6.

Nachdem die Trauungsfeier in der Kirche beendet war, breitete der Küster vor dem Altarplatz in der Mitte der Kirche ein rosafarbenes, seidenes Zeug aus; der Chor stimmte einen kunstvollen und schwierigen Psalm an, in welchem Tenor und Baß sich antworteten und der Priester, sich umwendend, wies die Verlobten auf das ausgebreitete rosafarbene Stück Zeug hin. So oft diese nun schon davon gehört hatten, daß, wer zuerst auf den Teppich träte, das Regiment in der Familie führen würde, vermochten sich doch weder Lewin noch Kity dessen zu entsinnen, als sie die wenigen Schritte zurücklegten. Sie hörten weder die vernehmbaren Bemerkungen und Auseinandersetzungen, daß nach der Beobachtung der Einen er, nach der Meinung der Anderen – beide zugleich darauf getreten wären.

Nach den üblichen Fragen betreffs ihres Wunsches die Ehe zu schließen, ob sie nicht anderweit Versprechungen gegeben hätten, auf die ihre Antworten ihnen selbst seltsam genug klangen, begann eine neue Ceremonie.

Kity hörte die Worte des Gebetes und bemühte sich, deren Sinn zu verstehen, aber sie vermochte dies nicht. Das Gefühl des Stolzes und der lichten Freude begann mit der sich dem Ende nähernden Feier mehr und mehr ihre Seele zu erfüllen, und machte es ihr unmöglich, aufmerksam zu sein. Man betete: »Gieb ihnen Weisheit und Leibesfrucht zu ihrem Nutzen, damit sie heiter seien beim Anblick ihrer Söhne und Töchter;« es wurde erwähnt, daß Gott das Weib aus einer Rippe Adams geschaffen habe, und deswegen wird der Mensch Vater und Mutter verlassen und dem Weibe anhangen und sie werden beide sein ein Leib,« und »dieses Geheimnis ein großes« sei; man betete, daß Gott ihnen Fruchtbarkeit und Segen verleihe, wie Isaak und Rebekka, Joseph und Mose, und daß sie die Söhne ihrer Söhne noch sehen möchten. »Alles das ist schön,« dachte Kity, als sie diese Worte vernahm, »alles das kann auch gar nicht anders sein« und ein Lächeln der Freude, das sich unwillkürlich allen denen, die sie anschauten, mitteilte, glänzte auf ihrem hellgewordenen Antlitz auf.

»Setzt ihn nur ordentlich auf!« vernahm man zuredende Stimmen, als der Geistliche ihnen die Kränze aufsetzte, und Schtscherbazkiy mit zitternder Hand, im dreiknöpfigen Handschuh, den Kranz hoch über Kitys Kopf hielt.

»Setzt ihn auf,« flüsterte diese lächelnd.

Lewin blickte sie an und war überrascht von dem freudestrahlenden Glanze, welcher auf ihrem Gesicht lag; diese Empfindung teilte sich auch ihm unwillkürlich mit, und auch ihm wurde dabei so leicht und heiter zu Mut, wie ihr.

Es machte ihnen Freude, dem Lesen der Apostelsendung zu lauschen und dem Verrauschen der Stimme des Protodiakonus beim letzten Vers, das von dem zuschauenden Publikum mit großer Ungeduld erwartet worden war. Es machte ihnen Freude, aus der flachen Schale den lauen roten Wein, mit Wasser gemischt, zu trinken, es machte ihnen noch mehr Freude, als der Geistliche, das Meßgewand zurückwerfend, ihrer beider Hände in die seine nahm und sie unter den: Dröhnen der Bässe, welche das »Jesu freue dich« ausführte, rings um den Altar geleitete. Schtscherbazkiy und Tschirikoff, welche die Kränze hielten, verwickelten sich in die Schleppe der Braut, lächelten gleichfalls und waren heiter, bald stehen bleibend, bald nach vorn anstoßend an die Jungvermählten, sobald der Geistliche eine Pause im Rundgang machte. Der Götterfunke der Freude, der in Kity entzündet war, schien sich allen mitzuteilen, die in der Kirche anwesend waren; und Lewin dünkte es, als wenn auch der Geistliche und der Diakonus, ebenso wie er, zu einem Lächeln neigten.

Der Geistliche nahm die Kränze von ihren Häuptern, las das letzte Gebet und beglückwünschte die jungen Eheleute. Lewin schaute auf Kity und noch nie bisher hatte er diese so gesehen. Sie war reizend in dem ungewohnten Schimmer von Glück, welcher auf ihrem Antlitz lag. Lewin wollte zu ihr sprechen, aber er wußte nicht, ob die Feier zu Ende sei. Der Geistliche entriß ihn seinen Bedenken, er lächelte ihm gutmütig zu und sagte leise, »küßt Euer Weib, und Ihr, küßt Euren Mann« und nahm ihnen die Lichter aus den Händen.

Lewin küßte taktvoll ihre lächelnden Lippen, reichte ihr den Arm, und verließ im Gefühl der Nähe eines neuen, seltsam berührenden Etwas die Kirche.

Er glaubte nicht und konnte nicht glauben, daß es Wahrheit sei. Erst als ihn verwunderte und schüchterne Blicke trafen, glaubte er daran, weil er fühlte, daß sie schon Eins waren.

Nach dem Souper, noch in der nämlichen Nacht, fuhren die jungen Leute nach dem Dorfe ab.

27.

Am sechsten Tage waren die Gouvernementswahlen. Die großen und kleinen Säle waren gefüllt von den Adligen in ihren verschiedenen Uniformen. Viele kamen nur für diesen Tag. Bekannte, die sich lange nicht gesehen hatten, der eine aus der Krim, der andere aus Petersburg, ein dritter vom Auslande kommend, begegneten sich in den Sälen. Am Gouverneurstisch, unter dem Bild des Zaren, fanden die Wahlkämpfe statt.

Die Adligen, im großen, wie im kleinen Sale, gruppierten sich in Lager und an der Feindseligkeit und dem Mißtrauen der Blicke, an dem bei der Annäherung fremder Personen verstummenden Gespräch, daran, daß mehrere flüsternd selbst in den abgelegenen Korridor gingen, war ersichtlich, daß eine jede Partei Geheimnisse vor der anderen hatte.

Dem äußeren Anschein nach hatten sich die Adligen scharf in zwei Parteien geteilt, in die Alten und die Jungen. Die Alten waren größtenteils in adligen altertümlichen, zugeknöpften Uniformen, mit Degen und Hut, oder in ihren eigenen Kavallerie-, Infanterie- oder Amtsuniformen. Die Uniformen der Alten waren in altertümlicher Weise gestickt, mit Epaulettes auf den Schultern; sie erschienen klein, kurz in den Taillen und so knapp, als hätten ihre Träger sie verwachsen.

Die Jungen hingegen waren in Adelsuniformen mit niedrigen Taillen und breiten Schultern, mit weißen Westen, oder in Uniformen mit schwarzen Kragen und Lorbeer, der Stickerei des Justizministeriums. Zu den Jungen gehörten auch die Hofuniformen, die hier und da die Menge zierten.

Aber die Teilung in Junge und Alte fiel nicht mit der Teilung in die Parteien zusammen; einige der Jungen gehörten nach den Beobachtungen Lewins zur Partei der Alten, und im Gegensatz hierzu zischelten einige sehr alte Edelleute mit Swijashskiy, und waren augenscheinlich eifrige Anhänger der neuen Richtung.

Lewin stand in dem kleinen Saale, in welchem man rauchte und aß, neben einer Gruppe der Seinen, und lauschte auf das, was man sprach, indem er seine Geisteskräfte geflissentlich anstrengte um zu verstehen, was gesprochen wurde. Sergey Iwanowitsch bildete den Mittelpunkt, um welchen sich die Übrigen gesellten. Er hörte jetzt Swijashskiy und Chljustoff an, den Vorsteher eines anderen Kreises, der zu ihrer Partei gehörte.

Chljustoff stimmte mit seinem Kreis nicht dafür, Sjnetkoff um Ballotage zu bitten, und Swijashskiy überredete ihn nun, es doch zu thun, während Sergey Iwanowitsch diesen Plan guthieß. Lewin begriff nicht, weshalb man die gegnerische Partei um Ballotage gerade bezüglich desjenigen Vorstehers bitten wollte, den man ausballotieren wollte.

Stefan Arkadjewitsch, der soeben gegessen und getrunken hatte, trat, sich den Mund mit dem duftenden, eingefaßten Battisttaschentuch wischend, in seiner Kammerherrenuniform zu ihnen.

»Wir nehmen die Position,« sagte er, sich die Hälften seines Backenbartes streichend, »Sergey Iwanowitsch!« Und aufmerksam dem Gespräch Gehör schenkend, unterstützte er die Meinung Swijashskiys. »Es ist genug mit einem Kreis, aber Swijashskiy ist augenscheinlich schon Opposition,« sagte er, mit Worten, die allen, nur nicht Lewin, verständlich waren. »Wie, Konstantin; es scheint, auch du kommst hinter den Geschmack?« fügte er hinzu, sich an Lewin wendend und faßte diesen unter dem Arme. Lewin wäre recht froh gewesen, hinter den Geschmack gekommen zu sein, aber er konnte nicht verstehen, worum es sich handle, und drückte, einige Schritte von den Redenden wegtretend, Stefan Arkadjewitsch seine Unkenntnis darin aus, weshalb man den Gouvernementsvorsteher bitten wollte.

»O sancta simplicitas,« sagte Stefan Arkadjewitsch und erklärte Lewin kurz und klar, um was es sich handle.

»Wenn alle Kreise, wie in den früheren Wahlen, den Gouvernementsvorsteher bitten würden, so wählte man ihn mit allen weißen Kugeln. Jetzt ist man in acht Kreisen einverstanden, ihn darum zu ersuchen; wenn nun zwei es verweigern, mit darum anzuhalten, so kann Sjnetkoff die Ballotage verweigern, und dann wird die Partei der Alten einen anderen von den Ihrigen wählen, sodaß unser ganzer Plan verloren ist. Wenn aber nur der eine Kreis Swijashskiys nicht mit bittet, so wird Sjnetkoff ballotieren. Man wird ihn dann selbst wählen und ihm absichtlich das Amt wieder übertragen, sodaß sich die gegnerische Partei verrechnet, und wenn sie einen Kandidaten von den Unseren aufstellen, diesem das Amt überträgt.«

Lewin verstand, aber nicht vollständig, und wollte soeben noch einige Fragen stellen, als plötzlich alle durcheinander zu sprechen begannen, lärmten und sich nach dem großen Saale in Bewegung setzten.

»Was ist das? Wie? Wen wird man wählen? Vertrauen? Zu wem? Was ist? Verwirft man? Es giebt kein Vertrauen! Man läßt Phleroff nicht zu. Was: unter Anklage! So läßt man niemand zu! Das ist niedrig! Das Gesetz!« hörte Lewin von verschiedenen Seiten rufen, und begab sich zusammen mit der Menge, die sich drängte, und zu fürchten schien, daß sie etwas versäumte, in den großen Saal. Er näherte sich in dem Gedränge der Adligen dem Gouverneurstisch, an welchem der Gouvernementsvorsteher, Swijashskiy und andere Wortführer eifrig miteinander debattierten.

28.

Lewin stand ziemlich entfernt. Ein schwer und heiser atmend neben ihm stehender Adliger und ein zweiter mit knarrenden, dicken Stiefelsohlen, störten ihn, deutlich zu hören. Aus der Ferne vernahm er nur die weiche Stimme des Gouvernementsvorstehers, darauf das Pfeifende Organ des scharfzüngigen Adligen und dann die Stimme Swijashskiys. Sie stritten, soviel er zu verstehen imstande war, über die Bedeutung eines Paragraphen des Gesetzes und den Sinn der Worte, »wer sich unter gerichtlicher Untersuchung befindet«.

Der Haufe teilte sich, um dem zum Tisch herantretenden Sergey Iwanowitsch Raum zu geben. Sergey Iwanowitsch sagte, nachdem er die Beendigung der Rede des scharfzüngigen Adligen abgewartet hatte, ihm scheine, daß es am richtigsten sei, sich nach dem Paragraphen des Gesetzes zu richten und bat den Sekretär, den Paragraphen aufzusuchen. In demselben war gesagt, daß man im Falle der Meinungsverschiedenheit zu ballotieren habe.

Sergey Iwanowitsch verlas den Paragraphen, und begann den Sinn desselben zu erörtern, aber da unterbrach ihn ein großer, dicker und krummer Gutsherr mit roten Ohren, in enger Uniform mit im Nacken hinten hochstehendem Kragen. Er trat an den Tisch und rief laut, mit einem Finger darauf schlagend:

»Ballotieren! Zu den Kugeln greifen! Weg da mit dem Geschwätz! Zu den Kugeln!«

Mehrere Stimmen erhoben sich jetzt plötzlich zusammen, und der große Adlige mit seinem Finger, mehr und mehr in Zorn geratend, schrie lauter und lauter. Es ließ sich jedoch nicht unterscheiden, was er sagte. Er sagte das Nämliche, was Sergey Iwanowitsch vorschlug, aber offenbar haßte er diesen und dessen ganze Partei, und dieses Gefühl des Hasses teilte sich nun der ganzen Partei mit und rief den Widerstand einer gleichen, wenn auch gemäßigteren Erbitterung auf der anderen Seite hervor. Rufe erschallten und eine Minute lang wogte alles durcheinander, sodaß der Gouvernementsvorsteher genötigt war, um Ordnung zu bitten.

»Ballotieren! Ballotieren! Wer ein Edelmann ist, der sieht das ein! Wir vergießen unser Blut! Das Vertrauen des Monarchen! Nicht den Gouvernementsvorsteher achten; er ist kein Amtmann! Darum handelt es sich nicht! Bitte, zu den Kugeln! Es ist eine Schande!« vernahm man zornige, sinnlose Schreie von allen Seiten.

Die Blicke und Gesichter wurden immer zorniger und die Reden immer ungebärdiger. Sie drückten einen unversöhnlichen Haß aus. Lewin begriff nicht im geringsten, worum es sich handle, und war erstaunt über die Leidenschaftlichkeit, mit welcher die Frage, ob man über Phleroff ballotieren solle oder nicht, behandelt wurde. Er hatte, wie ihm später Sergey Iwanowitsch erklärte, jenen Syllogismus vergessen, daß im Interesse des allgemeinen Wohls der Gouvernementsvorsteher entfernt werden müsse; zu der Entfernung desselben aber war eine Majorität der Kugeln erforderlich; zur Erlangung dieser Majorität weiterhin mußte man Phleroff Stimmrecht erteilen, und zur Anerkennung Phleroffs als eines Stimmberechtigten mußte man erklären, wie der Paragraph des Gesetzes aufzufassen sei.

