie zu erdulden hatte, recht schön.

Die Etappen, bei denen sie bei kräftiger Nahrung zwanzig bis dreißig Werst zurücklegte – zwischen je zwei Wandertagen wurde ein Ruhetag eingeschoben – hatten sie körperlich gestärkt, und der Verkehr mit den neuen Leidensgefährten hatte ihr ganz neue Interessen geschaffen, die ihr bis dahin unbekannt geblieben waren.

Hocherfreut war sie über alle ihre neuen Gefährten, ganz besonders aber über Marie Pawlowna, der sie mit ehrfurchtsvoller und herzlicher Liebe zugethan war. Sie beobachtete mit der größten Verwunderung, wie dieses schöne Mädchen, das dem reichen Hause eines Generals entstammte und drei Sprachen vollendet beherrschte, sich wie die gewöhnlichste Arbeiterin benahm, wie sie alles, was ihr reicher Bruder ihr schickte, an die andern verschenkte, nicht nur einfache, sondern sogar ärmliche Kleidungsstücke trug und auf ihr äußeres Wesen nicht das geringste gab. Gerade diese Anspruchslosigkeit, der auch nicht der kleinste Schimmer von Koketterie innewohnte, erregte bei Katuscha die meiste Bewunderung. Sie beobachtete, daß Katuscha ganz genau wußte, daß sie schön war, und daß sie auch gern daran dachte; doch der Eindruck, den sie auf die Männer hervorbrachte, erfüllte sie nicht mit Freude, sondern mit Furcht, und sie hegte stets Abscheu und Angst vor etwaigen Zudringlichkeiten. Ihre Gefährten, die diese Gefühle bei ihr genau kannten, empfanden wohl Zuneigung zu ihr, wagten jedoch nicht, sie ihr zu zeigen, und verhielten sich ihr gegenüber genau so, wie gegen andere männliche Leidensgefährten. Nur Leute, die sie nicht kannten, wurden oft zudringlich gegen sie, und wie sie selbst sagte, hatte sie nur ihre große Körperkraft gerettet, auf die sie sich ganz besonders stolz zeigte.

»Einmal,« so erzählte sie unter lautem Lachen, »trat auf der Straße ein fremder Herr auf mich zu und wollte mich nicht in Frieden lassen; da habe ich ihn aber gepackt und geschüttelt, daß er Angst bekam und sich schleunigst aus dem Staube machte.«

»Das vornehme Leben,« so erklärte sie oft, »wäre ihr von frühester Jugend an widerwärtig erschienen, dagegen habe sie sich für das Leben des gewöhnlichen Volkes interessiert, und man habe sie oft ausgescholten, weil sie sich in der Gesindestube, in der Küche und im Stall aufgehalten habe, aber nicht in den Salon kommen wollte.«

»Mit unsern Köchinnen, Mägden und Kutschern konnte ich mich sehr gut verständigen, aber bei unsern vornehmen Herren und Damen war es mir zu langweilig,« meinte sie. »Später, als ich dann mehr zur Vernunft kam, erkannte ich, daß wir ein recht schlechtes Leben führten. Eine Mutter besaß ich nicht, und meinen Vater konnte ich nicht lieben. Im Alter von neunzehn Jahren ging ich mit einer Freundin aus dem Hause und trat als Arbeiterin in eine Fabrik.«

Sie hatte sich dann auf dem Lande aufgehalten und war darauf wieder in die Stadt gekommen, wo man sie verhaftet und zur Zwangsarbeit verurteilt hatte. Marie Pawlowna sprach niemals darüber, doch die andern teilten es Katuscha mit, daß man sie zur Zwangsarbeit verurteilt hatte, weil sie sich aus freien Stücken zur Schuld eines andern bekannt.

Es fiel Katuscha auch auf, daß sie, seit sie mit ihr bekannt geworden war, nie für sich etwas erbat, sondern stets und ständig nur bemüht war, andern dienlich zu sein und sie in großen wie in kleinen Dingen zu unterstützen. Einer ihrer augenblicklichen Gefährten, ein gewisser Nowodworoff, sagte oft von ihr im Scherz, sie betreibe das Wohlthun wie einen wahren Sport. Und dem war auch wirklich so. Wie ein Jäger darauf erpicht ist, das Wild aufzupürschen, so richteten sich ihre gesamten Lebensinteressen darauf, sich andern nützlich zu erweisen. Diese Art Sport wurde bei ihr zur Gewohnheit und bildete sich zu ihrem einzigen Lebenszweck aus. Doch was sie that, that sie in so einfacher, natürlicher Manier, daß jeder, der sie kannte, ihre Hilfeleistung als etwas ganz Selbstredendes betrachtete.

