Im September war Lewin wegen der Niederkunft Kitys nach Moskau gefahren. Er hatte schon einen ganzen Monat müßig in Moskau verweilt, als Sergey Iwanowitsch, welcher ein Gut im Gouvernement Kaschin besaß und großes Interesse für die Fragen der bevorstehenden Wahlen hegte, sich fertig machte, zu diesen zu fahren. Er nahm dazu auch den Bruder mit sich, der im Sjeleznewskischen Kreis ansässig war. Lewin hatte überdies in Kaschin ein sehr notwendiges Geschäft für seine Schwester, die im Ausland lebte, in Vormundschaftssachen und wegen der Empfangnahme von Geldern für einen Kauf zu erledigen.

Lewin war noch immer unentschlossen, aber Kity, welche gewahrte, daß er sich in Moskau langweile, hatte ihm angeraten, zu fahren und ihm obendrein noch hinter seinem Rücken eine Adelsuniform, welche achtzig Rubel kostete, bestellt. Diese achtzig Rubel, welche für die Uniform bezahlt worden waren, bildeten den Hauptgrund, der Lewin bewog, zu reisen, und so fuhr er nach Kaschin.

Er war bereits den sechsten Tag daselbst, besuchte täglich die Sobranje und befaßte sich mit der Angelegenheit seiner Schwester, die noch nicht in Ordnung war. Die Oberrichter waren sämtlich von den Wahlen in Anspruch genommen und man kam daher nicht bis zu einer so einfachen Angelegenheit, die von der Vormundschaft abhing. Die andere Angelegenheit, die Erhebung der Gelder, begegnete den gleichen Schwierigkeiten. Nach langen Mühen um die Beseitigung der Hindernisse lag das Geld endlich bereit zur Aushändigung, aber der Notar, ein sehr dienstfertiger Mann, konnte den Talon nicht herausgeben, weil die Unterschrift des Präsidenten dazu erforderlich war, dieser selbst aber sich in der Session befand. Alle diese Plagen, das Umherlaufen von Ort zu Ort, die Auseinandersetzungen mit den sehr guten freundlichen Leuten, welche alle die Unannehmlichkeit der Lage des Petenten vollkommen begriffen, diesem aber nicht helfen konnten, diese ganze Anstrengung die keine Resultate ergab, erzeugte in Lewin ein peinliches Gefühl, ähnlich jener ärgerlichen Ohnmacht, welche man im Schlafe empfindet, wenn man physische Kraft anwenden will. Er empfand dies oft, wenn er sich mit seinem sehr gutmütigen Pächter unterhielt. Dieser Pächter that, wie es schien, alles Mögliche, und strengte alle seine Kräfte an, um Lewin der Mühewaltung des Probierens zu entheben; nicht nur einmal hatte er gesagt, dieser solle da oder dorthin fahren, indem er einen ganzen Plan machte, wie er das Geschick umgehen könne, das alles hinderte. Gleichwohl aber hatte er hinzugefügt, »man wird sich freilich weiter sperren, doch probiert nur«. Und Lewin versuchte und ging und fuhr. Jedermann war gut und liebenswürdig, aber es zeigte sich, daß das bereits gangbar Gemachte am Ende wieder überwachsen war und von neuem den Weg verlegte. Besonders unangenehm war es, daß Lewin in keiner Weise erkennen konnte, mit wem er kämpfe, wer einen Vorteil davon habe, daß die Angelegenheit nicht zur Erledigung gelangte. Dies schien niemand zu wissen; auch der Pächter wußte es nicht. Hätte Lewin es erfahren können, wie er wußte, weshalb man zur Kasse auf der Eisenbahn nicht anders als in der Reihe Zutritt hat, so würde es ihm nicht beleidigend und ärgerlich erschienen sein, aber bei den Hindernissen, auf welche er in der Angelegenheit stieß, konnte ihm niemand erklären, weshalb sie vorhanden wären.