»Also eine Stimme kann die ganze Angelegenheit entscheiden, und man muß daher ernst und konsequent sein, wenn man der gemeinsamen Sache dienen will,« schloß Sergey Iwanowitsch.

Lewin hatte dies jedoch vergessen, und es wurde ihm schwer ums Herz, diese von ihm geachteten braven Männer in einer so unangenehmen schlimmen Erregung sehen zu müssen.

Um sich von diesem beklemmenden Gefühl frei zu machen, ging er, ohne das Ende des Streites abzuwarten, in den Saal, in welchem sich niemand befand, als einige Lakaien beim Büffet. Als er die mit dem Abwischen von Geschirr, dann Aufstellen von Tellern und Gläsern beschäftigten Diener, ihre ruhigen, aber lebhaften Gesichter sah, empfand Lewin ein unerwartetes Gefühl der Erleichterung, als sei er aus einem Zimmer voll widrigen Geruchs in die reine Luft hinausgetreten. Er begann auf und abzuschreiten, mit Befriedigung auf die Diener blickend. Es gefiel ihm sehr, als einer derselben, ein Mann mit grauem Backenbart, den jüngeren, die diesen zum besten hatten, voll Geringschätzung lehrte, wie man Servietten falten müsse. Lewin hatte sich gerade mit dem alten Diener in ein Gespräch eingelassen, als der Sekretär der Adelsvormundschaft, ein alter Herr, der die spezielle Eigenschaft besaß, alle Adligen des Gouvernements dem Namen und der Herkunft nach zu kennen, ihn davon abzog.

»Bitte gefälligst, Konstantin Dmitritsch,« sagte er zu ihm, »Euer Bruder sucht Euch. Es wird ballotiert.«

Lewin trat in den Saal, erhielt eine weiße Kugel und begab sich hinter seinem Bruder Sergey Iwanowitsch zum Tische, an welchem mit wichtiger, ironischer Miene Swijashskiy stand, der seinen Bart in die volle Hand genommen hatte und daran roch.

Sergey Iwanowitsch steckte die Hand in den Kasten, legte seine Kugel hinein und blieb, Lewin Platz machend, am Orte stehen. Lewin trat heran, wandte sich aber, da er vollständig vergessen hatte, um was es sich handle und in Verlegenheit geraten war, an Sergey Iwanowitsch mit der Frage, wohin er die Kugel legen solle? Er frug leise, während man in seiner Nähe sprach, sodaß er hoffen konnte, es habe niemand seine Frage vernommen. Aber die Sprechenden verstummten und seine unziemliche Frage wurde gehört. Sergey Iwanowitsch runzelte die Stirn.

»Das ist Sache der Überzeugung für einen jeden,« sagte er gemessen. Einige lächelten. Lewin errötete, streckte hastig die Hand unter das Tuch und legte die Kugel nach rechts, da sie sich gerade in seiner rechten Hand befand. Nachdem er dies gethan hatte, besann er sich, daß er auch die linke Hand hineinstecken müsse und steckte sie hinein, doch schon zu spät, und zog sich dann, noch mehr in Verlegenheit geraten, schnell in die hintersten Reihen zurück.

»Einhundertsechsundzwanzig dafür! Achtundneunzig dagegen!« klang die Stimme des Sekretärs, welcher den Buchstaben r nicht aussprechen konnte. Gelächter erschallte: ein Knopf und zwei Nüsse waren in dem Kasten gefunden worden. Der Adlige war zugelassen und die Jungpartei hatte gesiegt. Aber die Partei der Alten hielt sich noch nicht für besiegt. Lewin vernahm, daß man Sjnetkoff bat, zu ballotieren, und gewahrte, daß ein Trupp der Edelleute den Gouvernementsvorsteher umringte, welcher sprach. Lewin trat näher. Sjnetkoff sprach, indem er den Edelleuten antwortete, vom Vertrauen des Adels, von dessen Liebe zu ihm, deren er nicht würdig sei, da sein ganzes Verdienst nur in seiner Ergebenheit für den Adel bestehe, dem er zwölf Jahre des Dienstes geweiht hätte. Mehrmals wiederholte er die Worte, »ich habe gedient, soviel es meine Kräfte gestatteten, im Glauben und m der Wahrheit; ich schätze euch hoch und danke euch!« und plötzlich hielt er, von Rührung überwältigt, inne und verließ den Saal.

Mochten nun diese Thränen von dem Gefühl einer Ungerechtigkeit gegen ihn, von der Liebe zum Adel, oder von der Gespanntheit der Situation herrühren, in welcher er sich befand, indem er sich von Gegnern umgeben fühlte – genug, die Erregung teilte sich weiter mit, die Majorität des Adels war gerührt und auch Lewin empfand ein Gefühl von Zärtlichkeit für Sjnetkoff.

In der Thür stieß der Gouvernementsvorsteher mit Lewin zusammen.

»Entschuldigt, bitte, entschuldigt,« sagte er wie zu einem Unbekannten, lächelte aber, als er Lewin erkannt, und diesem schien es, als ob er etwas hätte sagen wollen, aber vor Erregung nicht sprechen könne.

Der Ausdruck seines Gesichts und seiner ganzen Gestalt in der Uniform, mit den Ordenskreuzen und den weißen galonnierten Beinkleidern, erinnerte Lewin, als er so hastig dahinschritt, an ein gemästetes Schlachtvieh, welches sieht, daß es mit seiner Sache übel bestellt ist.

Der Gesichtsausdruck des Mannes hatte etwas eigentümlich Rührendes für Lewin, welcher erst am Tage vorher in Vormundschaftsangelegenheiten in seinem Hause gewesen war und ihn in der ganzen Größe eines guten und geselligen Menschen kennen gelernt hatte. Das große Haus mit den altertümlichen Familienmeubles; keine geschniegelten oder unsauberen, sondern ehrerbietige alte Diener, offenbar noch aus der Zeit der ehemaligen Leibeigenschaft stammend, die ihren Herrn nicht geändert hatten; eine wohlbeleibte, gutmütige Hausfrau im Häubchen mit Spitzen und einem türkischen Spitzenshawl, welches ihr liebes Enkelchen, die Tochter ihrer Tochter liebkoste; ein jugendlicher Sohn, Gymnasiast der sechsten Klasse, welcher von der Schule gekommen war und den Vater begrüßte, indem er ihm die große Hand küßte; die ermahnenden, freundlichen Reden und Gebärden des Hausherrn; alles dies hatte in Lewin gestern unwillkürlich Hochachtung und Sympathie erweckt. Jetzt erschien ihm dieser alte Herr rührend und beklagenswert und er wünschte, ihm einige angenehme Worte zu sagen.

»Ihr werdet vielleicht wieder unser Vorsteher werden,« sprach er.

»Kaum,« versetzte jener, erschreckt aufblickend, »ich bin abgespannt, schon alt; es giebt würdigere und jüngere als ich, mögen die nun dienen,« und der Vorsteher verschwand durch eine Seitenthür.

Es trat nun der feierlichste Augenblick ein; man mußte zur Wahl schreiten. Die Wortführer der einen und der anderen Partei zählten an den Fingern die weißen und die schwarzen Kugeln nach.

Die Debatten wegen Phleroff hatten der Jungpartei nicht nur die eine Kugel Phleroffs mehr verschafft, sondern auch einen Gewinn an Zeit herbeigeführt, sodaß noch drei Adlige herbeigeholt werden konnten, welchen es durch Intriguen der Alten unmöglich gemacht worden war, an den Wahlen teilzunehmen. Zwei der Adligen, die eine Schwäche für den Wein besaßen, hatte man durch Kumpane Sjnetkoffs trunken gemacht, dem dritten die Uniform entwendet.

Als die Jungpartei dies erfahren hatte, sandte sie sogleich, während der Debatten über Phleroff, in einer Mietkutsche Freunde fort, um den Einen uniformieren zu lassen, und Einen der beiden Berauschten zur Sobranje zu bringen.

»Den Einen habe ich gebracht, ich habe ihn mit Wasser begossen,« sagte der nach ihm gesandte Gutsherr, zu Swijashskiy tretend, »doch es ist nicht gefährlich, er taugt schon noch dazu.«

»Ist also nicht zu sehr berauscht, daß er nicht etwa umfällt?« sagte Swijashskiy kopfschüttelnd.

»Nein; er ist ganz munter; doch hätten sie ihn bald völlig niedergetrunken. Ich habe dem Buffetier gesagt, er soll ihm auf keinen Fall Wein geben.«

29.

Der enge Saal, in welchem man rauchte und aß, war gefüllt von den Edelleuten. Die Aufregung stieg stetig, und auf allen Gesichtern war die Unruhe bemerkbar. Namentlich waren die Wortführer in Aufregung, da sie alle Einzelverhältnisse und die Berechnung aller Kugeln kannten. Sie waren die Ordner der bevorstehenden Schlacht. Die Übrigen suchten, wie die Krieger vor dem Kampfe, obwohl sie sich zu diesem vorbereiteten, noch Zerstreuungen. Die Einen nahmen am Tische stehend oder sitzend einen Imbiß; die Anderen gingen Cigaretten rauchend, in dem langen Zimmer auf und nieder, und unterhielten sich mit lange nicht gesehenen Freunden.

Lewin verspürte keine Eßlust, er rauchte nicht; zu den Seinigen, mit Sergey Iwanowitsch, Stefan Arkadjewitsch, Swijashskiy und anderen gehen, wollte er nicht, da bei ihnen in lebhaftem Gespräch Wronskiy in Stallmeisteruniform stand. Schon gestern hatte ihn Lewin bei den Wahlen erblickt, und geflissentlich vermieden, da er nicht wünschte ihm zu begegnen. Er trat ans Fenster und setzte sich nieder, auf die Gruppen blickend, und auf das horchend, was um ihn herum gesprochen wurde.

Es bedrückte ihn namentlich, daß alle, wie er sah, aufgeregt, besorgt und geschäftig waren, und nur er allein nebst einem alten, zahnlosen Greis in Marineuniform, neben ihm saß, ohne Interesse und ohne Beschäftigung war.

»Das ist ein Betrug! Ich habe ihm gesagt, daß es nicht so ist. Gewiß. Er konnte auf drei Jahre nicht wählen,« sprach energisch ein etwas verwachsener Gutsherr von kleiner Gestalt mit pomadisierten Haaren, die auf dem gestickten Kragen seiner Uniform lagen, stark mit den Absätzen seiner offenbar für die Wahlen neugefertigten Stiefeln aufstampfend, und wandte sich dann, einen mißvergnügten Blick auf Lewin werfend, kurz ab.

»Ja, eine unsaubere Sache, was man auch sagen mag,« fuhr ein kleiner Gutsherr mit dünner Stimme fort.

Hinter ihnen näherte sich Lewin eilig ein ganzer Trupp von Gutsherrn, einen dicken General umringend. Die Herren suchten offenbar einen Platz, wo sie so sprechen konnten, daß man sie nicht hörte.

»Wie kann er sich unterstehen, zu sagen, ich hätte ihm die Beinkleider entwenden lassen! Er hat sie vertrunken, denke ich! Ich mache mir den Teufel aus ihm und seinem Fürstenrang! Er soll es nicht wagen, das zu äußern. Eine Schweinerei ist es!«

»Aber erlaubt doch! Die berufen sich auf den Gesetzparagraphen,« sprach man in einer anderen Gruppe, »die Frau muß als Adlige eingetragen werden!«

»Zum Teufel mit dem Paragraphen! Ich spreche wie es mir ums Herz ist! Darauf stützen sich brave Edelleute. Man soll Vertrauen haben!«

»Wollen Ew. Excellenz mitkommen, fine champagne

Ein anderer Trupp ging zu einem laut schreienden Edelmann; es war dies Einer der drei Berauschten.

»Ich habe der Marja Sfemionowna stets geraten zu verpachten, weil sie ihren Vorteil nicht zu wahren versteht,« sagte ein graubärtiger Gutsherr mit angenehmer Stimme, in der Oberstenuniform des alten Generalstabs. Es war dies der nämliche Herr, welchem Lewin bei Swijashskiy begegnet war. Lewin erkannte ihn sofort, auch der Gutsherr schaute nach Lewin, und sie begrüßten sich.

»Sehr angenehm. Gewiß, ich erinnere mich noch recht wohl; wir sahen uns im vergangenen Jahre bei Nikolay Iwanowitsch.«

»Nun, wie steht es mit Eurer Ökonomie?« frug Lewin.

»Man arbeitet stets mit Schaden,« antwortete der Gutsherr mit höflichem Lächeln, aber mit einem Ausdruck von Ruhe und der Überzeugtheit, daß es so sein müsse, neben Lewin stehen bleibend; »aber wie kommt Ihr denn in unser Gouvernement?« frug er dann. »Ihr seid wohl gekommen, um an unserem coup d’état teilzunehmen?« sagte er, sicher, aber schlecht die französischen Worte aussprechend. »Ganz Rußland ist zusammengekommen; auch die Kammerherren und beinahe selbst die Minister.« Er wies auf die repräsentierende Gestalt Stefan Arkadjewitschs in den weißen Pantalons und der Kammerherrenuniform, welcher mit einem General ging.

»Ich muß Euch gestehen, daß ich die Bedeutung der Adelswahlen recht wenig verstehe,« sprach Lewin.

Der Gutsherr schaute ihn an.

»Was giebt es denn da zu verstehen? Eine Bedeutung liegt darin gar nicht. Es ist das eine hinfällige Institution, welche ihr Fortleben nur dem Trägheitsgesetz verdankt. Seht doch hin; die Uniformen sagen Euch das ja schon. Dies ist eine Sobranje von Friedensrichtern, dauernden Mitgliedern und so fort, aber nicht von Edelleuten.«

»Aber weshalb seid Ihr denn gekommen?« frug Lewin.

»Aus Gewohnheit; das ist das Eine. Ferner, um die Verbindungen aufrecht zu erhalten. Darin liegt eine moralische Verpflichtung in gewisser Hinsicht. Dann aber, wenn ich die Wahrheit sagen soll, auch aus meinem eigenen Interesse. Mein Schwager wünscht als Mitglied gewählt zu werden; die Familie ist arm und man muß sie vorwärts bringen. Weshalb sind wohl diese Herren gekommen?« sagte er, auf den bissigen Adligen zeigend, welcher hinter dem Gouverneurstisch sprach.

»Das ist ein neues Adelsgeschlecht.«

»Neues hin, neues her; aber kein Adel! Das sind Landleute, während wir Gutsherren sind. Sie legen als Adlige die Hand an sich selbst.«

»Aber Ihr sagt doch, es sei dies eine abgelebte Institution?«

»Abgelebt hin, abgelebt her; man müßte sich aber doch pietätvoller zu ihr stellen. Wäre wenigstens Sjnetkoff – – mögen wir gut oder schlecht sein, aber tausend Jahre sind wir doch alt geworden. Wißt Ihr, es kann einmal vorkommen, daß man vor seinem Hause einen Garten anlegt und placiert. Da steht Euch nun aber gerade auf dem Platze ein hundertjähriger Baum. Mag er gleich knorrig und alt sein, für die Blumenbouquets wird man ihn doch wohl nicht umhauen, sondern diese so anlegen, daß sie den Baum umfangen;« sagte er vorsichtig, und änderte darauf das Thema. »Wie geht es denn mit Eurer Ökonomie?« frug er.

