12.

Als Lewin mit dem frühen Morgenrot erwacht war, versuchte er es, die Gefährten zu wecken. Wasjenka, auf dem Bauche liegend und den einen Fuß noch mit dem Strumpfe von sich streckend, schlief so fest, daß keine Antwort von ihm zu erhalten war.

Oblonskiy weigerte sich im Schlafe, so früh aufzubrechen und selbst Laska, verschlafen und im Kreis zusammengeringelt, am Rande des Schuppens liegend, erhob sich nur ungern und streckte träge, eins nach dem andern, die Hinterbeine von sich.

Nachdem Lewin sich angekleidet hatte, ergriff er das Gewehr, öffnete sachte die kreischende Thür des Schuppens, und trat auf die Gasse hinaus. Die Kutscher schliefen bei den Wagen, die Pferde träumten; nur eines fraß faul seinen Hafer, ihn mit seinem Schnauben auf der Holzkrippe auseinanderblasend.

Auf dem Hofe war alles noch grau.

»So früh schon auf, Herr?« wandte sich, freundlich, wie zu einem alten guten Bekannten, die alte Hausmutter, welche aus dem Bauernhause kam, an ihn.

»Ja, es soll zur Jagd gehen, Mütterchen! Komme ich dort nach dem Sumpfe?«

»Gerade durch die Gärten, unsere Tennen, lieber Mann, und die Hanffelder; dort geht der Weg.«

Behutsam mit den nackten, gebräunten Füßen auftretend, führte die Alte Lewin und öffnete ihm den Verschlag bei der Tenne.

»Geradeaus so und du kommst in den Sumpf; unsere Kinder haben dort Nachtweide gehabt.«

Laska lief lustig voraus auf dem Fußsteig; Lewin folgte ihm mit schnellen, leichten Schritt, fortwährend nach dem Himmel schauend. Er wünschte, die Sonne möchte nicht früher aufgehen, als bis er zum Ried gekommen wäre, doch die Sonne säumte nicht. Der Mond, welcher noch schien, als er herausgetreten war, glänzte jetzt nur noch wie ein Stück Quecksilber. Das Morgenrot, welches man vorher deutlich sehen mußte, war jetzt zu suchen, und vorher unbestimmt gewesene Flecken im fernen Felde waren jetzt klar sichtbar; es waren Kornfeime. Der ohne das Sonnenlicht noch nicht sichtbar gewesene Thau in dem duftenden, hohen Hanf durchnäßte die Füße und die Bluse Lewins bis über den Gürtel. In der klaren Ruhe des Morgens waren die leisesten Geräusche vernehmlich. Eine Biene flog mit dem Sausen der Kugel an Lewins Ohr vorüber. Er schaute auf und sah eine zweite, eine dritte. Sie alle kamen hinter dem Zaune des Bienengartens hervorgeflogen und verschwanden über dem Hanf in der Richtung nach dem Ried. Der Fußsteig führte gerade aus in den Sumpf, und diesen selbst konnte man schon an den Dünsten erkennen, welche sich aus ihm erhoben, hier dichter, dort weniger dicht, so daß die Wiese und Gebüsche wie kleine Inseln in dem Nebel flimmerten. Am Rande der Niederung und des Weges lagen Knaben und Bauern, welche die Nacht beim Vieh gewacht hatten und im Morgenrot alle unter ihren Kaftanen schliefen. Unweit von ihnen gingen drei gefesselte Pferde; eines derselben klirrte in seinen Ketten. Laska ging neben seinem Herrn, nach vorwärts strebend und sich umblickend.

Nachdem Lewin bei den schlafenden Bauern vorübergegangen und an die erste Wasserstelle gelangt war, besichtigte er die Pistons und ließ den Hund los. Eines der Pferde, ein gutgefütterter, brauner Dreijähriger, erschrak, als er den Hund erblickte, hob den Schweif und schnob. Die übrigen Pferde gerieten gleichfalls in Schrecken, und eilten mit den gefesselten Beinen im Wasser plätschernd, und mit den aus dem dichten Lehm gezogenen Hufen einen Lärm verursachend, welcher dem Klopfen ähnlich war, aus dem Sumpfe.