Lewin hatte sich indessen seit der Zeit seiner Verheiratung vielfach geändert; er war duldsam geworden, und wenn er nicht gleich verstand, wozu Etwas in einer bestimmten Weise eingerichtet sei, sagte er zu sich selbst, daß er, wenn er nicht alles wisse, auch nicht urteilen könne; daß es wahrscheinlich so sein müsse, und bemühte sich alsdann, nicht in Aufregung zu geraten.

Jetzt, bei den Wahlen gegenwärtig und an ihnen teilnehmend, bestrebte er sich ebenfalls, nicht zu urteilen und zu hadern, sondern soviel als möglich die Sache zu ergründen, mit der sich ehrenhafte und wackere Männer, die er achtete, mit solchem Ernst und solcher Hingebung beschäftigten. Seit er geheiratet hatte, eröffneten sich Lewin so viele neue ernste Seiten, die ihm vordem, infolge einer oberflächlichen Stellungnahme dazu, zu unbedeutend erschienen waren, daß er auch in den Wahlen eine ernstere Bedeutung vermutete und suchte.

Sergey Iwanowitsch erklärte ihm den Sinn und die Bedeutung der bei diesen vorgeschlagenen Veränderungen. Der Gouvernementschef, in dessen Händen nach dem Gesetz soviel wichtige sociale Aufgaben lagen – wie das Vormundschaftswesen, das nämliche, an welchem Lewin jetzt laborierte, die ungeheuren Summen des Adelsvermögens, die Gymnasien, das für Mädchen, das für Knaben und ein Kadettenhaus, die Volksbildung nach den neuen Verhältnissen und endlich, das Semstwo – dieser Gouvernementschef Sjnetkoff war ein Herr von altem, adligen Schlag, der ein ungeheures Vermögen besaß, ein guter Mensch, ehrenhaft in seiner Weise war, aber nicht vollkommen die Anforderungen der Neuzeit erfaßte. Er hielt in allem stets die Partei des Adels, wirkte schnurstracks der Verbreitung der Volksbildung entgegen, und verlieh dem Semstwo, welches doch so außerordentlich große Bedeutung haben sollte, den Charakter einer Gesellschaft. Es war daher notwendig, an seinen Platz einen frischen, in der Zeit stehenden, vernünftigen und vollkommen neuen Mann einzustellen und die Sache so anzufassen, daß aus all den Rechten, die dem Adel nicht als Adel, sondern als einem Element des Semstwo verliehen waren, die Vorteile der Selbstverwaltung gezogen würden, soviel ihrer zu ziehen waren. In dem reichen Gouvernement von Kaschin, welches in allem stets den anderen vorangegangen war, hatten sich jetzt so tüchtige Kräfte angesammelt, daß die Sache, wenn sie hier so geleitet wurde, wie es nötig war, als Muster für alle übrigen Gouvernements, ja für ganz Rußland, dienen konnte. Infolgedessen hatte sie denn eine hohe Bedeutung. Als Gouvernementschef an Stelle Sjnetkoffs hatte man entweder Swijashskiy oder noch besser Njewjedowskiy, einen früheren Professor und außerordentlich klugen Mann, den intimen Freund Sergey Iwanowitschs, in Vorschlag gebracht.

Die Sobranje eröffnete der Gouverneur selbst, der den Edelleuten eine Rede hielt, daß sie die Amtspersonen nicht nach dem Ansehen der Person, sondern nach ihren Verdiensten und zum Wohle des Vaterlandes wählen möchten, und daß er hoffe, der hohe Kaschinskische Adel werde, wie bei den früheren Wahlen, seine Pflicht pietätvoll erfüllen, und das hohe Vertrauen des Monarchen rechtfertigen.