»Auch nicht gut. Fünf Prozent wirft sie ab.«

»Da rechnet Ihr Euch aber noch nicht mit! Ihr seid doch auch etwas wert! Ich kann auch von mir selbst so reden. Während der Zeit, in der ich nicht Landwirtschaft trieb, habe ich im Dienst dreitausend Rubel gehabt. Jetzt arbeite ich mehr, als im Dienst, und habe ebenso wie Ihr, meine fünf Prozent, und damit ist es gut. Meine Arbeit ist dabei noch umsonst.«

»Aber warum thut Ihr es denn, wenn Ihr nur Verlust habt?«

»Nun, man arbeitet eben. Was wollt Ihr sonst? aus Gewohnheit; und man weiß, daß man so muß. Ich will Euch weiter sagen,« und der Gutsbesitzer stemmte sich mit den Ellbogen auf das Fenster und fuhr fort, »mein Sohn hat keine Lust zur Landwirtschaft; er wird offenbar einmal ein Gelehrter. Niemand wird somit die Sache einmal fortführen, und doch arbeitet man. Jetzt habe ich einen Garten angelegt.«

»Ja, ja,« sagte Lewin, »das ist völlig richtig. Ich fühle stets, daß in meiner Ökonomie keine rechte Berechnung liegt, man arbeitet aber – man fühlt gleichsam eine Verpflichtung seinem Lande gegenüber.«

»Da will ich Euch noch etwas sagen,« fuhr der Gutsbesitzer fort. »Mein Nachbar, ein Kaufmann, war bei mir. Wir gingen das Land ab, und den Garten. ›Nein,‹ sagte er da, ›Stefan Wasiljewitsch, bei Euch ist alles in Ordnung, aber der Garten ist vernachlässigt.‹ Dabei befindet er sich aber in vollständiger Ordnung. ›Nach meiner Ansicht, würde ich diese Linden anhauen. Man muß nur bis auf den Saft schlagen. Es sind da ihrer tausend Linden, und jede von ihnen giebt zwei gute Schaffe.‹«

»Für den Erlös daraus müßte er Vieh kaufen oder Land und es den Bauern pachtweise verteilen,« ergänzte Lewin, welcher offenbar schon mehr als einmal mit ähnlichen Überschlägen zu thun gehabt hatte. »Und er wird sich ein Vermögen begründen, während wir, Ihr und ich, wenn Gott es giebt, nur das unsere zusammenhalten und den Kindern zu hinterlassen streben müssen.«

»Ihr seid verheiratet, wie ich hörte?« sagte der Gutsbesitzer.

»Ja,« antwortete Lewin mit Stolz und Genugthuung. »Es ist aber etwas Seltsames,« fuhr er fort, »wir leben zusammen gerade wie die alten Vestalinnen, und hüten unser Herdfeuer.«

Der Gutsbesitzer lächelte unter seinem weißen Bart.

»So ist es auch bei uns, da hat sich unser Freund Nikolay Iwanitsch, oder jetzt Graf Wronskiy seßhaft gemacht, die eine agronomische Industrie einführen wollen; aber das hat nicht weiter, als bis zu Kapitalverlust geführt.«

»Aber weshalb machen wir es nicht, wie die Kaufleute? Warum fällen wir nicht die Bäume im Garten der Rinde halber?« sagte Lewin, auf den Gedanken zurückgreifend, der ihn frappiert hatte.

»Nun, wie Ihr sagtet, man hütet sein Feuer. Dieses wäre ja auch nicht ein adliges Verfahren. Unsere adlige Thätigkeit vollzieht sich nicht hier, bei den Wahlen, sondern in unserem Winkel. Es giebt auch einen Standesinstinkt bezüglich dessen, was man soll und was man nicht soll. Bei den Bauern ist es ebenso; wenn ein Bauer gut ist, so sucht er soviel Land zu pachten, als er kann. So schlecht dieses nun sein mag, er pflügt es. Gleichfalls ohne Berechnung, und geradezu zu seinem Schaden.«

»Wie wir« – sagte Lewin. »Es ist mir außerordentlich angenehm, Euch zu treffen,« fügte er hinzu, indem er Swijashskiy zu ihm herantreten sah.

»Ah, wir begegnen uns wohl zum erstenmal wieder, seit ich bei Euch war,« begrüßte ihn der Gutsbesitzer, »wir haben uns auch verschworen.«

»Wie, schmäht Ihr neue Einrichtungen?« frug Swijashskiy lächelnd.

»Ein wenig.«

»Man hat uns den Mut benommen.«

30.

Swijashskiy nahm Lewin unter den Arm und ging mit ihm zu seinen Freunden.

Jetzt konnte Lewin Wronskiy nicht mehr vermeiden, welcher bei Stefan Arkadjewitsch und Sergey Iwanowitsch stand und offen dem herankommenden Lewin entgegenblickte.

»Sehr erfreut. Mir scheint, als hatte ich einmal das Vergnügen gehabt, Euch begegnet zu sein – bei der Fürstin Schtscherbazkaja,« sagte er, Lewin die Hand reichend.

»Ja; ich entsinne mich Eurer Begegnung recht wohl,« sagte Lewin, purpurrot werdend, und wandte sich sogleich, um mit seinem Bruder zu sprechen.

Mit seinem Lächeln unterhielt sich Wronskiy mit Swijashskiy weiter, offenbar ohne den geringsten Wunsch, in ein Gespräch mit Lewin zu geraten; dieser hingegen blickte, mit dem Bruder redend, unverwandt Wronskiy an und überlegte, wovon er wohl mit demselben sprechen könnte, um seine Taktlosigkeit wieder gutzumachen.

»Was verhandelt man jetzt?« frug Lewin, Swijashskiy und Wronskiy anblickend.

»Sjnetkoff. Er muß abschläglich antworten oder beistimmen,« antwortete Swijashskiy.

»Nun, hat er denn beigestimmt oder nicht?«

»Darum handelt es sich ja eben; weder dies noch das ist der Fall,« sagte Wronskiy.

»Und wenn er es verweigert, wer wird dann ballotieren?« frug Lewin, Wronskiy anschauend.

»Wer da will,« sagte Swijashskiy.

»Werdet Ihr es thun?« frug Lewin.

»Nur ich nicht,« sagte Swijashskiy, in Verlegenheit geratend und einen erschreckten Blick auf den neben ihm mit Sergey Iwanowitsch stehenden, bissigen Herrn werfend.

»Nun wer denn; Njewjedowskiy?« frug Lewin, im Gefühl, daß er sich verwickelte.

»Dies wäre aber noch schlimmer. Njewjedowskiy und Swijashskiy waren ja die zwei Kandidaten.«

»Ich werde es in keinem Falle thun,« antwortete der sarkastische Herr. Es war Njewjedowskiy selbst. Swijashskiy machte Lewin mit demselben bekannt.

»Hat es auch deine Achillesferse getroffen?« sagte Stefan Arkadjewitsch, Wronskiy zublinzelnd, »das ist etwas nach Art der Wettrennen. Man kann da eine Wette machen.«

»Ja; das berührt Einen bei der schwachen Seite,« sagte Wronskiy. »Und hat man sich einmal mit der Sache abgegeben, so will man sie auch ausführen. Es ist ein Kampf!« sagte er, stirnrunzelnd und die starken Kinnbacken zusammenbeißend.

»Was für ein Kenner der Swijashskiy ist. Wie klar bei ihm alles ist!«

»Ach ja,« versetzte Wronskiy zerstreut.

Ein Stillschweigen trat ein, während dessen Wronskiy so wie man eben auf etwas Zufälliges blickt, auf Lewin, auf dessen Füße, Uniform und Gesicht, schaute. Nachdem er die finster auf sich gerichteten Augen bemerkt hatte, äußerte er, um doch wenigstens etwas zu sagen:

»Wie kommt es denn – Ihr seid doch ständiger Dorfbewohner, nicht aber Friedensrichter? Ihr seid ja nicht in der Uniform eines Friedensrichters?«

»Das kommt daher, daß ich glaube, das Friedensgericht repräsentiert eine thörichte Institution,« antwortete Lewin finster, der schon längst darauf gewartet hatte, mit Wronskiy ins Gespräch zu kommen, um seine Taktlosigkeit bei Gelegenheit wieder auszugleichen.

»Ich glaube dies nicht; im Gegenteil,« sagte Wronskiy ruhig, aber mit Verwunderung.

»Es ist doch nur eine Spielerei,« unterbrach ihn Lewin. »Die Friedensrichter sind uns nicht notwendig. Ich habe innerhalb acht Jahren nicht eine einzige Klage gehabt, und was ich gehabt habe, das wurde durch Ersatzleistung ausgeglichen. Der Friedensrichter wohnt in einer Entfernung von vierzig Werst von mir. In einer Sache, in welcher es sich um zwei Rubel handelt, muß ich dann einen Vertrauensmann, welcher mich fünfzehn kostet, schicken.«

Er erzählte nun, wie ein Bauer einem Müller Mehl gestohlen habe, und der Bauer, als der Müller es ihm mitgeteilt, gegen diesen Verleumdungsklage eingereicht hätte. Alles das paßte nicht hierher und war dumm; und Lewin fühlte dies auch, während er sprach.

»O, über dieses Original!« sagte Stefan Arkadjewitsch mit seinem mandelsüßesten Lächeln, »indessen gehen wir; man scheint zu ballotieren.«

Sie gingen auseinander.

»Ich begreife nicht,« sagte Sergey Iwanowitsch, den ungeschickten Gang seines Bruders bemerkend, zu diesem, »ich begreife nicht, wie es möglich ist, bis zu solchem Grade jeglichen politischen Taktes bar zu sein. Das ist es eben, was wir Russen nicht haben. Der Gouvernementsvorsteher ist unser Gegner, und du bist mit ihm ami cochon und bittest ihn, zu ballotieren. Graf Wronskiy – ich mache ihn mir ja auch nicht zum Freunde – hat mich zum Essen eingeladen. Ich werde nicht zu ihm fahren, aber er ist auf unserer Seite, weshalb soll ich uns deshalb einen Feind aus ihm machen? Dann fragst du Njewjedowskiy, ob er ballotieren würde. Das geht doch nicht an.«

»Ach, ich verstehe nichts davon! Alles das ist doch fades Zeug,« antwortete Lewin mürrisch.

»Du sagst da, daß dies alles fades Zeug sei, befassest du dich aber damit, so verwickelst du dich dennoch.«

Lewin blieb stumm und sie betraten zusammen den großen Saal.

Der Gouvernementsvorsteher hatte sich, obwohl er den ihm bereiteten Verrat in der Luft liegen fühlte, und nicht alle ihn darum gebeten hatten, gleichwohl entschlossen, zu ballotieren. Im Saal wurde alles still, der Sekretär verkündete mit lauter Stimme, daß Rittmeister der Garde, Michail Ljepanowitsch Snjetkoff zum Gouvernementsvorsteher gewählt werden solle. Die Kreisvorsteher kamen mit Tellern, auf welchen die Kugeln lagen, von ihren Tischen zu dem Gouvernementstisch, und die Wahlen begannen.

»Wirf rechts,« flüsterte Stefan Arkadjewitsch Lewin zu, als er zusammen mit dessen Bruder hinter dem Vorsteher zu dem Tische schritt.

Lewin hatte indessen jetzt jenes Kalkül vergessen, das man ihm erklärt hatte, und fürchtete, Stefan Arkadjewitsch möchte sich geirrt haben, indem er sagte »rechts«. Snjetkoff war doch offenbar der Gegner. Als er daher zum Kasten gekommen war, hielt er die Kugel in der Rechten, überlegte sich jedoch, daß er irre, und nahm, dicht vor dem Kasten, die Kugel in die linke Hand, um sie dann offenbar links zu legen.

Ein Kenner der Sache, welcher an dem Kasten stand, und an der bloßen Bewegung des Ellbogens erkannte, wohin jeder warf, runzelte unwillig die Stirn. Er hatte keine Lust, seinen Scharfsinn anzustrengen.

Alles war still geworden und man vernahm nur das Zählen der Kugeln. Darauf rief eine einzelne Stimme die Zahl der Wähler und der Nichtwählenden aus.

Der Vorsteher war mit beträchtlicher Majorität wieder gewählt worden. Es erhob sich ein allgemeiner Lärm und man drängte nach der Thür. Snjetkoff trat ein, und der Adel umringte ihn, unter Beglückwünschungen.

»Nun, jetzt ist es Wohl zu Ende?« frug Lewin Sergey Iwanowitsch.

»Es fängt eben erst an,« versetzte für Sergey Iwanowitsch lächelnd Swijashskiy; »der Kandidat des Vorstehers kann mehr Kugeln erhalten.«

Lewin hatte dies vollkommen vergessen. Er entsann sich erst jetzt, daß hier eine gewisse Feinheit verborgen lag, doch wurde es ihm zuviel, sich darauf besinnen zu sollen, worin sie bestand. Niedergeschlagenheit überkam ihn und er sehnte sich darnach, von diesem Haufen wegzukommen.

Da ihn niemand beachtete, und er wie es schien, von niemand vermißt wurde, begab er sich leise nach dem kleinen Saal, wo man speiste, und fühlte große Erleichterung, als er die Diener wiederum erblickte. Der alte Diener legte ihm die Speisenkarte vor, und Lewin willigte ein. Nachdem er ein Kotelett mit Fasolen gegessen und sich mit dem Diener über dessen frühere Herrschaft unterhalten hatte, begab sich Lewin, der den Saal nicht wieder zu betreten wünschte, in welchem es ihm so unangenehm war, auf die Tribünen.

Diese waren angefüllt von geputzten Damen, die sich über das Geländer beugten, im Bemühen, nicht ein einziges Wort von dem zu verlieren, was unten gesprochen wurde. Um die Damen herum saßen und standen elegante Advokaten, Gymnasialschüler mit Augengläsern, und Offiziere. Überall wurde von den Wahlen gesprochen, und davon, wie der Vorsteher erschöpft sei, und wie vortrefflich die Debatten gegangen wären; in der einen Gruppe vernahm Lewin das Lob seines Bruders. Eine Dame sagte zu einem Advokaten:

»Wie freue ich mich, daß ich Koznyscheff gehört habe! Da ist es schon der Mühe wert, ein wenig zu hungern. Es war reizend! Wie klar und verständlich alles! Bei uns im Gericht spricht niemand so. Nur Maydel, und selbst der ist noch bei weitem nicht so redegewandt.«

Als Lewin einen freien Platz an dem Geländer gefunden hatte, beugte er sich darüber und begann Umschau zu halten und zu lauschen.