Laska war stehen geblieben, schaute spöttisch auf die Pferde und fragend auf Lewin. Dieser streichelte den Hund, und pfiff, zum Zeichen, daß er nun beginnen könne.

Munter und vorsichtig eilte Laska über das unter ihm schwankende Moor.

Als er in den Sumpf geeilt war, witterte er unter den ihm vertrauten Gerüchen und Sumpfgräsern, des Schlammes und des hier nicht hergehörigen Duftes von Pferdemist, der in diesem ganzen Revier verbreitet war, den Geruch eines Vogels, des Vogels, der ihn mehr als alle anderen Witterungen in Aufregung versetzte.

An manchen Stellen im Moos und bei Sumpfpflanzen war dieser Geruch sehr stark, aber es ließ sich nicht entscheiden, nach welcher Seite hin er zunahm oder schwächer wurde.

Um die Richtung zu finden, war es nötig, weiter unter den Wind zu gehen. Ohne die Bewegung seiner Füße zu fühlen, eilte Laska in scharfem Galopp, doch derart, daß er bei jedem Sprung Halt machen konnte, wenn es nötig werden sollte, nach rechts, hinweg von dem von Osten her wehenden leichten Morgenwind, und wandte sich dann gegen denselben. Mit offener Nase die Luft in sich einziehend, witterte er sogleich, daß nicht nur die Spuren von ihnen, sondern sie selbst da waren, in seiner Nähe, und nicht vereinzelt, sondern viele. Laska verminderte die Schnelligkeit seines Laufes. Sie waren da, aber wo, vermochte er noch nicht zu bestimmen.

Um den Ort nun zu finden, begann er bereits einen Kreislauf, als ihn die Stimme seines Herrn davon abzog. »Laska, dort,« sagte er, ihn auf die andere Seite weisend. Der Hund stand, und frug ihn, ob es nicht besser wäre, zu thun, wie er begonnen hätte! Doch der Herr wiederholte mit strenger Stimme seinen Befehl, auf einen mit Wasser überdeckten Fleck zeigend, wo nichts sein konnte.

Er gehorchte ihm, sich stellend als suche er, um ihm Vergnügen zu machen, durchstreifte den Fleck und kehrte dann zu seinem alten Platz zurück, und sofort witterte er die Vögel wieder. Jetzt, da sein Herr ihn nicht mehr störte, erkannte er, was zu thun sei, und begann, ohne auf seine Füße acht zu haben und ärgerlich über die hohen Erdhügel strauchelnd, oder ins Wasser fallend, aber mit flinken starken Füßen seinen Kreislauf, welcher ihm alles klarmachen mußte.

Der Geruch der Vögel wurde stärker und stärker, er drang immer bestimmter und bestimmter auf ihn ein, und plötzlich war es ihm vollkommen klar, daß einer derselben dort, hinter jenem Erdhügel sei, fünf Schritte vor ihm; und er blieb stehen, blieb unbeweglich mit dem ganzen Körper.

Auf seinen niederen Beinen konnte er vor sich nichts sehen, an der Witterung aber erkannte er, daß der Vogel nicht weiter als fünf Schritt entfernt von ihm saß. Er stand, mehr und mehr des Wildes Nähe fühlend und sich in der Erwartung freuend. Die steife Rute war hochgestreckt und bebte nur ganz am Ende. Sein Maul war leicht geöffnet, die Ohren waren gespitzt. Das eine Ohr hatte sich noch während des Laufs zurückgelegt, und er atmete schwer, aber vorsichtig, und schaute sich noch vorsichtiger nach seinem Herrn um, mehr mit den Augen, als mit dem Kopfe. – Dieser, mit seinem gewohnten Gesicht, aber den ihm stets furchtbaren Augen, kam, über die Erdhaufen strauchelnd, ungewöhnlich gemächlich, wie ihm schien, und doch lief er.

Als Lewin das seltsame Suchen Laskas bemerkt hatte, wie sich dieser ganz zur Erde drückte, mit großen Schritten der Hinterfüße gleichsam rudernd, das Maul leicht geöffnet, erkannte er, daß Laska einer Schnepfe nachspüre und eilte, im Geiste Gott bittend, daß er ihm Erfolg, besonders für den ersten Vogel verleihe, zu dem Hunde.