Zuerst hatte Marie Pawlowna, als sie Katuscha kennen gelernt, einen Widerwillen gegen sie empfunden, und Katuscha war das nicht unbekannt geblieben. Später aber machte sie die Entdeckung, daß Marie Pawlowna lebhaft bemüht war, sich ihr gegenüber ganz besonders herzlich und gütig zu zeigen, und die herzbezwingende Liebenswürdigkeit dieses außergewöhnlichen Geschöpfes machte einen so tiefen Eindruck der Rührung auf Katuscha, daß sie sich ihr mit Herz und Seele weihte, sich unwillkürlich alle ihre Lebensanschauungen zu eigen machte, und sie instinktiv in allen Dingen kopierte. Diese hingebende, aufopfernde Zuneigung Katuschas erfüllte Marie Pawlowna mit tiefer Rührung, und deshalb erwiderte sie Katuschas Liebe.

Ferner verband diese beiden Frauen die Abneigung, die alle beide der geschlechtlichen Liebe entgegenbrachten. Die eine haßte diese Liebe, weil sie sie von der häßlichsten, empörendsten Seite kennen gelernt, die andere, weil sie sie, ohne daß sie ihr bekannt geworden, als etwas Unfaßbares betrachtete, das ihr gleichsam als eine Widerwärtigkeit und eine Beleidigung der Menschenwürde erschien.

Katuscha hatte sich Marie Pawlowna ganz und gar zu eigen gegeben, und dieser Einfluß wirkte deshalb so stark, weil Katuscha sie liebte. Einen andern Einfluß übte Simonson auf sie aus, und dieser Einfluß machte sich dadurch geltend, daß Simonson Katuscha liebte.

Alle Menschen leben und schaffen zum Teil nach ihren eigenen Ideen, zum Teil nach denen der andern. Inwiefern die Menschen nun nach ihren eigenen Ideen und nach denen der andern leben, das ist eben einer der bedeutendsten Unterschiede, der die Menschen von einander trennt. Die einen lassen in den meisten Fällen ihre eigene Vernunft wie ein Rad wirken, von dem man die Treibriemen entfernt hat; in ihren Handlungen jedoch folgen sie fremden Ideen, der Sitte, der Tradition und dem Gesetz. Andere wieder lassen sich hauptsächlich bei allen ihren Handlungen von ihren eigenen Ideen leiten; sie hören stets auf das, was ihre Vernunft ihnen predigt und lassen sich von ihr leiten; nur in seltenen Fällen, und wenn sie sorgsam geprüft und erwogen, befolgen sie das, was andere bestimmt haben.

Der letzten Kategorie gehörte Simonson an; er überlegte lange und ließ sich nur von der Vernunft bestimmen; hatte er dann aber etwas bestimmt, so that er es auch.

Da er sich schon auf dem Gymnasium zu der Erkenntnis durchgerungen hatte, sein Vater, ein Verwaltungsbeamter, hätte sein Vermögen nicht in rechtschaffener Weise erworben, so erklärte er demselben, er müsse sein Geld an das Volk wieder abgeben. Als sein Vater aber nichts davon hören wollte und ihn in zornigen Worten anschrie, ging er aus dem Hause, um nicht weiter von dem Gelde seines Vaters zu leben. Da er zu der Ueberzeugung gekommen war, das herrschende Unglück stamme nur von der Unbildung des Volkes, so verkehrte er, nachdem er die Universität verlassen, hauptsächlich mit dem Volke. Er wurde Dorflehrer, erklärte dort seinen Schülern und den Bauern mit keckem Mute alles, was er für richtig erkannt, und leugnete alles, was er als falsch und ungerecht erkannt hatte.

Man verhaftete ihn und stellte ihn unter Anklage.

Im Laufe der Gerichtsverhandlung war ihm die Erkenntnis aufgegangen, daß die Gerichte gar nicht das Recht hatten, ihn zu verurteilen, und diesem Gedanken verlieh er auch Ausdruck. Als die Richter seiner Ansicht nicht beitraten und die Verhandlung weiter fortsetzten, faßte er den Entschluß, auf keine Frage mehr Antwort zu geben und von nun an zu schweigen. Daraufhin verurteilte man ihn zur Verschickung in das Gouvernement Archangalsk, wo er sich eine Religionslehre zurechtmachte, nach der er alle seine Handlungen regelte. Diese Religionslehre hatte folgenden Inhalt: alles, was sich auf der Erde befindet, ist lebendig; etwas Totes giebt es nicht; denn alle Gegenstände, die wir für tot und unorganisch ansehen, sind nichts weiter, als einzelne Teile eines unermeßlichen organischen Körpers, den zu erfassen und zu begreifen wir außer stande sind. Deshalb ist dem Menschen auch die Aufgabe gestellt, das Leben dieses organischen Körpers und alle demselben innewohnenden lebendigen Stücke zu erhalten.