Alle Adligen sahen in Spalieren, in ihren Kreisabteilungen. In der Mitte des Saales stand ein Mann in Uniform, welcher mit klingender lauter Stimme rief:

»Es wird ballotiert für die Kandidaten des Gouvernementsvorstehers des Adels, Stabrittmeisters Evgeniy Iwanowitsch Apuchtin!«

Totenstille trat ein, und man vernahm eine schwache Greisenstimme:

»Ich verzichte!«

»Es wird ballotiert der Hofrat Peter Petrowitsch Bolj,« begann wiederum die Stimme.

»Ich verzichte!« ertönte eine jugendliche pfeifende Stimme.

Nochmals ertönte das Gleiche und wieder erschallte das »ich verzichte«; und so ging es eine Stunde lang fort. Auf das Geländer gestemmt, schaute und lauschte Lewin. Anfangs wunderte er sich und suchte zu erfassen, was dies alles bedeute; dann aber, nachdem er sich überzeugt hatte, er könne nichts verstehen, fing er an, sich zu langweilen. Als er sich hierauf all die Aufregung und Erbitterung, die er auf den Gesichtern aller wahrgenommen, vergegenwärtigte, wurde es ihm schwer ums Herz; er beschloß abzureisen, und ging hinab.

Als er durch die Vorhalle der Tribünen schritt, begegnete er einem auf- und niederschreitenden, bedrückt aussehenden Gymnasiasien mit thränenschwimmenden Augen. Auf der Treppe begegnete ihm ein Paar. Eine Dame, welche eilig auf den Absätzen lief, war es und der gewandte Genosse des Prokurators.

»Ich habe Euch gesagt, daß Ihr nicht zu spät kommt,« sagte der Prokurator, gerade, als Lewin zur Seite trat, um die Dame vorüberzulassen.

Lewin war schon auf der Ausgangstreppe und zog soeben aus der Westentasche die Nummer seines Pelzes hervor, als ihn der Sekretär abfing.

»Gestattet, Konstantin Dmitritsch, man ballotiert!«

Zum Kandidaten war Njewjedowskiy, der sich so entschieden geweigert hatte, gewählt worden.

Lewin schritt zur Saalthür; sie war verschlossen. Der Sekretär pochte, die Thür öffnete sich und er befand sich zwei Gutsbesitzern mit geröteten Gesichtern gegenüber.

»In meiner Macht liegt es nicht,« sagte der eine rotaussehende Gutsbesitzer.

Hinter den beiden hob sich das Gesicht des Gouvernementsvorstehers hervor. Dieses Gesicht erschien furchterweckend mit seinem Ausdruck von Erschöpfung und Angst.

»Ich habe dir befohlen, niemand hinauszulassen!« schrie er den Thürhüter an.

»Ich habe nur eingelassen, Ew. Excellenz!«

»Mein Gott!« schwer seufzend ging der Gouvernementsvorsteher, müde in seinen weißen Pantalons, den Kopf gesenkt, dahinschreitend, durch die Mitte des Saales nach dem großen Tische.

Man hatte das Amt Njewjedowskiy übertragen, wie es auch vorher geplant worden war, und dieser war jetzt Gouvernementsvorsteher. Viele befanden sich in heiterer Stimmung, viele waren zufrieden und glücklich, viele entzückt, viele unzufrieden und unglücklich. Der Gouvernementsvorsteher war in einer Verzweiflung, die er nicht verbergen konnte. Als Njewjedowskiy den Saal verließ, umringte ihn die Menge, und folgte ihm begeistert nach, so, wie sie am ersten Tage dem Gouvernementsvorsteher gefolgt war, als derselbe die Wahlen eröffnet hatte, so, wie sie Snjetkoff gefolgt war, als dieser gewählt wurde.

20.

»Hier bringe ich Euch Dolly, Fürstin, Ihr wolltet sie so gern sehen,« sagte Auna, mit Darja Aleksandrowna die große Steinterrasse betretend, auf welcher im Schatten, hinter dem Stickrahmen die Fürstin Barbara saß, die einen Sessel für den Grafen Aleksey Kyrillowitsch stickte. »Sie sagt zwar, daß sie bis zu Mittag nichts zu sich nehmen mag, befehlt aber immerhin das Frühstück, während ich mittlerweile gehe, Aleksey zu suchen und sie alle mit hierher bringe.«

Die Fürstin Barbara empfing Dolly mit einer gewissen Gönnermiene und begann sogleich, ihr auseinanderzusetzen, daß sie deshalb bei Anna wohne, weil sie diese mehr liebe, als es deren Schwester, Katharina Pawlowna, gethan, die Anna erzogen hätte, und daß sie es jetzt, nachdem alle Anna verlassen hätten, als ihre Pflicht betrachtet habe, ihr in diesem Übergangsstadium, dem allerschwierigsten, Beistand zu leisten.

»Ihr Mann wird ihr den Konsens zur Ehescheidung geben und dann gehe ich wieder in meine Einsamkeit, jetzt aber kann ich nützlich sein und werde ich meine Pflicht erfüllen, so schwer es mir auch werden mag – ich handle nicht so, wie andere. Und wie lieb bist du, wie schön hast du gehandelt, daß du gekommen bist! Sie leben vollkommen, wie die besten Ehegatten und Gott wird über sie richten, nicht wir dürfen es! Birjusowskij und die Avenijewa, Nikandroff, Wasiljeff und die Mamonowa, und Lisa Neptunowa, da hat doch auch kein Mensch etwas gesagt? Und doch endeten die Fälle so, daß sie sich alle heirateten. Dann aber, c’est intérieur si joli, si comme il faut. Tout-à-fait à l’anglaise. On se réunit le matin au breakfast et puis on se sépare. Jeder thut, was er will, bis zur Mittagszeit. Die Mittagstafel ist um sieben Uhr. Stefan hat sehr wohl daran gethan, dich zu schicken. Er müßte sich an sie halten. Du weißt ja, er vermag durch seine Mutter und seine Brüder alles, und dann thun sie ja viel Gutes. Hat er dir noch nicht von seinem Krankenhaus erzählt? Ce sera admirable – und alles aus Paris.«

Ihr Gespräch wurde durch Anna unterbrochen, welche die Gesellschaft der Herren beim Billardspiel gefunden hatte und nun zusammen mit ihnen zur Terrasse zurückkehrte. Bis zur Mittagstafel war noch lange Zeit, das Wetter sehr schön und so wurden verschiedenartige Hilfsmittel, die noch übrigen zwei Stunden auszufüllen in Vorschlag gebracht. Der Möglichkeiten, sich die Zeit zu vertreiben, gab es sehr viele in Wosdwishenskoje, und es waren alle nicht die, wie sie in Pokrowskoje angewendet wurden.

» Une partie de Lown tennis,« schlug mit seinem hübschen Lächeln Wjeslowskiy vor, »ich spiele wieder mit Euch, Anna Arkadjewna!«

»Ach nein; es ist zu heiß dazu; besser, wir gehen in den Park und fahren auf dem Kahn, um Darja Aleksandrowna die Ufer zu zeigen,« schlug Wronskiy vor.

»Ich bin mit allem einverstanden,« meinte Swijashskiy.

»Ich denke, daß es Dolly am angenehmsten sein wird, sich erst ein wenig zu ergehen; nicht so? Und dann erst Kahn zu fahren,« sagte Anna.

So wurde denn auch bestimmt. Wjeslowskiy und Tuschkjewitsch begaben sich ins Bad und versprachen, dort das Boot bereit machen und warten zu wollen.

Sie gingen in zwei Paaren auf dem Wege; Anna mit Swijashskiy und Dolly mit Wronskiy. Dolly war ein wenig verwirrt und ängstlich in dieser ihr vollständig neuen Umgebung, in der sie sich befand. Begeistert und voll Theorien, rechtfertigte sie nicht nur, nein, billigte sie sogar Annas Verfahren. Wie im allgemeinen nicht selten untadelhaft moralische Frauen ermüdet von der Einförmigkeit des sittenstrengen Lebens thun, so entschuldigte sie aus ihrer Ferne nicht nur die verbrecherische Liebe, sie beneidete dieselbe sogar.

Außerdem liebte sie Anna auch von Herzen, aber gleichwohl war es ihr in der Wirklichkeit, nachdem sie diese inmitten aller dieser ihr fremden Leute gesehen hatte, in dem für Darja Aleksandrowna neuen, sogenanntem guten Tone, unbehaglich zu Mut. Besonders unangenehm war es ihr, die Fürstin Barbara zu sehen, welche ihnen alles verzieh für die Annehmlichkeiten, die sie dafür genoß.

Im allgemeinen also billigte Dolly, hingerissen, das Vergehen Annas, aber denjenigen sehen zu müssen, für welchen jenes Verbrechen begangen worden, war ihr doch unangenehm. Wronskiy hatte ihr überhaupt nie gefallen. Sie hielt ihn für sehr stolz, sah aber in ihm nichts von alledem, worauf er hätte stolz sein können – es wäre denn sein Reichtum gewesen. –

Gegen ihren Willen jedoch imponierte er ihr hier in seinem Hause noch mehr als früher, und sie konnte sich vor ihm nicht ungezwungen benehmen. Empfand sie doch ihm gegenüber ein Gefühl, das ähnlich dem war, welches sie über ihr Leibchen Vor der Zofe empfunden hatte. So wie ihr in deren Gegenwart nicht Scham, sondern Unmut wegen der Ausbesserungen aufgestiegen war, so empfand sie auch vor ihm fortwährend nicht etwas wie Scham, sondern wie Unmut über das eigene Ich.

Dolly fühlte sich verlegen und suchte ein Thema zur Unterhaltung. Wiewohl sie urteilte, daß ihm in seinem Hochmut ein Lob seines Hauses und Parkes unangenehm sein müsse, sagte sie ihm dennoch, keinen andern Gegenstand der Unterhaltung findend, daß ihr sein Haus sehr gefallen habe.

»Ja; es ist ein sehr schönes Gebäude und nach gutem alten Stil,« sagte er.

»Mir hat auch der Hof vor der Freitreppe sehr gefallen. War der schon so?«

»O nein!« antwortete er, und sein Gesicht schimmerte vor Genugthuung. »Wenn Ihr diesen Hof noch jetzt im Frühling gesehen hättet!«

Und er begann nun anfangs zurückhaltend, dann aber sich freier und freier hingebend, ihre Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Einzelheiten der Verschönerung in Haus und Garten hinzulenken. Es war ersichtlich, daß Wronskiy nach dem Aufwand so vieler Mühe zur Verbesserung und Verschönerung seines Landsitzes das Bedürfnis empfand, sich desselben vor einer fremden Person zu rühmen, und sich über das Lob Darja Aleksandrownas von ganzem Herzen freute.

»Wenn Ihr noch das Krankenhaus besichtigen wollt und nicht ermüdet seid, so ist dies nicht zu weit entfernt. Kommt,« sagte er, ihr ins Gesicht blickend, um sich zu überzeugen, daß sie sich ja nicht etwa langweile.

»Kommst du mit, Anna?« wandte sie sich an diese.

»Wir werden mit kommen; nicht wahr?« wandte sie sich an Swijashskiy.

» Mais il ne faut pas laisser le pauvre Wjeslowskiy et Tuschkjewitsch se morf ondre là dans le bateau. Man muß es ihnen sagen lassen.«

»Das ist ein Denkmal, welches er sich hier aufrichtet,« sprach Anna, sich zu Dolly wendend, mit dem nämlichen, wissenden und verschlagenen Lächeln, mit welchem sie früher über das Krankenhaus gesprochen hatte.

»O, ein Kapitalwert,« rief Swijashskiy, fügte aber sogleich, um nicht als Jasager Wronskiys zu erscheinen, leichthin eine kritische Bemerkung hinzu. »Ich wundere mich nur, Graf,« sprach er, »daß Ihr, der Ihr in sanitärer Beziehung so viel für das Volk thut, Euch den Schulen gegenüber so gleichgültig verhaltet.«

» C’est devenu tellement commun les écoles,« sagte Wronskiy, »Ihr seht doch, daß ich nicht davon, sondern eben hiervon eingenommen bin. – Hierhin geht es nach dem Krankenhaus,« wandte er sich dann zu Darja Aleksandrowna, nach einem Seitenausgang aus der Allee zeigend.

Die Damen öffneten die Sonnenschirme und betraten den Seitenweg. Nachdem sie einige Windungen durchschritten und zu einem Pförtchen hinausgetreten waren, erblickte Darja Aleksandrowna vor sich auf einen: erhöhten Terrain ein großes, rotes, fast vollendetes Gebäude von interessantem Aussehen. Das noch nicht gestrichene, eiserne Dach strahlte blendend in der heißen Sonne. Neben dem fertigen Gebäude war ein zweites, vom Wald umgeben, angelegt; Arbeiter auf den Gerüsten legten Ziegel, übergössen die Lagen aus den Eimern und gleichten sie mit Richtmaßen.

»Wie schnell bei Euch die Arbeit vorwärts geht!« sagte Swijashskiy, »als ich das letzte Mal hier war, war das Dach noch nicht da.«

»Zum Herbste soll alles fertig sein, und innen ist fast alles bereits ausgeputzt,« sagte Anna.

»Und was ist das Neues dort?«

»Es ist ein Gebäude für den Arzt und die Apotheke,« antwortete Wronskiy, den in kurzem Überrock auf ihn zukommenden Architekten erblickend; und ging, sich vor den Damen entschuldigend, diesem entgegen.

Die Kalkgrube umgehend, aus welcher die Arbeiter den Kalk holten, blieb er beim Architekten stehen und begann eifrig zusprechen.

»Das Fronton liegt immer noch zu niedrig,« antwortete er Anna, welche gefragt hatte, wovon die Rede sei.

»Ich hatte gesagt, man müsse das Fundament erhöhen,« sagte Anna.

»Ja, natürlich, das wäre besser, Anna Arkadjewna,« sagte der Architekt, »es ist außer Acht gelassen worden.«

»Ja, ich interessiere mich sehr hierfür,« antwortete Anna Swijashskiy, welcher sein Erstaunen über ihre Kenntnisse in der Architektur ausgedrückt hatte. »Das neue Gebäude muß dem Krankenhaus entsprechend sein, ist aber erst später geplant und ohne Riß begonnen worden.«

Nachdem die Rücksprache mit dem Architekten beendet war, gesellte sich Wronskiy wieder zu den Damen und führte dieselben in das Innere des Krankenhauses.