Als er nahe an diesen herangekommen war, hielt er in seiner Größe vor sich Umschau und erblickte mit den Augen, was sein Hund mit der Nase erkannt hatte. In einem Schlupfwinkel zwischen zwei Erdhügeln, in der Entfernung von einem Faden, war eine Bekassine sichtbar. Den Kopf gewendet, lauschte sie; dann plötzlich die Flügel leise reckend und sie wieder zusammenlegend, schüttelte sie das Hinterteil und verbarg sich hinter einer Ecke.

»Stell, stell!« rief Lewin, Laska in den Rücken stoßend.

»Ich kann ja nicht,« dachte Laska, »wohin soll ich gehen? Von dorther wittere ich die Vögel, aber wenn ich mich vorwärts bewege, werde ich nicht erfahren, wo sie sind. Doch er stieß den Hund mit dem Knie und sprach in aufgeregtem Flüsterton, »stell‘, mein Laska, stell‘!«

»Nun, wenn er es denn will, werde ich es thun, doch ich bin jetzt für nichts mehr verantwortlich,« dachte Laska, und drang in vollem Laufe vorwärts zwischen den Erdhügeln. Er hatte bis jetzt noch nichts gemerkt und nur geschaut und gelauscht, ohne etwas zu erfassen.

Zehn Schritte von seinem vorigen Platze erhob sich mit breitem Schnarchen und dem den Schnepfen eigenen vollen Ton des Flügelschlags eine Schnepfe, stürzte aber sofort auf den Schuß schwer platschend mit der Weißen Brust auf den nassen Moor herab. Eine zweite ließ nicht auf sich warten und stieg hinter Lewin ohne Hund auf.

Als Lewin sich nach ihr umwandte, war sie schon weit entfernt, aber sein Schuß erreichte sie. Nachdem sie zwanzig Schritt geflogen war, stürzte sie, sich steil im Kreise erhebend und überschlagend, wie ein geworfener Ball schwer auf einen trockenen Platz herab.

»So hat das Ding Sinn!« dachte Lewin, die noch warmen, fetten Vögel in seiner Jagdtasche bergend, »nicht so, Laskchen, das wird etwas werden?«

Als Lewin, nachdem er das Gewehr wieder geladen hatte, sich weiter bewegte, war die Sonne, obwohl hinter den Wolken noch nicht sichtbar, bereits aufgegangen. Der Mond, seines Schimmers ganz verlustig gegangen, stand bleich wie eine Wolke am Himmel, und von den Sternen war kein einziger mehr sichtbar. Der Morast sah wie Bernstein aus; die Bläue der Gräser ging über in gelbes Grün. Die kleinen Sumpfvögel tummelten sich auf den von Thau schimmernden, lange Schatten am Bache werfenden Büschen. Ein Habicht war erwacht und saß auf einem Schober, den Kopf von einer Seite auf die andere wendend und grießgrämig auf den Sumpf blickend. Dohlen flogen auf das Feld, und ein barfüßiger Junge trieb schon die Pferde zu dem sich unter seinem Kaftan aufrichtenden, und sich kratzenden Alten. Der Rauch der Schüsse lag weiß wie Milch auf dem Grün des Grases.

Einer der Knaben kam zu Lewin gelaufen.

»Herr, gestern waren da Enten!« rief er ihm zu und folgte ihm aus der Ferne.

Lewin gewährte es doppeltes Vergnügen, vor den Augen des Knaben, welcher seine Freude darüber ausdrückte, noch Schlag auf Schlag drei Bekassinen erlegen zu können.

13.

Die alte Jägererfahrung, daß wenn das erste Wild, der erste Vogel, nicht gefehlt worden ist, das Revier günstig bleibt, erwies sich als richtig.

Müde und hungrig, aber beglückt, kehrte Lewin um zehn Uhr morgens, dreißig Werst hinter sich, mit neunzehn Stück schönen Wildprets und einer Ente, die er an den Gürtel gebunden hatte, da sie schon nicht mehr in die Jagdtasche ging, in sein Quartier zurück. Seine Gefährten hatten schon längst ausgeschlafen, hatten Hunger empfunden und gefrühstückt.