Nachdem der Gouverneur diese Rede geendet hatte, verließ er den Saal, und die Adligen folgten ihm geräuschvoll und lebhaft, einige sogar voll Enthusiasmus, und umgaben ihn, während er sich den Pelz anlegte und mit dem Gouvernementsvorsteher freundschaftlich sprach. Lewin, welcher alles erfahren und nichts unbeachtet lassen wollte, stand mit im Haufen und hörte, wie der Gouverneur sagte: »teilt Marja Iwanowna gefälligst mit, mein Weib bedaure sehr, daß sie ins Kloster geht.« Nach ihm suchten sich die Adligen heiter ihre Pelze und begaben sich sämtlich in den Gottesdienst.

In der Kathedrale schwor Lewin, zusammen mit den übrigen die Hand erhebend, und die Worte des Protopopen wiederholend, mit den ernstesten Eiden, alles zu erfüllen, was der Gouverneur von ihnen erhoffe.

Der Gottesdienst übte auf Lewin stets einen Einfluß, und als die Worte gesprochen wurden: »Ich küsse das Kreuz« und er auf die Schar dieser jungen und alten Männer blickte, welche alle das Gleiche wiederholten, fühlte er sich bewegt.

Am zweiten und dritten Tag wurden die Angelegenheiten der Adelsgelder und des Mädchengymnasiums erörtert, die, wie Sergey Iwanowitsch erklärt hatte, keine Wichtigkeit besaßen, und Lewin, von seinen Geschäftsgängen in Anspruch genommen, verfolgte dieselben nicht.

Am vierten Tage erfolgte am Gouverneurstisch die Prüfung der Gouvernementsgelder, und hier gab es zum erstenmale einen Zusammenstoß der neuen Partei mit der alten. Die Kommission, welcher die Prüfung dieser Summe anvertraut war, legte der Sobranje dar, daß die Gelder sämtlich unversehrt seien. Der Gouvernementsvorsteher erhob sich, dankte dem Adel für sein Vertrauen und zerdrückte eine Thräne. Die Adligen begrüßten ihn laut und drückten ihm die Hand. Aber zur selben Zeit sagte ein Adliger aus der Partei Sergey Iwanowitschs, er habe gehört, daß die Kommission die Gelder gar nicht geprüft habe, indem sie die Revision als eine Kränkung des Gouverneurs betrachte. Eines der Kommissionsmitglieder bestätigte dies auch unvorsichtigerweise. Da begann ein ziemlich kleiner, sehr jung aussehender, aber sehr scharfzüngiger Herr zu sprechen, daß es dem Gouvernementsvorsteher wahrscheinlich angenehm sein würde, Rechenschaft über die Summen ablegen zu können, und daß nur das überflüssige Taktgefühl der Kommissionsmitglieder ihn dieser moralischen Genugtuung beraubt habe. Die Kommissionsmitglieder sagten sich hierauf von ihrer Erklärung los und Sergey Iwanowitsch begann ihnen logisch zu beweisen, daß sie entweder anerkennen müßten, die Gelder seien von ihnen für richtig befunden worden, oder nicht, und nahm dieses Dilemma gründlich durch. Sergey Iwanowitsch beantwortete hierauf ein Sprecher der gegnerischen Partei. Dann sprach Swijashskiy und darauf wieder der bissige Herr. Die Debatten zogen sich in die Länge und verliefen ohne Resultat. Lewin war erstaunt, daß man hierüber so lange streiten konnte, namentlich aber darüber, daß Sergey Iwanowitsch, als er ihn frug, ob er vermute, daß die Gelder verloren seien, antwortete:

»O nein! Er ist ein ehrenhafter Mann, aber jene alte Sitte der vaterländischen, familiären Verwaltung der Adelsgeschäfte mußte erschüttert werden.«

Am fünften Tage waren die Wahlen der Kreisvorsteher. Dieser Tag war ziemlich stürmisch bei mehreren Kreisen. Im Kreise Sjelesnewo wurde Swijashskiy einstimmig ohne Ballotage gewählt und bei ihm fand an diesem Tage ein Essen statt.