Obwohl man außen noch die Karniese fertig machte und in der tieferen Etage tünchte, war in der oberen schon alles fertig. Auf der breiten, gußeisernen Treppe den Treppenabsatz überschreitend, betrat man das erste große Zimmer. Die Wände waren mit Stuck, der sich wie Marmor ausnahm, geziert, die großen Fenster waren schon eingesetzt, nur der Parkettboden war noch nicht fertig und die Tischler, welche ein emporgenommenes Quadrat hobelten, ließen die Arbeit liegen, um, ihre schmalen Stirnbänder abnehmend, welche ihnen das Haar hielten, die Herrschaft zu begrüßen.

»Das ist das Empfangszimmer,« sagte Wronskiy, »es wird hier nur ein Tisch und ein Schrank hereinkommen, weiter nichts.«

»Hierher, hier wollen wir durchgehen! Komm nicht an das Fenster,« sagte Anna, probierend, ob die Farbe schon getrocknet sei. »Aleksey, die Farbe ist schon trocken,« fügte sie hinzu.

Aus dem Empfangszimmer trat man in den Korridor. Hier zeigte Wronskiy eine nach neuem System konstruierte Ventilation, dann die Marmorwannen und Betten mit eigenartigen Federn. Hierauf zeigte er die Krankensäle, einen nach dem anderen, die Vorratskammer, ein Zimmer für die Wäsche, dann einen Ofen neuester Konstruktion, eine Art Rollen, welche kein Geräusch machen sollten und die solche Gegenstände, die gebraucht wurden beförderten, und noch vieles andere. Swijashskiy lobte alles, als ein Mann, welcher alle neuen Vervollkommnungen kannte. Dolly war geradezu erstaunt über diese Dinge, welche sie bis jetzt noch nicht gesehen hatte, und frug im Begehren, alles zu erfassen, eingehend nach allem, was Wronskiy augenscheinlich Vergnügen machte.

»Ich glaube, dies wird das einzige, vollständig rationell eingerichtete Krankenhaus in Rußland werden,« sagte Swijashskiy.

»Werdet Ihr auch eine Abteilung für Wöchnerinnen haben,« frug Dolly. »Das ist doch so notwendig auf dem Lande. Ich habe häufig« –

Bei aller seiner Höflichkeit fiel ihr hier Wronskiy ins Wort.

»Das ist kein Geburtsinstitut, sondern ein Krankenhaus und für alle Krankheiten bestimmt außer den ansteckenden,« sagte er. »Aber hier seht einmal das,« er rollte einen neuerdings erst verschriebenen Lehnsessel zu Darja Aleksandrowna, welcher für Genesende bestimmt war. »Paßt auf,« er setzte sich in den Sessel und begann ihn fortzubewegen. »Wenn Einer nicht gehen kann, noch zu schwach ist, oder fußleidend, aber Luft schöpfen muß, so fährt er, rollt er sich« –

Darja Aleksandrowna interessierte sich für alles; alles gefiel ihr sehr, am meisten aber Wronskiy selbst mit dieser natürlichen, naiven Begeisterung.

»Ja, ja, er ist ein sehr lieber und guter Mann,« dachte sie, ohne ihn zu hören, aber auf ihn blickend und in seinen Ausdruck versunken, während sie sich im Geiste in Anna versetzte. Er gefiel ihr jetzt so wohl in seiner Lebhaftigkeit, daß sie begriff, wie Anna sich in ihn hatte verlieben können.

21.

»Nein, ich glaube die Fürstin ist müde und die Pferde interessieren sie nicht mehr,« sagte Wronskiy zu Anna, welche vorgeschlagen hatte, zum Marstall zu gehen, wo Swijashskiy den neuen Hengst zu besichtigen wünschte. »Geht Ihr dahin, während ich die Fürstin ins Haus begleite, und wir wollen ein wenig plaudern, wenn es Euch angenehm ist?« sagte er, zu derselben gewendet.

»Von Pferden verstehe ich gar nichts; und es ist mir so recht angenehm,« sagte Darja Aleksandrowna etwas verwundert.

Sie sah im Gesicht Wronskiys, daß er etwas von ihr wünschte, und sie irrte nicht. Kaum waren sie wiederum durch das Pförtchen in den Garten gelangt, als er nach der Seite schaute, nach welcher Anna gegangen war, und, nachdem er sich überzeugt hatte, daß diese ihn weder hören noch sehen könne, begann:

»Ihr habt erraten, daß ich mit Euch zu sprechen wünschte,« sagte er, sie mit lachenden Augen anblickend, »ich irre nicht darin, daß Ihr eine Freundin Annas seid.« Er nahm den Hut ab, zog ein Tuch hervor und trocknete sich damit seinen Kopf mit dem spärlichen Haar.

Darja Aleksandrowna antwortete nicht, sondern blickte ihn nur erschrocken an. Nachdem sie mit ihm so allein geblieben, wurde es ihr plötzlich ängstlich zu Mut; die lachenden Augen und der ernste Ausdruck seines Gesichts erschreckten sie.

Die verschiedenartigsten Vermutungen, worüber er wohl mit ihr könnte sprechen wollen, gingen ihr durch den Kopf. »Er wird mich einladen, mit den Kindern zu ihm auf Besuch zu kommen, und ich werde ihm abschläglich antworten müssen: Oder soll ich in Moskau einen Kreis für Anna schaffen, oder will er über Wasjenka Wjeslowskiy und dessen Beziehungen zu Anna reden? Vielleicht auch von Kity, oder davon, daß er sich schuldig fühlt?« Sie sah nur Unangenehmes, erriet aber nicht, wovon er mit ihr mochte reden wollen.

»Ihr habt so großen Einfluß auf Anna, sie liebt Euch so,« sagte er, »helft mir doch!«

Darja Aleksandrowna schaute fragend und schüchtern auf sein energisches Gesicht, welches bald ganz, bald stellenweis in das Licht der Sonne trat, das bald den Schatten der Linden durchdrang, bald vom Schatten wieder verdunkelt wurde, und wartete auf das, was er weiter fragen würde; doch er schritt, mit dem Spazierstock in den Kies bohrend, schweigend neben ihr hin.

»Wenn Ihr zu uns gekommen seid, Ihr, die einzige Frau unter den früheren Freundinnen Annas – die Fürstin Barbara rechne ich nicht –- so verstehe ich darin, daß Ihr dies nicht gethan habt, weil Ihr etwa unser Verhältnis für ein normales haltet, sondern weil Ihr, die ganze Schwierigkeit dieses Verhältnisses begreifend, sie noch immer ebenso liebt und ihr helfen wollt. Habe ich Euch so richtig aufgefaßt?« frug er, sie anschauend.

»O ja,« antwortete Darja Aleksandrowna, ihren Sonnenschirm schließend, »doch« – – »Nein,« unterbrach er sie, und blieb stehen, unwillkürlich, und vergessend, daß er hierdurch Darja Aleksandrowna in eine peinliche Situation versetzte, indem diese genötigt war, gleichfalls stehen zu bleiben. »Niemand empfindet mehr und stärker als ich die ganze Schwierigkeit der Lage Annas, und dies ist begreiflich, wenn Ihr mir die Ehre erweist, mich für einen Menschen zu halten, der Herz besitzt, ›ich bin die Ursache dieser Lage und deshalb fühle ich sie.‹«

»Ich verstehe,« sagte Darja Aleksandrowna, unwillkürlich freundlich werdend, als er dies so aufrichtig und bestimmt aussprach, »aber eben deswegen, weil Ihr Euch als die Ursache fühlt, übertreibt Ihr, wie ich fürchte,« sagte sie, »Annas Lage ist eine schwierige in der Welt, ich verstehe Wohl.«

»In der Welt ist sie eine Hölle,« fuhr er hastig fort, das Gesicht in finstre Falten legend, »man kann sich keine schlimmeren moralischen Qualen vorstellen, als die, welche sie in jenen vierzehn Tagen in Petersburg durchlebt hat. Ich bitte Euch darum, das zu glauben.«

»Aber hier, bis jetzt, so lange weder Anna, noch Ihr ein Bedürfnis nach der Welt empfindet« –

»Die Welt« – sagte er voll Verachtung, »welches Bedürfnis kann ich nach der Welt empfinden?«

»Bis jetzt – und vielleicht bleibt das immer so – seid Ihr glücklich und ruhig. Ich sehe an Anna, daß sie glücklich ist, vollkommen glücklich, sie hat es mir kaum erst geäußert« – sagte Darja Aleksandrowna lächelnd; doch unwillkürlich stiegen ihr, während sie dies sprach, Zweifel auf, ob Anna wirklich glücklich war.

Wronskiy hingegen schien hieran nicht zu zweifeln.

»Ja, ja,« sagte er, »ich weiß, daß sie aufgelebt ist nach allen ihren Leiden; sie ist glücklich. Sie ist wahrhaft glücklich. Aber ich? Ich fürchte das, was uns erwartet. Doch entschuldigt, Ihr wollt gewiß gehen?«

»Nein, ganz gleich.«

»Gut, setzen wir uns dann hierher!«

Darja Aleksandrowna ließ sich auf einer Gartenbank in einer Ecke der Allee nieder. Er blieb vor ihr stehen.

»Ich sehe, daß sie glücklich ist,« wiederholte er und der Zweifel daran, ob sie glücklich sei, beschlich Darja Aleksandrowna noch mehr. »Aber kann dies so fortgehen? Mögen wir gut oder schlecht gehandelt haben, das bleibt eine andre Frage, aber der Würfel ist gefallen,« sagte er, aus der russischen in die französische Sprache übergehend, »und wir sind für das ganze Leben miteinander verbunden; wir sind vereint durch die heiligsten Bande der Liebe. Wir haben ein Kind, Wir können noch mehr Kinder haben. Aber das Gesetz und alle Umstände in unserem Verhältnis sind derart, daß sich tausend Verwickelungen zeigen, welche Anna jetzt, wo sie ihren Geist von all den Leiden und Prüfungen ausruhen läßt, nicht sieht oder nicht sehen will. Und das ist begreiflich. Ich aber muß sie sehen. Meine Tochter ist nach dem Gesetz – nicht meine Tochter, sondern eine Karenina. Ich will diese Täuschung nicht,« sagte er, mit einer energischen Geste der Verneinung, und düster fragend Darja Aleksandrowna anblickend.

Diese antwortete nicht und schaute ihn nur an. Er fuhr fort:

»Morgen kann mir ein Sohn geboren werden, mein Sohn, aber nach dem Gesetz – ist er ein Karenin; weder Erbe meines Namens, noch Erbe meines Vermögens, und so glücklich wir in der Familie sein, soviel Kinder wir auch bekommen mögen, zwischen mir und ihnen besteht kein Band. Sie sind Karenin. Begreift nur das Drückende und Entsetzliche dieser Lage! Ich habe es versucht, mit Anna darüber zu sprechen, aber sie reizt dies nur. Sie versteht es nicht und ich vermag nicht, ihr alles zu sagen. Betrachtet indes jetzt die Sache auch noch von einer anderen Seite! Ich bin glücklich, glücklich durch ihre Liebe, aber ich muß eine Beschäftigung haben! Diese Beschäftigung habe ich gefunden und bin stolz auf sie; ich halte sie für edler, als es die Beschäftigung meiner ehemaligen Kameraden am Hof und im Dienst ist, und ohne Zweifel würde ich dieses Wirken nicht mit dem ihren vertauschen mögen. Ich arbeite hier, auf meiner Scholle sitzend, und bin glücklich und zufrieden, und wir brauchen nichts weiter zum Glück. Ich liebe diese Thätigkeit. Cela n’est pas un pis-aller, im Gegenteil« –

Darja Aleksandrowna bemerkte, daß er an dieser Stelle seiner Erklärung den Faden verlor; sie verstand diese Abschweifung nicht recht und fühlte, daß er jetzt, nachdem er einmal über seine Herzensangelegenheiten, über die er mit Anna nicht reden konnte, zu sprechen angefangen hatte, alles aussprach, und daß sich die Frage seiner Beschäftigung auf dem Lande in der nämlichen Abteilung seiner innersten Gedanken befand, in welcher auch die Frage über seine Beziehungen zu Anna war.

»Indessen, ich fahre fort,« sagte er, wieder auf den rechten Weg kommend, »das Wichtigste ist, daß ich beim Arbeiten die Überzeugung hegen muß – daß das von mir Geleistete nicht mit mir sterben wird, daß ich Erben haben werde, – und dies ist bei mir nicht der Fall! Stellt Euch selbst die Situation eines Menschen vor, welcher im voraus weiß, daß seine und seines von ihm geliebten Weibes Kinder nicht sein eigen werden, sondern jemandes, der sie haßt und sie gar nicht kennen will. – Das ist doch furchtbar!«

Er verstummte augenscheinlich in starker Erregung.

»Ja, natürlich; ich begreife das. Aber was kann Anna thun?« frug Darja Aleksandrowna.

»Dies eben führt mich auf den Zweck meiner Aussprache,« sagte er, sich gewaltsam bezwingend, »Anna kann Etwas thun; es hängt von ihr ab. Selbst zu dem Gesuch an den Zaren um Adoptierung, ist die Ehescheidung unumgänglich erforderlich. Und diese hängt von Anna ab; ihr Gatte war mit der Scheidung einverstanden – Euer Gatte hatte dies damals vollkommen arrangiert, und auch jetzt noch, ich weiß es, würde er sich nicht weigern. Es käme nur darauf an, daß man ihm schriebe. Er hat damals offen geantwortet, daß er sich, wenn sie diesen Wunsch aussprechen sollte, nicht weigern würde. Natürlich,« sagte er finster, »ist dies nur eine jener Pharisäerhärten, deren allein Leute ohne Herz fähig sind. Er weiß, welche Qual ihr jede Erinnerung an ihn kostet, und fordert, da er es weiß, von ihr einen Brief. Ich begreife, daß ihr das qualvoll sein muß, aber die Ursachen sind so wichtig, daß es heißt passer par-dessus toutes ces finesses de sentiment. Il y va du bonheur et de l’existence d’Anne et de ses enfants. Ich spreche nicht von mir, obwohl es mir schwer, sehr schwer wird,« sagte er mit dem Ausdruck einer Drohung gegen jemand, der es ihm so schwer machte. »Und so klammere ich mich denn ohne Bedenken an Euch, Fürstin, wie an einen Rettungsanker. Helft mir, sie zu überreden, daß sie ihm schreibt und die Scheidung fordert.«

»Ja, natürlich,« sagte Darja Aleksandrowna, sich lebhaft ihres letzten Zusammenseins mit Aleksey Aleksandrowitsch erinnernd, »ja versteht sich,« wiederholte sie entschlossen, mit dem Gedanken an Anna.