»Halt, halt, ich weiß doch, daß es neunzehn sind,« sagte Lewin, zum zweitenmal die Schnepfen durchzählend, welche jetzt nicht mehr den charakteristischen Anblick zeigten, den sie boten, wie sie aufflogen; zusammengekrümmt und eingeschrumpft, mit dem geronnenen Blute und seitwärts herniederhängenden Köpfchen.

Die Rechnung stimmte und der Neid Stefan Arkadjewitschs kitzelte Lewin. Noch angenehmer aber war ihm, daß er, als er in das Quartier zurückkam, schon einen Boten mit einem Brief von Kity antraf.

»Ich bin gesund und munter. Wenn du Besorgnis um mich hegst, so kannst du wohl noch ruhiger sein, als zuvor. Ich habe jetzt einen neuen Leibhüter, Maria Wlasjewna,« dies war die Wehfrau, eine neue und wichtige Persönlichkeit im Familienleben Lewins. »Sie ist gekommen, um sich nach mir zu erkundigen, und hat mich vollständig gesund befunden; wir haben sie bis zu deiner Rückkunft dabehalten. Alles ist gesund und munter, aber, bitte, übereile dich nicht, und bleibe, wenn die Jagd gut ist, noch einen Tag.«

Diese beiden freudigen Ereignisse, die glückliche Jagd und der Brief seiner Gattin, waren so schwerwiegend, daß zwei kleine Unannehmlichkeiten nach der Jagd von Lewin leicht verwunden wurden. Die eine bestand darin, daß das braune Handpferd, welches gestern offenbar zu viel geleistet hatte, nicht fraß und den Kopf hängen ließ. Der Kutscher sagte, es sei kreuzlahm.

»Ihr habt es gestern übertrieben, Konstantin Dmitritsch,« sagte er; »zehn Werst sind wir gar nicht auf dem Weg gefahren.«

Die andere Unannehmlichkeit, die im ersten Augenblick seine gute Laune verdarb, über die er indessen später viel lachte, bestand darin, daß von dem ganzen Vorrat an Lebensmitteln, der von Kity in solcher Fülle mitgegeben worden war, daß es schien, als könne er in einer Woche nicht aufgezehrt werden, nichts mehr übrig war.

Müde und hungrig von der Jagd heimkehrend, hatte Lewin so lebhaft von den Pasteten geträumt, daß er, dem Quartier näher kommend, schon den Duft und den Geschmack derselben im Munde witterte, wie Laska das Wild, und sogleich Philipp befahl, sie ihm zu bringen. Da aber stellte sich heraus, daß nicht nur keine Pasteten, sondern auch keine jungen Hühner mehr da waren.

»Es gab schon Appetit,« sagte Stefan Arkadjewitsch lachend, auf Wasjenka Wjeslowskiy weisend; »ich leide doch nicht gerade Mangel an Appetit, aber dies war bewundernswert« –

»Nun, aber was jetzt thun!« sagte Lewin, mürrisch auf Wjeslowskiy blickend; »Philipp, so gieb mir Rindfleisch!«

»Das Rindfleisch haben wir gegessen und die Knochen den Hunden gegeben,« antwortete Philipp. Lewin ärgerte sich hierüber so, daß er voll Verdruß sagte: »Hätten sie nur auch nur wenigstens etwas übrig gelassen!« und das Weinen stand ihm nahe.

»So weide denn ein Stück Wildbret aus,« sagte er mit bebender Stimme zu Philipp, es vermeidend, Wasjenka anzublicken, »und lege Nesseln dazu. Laß dir wenigstens etwas Milch für mich geben.«

Bald darauf indessen, nachdem er die Milch getrunken hatte, that es ihm leid, daß er seinen Verdruß einem fremden Menschen gegenüber ausgesprochen hatte, und er begann über seinen hungrigen Zorn zu lachen.

Am Abend machten sie noch einen Streifzug, in welchem auch Wasjenka mehrere Stück erlegte und kehrten nachts heim.