Aus diesem Grunde betrachtete er es auch als ein Verbrechen, etwas Lebendiges zu zerstören. Auch hinsichtlich der Ehe hatte er sich seine eigene Theorie zurechtgelegt, und diese Theorie lehrte, die allerniedrigste Thätigkeit des Menschen sei die Fortpflanzung des Menschengeschlechts; die höchste Thätigkeit aber sei es, sich dem, was bereits lebt, dienstbar zu erweisen. Er fand diese seine Lehre in dem Vorhandensein der Blutgefäße bekräftigt. Ebensolche Blutgefäße bildeten seiner Ansicht nach die unverheirateten Menschen, denn ihnen war die Aufgabe gestellt, den schwachen, kränklichen Teilen des Organismus hilfreich zur Seite zu stehen, und als solche Blutkörperchen betrachtete er sich und Marie Pawlowna.

Seine Theorie wurde auch durch seine Liebe zu Katuscha nicht beeinträchtigt, denn diese liebte er nur platonisch, und eine solche Liebe war seiner Meinung nach nicht allein kein Hindernis, sich den Schwachen gegenüber hilfreich zu zeigen, nein, sie war sogar ein Ermunterungsmittel dazu.

In derselben Weise, wie er Fragen der Sittlichkeit und Moral auf seine Weise erledigte, ebenso verfuhr er auch bei der Mehrzahl der praktischen Fragen nach seinem eigenen Ermessen. Er hatte sich für praktische Angelegenheiten seine eigenen Theorien zurechtgelegt, er stellte bestimmte Regeln und Gesetze auf, wieviel Stunden man arbeiten, wieviel Stunden man sich ausruhen solle, wie man sich ernähren und wie man sich kleiden müsse, ja, selbst, wie man den Ofen heizen und Licht anstecken solle.

Dabei war Simonson aber im höchsten Grade schüchtern, zurückhaltend und bescheiden, dagegen ließ er sich aber, wenn er einmal einen Entschluß gefaßt, durch nichts davon abbringen.

So war dieser Mensch beschaffen, der Katuscha liebte, und gerade dadurch einen gewaltigen Einfluß auf sie ausübte. Mit dem jedem weiblichen Wesen innewohnenden Taktgefühl erkannte Katuscha das sehr bald, und das Selbstbewußtsein, daß sie sich die Liebe eines so außergewöhnlichen Menschen zu erringen gewußt, erhöhte sie in ihren eigenen Augen. Nechludoff hatte ihr aus Großmut und mit Rücksicht auf die Ereignisse der Vergangenheit versprochen, sie zu heiraten; Simonson aber liebte sie so, wie sie eben war; er liebte sie eben, weil er sie liebte.

Ferner hatte sie die Empfindung, Simonson betrachte sie als ein außergewöhnliches Wesen, das sich von allen andern Frauen durch besonders hohe moralische Vorzüge unterschied. Sie war sich noch nicht darüber klar geworden, welche Vorzüge er in ihr vermutete, doch war sie jedenfalls, um ihn in seinen Erwartungen nicht zu täuschen, auf das eifrigste bestrebt, die trefflichsten Vorzüge zur Schau zu tragen, die sie sich nur denken konnte. Und deshalb war sie bemüht, so gut zu sein, wie sie es nur irgend im stande war. Damit hatte sie schon im Gefängnis angefangen, als sie den Verkehr der politischen Gefangenen miteinander angesehen und dabei bemerkt hatte, wie Simonson seine unschuldigen, gütigen, dunkelblauen Augen unter der gesenkten Stirn oft längere Zeit auf ihr ruhen ließ. Schon damals war es ihr zum Bewußtsein gekommen, daß er ein ganz hervorragender Mensch war, und daß er sie immer ganz eigentümlich anschaute. Es war ihr auch aufgefallen, daß dieser unbewußt finstere und auffallende Gesichtsausdruck nur durch die wirren Haare und die zusammengezogenen Augenbrauen erzeugt wurde, daß sich aber in diesen düsteren Ausdruck eine kindliche Harmlosigkeit und Unschuld in ganz eigentümlicher Weise mischte.

Als sie in Tomsk der Abteilung der politischen Gefangenen zugewiesen wurde, sah sie ihn wieder, und obwohl sie nicht ein einziges Wort miteinander austauschten, sagte doch der Blick, den sie wechselten, klar und deutlich, wie hoch sie sich gegenseitig achteten. Auch später kam es nicht zu richtigen Unterhaltungen zwischen ihnen, doch Katuscha hatte die Empfindung, daß er seine Worte an sie richtete, wenn er ihr nahe war, daß er für sie nur sprach und sich stets bemühte, sich ihr so verständlich wie nur möglich zu machen. Seit der Zeit aber, da er mit den schweren Verbrechern zu Fuß wanderte, begannen sie sich gegenseitig näherzutreten.