»Macht von Eurem Einfluß auf sie Gebrauch und bewirkt, daß sie schreibt. Ich will und kann nicht darüber mit ihr reden.«

»Gut, ich werde mit ihr sprechen. Aber sie selbst sollte gar nicht hieran denken?« sagte Darja Aleksandrowna, der plötzlich hierbei die seltsame neue Gewohnheit Annas, zu zwinkern, einfiel. Sie dachte wieder daran, daß Anna gerade da, als die Frage auf die Seiten ihres Lebens, die ihr Herz berührten, kam, mit den Augen zwinkerte. »Gerade als ob sie über ihr Leben zwinkerte, um es nicht zu sehen,« dachte Dolly. »Ohne Zweifel muß ich im eigenen Interesse und in ihrem mit ihr sprechen,« antwortete sie auf den Ausdruck seiner Dankbarkeit hin.

Sie erhoben sich und schritten dem Hause zu.

22.

Als Anna Dolly bereits zurückgekehrt fand, schaute sie ihr aufmerksam ins Auge, als wolle sie nach dem Gespräch fragen, welches sie mit Wronskiy gehabt, frug aber nicht mit Worten.

»Es scheint schon Zeit zur Mittagstafel zu sein,« sagte sie. »Wir haben uns ja noch gar nicht gesehen. Ich rechne auf den Abend; jetzt muß ich mich umkleiden, und ich denke wohl auch du wirst dies thun? Wir sind auf dem Bau alle ganz schmutzig geworden.«

Dolly ging nach ihrem Zimmer und war nun in einer komischen Situation. Es war ihr nicht möglich, sich umzukleiden, denn sie hatte schon ihr bestes Kleid angelegt; doch, um wenigstens in Etwas ihre Vorbereitung zur Tafel kenntlich zu machen, bat sie die Zofe, ihr das Kleid zu reinigen, wechselte die Manschetten und ein Band und legte Spitzen auf den Kopf.

»Das ist alles, was ich vermag,« sagte sie lächelnd zu Anna, welche in dem dritten, wiederum einem sehr einfachen Kleide, zu ihr kam.

»Ja, wir sind hier sehr kokett,« sagte Anna, sich gleichsam entschuldigend wegen ihrer Toilette. »Aleksey ist erfreut über dein Kommen, wie selten über Etwas. Er ist aufrichtig in dich verliebt,« fügte sie hinzu. »Aber du bist doch nicht ermüdet?«

Bis zur Tafel war keine Zeit mehr, noch über etwas zu sprechen. Als sie in den Salon traten, trafen sie dort bereits die Fürstin Barbara und die Herren in schwarzen Röcken. Der Architekt war im Frack. Wronskiy stellte dem Besuch den Arzt vor. Den bauleitenden Architekten hatte er mit Darja Aleksandrowna schon in dem Krankenhause bekannt gemacht.

Der dicke Hausmeister, mit seinem glänzenden, runden rasierten Gesicht und im steifgeplätteten Band seiner weißen Krawatte meldete, daß das Essen bereit sei, und die Damen erhoben sich. Wronskiy ersuchte Swijashskiy, Anna Arkadjewna den Arm zu reichen, während er selbst zu Dolly trat. Wronskiy gab vor Tuschkjewitsch der Fürstin Barbara seinen Arm, so daß dieser, der Baumeister und der Arzt allein gingen.

Das ganze Essen, der Speisesalon, das Service, der Wein und die Speisen entsprachen nicht nur dem allgemeinen Charakter des modernen Prunkes in diesem Hause, sondern alles war wohl noch luxuriöser und moderner. Darja Aleksandrowna musterte diese ihr neue Pracht und vertiefte sich als Hausfrau, die ein Hauswesen führte – obwohl ohne Hoffnung, etwas von all dem Gesehenen mit ihrem Hauswesen vergleichen zu können, so hoch stand hier alles an Pracht über ihrer Lebensweise – unwillkürlich in alle Einzelheiten und stellte sich dabei die Frage, wer dies alles gemacht hatte und wie es gemacht war.

Wasjenka Wjeslowskiy, ihr Gatte und selbst Swijashskiy und viele Leute, die sie kannte, hatten nie hierüber nachgedacht, sondern aufs Wort daran geglaubt, daß jeder rechtschaffene Hausherr seine Gäste merken zu lassen wünscht, alles, was bei ihm gut in der Einrichtung sei, habe ihm, dem Hausherrn, nicht die geringste Mühe gekostet, sondern sei von selbst geworden.

Darja Aleksandrowna aber wußte, daß von selbst nicht einmal der Brei zum Frühstück für die Kinder werde, und infolge dessen auf eine so komplizierte und herrliche Einrichtung gewissermaßen verstärkte Aufmerksamkeit hatte gerichtet werden müssen. Auch an dem Blicke des Aleksey Kyrillowitsch, mit welchem dieser den Tisch überflog, und wie er ein Zeichen mit dem Kopfe nach dem Hausmeister hin gab, und wie er der Darja Aleksandrowna die Auswahl zwischen dem Kwasgericht und der Suppe vorschlug, erkannte sie, daß alles durch die Fürsorge des Herrn selbst geschehe und von dieser gehalten sei. Von Anna hing augenscheinlich dies alles nicht in höherem Grade ab, als etwa von Wjeslowskiy. Sie, Swijashskiy, die Fürstin und Wjeslowskiy waren einzig und allein die Gäste, welche heiter genossen, was für sie bereitet war.

Anna war Hausfrau nur der Führung des Gesprächs nach, und dieses Gespräch, sehr schwierig für die Hausherrin bei der nicht großen Tafel, bei Personen wie dem Baumeister und dem Architekten, Leuten einer vollständig anderen Welt, die sich bemühten, nicht zu erröten vor dem ungewohnten Luxus, und nicht lange an dem gemeinsamen Gespräch teilzunehmen vermochten – dieses schwierige Gespräch führte Anna mit ihrem gewohnten Takte, mit Natürlichkeit und selbst mit Vergnügen, wie Darja Aleksandrowna merkte.

Das Gespräch drehte sich darum, wie Tuschkjewitsch und Wjeslowskiy allein im Boot gefahren waren; dann begann Tuschkjewitsch von den letzten Bootwettfahrten in Petersburg im Jachtklub zu erzählen. Doch Anna, eine Pause abwartend, wandte sich sogleich an den Architekten, um denselben aus seinem Schweigen zu ziehen.

»Nikolay Iwanitsch war überrascht,« sagte sie zu Swijashskiy, »wie das neue Gebäude seit der Zeit, seit welcher er das letzte Mal hier war, gewachsen ist; aber ich bin alltäglich dabei und verwundere mich selbst alltäglich, wie schnell das geht.«

»Mit Erlaucht arbeitet es sich auch gut,« sagte lächelnd der Architekt – er war im Gefühl seines Wertes ein ehrerbietiger und ruhiger Mensch – »man hat es hier nicht mit Gouvernementsmachthabern zu thun, bei denen erst ein Ries Papier vollgeschrieben werden muß; ich mache dem Grafen Meldung, wir besprechen und mit drei Worten ist die Sache abgemacht.«

»Amerikanische Manieren,« sagte Swijashskiy lächelnd.

»Ja; dort werden die Gebäude rationell errichtet.«

Das Gespräch kam auf den Mißbrauch der Macht in den Vereinigten Staaten, doch Anna brachte es sogleich auf ein anderes Thema, um den Baumeister aus seinem Schweigen zu ziehen.

»Hast du schon einmal Erntemaschinen gesehen?« wandte sie sich an Darja Aleksandrowna. »Wir waren hinausgeritten, sie anzusehen, als wir dir begegneten. Ich selbst habe sie zum erstenmale gesehen.«

»Wie arbeiten sie denn?« frug Dolly.

»Genau so wie Scheren. Es ist ein Brett und daran sind viele kleine Scheren. So hier« –

Anna ergriff mit ihren schönen, weißen, von Ringen bedeckten Händen ein Messer und eine Gabel und begann zu zeigen. Sie sah offenbar, daß sich aus ihrer Erklärung nichts erkennen lasse, setzte aber, recht wohl wissend, daß sie angenehm sprach und daß ihre Hände schön seien, die Erklärung fort.

»Es sind eigentlich mehr Federmesser,« sagte Wjeslowskiy lächelnd, ohne die Augen von ihr zu verwenden.

Anna lächelte kaum merklich, antwortete ihm aber nicht.

»Nicht wahr, Karl Fjodorowitsch, es sind Scheren?« wandte sie sich an den Baumeister.

»O ja,« versetzte der Deutsche in deutscher Sprache, »es ist ein ganz einfaches Ding,« und begann dann die Konstruktion der Maschine zu erläutern.

»Schade, daß sie nicht strickt. Ich habe auf der Wiener Weltausstellung eine gesehen, die strickt Draht,« sagte Swijashskiy, »diese wären noch nützlicher gewesen.«

»Es kommt drauf an; der Preis vom Draht muß ausgerechnet werden,« sagte der Deutsche in deutscher Sprache und wandte sich, seinem Schweigen entrissen, an Wronskiy.

»Das läßt sich ausrechnen, Erlaucht.« Der Deutsche hatte bereits in die Tasche gegriffen, wo er Bleistift und ein Notizbuch trug, in welchem er alles ausrechnete. Doch besann er sich, daß er bei Tische sitze und stand, den kühlen Blick Wronskiys bemerkend, von seinem Vorhaben ab. »Zu kompliziert; macht zuviel Klopot,« schloß er.

»Wünscht man Dochots, 1 so hat man auch Klopots,« 2 sagte Wasjenka Wjeslowskiy auf Deutsch, sich über den Deutschen lustig machend »J’adore l’allemand,« wandte er sich mit dem nämlichen Lächeln zu Anna.

»Cessez!« sagte diese scherzhaft ernst. »Wir dachten Euch auf dem Felde zu treffen, Wasiliy Ssemjonitsch?« wandte sie sich dann an den Arzt, einen krankhaften Menschen, »waret Ihr dort?«

»Ich war dort, zog mich aber zurück,« antwortete dieser mit mürrischem Spott.

»Wahrscheinlich habt Ihr Euch eine gute Motion gemacht?«

»Herrlich!«

»Wie ist denn das Befinden der Alten? Ich hoffe es ist nicht Typhus?«

»Typhus oder nicht Typhus, in der Besserung befindet sie sich nicht gerade.«

»Wie schade,« sagte Anna, und wandte sich, nachdem sie so der Höflichkeit ihren Hausgenossen gegenüber den Tribut gezollt hatte, wieder zu den Ihrigen.

»Es wäre jedenfalls nach Eurer Erzählung schwierig, eine Maschine zu konstruieren, Anna Arkadjewna,« sagte Swijashskiy scherzend.

»Nun; inwiefern?« versetzte Anna mit einem Lächeln, welches sagte, daß sie Wohl wisse, in ihrer Erklärung von der Maschinenkonstruktion habe etwas Liebliches gelegen, was von Swijashskiy auch bemerkt worden sei. Dieser neue Zug jugendlicher Koketterie überraschte Dolly unangenehm.

»Dafür sind die Kenntnisse Anna Arkadjewnas in der Architektur bewundernswürdige,« sagte Tuschkjewitsch.

»Allerdings; ich hörte es; gestern sprach Anna Arkadjewna davon – bis auf die Plinte ist sie Kennerin« – sagte Wjeslowskiy.

»Es ist nichts Wunderbares dabei, wenn man so viel sieht und hört,« antwortete Anna, »Ihr freilich wißt gewiß nicht einmal, wovon man ein Haus baut.«

Darja Aleksandrowna sah, daß Anna ungehalten über den Ton von Tändelei war, der zwischen ihr und Wjeslowskiy herrschte, und in welchen unwillkürlich sie selbst geriet.

Wronskiy handelte in diesem Falle durchaus nicht so, wie Lewin. Er maß dem Geschwätz Wjeslowskiys offenbar nicht die geringste Bedeutung bei, ja, würzte im Gegenteil noch dessen Scherze.

»Nun sagt doch einmal, Wjeslowskiy, womit bindet man denn die Steine!«

»Natürlich mit Cement.«

»Bravo! Aber was ist denn Cement?«

»Nun so etwas wie ein dünner Brei, nein wie Kitt,« sagte Wjeslowskiy, ein allgemeines Gelächter hervorrufend.

Die Konversation unter den Dinierenden mit Ausnahme des in tiefes Schweigen versunkenen Arztes, des Architekten und des Baumeisters, verstummte nicht, bald glatt fließend, bald stockend und jemanden bei einer Schwäche fassend. Einmal wurde auch Darja Aleksandrowna angegriffen und so aufgeregt davon, daß sie sogar errötete, und sich besann, ob man ihr nicht etwas Überflüssiges und Unangenehmes gesagt habe? Swijashskiy hatte über Lewin zu sprechen begonnen, und von seinen seltsamen Urteilen, daß die Maschinen der russischen Landwirtschaft nur schädlich seien, erzählt.

»Ich habe nicht das Vergnügen, diesen Herrn Lewin zu kennen,« sagte Wronskiy lächelnd, »aber wahrscheinlich hat er wohl niemals die Maschinen gesehen, die er verwirft. Und wenn er eine gesehen und erprobt hat, so wird sie darnach gewesen sein, nicht eine ausländische, sondern eine russische. Wie kann man hierbei noch Ansichten haben?«

»Im allgemeinen türkische Ansichten,« sagte Wjeslowskiy lächelnd, sich an Anna wendend.

»Ich kann seine Urteile nicht vertreten,« fuhr Darja Aleksandrowna auf, »aber ich kann sagen, daß er ein sehr gebildeter Mann ist, und, wenn er hier wäre, schon wüßte, wie er Euch zu antworten hätte; ich verstehe es allerdings nicht!«

»Ich liebe ihn sehr und wir sind sehr gute Freunde,« sagte Swijashskiy gutmütig lächelnd. »Mais pardon, il est un petit peu toqué; zum Beispiel behauptet er, daß sowohl das Semstwo, wie die Schiedsrichter nicht nötig wären, und beteiligt sich an nichts.«

»Das ist unsere russische Indifferenz,« sagte Wronskiy, Wasser aus einer Eiskaraffe in ein feines Glas auf langem Fuße gießend, »man will sich keiner Verpflichtungen bewußt werden, die unsere Rechte uns auferlegen, und stellt diese Pflichten daher in Abrede.«

»Ich kenne keinen Menschen, der strenger wäre in der Erfüllung seiner Pflichten,« sagte Darja Aleksandrowna, gereizt von diesem Tone der Überlegenheit in Wronskiy.