Die Heimfahrt war ebenso vergnügt, wie die Herfahrt. Wjeslowskiy sang bald, bald gedachte er mit Wonne seiner Erlebnisse bei den Bauern, die ihn mit Branntwein bewirtet und ihm gesagt hatten, er solle sich nicht besinnen; bald seiner nächtlichen Abenteuer mit den Nüssen und der Magd und dem Bauer, der ihn gefragt hatte, ob er verheiratet sei, und nachdem er erfahren, es wäre nicht der Fall, ihm gesagt hatte, er solle sich nicht um die Frauen anderer kümmern, sondern möglichst bald selber heiraten. Diese Worte hatten Wjeslowskiy ganz besonders heiter gestimmt.

»Im allgemeinen bin ich außerordentlich zufrieden mit unserer Fahrt. Und Ihr, Lewin?«

»Ich bin auch sehr zufrieden,« antwortete dieser, dem es recht froh zu Mut war, aufrichtig. Er empfand nicht nur keine Feindseligkeit mehr, wie er sie in dem Hause gegen Wasjenka Wjeslowskiy gehegt hatte, sondern, im Gegenteil, die freundschaftlichste Gesinnung für denselben.

14.

Am andern Tag um zehn Uhr klopfte Lewin, der schon die Ökonomie inspiziert hatte, an das Zimmer, in welchem Wasjenka übernachtete.

»Entrez!« rief ihm dieser entgegen. »Ihr entschuldigt mich wohl, ich bin soeben erst mit meinen ablutions fertig,« sagte er lächelnd, im bloßen Hemde vor ihm stehend. »Laßt Euch nicht stören, bitte,« sagte Lewin und setzte sich ans Fenster. »Habt Ihr gut geschlafen?«

»Wie ein Toter. Was für ein Tag doch heute zur Jagd wäre!«

»Trinkt Ihr Thee oder Kaffee?«

»Weder dies, noch das: ich frühstücke. Mir liegt übrigens etwas auf dem Herzen. Haben sich die Damen bereits erhoben? Jetzt läßt sichs vortrefflich einen Rundgang machen. Zeigt mir doch einmal Eure Pferde!«

Nachdem Lewin mit durch den Garten gegangen und im Pferdestall eine Weile gewesen, selbst einige gymnastische Übungen mit ihm am Barren gemacht hatte, wandte er sich mit seinem Gaste dem Hause wieder zu und trat mit ihm in den Salon.

»Wir haben vortrefflich gejagt, und wieviele Eindrücke empfangen,« sagte Wjeslowskiy, zu Kity gehend, welche hinter dem Ssamowar saß. »Wie schade, daß die Damen dieser Vergnügungen beraubt sind.«

»Nun, er muß doch mit der Frau des Hauses sprechen,« dachte Lewin bei sich; es zeigte sich ihm wiederum Etwas in dem Lächeln in jenem triumphierenden Ausdruck, mit dem sich der Besucher an Kity wandte.

Die Fürstin, jenseits des Tisches mit Marja Wlasjewna und Stefan Arkadjewitsch sitzend, rief Lewin zu sich und begann mit ihm ein Gespräch über die Umsiedelung nach Moskau wegen der Niederkunft Kitys und der Anstalt zur Bestimmung eines Quartiers.

Wie für Lewin schon alle Vorbereitungen bei der Hochzeit unangenehm gewesen waren, die mit ihrer Niedrigkeit die Erhabenheit dessen, was sich vollzog, beeinträchtigten, so erschienen ihm die Anstalten für die bevorstehende Niederkunft, deren Zeit gleichsam an den Fingern abgezählt wurde, noch verletzender. Er suchte geflissentlich während dieser ganzen Zeit, die Gespräche über die Art der Windelung des zu erwartenden Kindes zu überhören; er bemühte sich, gewisse geheimnisvolle endlose gestrickte Streifen, gewisse dreieckige Stückchen Leinwand, denen namentlich Dolly eine besondere Wichtigkeit beimaß, und andere Dinge von sich zu weisen und nicht zu sehen.