»Ich, im Gegenteil,« fuhr Wronskiy fort, offenbar aus irgend einem Grunde von diesem Gespräch in einem gewissen Punkte getroffen, »ich im Gegenteil, so wie Ihr mich seht, bin sehr dankbar für die Ehre, die Ihr mir erwiesen habt, dank Nikolay Iwanitsch« – er wies auf Swijashskiy – »indem ich zum Ehrenrichter gewählt worden bin. Ich meine, daß für mich die Pflicht, zu den Zusammenkünften zu reisen, die Klage eines Bauern über ein Pferd zu begutachten ebenso wichtig ist, wie alles, was ich überhaupt thun kann. Ich werde es mir zur Ehre anrechnen, wenn man mich zum stimmenden Richter macht. Nur damit kann ich jene Vorteile wieder ausgleichen, welche ich als Grundherr besitze. Zum Unglück versteht man die Bedeutung nicht, welche die Großgrundbesitzer im Reiche haben müßten.«

Darja Aleksandrowna berührte es seltsam, wie er so ruhig in seiner Gerechtigkeit dasaß, in seinem Hause hinter seinem Tische. Sie dachte daran, wie Lewin, von entgegengesetzter Meinung, ebenso entschieden war in seinem Urteil, in seinem Hause, an seinem Tische. Doch sie liebte Lewin und war daher auf seiner Seite.

»So können wir also auf Euch rechnen, Graf, für die nächste Zusammenkunft?« frug Swijashskiy. »Doch wird zeitig zu fahren sein, damit man um acht Uhr schon dort ist. Wenn Ihr mir die Ehre erweisen wolltet, zu mir zu kommen?«

»Auch ich bin ein wenig einverstanden mit deinem beau frère« sagte Anna, »man darf nur nicht ganz so denken, wie er,« fügte sie lächelnd hinzu. »Ich fürchte, daß in letzter Zeit für uns zu viel dieser gesellschaftlichen Pflichten erstanden sind. Wie es früher so viel Beamte gab, daß für jede Arbeit ein Beamter erforderlich war, so ist jetzt alles gesellschaftlicher Faktor. Aleksey ist jetzt sechs Monate hier und schon ist er Mitglied von wohl fünf oder sechs verschiedenen socialen Institutionen – als Vormund, Richter, Stimmrichter, Beisitzer etc. Du train que cela va, alle seine Zeit geht darin auf. Ich fürchte, daß bei der Masse dieser Geschäfte, alles nur Form ist. In wie viel Orten seid Ihr Ratsmitglied des Gerichtshofs, Nikolay Iwanitsch,« wandte sie sich an Swijashskiy, »mir scheint in mehr als zwanzig!«

Anna sprach im Scherz, aber in ihrem Tone lag Bitterkeit. Darja Aleksandrowna, welche Anna und Wronskiy aufmerksam beobachtet hatte, bemerkte dies sogleich. Sie bemerkte auch, daß das Gesicht Wronskiys bei diesem Gespräch sofort einen ernsten und eigensinnigen Ausdruck annahm. Als sie dies bemerkt hatte, sowie auch, daß die Fürstin Barbara sogleich, um das Thema zu ändern, hastig von Petersburger Bekannten zu sprechen begann, sich ferner auch daran erinnert hatte, daß Wronskiy im Garten nicht zur passenden Zeit über seine Thätigkeit gesprochen hatte, erkannte Dolly, daß mit dieser Frage über die sociale Wirksamkeit ein gewisser geheimer Zwist zwischen Anna und Wronskiy zusammenhing.

Das Essen, die Weine, die Servierung, alles das war sehr gut, doch auch ebenso, wie es Darja Aleksandrowna bei offiziellen Essen und Bällen, von denen sie jetzt freilich ganz entwöhnt war, gesehen hatte, und von dem nämlichen Charakter des Nichtigen und Gespreizten. Infolge dessen machte auch alles dies, an dem gewöhnlichen Wochentag und in diesem kleinen Kreis einen unangenehmen Eindruck auf sie.

Nach dem Essen setzte man sich auf die Terrasse, dann wurde lawn tennis gespielt, indem man sich in zwei Parteien schied, und auf dem sorgfältig geebneten und abgesteckten croket-ground, auf beiden Seiten des aufgespannten Netzes mit den vergoldeten Stäben auseinandertrat.

Darja Aleksandrowna versuchte zu spielen, konnte aber lange Zeit das Spiel nicht begreifen; nachdem sie es aber erfaßt hatte, war sie so müde geworden, daß sie sich bei der Fürstin Barbara niedersetzte und den Spielenden nur noch zuschaute. Ihr Partner, Tuschkjewitsch, hatte ebenfalls aufgehört, die übrigen aber setzten das Spiel noch lange fort. Swijashskiy und Wronskiy spielten beide sehr gut und mit Ernst. Sie folgten mit scharfen Blicken dem ihnen zugeworfenen Ball, ohne sich zu überhasten oder etwas zu versäumen, liefen ihm behend nach, paßten die Sprünge ab und schleuderten den Ball zielbewußt und richtig über das Netz hinüber.

Wjeslowskiy spielte schlechter als die übrigen. Er war zu aufgeregt, inspirierte aber dafür mit seiner Heiterkeit die Spieler. Sein Gelächter und seine Rufe klangen unaufhörlich. Er legte wie alle übrigen Herren, auf den Beschluß der Damen den Überrock ab, und seine volle schöne Figur mit den weißen Hemdärmeln, dem roten schweißbedeckten Gesicht, den hastigen Bewegungen prägte sich förmlich dem Gedächtnis ein.

Als Darja Aleksandrowna sich in dieser Nacht schlafen legte, sah sie, als sie kaum die Augen geschlossen hatte, den über den croket-ground huschenden Wasjenka Wjeslowskiy.

Während des Spieles war Darja Aleksandrowna nicht heiter gestimmt gewesen. Ihr mißfiel das auch hierbei fortdauernde, tändelnde Verhältnis zwischen Wasjenka und Anna, sowie die allgemeine Gezwungenheit der Erwachsenen, wenn solche allein, ohne daß Kinder dabei sind, ein Kinderspiel spielen.

Um indessen die übrigen nicht zu stören, und irgendwie die Zeit doch zu verbringen, gesellte sie sich endlich, nachdem sie sich erholt hatte, dem Spiele wieder bei und stellte sich heiter. Diesen ganzen Tag hindurch schien es ihr immer, als spiele sie auf einem Theater, mit Schauspielern, die besser waren als sie, und als verderbe ihr schlechtes Spiel die ganze Aufführung.

Sie war mit der Absicht gekommen, zwei Tage hier zu bleiben, falls es anginge. Aber am Abend während des Spielens, beschloß sie bei sich, morgen schon abzureisen. Jene quälenden mütterlichen Sorgen, die sie unterwegs so gehaßt hatte, erschienen ihr jetzt, nach einem Tage den sie ohne dieselben verbracht hatte, schon in anderem Lichte und lockten sie an sich.

Als Darja Aleksandrowna nach dem Abendthee und einer Spazierfahrt am Abend im Boot allein in ihr Zimmer getreten war, ihr Kleid abgelegt und sich niedergesetzt hatte, um ihr dünnes Haar für die Nacht aufzubinden, empfand sie große Erleichterung.

  1. dochód »Einkünfte«.
  2. chlópot Gen. Plur. von »Plackereien«.

23.

Dolly wollte sich bereits niederlegen, als Anna im Nachtkostüm bei ihr eintrat.

Im Laufe des Tages hatte diese mehrmals Gespräche über Herzensangelegenheiten begonnen, aber stets, nachdem sie einige Worte gesprochen, wieder inne gehalten. »Später, allein unter uns, wollen wir alles besprechen. Ich habe dir soviel zu sagen,« hatte sie geäußert.

Jetzt waren sie allein, doch Anna wußte nicht, wovon sie sprechen sollte. Sie saß am Fenster, auf Dolly blickend, fand aber, in ihrem Geiste all den unerschöpflich scheinenden Stoff zu ihren Gesprächen über Geistiges durchmusternd, nichts.

Es schien ihr in dieser Minute, als ob alles schon gesagt wäre.

»Was macht denn Kity?« sagte sie, schwer aufseufzend und im Gefühl einer Schuld Dolly anblickend. »Sag‘ mir die Wahrheit, Dolly, zürnt sie mir nicht?«

»Sie zürnen? Nein« – sagte Darja Aleksandrowna lächelnd.

»Aber sie haßt, verachtet mich?«

»O nein; doch du weißt ja, Eines läßt sich nicht vergeben.«

»Ja, ja,« sagte Anna, sich abwendend und durch das geöffnete Fenster schauend. »Aber ich war nicht schuld! Wer war denn schuld? Was heißt denn schuldig? Konnte es anders kommen? Wie denkst du darüber? Wäre es möglich gewesen, daß du nicht die Frau Stefans wurdest?«

»Wahrhaftige ich weiß nicht. Aber sage du mir doch das?«

»Ja, ja, wir waren indessen noch nicht mit Kity fertig. Ist sie glücklich? Er ist ein schöner Mann, wie man sagt.«

»Das will wenig sagen, daß er schön ist. Ich kenne aber keinen besseren Menschen.«

»Ach, wie froh bin ich! Ich bin sehr froh! Es will wenig sagen, daß er ein schöner Mann ist,« wiederholte sie.

Dolly lächelte.

»Erzähle mir doch etwas von dir selbst! Wir haben uns so viel zu erzählen. Ich sprach auch mit« – Dolly wußte nicht, Wie sie ihn nennen sollte; es war ihr peinlich, ihn Graf oder Aleksey Kyrillowitsch zu nennen.

»Mit Aleksey« – sagte Anna, »ich weiß, daß Ihr miteinander gesprochen habt. Aber ich wollte dich offen fragen, was du von mir, über mein Leben denkst?«

»Wie kann ich das so plötzlich sagen? Ich weiß es wahrhaftig nicht.«

»Nein, nein, du mußt es mir dennoch sagen. Du siehst ja mein Leben. Doch vergiß nicht, daß du uns im Sommer siehst, wo du gekommen bist, und wir nicht allein sind. Wir aber kamen zeitig im Frühjahr hierher und haben vollständig einsam gelebt, und werden auch einsam weiter leben; etwas Besseres wünsche ich gar nicht. Stelle dir aber auch vor, daß ich allein lebte, ohne ihn; und dies wird kommen. An allem sehe ich, daß dies sich oft wiederholen wird, daß er die Hälfte seiner Zeit außerhalb des Hauses zubringen wird,« sprach sie, aufstehend und sich näher zu Dolly setzend.

»Natürlich,« unterbrach sie Dolly, welche ihr entgegnen wollte, »natürlich mit Gewalt werde ich ihn nicht zurückhalten! Ich halte ihn gar nicht! Jetzt sind die Rennen; seine Pferde laufen; er reitet mit. Ich freue mich sehr darüber. Aber was denkst du über mich, stelle dir meine Lage vor. Was soll man dazu sagen?« Sie lächelte. »Wovon hat er denn mit dir gesprochen?«

»Er sprach über das, wovon ich selbst sprechen will und ich kann leicht sein Anwalt sein. Er sprach davon, ob keine Möglichkeit vorhanden sei, und es nicht gehe, daß« – Darja Aleksandrowna stockte, »man deine Lage verbessern könnte. Du weißt, wie ich sie betrachte. Aber gleichwohl, wenn möglich, muß geheiratet werden« –

»Das heißt, eine Ehescheidung!« sagte Anna, »weißt du, daß das einzige Weib, welches in Petersburg zu mir gekommen ist, Betsy Twerskaja gewesen ist? Du kennst sie ja? Au fond c’est la femme la plus dépravée qui existe. Sie stand in einem Verhältnis zu Tuschkjewitsch, in der schmählichsten Weise ihren Mann hintergehend. Diese nun sagte mir, daß sie mich nicht mehr kennen wollte, so lange mein Verhältnis ein illegales bleibe. Denke nicht etwa, daß ich Vergleiche anstellte. Ich kenne dich, mein Herz, doch ich denke unwillkürlich an sie. Was hat dir denn Aleksey gesagt?« wiederholte sie.

»Er hat mir gesagt, daß er leide, deinetwegen und seinetwegen. Vielleicht wirst du sagen, das sei Egoismus, aber es ist ein so begründeter und edler Egoismus! Er wünscht zunächst seine Tochter legitim zu machen und dein Gatte zu werden; ein Recht auf dich zu erhalten.«

»Welche Frau, welche Magd kann bis zu solchem Grade Sklavin werden, als ich es bin in meiner Lage!« unterbrach Anna düster.

»Das Hauptsächlichste was er wünscht – er will, daß du nicht mehr leiden sollst.«

»Das ist unmöglich! Und weiter?«

»Nun, und das Loyalste – er will, daß eure Kinder einen Namen haben.«

»Welche Kinder denn?« sagte Anna, ohne Dolly anzublicken und mit den Augen zwinkernd.

»Any und die Künftigen« –

»Daraufhin kann er ruhig sein; ich werde keine Kinder mehr bekommen!«

»Wie darfst du sagen, daß dies nicht mehr der Fall sein könnte?«

»Deshalb nicht, weil ich es nicht will!«

Trotz ihrer hohen Erregung lächelte Anna, als sie den naiven Ausdruck von Neugier, Erstaunen und Schrecken auf Dollys Gesicht bemerkte.

»Der Arzt hat mir nach meiner Krankheit gesagt, daß« –

 

»Nicht möglich!« sagte Dolly, die Augen weit aufreißend. Für sie war dies eine jener Offenbarungen, deren Folgerungen und Ausführungen so ungeheuer sind, daß man in der ersten Minute nur fühlt, man könne sich das Ganze nicht vorstellen, werde aber noch viel darüber nachzudenken haben.

Diese Eröffnung, welche ihr plötzlich über alle jene früher für sie unbegreiflich gewesenen Familien, die nur ein oder zwei Kinder hatten, eine Erklärung gab, rief in ihr soviel Gedanken, Phantasieen und widerstreitende Empfindungen wach, daß sie nichts zu sagen wußte und nur mit weit geöffneten Augen erstaunt auf Anna schaute. Das war das Nämliche, wovon sie Wohl schon geträumt hatte; aber jetzt, als sie kennen gelernt, daß es möglich sei, erschrak sie. Sie fühlte, daß dies die nur allzu einfache Losung einer zu verwickelten Frage war.

»!N’est ce pas immoral!« sagte sie nur nach einigem Schweigen.

»Inwiefern? Bedenke: Ich habe die Wahl zwischen zwei Dingen. Entweder schwanger zu sein, das heißt krank, oder der Freund und Kamerad meines Gatten zu sein, ganz wie ein Mann,« sprach Anna in hochfahrendem und leichtsinnigem Tone.

»Nun ja, nun ja,« sprach Darja Aleksandrowna, die nämlichen Argumente hörend, die sie selbst für sich beigebracht hatte, in ihnen aber nicht mehr die alte Beweiskraft findend. »Für dich, für andere,« sagte Anna, als errate sie Dollys Gedanken, »kann noch ein Zweifel bestehen, für mich aber – begreife, ich bin kein angetrautes Weib! Er liebt mich so lange, als er liebt. Und womit soll ich dann seine Liebe unterhalten? Doch nur damit!«

Sie streckte die weißen Arme vor ihrem Leibe aus.

Mit ungewöhnlicher Schnelligkeit, wie dies in Momenten der Aufregung zu sein Pflegt, drängten sich Gedanken und Erinnerungen im Kopfe Darja Aleksandrownas.

»Ich,« dachte sie, »habe meinen Stefan doch nicht an mich fesseln können. Er ging von mir zu anderen, und die erste, welche er für mich eintauschte, hat ihn nicht einmal damit festgehalten, daß sie stets schön und heiter war. Er verließ sie doch und nahm eine andere. Sollte Anna auch nur damit den Grafen Wronskiy fesseln und halten wollen? Wenn er das nur sucht, so wird er Toiletten und Manieren finden, die noch anziehender sind und heiterer. Mögen auch ihre entblößten Arme noch so weiß, so herrlich sein, ihr Leib in voller Schöne prangen, wie ihr erhitztes Antlitz aus diesen schwarzen Haaren heraus – er wird noch Besseres finden, so wie mein ausschweifender, beklagenswerter und doch geliebter Mann es sucht und findet.«

Dolly antwortete nicht und seufzte nur. Anna bemerkte dieses Seufzen, welches ihr Widerspruch bedeutete, und fuhr fort. Sie hatte noch Beweisgründe vorrätig die so stark waren, daß es auf sie nichts mehr zu antworten gab.

»Du sagst, daß dies nicht gut sei? Man muß aber nur bedenken,« fuhr sie fort, »du vergißt meine Lage. Wie könnte ich Kinder wünschen? Ich spreche nicht von meinen Leiden; ich fürchte sie nicht. Bedenke aber, was werden meine Kinder sein? Unglückliche Kinder, die einen fremden Namen tragen. Allein durch ihre Geburt schon sind sie in die Notwendigkeit versetzt, sich ihrer Mutter zu schämen, ihres Vaters, sowie ihrer Geburt.«

»Aber deshalb ist ja eben die Ehescheidung erforderlich.«

Anna hörte sie nicht; sie wollte eben die nämlichen Beweisgründe erschöpfend beibringen, mit welchen sie sich selbst schon so viele Mal überzeugt hatte.

»Warum ist mir der Verstand gegeben, wenn ich ihn nicht dazu anwenden soll, keine Unglücklichen in die Welt zu setzen?« Sie blickte Dolly an, fuhr aber ohne eine Antwort abzuwarten fort: »Ich würde mich immerdar vor diesen unglücklichen Kindern schuldig fühlen,« sagte sie. »Wenn sie nicht da sind, sind sie wenigstens nicht unglücklich, während, wenn sie unglücklich sind, ich allein daran Schuld trage.«

Es waren dies die nämlichen Beweisgründe, welche Darja Aleksandrowna auch für sich selbst beigebracht hatte; aber jetzt hörte sie dieselben, ohne sie zu verstehen. »Wie kann man vor Geschöpfen schuldig sein, die nicht existieren?« dachte sie bei sich, und plötzlich kam ihr in den Sinn, ob es wohl unter Umständen für ihren Liebling Grischa besser gewesen wäre, wenn er nicht lebte? Dies aber erschien ihr so wunderlich, so seltsam, daß sie den Kopf wiegte, um dieses Wirrsal kreisender, wahnwitziger Gedanken zu zerstreuen.

»Nein, ich weiß nicht, das ist nicht gut,« sagte sie mit einem Ausdruck von Ekel auf den Zügen.

»Ja, ja, aber du darfst nicht vergessen, was du bist und was ich bin – und außerdem,« fügte Anna hinzu, ungeachtet der Fülle ihrer eigenen Beweisgründe und der Armut derjenigen bei Dolly, gleichsam anerkennend, daß jenes nicht moralisch sei, »vergiß nicht die Hauptsache, daß ich mich jetzt nicht in der Situation befinde, in welcher du bist. Für dich ist einfach die Frage vorhanden, ob du keine Kinder mehr zu haben wünschst; für mich hingegen, ob ich sie zu haben wünsche. Darin liegt ein großer Unterschied.Du begreifst, daß ich in meiner Lage dies nicht wünschen kann.«

Darja Aleksandrowna erwiderte nichts. Sie empfand plötzlich, daß sie schon so weit von Anna entfernt stehe, daß es zwischen ihnen Fragen gab, in welchen sie nie mehr übereinkommen konnten, und von denen nicht zu sprechen besser war.

24.

»Aber umsomehr wirst du daher deine Verhältnisse ordnen müssen, wenn es möglich ist,« sagte Dolly.

»Ja, wenn es möglich ist,« versetzte Anna mit plötzlich veränderter, gedämpfter und trauriger Stimme.

»Ist denn die Ehescheidung unmöglich? Man hat mir gesagt, daß dein Mann damit einverstanden ist.«

»Dolly! Ich mag nicht davon sprechen.«

»Nun, dann wollen wir es auch nicht,« beeilte sich Darja Aleksandrowna zu sagen, indem sie den Ausdruck des Leidens auf Annas Antlitz bemerkte. Ich sehe nur, daß du zu schwarz siehst.«

»Ich? Keineswegs! Ich bin sehr heiter und zufrieden. Du hast ja gesehen; »je fais des passions Wjeslowskiy«

»Ja, wenn ich die Wahrheit sagen soll, gefällt mir der Ton Wjeslowskiys nicht,« sagte Darja Aleksandrowna, im Wunsche, das Thema zu ändern.

»O, keineswegs! Das kitzelt Aleksey, weiter ist es nichts; er aber ist ein Knabe und ganz in meinen Händen. Du verstehst wohl, ich leite ihn, wie ich will. Er ist ganz das, was dein Grischa ist. Dolly!« – änderte sie plötzlich ihre Rede, »du sagst, ich blicke zu schwarz. Das verstehst du nicht. Es ist zu entsetzlich. Ich suche lieber gar nicht zu sehen.«

»Aber mir scheint, man muß dies. Man muß alles thun, was möglich ist.«

»Was ist denn möglich? Nichts! Du sagst, ich soll Aleksey heiraten, und meinst ich dächte nicht daran. Ich soll nicht daran denken!« – wiederholte sie, und die Farbe trat ihr ins Gesicht. Sie erhob sich, reckte ihre Brust empor, seufzte tief auf, und begann dann, mit ihrem leichten Gang im Zimmer auf und abzuschreiten, bisweilen dabei stehen bleibend. »Ich soll nicht daran denken? keinen Tag, keine Stunde giebt es, in der ich nicht sänne – und mir Vorwürfe machte über das was ich denke – deshalb, weil die Gedanken hierüber von Sinnen bringen können. Von Sinnen bringen,« wiederholte sie. »Wenn ich daran denke, so kann ich ohne Morphium schon nicht mehr schlafen. Doch gut. Wir werden ruhig sprechen. Man spricht mir von Ehescheidung. Erstens wird er in diese nicht willigen. Er steht jetzt unter dem Einfluß der Gräfin Lydia Iwanowna.«

Darja Aleksandrowna folgte, auf dem Stuhl steif emporgerichtet sitzend, mit dem Ausdruck innigen Mitgefühls auf dem Gesicht und kopfschüttelnd der hin und wieder wandernden Anna.

»Man muß versuchen,« sprach sie leise.

»Nehmen wir an, man versucht. Was hätte das zu bedeuten?« sagte sie; augenscheinlich war dies ein Gedanke, den sie wohl tausendmal überdacht, auswendig gelernt hatte. »Dies bedeutete für mich, die ihn haßt, sich aber nichtsdestoweniger vor ihm als schuldig bekennt – ich halte ihn dabei noch für großmütig – daß ich mich erniedrige, wenn ich ihm schreibe. Aber gesetzt, ich überwinde mich und thue dies! Entweder werde ich alsdann eine verletzende Antwort erhalten, oder die Einwilligung. Gut; ich erhalte die Einwilligung.« – Anna befand sich gerade in einer entfernten Ecke des Gemachs und war dort stehen geblieben, sich an der Gardine des Fensters zu schaffen machend. »Ich erhalte also die Einwilligung – aber – mein Sohn? Den wird man mir ja nicht geben! Er wird Wohl heranwachsen, in der Verachtung gegen mich, im Haus des Vaters, den ich verließ. Wisse, daß ich, wie mir scheint, gleich stark, aber mehr noch als mich selbst, zwei Wesen liebe, Sergey und Aleksey.«

Sie trat in die Mitte des Zimmers und blieb vor Dolly stehen, beide Hände auf ihre Brust pressend. In dem weißen Nachtgewand erschien ihre Gestalt eigentümlich hoch und voll. Sie senkte den Kopf und schaute mit feuchtschimmernden Augen von unten her auf die kleine, hagere und in ihrem gestickten Korsett im Nachthäubchen so kläglich aussehende, am ganzen Körper vor Aufregung zitternde Dolly.

»Nur diese beiden Wesen liebe ich, und doch schließt eines das andere aus. Ich kann sie nicht vereinigen und dies allein ist mir doch nur Bedürfnis. Wenn es nicht angeht, so ist mir alles gleichgültig. Alles, alles gleichgültig. Irgendwie muß es enden, und daher kann und mag ich nicht davon sprechen! Mache du mir also keine Vorwürfe und richte in nichts über mich! Du vermagst in deiner Reinheit nicht alles zu erfassen, woran ich leide.« Sie trat heran, setzte sich neben Dolly, blickte dieser mit schuldbewußtem Ausdruck ins Gesicht und nahm sie bei der Hand. »Was denkst du? Was denkst du über mich? Verachte mich nicht! Verachtung bin ich nicht wert. Ich bin doch schon unglücklich. Wenn jemand unglücklich ist, so bin ich es,« sprach sie und brach, sich von ihr abwendend, in Thränen aus.

Allein geblieben, betete Dolly zu Gott und legte sich in ihr Bett. Anna hatte ihr von ganzer Seele leid gethan, so lange sie mit ihr gesprochen; jetzt aber konnte sie sich nicht mehr zum Nachdenken über sie bringen. Die Erinnerungen an ihr Haus und ihre Kinder tauchten in einem eigenartigen, ihr neuen Reiz, mit einem gewissen neuen Schimmer in ihrer Vorstellungskraft ans. Diese ihr eigene Welt erschien ihr jetzt so teuer und lieb, daß sie um keinen Preis außerhalb derselben einen überflüssigen Tag hätte zubringen mögen, und sie beschloß, bestimmt morgen abzureisen.

Anna hatte mittlerweile, nach ihrem Kabinett zurückgekehrt, ein Glas ergriffen, einige Tropfen Arznei hineingeschüttet, deren hauptsächlichster Bestandteil Morphium war, und sich, nachdem sie getrunken, und noch einige Zeit unbeweglich gesessen hatte, in ruhiger und heiterer Stimmung nach dem Schlafgemach begeben.

Als sie in dasselbe eintrat, blickte Wronskiy sie aufmerksam an. Er suchte nach den Spuren des Gesprächs, welches sie, wie er wußte mit Dolly gehabt haben mußte, da sie so lange im Zimmer derselben geblieben war. Aber in ihrem Ausdruck, der zurückgehaltene Aufregung und Geheimthuerei verriet, entdeckte er nur die zwar gewohnte, ihn aber doch immer noch fesselnde Schönheit, ihr Bewußtsein davon, und ihren Wunsch, sie auf ihn wirken zu lassen. Er wollte Anna nicht fragen, was sie beide gesprochen hätten, sondern hoffte, sie werde es ihm selbst sagen. Doch sie sprach nur:

»Ich freue mich, daß Dolly dir gefallen hat. Nicht wahr?«

»Ich kenne sie ja schon lange. Sie ist sehr gut, wie mir scheint, mais excesivement terre-à-terre. Ich habe mich indessen gleichwohl sehr über sie gefreut.«

Er ergriff Annas Hand und schaute ihr fragend ins Auge. Sie lächelte ihm zu, den Blick anders auffassend.

Am anderen Morgen rüstete sich Darja Aleksandrowna trotz der Bitten ihrer Wirte zur Abreise. Der Kutscher Lewins in seinem nicht mehr gerade neuen Kaftan und dem Postkutscherhut, mit den Pferden von verschiedener Farbe, ein Wagen mit den ausgebesserten Seiten, fuhr mürrisch und entschlossen in die geöffnete, mit Sand bestreute Einfahrt.

Der Abschied von der Fürstin Barbara und den Herren war Darja Aleksandrowna unangenehm. Indem sie nur einen Tag hier geblieben war, fühlte sie sowohl, wie ihre Wirte, deutlich, daß sie einander nicht näher getreten waren, und es besser sei, wenn sie nicht mehr zusammenkämen. Nur Anna empfand Schmerz hierüber. Sie wußte, daß jetzt, mit Dollys Fortgehen, niemand mehr die Gefühle in ihrer Seele wachrufen werde, die sich bei diesem Wiedersehen in ihr geregt hatten. Diese Empfindungen wachzurufen, war ihr schmerzlich gewesen, aber gleichwohl wußte sie doch, daß sie gerade den besten Teil ihrer Seele bildeten, und daß dieser Teil ihrer Seele schnell überwuchert sein werde in dem Leben, welches sie führte.

Als sie auf das Held hinausgekommen war, empfand Darja Aleksandrowna ein angenehmes Gefühl der Erleichterung, und sie wollte soeben ihre Leute fragen, wie es ihnen bei Wronskiy gefallen habe, als plötzlich Philipp der Kutscher selbst anfing:

»Sind die reich, so reich, und doch haben sie im ganzen nur drei Maß Hafer gegeben. Bis die Hähne schrieen, hatten sie es rein aufgefressen. Was sind denn drei Maß? Gerade zum Hineinbeißen. Jetzt kostet der Hafer bei den Hofleuten fünfundvierzig Kopeken; während bei uns den Reisenden soviel gegeben wird, als gefressen wird.«

»Ein geiziger Herr,« bestätigte der Comptoirdiener.

»Nun, aber seine Pferde haben dir gefallen?« frug Dolly.

»Seine Pferde, das ist richtig. Das Essen ist ja auch gut. Aber mir schien es so langweilig, Darja Aleksandrowna, ich weiß nicht, wie es Euch gegangen ist,« sagte er, ihr sein rotes, gutmütiges Gesicht zuwendend.

»Mir ging es auch so. Werden wir denn bis zum Abend ankommen?«

»Wir müssen.«

Nachdem Darja Aleksandrowna heimgekommen war, und alles vollkommen wohlbehalten und besonders herzlich gefunden hatte, erzählte sie mit großer Lebhaftigkeit von ihrer Reise, wie man sie so gut aufgenommen habe, von der Pracht und dem guten Geschmack der Lebensweise der Wronskiy, sowie von ihren Zerstreuungen, und ließ niemand über sie zu Worte kommen.

»Man muß Anna und Wronskiy kennen – ich habe ihn jetzt besser kennen gelernt – um erkennen zu können, wie liebenswürdig sie sind,« sprach sie, jetzt vollkommen aufrichtig, nachdem sie das dunkle Gefühl von Unzufriedenheit und Mißbehagen vergessen hatte, welches sie dort empfunden.