Das Ereignis der Geburt eines Sohnes – er war überzeugt, es werde ein Sohn sein – das man ihm in Aussicht gestellt hatte, an welches er aber gleichwohl nicht zu glauben vermochte, so ungewöhnlich dünkte es ihm – erschien ihm einerseits als ein so ungeheuerliches und daher unmögliches Glück, andererseits als ein so geheimnisvoller Vorgang – daß diese vermeintliche Kenntnis dessen, was kommen würde, und demnach die Vorbereitung dazu als zu etwas Gewöhnlichem, von Menschen herbeigeführtem, ihm ärgerlich und herabwürdigend vorkam.

Aber die Fürstin verstand seine Empfindungen nicht; sie erklärte seine Unlust, darüber zu denken, zu sprechen, als Leichtsinn und Gleichgültigkeit; und ließ ihn infolge dessen nicht in Ruhe. Sie übertrug es Stefan Arkadjewitsch, eine Wohnung zu besichtigen, und rief nun Lewin zu sich.

»Ich weiß nichts, Fürstin. Thut, was Ihr wollt,« sagte dieser.

»Es muß aber ein Entschluß gefaßt werden, wann Ihr übersiedelt.«

»Ich weiß es wirklich nicht. Ich weiß nur, daß Kinder zu Millionen auch ohne Moskau geboren werden, und ohne Ärzte – wozu das« –

»Aber wenn es so steht« –

»Nun; wie Kity will« –

»Mit Kity läßt sich hierüber nicht reden. Wie; willst du, daß ich sie erschrecken soll? In diesem Frühling ist die Nataly Galizina gestorben durch die Schuld eines Geburtsfehlers.«

»Wie Ihr sagt, werde ich thun,« sagte er finster.

Die Fürstin begann nun mit ihm weiter zu sprechen, aber er hörte sie gar nicht. Obwohl ihn das Gespräch mit der Fürstin verstimmte, wurde er nicht infolge desselben mißlaunig, sondern durch das, was er bei dem Ssamowar sah.

»Nein; es ist unmöglich,« dachte er, bisweilen nach Wasjenka blickend, der zu Kity herniedergebeugt, dieser mit seinem hübschen Lächeln etwas erzählte, und sie anblickte, die errötete und erregt war. Es lag etwas Indecentes in der Stellung Wasjenkas, in seinem Blick, und seinem Lächeln. Lewin sah sogar etwas Indecentes auch in der Haltung und im Blick Kitys. Und wiederum verfinsterte sich die Welt vor seinen Augen. Wiederum, wie gestern, plötzlich, ohne den geringsten Übergang, fühlte er sich von der Höhe seines Glückes, seiner Ruhe und Würde herabgeschleudert, in einen Abgrund der Verzweiflung, Wut und Erniedrigung. Wiederum wurde ihm jedermann und alles widerlich.

»Macht was Ihr wollt, Fürstin,« sagte er nochmals, sich umblickend.

»Es ist gar schwer, alles allein thun zu sollen,« sagte Stefan Arkadjewitsch scherzweise zu ihm, offenbar nicht nur auf das Gespräch mit der Fürstin deutend, sondern auch auf die Ursache der Aufregung Lewins, welche er bemerkt hatte. »Wie kommst du heute so spät, Dolly!«

Alles erhob sich, um Darja Aleksandrowna zu begrüßen. Wasjenka stand nur für eine Minute auf, und verbeugte sich kaum, mit dem den neumodischen jungen Herrn eigenem Mangel an Höflichkeit gegen die Damen, worauf er seine Unterhaltung wieder fortsetzte, über irgend etwas in Gelächter ausbrechend.

»Mich hat Mascha gepeinigt. Sie schlief schlecht und ist heute entsetzlich launisch gewesen,« sagte Dolly.

Das Gespräch, welches Wasjenka und Kity pflogen, drehte sich wiederum um das gestrige Thema, um Anna und die Frage, ob die Liebe höher stehen könne als die Gesetze der Welt.

Kity war das Gespräch unangenehm geworden; es regte sie schon durch seinen Inhalt auf, sowie durch den Ton, in welchem es geführt wurde, namentlich aber dadurch, daß sie schon inne geworden war, wie es auf ihren Mann wirke. Sie war indessen zu naiv und zu unschuldig, um es zu verstehen, das Gespräch abzubrechen, etwa schon um deswillen, jenes äußere Behagen, welches ihr die sichtliche Aufmerksamkeit dieses jungen Mannes verursachte, zu verbergen.

Sie wollte das Gespräch abbrechen, wußte aber nicht, was sie da zu thun habe. Was sie auch alles thun mochte, sie wußte, es wurde von ihrem Gatten bemerkt, und alles werde auch nach der üblen Seite ausgelegt werden.

Und in der That, als sie Dolly frug, was mit Mascha sei, und Wasjenka wartete, bis dieses für ihn langweilige Gespräch vorüber sein werde, und er sich einstweilen damit beschäftigte, Dolly gleichgültig anzuschauen, so erschien Lewin diese Frage unnatürlich und anwidernd in ihrer Verschmitztheit.

»Nun; werden wir denn heute in die Pilze gehen?« frug Dolly.

»Laß uns gehen, bitte; auch ich komme mit!« sagte Kity und errötete. Sie wollte Wasjenka aus Höflichkeit fragen, ob er mitkäme, frug aber nicht. »Wohin willst du, Konstantin?« frug sie mit schuldbewußtem Ausdruck ihren Gatten, als dieser mit entschlossenem Schritt an ihr vorüberging. Dieser schuldbewußte Ausdruck bestätigte alle seine Zweifel.

»In meiner Abwesenheit ist ein Maschinist angekommen, ich habe ihn noch nicht gesehen,« sagte er, ohne sie anzublicken. Er ging hinab, hatte aber das Kabinett noch nicht verlassen, als er die wohlbekannten Schritte seiner Frau vernahm, die ihm unvorsichtig schnell nachkam. »Was willst du?« sagte er lakonisch zu ihr. »Ich bin beschäftigt.«

»Entschuldigt,« wandte sie sich an den deutschen Maschinisten, »ich habe einige Worte mit meinem Manne zu sprechen.«

Der Deutsche wollte gehen, doch Lewin sagte zu ihm:

»Laßt Euch nicht stören.«

»Den Dreiuhrzug?« frug der Deutsche, »sollte man sich nicht verspätigen können?«

Lewin antwortete ihm nicht, sondern ging mit seiner Frau hinaus.

»Nun, was habt Ihr nur zu sagen?« sprach er auf französisch.

Er blickte nicht in ihr Gesicht, wollte nicht sehen, daß sie, in ihrem Gesundheitszustand im ganzen Gesicht bebte und einen kläglichen beschämten Ausdruck zeigte.

»Ich – ich will sagen, daß man so nicht leben kann, daß das eine Marter ist,« fuhr sie fort.

»Es sind Leute dort im Buffett,« sprach er zornig, »macht keine Scene!«

»Nun; gehen wir hierher!«

Sie standen in einem Zwischenzimmer. Kity wollte in das Nebenzimmer treten, doch dort unterrichtete die Engländerin Tanja.

»So wollen wir in den Garten gehen.«

Im Garten stießen sie auf einen Mann, welcher den Weg säuberte. Aber ohne daran zu denken, daß der Mann ihr verweintes Gesicht sehe und Lewins erregte Züge, ohne daran zu denken, daß sie den Anblick von Menschen boten, welche vor einem Unglück fliehen, gingen sie mit schnellen Schritten vorwärts im Gefühl, daß sie sich aussprechen und gegenseitig überzeugen müßten; von einer und derselben Qual eingenommen oder befreit werden müßten, die sie beide empfanden.

»So läßt sich nicht leben! Das ist eine Qual! Ich leide, du leidest! Und weshalb?« sagte sie, als beide endlich zu einer abgelegenen Bank in der Ecke einer Lindenallee gekommen waren.

»Sage mir nur das Eine: War in seinem Tone etwas Unehrerbietiges, Unlauteres, Erniedrigendes?« sprach er, vor sie wieder in der nämlichen Stellung tretend, die Fäuste auf der Brust, wie er in jener Nacht vor ihr gestanden.

»Es lag etwas darin,« sagte sie mit zitternder Stimme. »Aber, mein Konstantin, siehst du denn nicht, daß ich gar nicht schuldig bin? Seit dem Morgen schon wollte ich einen Ton annehmen – aber diese Menschen – warum ist er nur gekommen? Wie glücklich waren wir!« sprach sie, tiefatmend vor Schluchzen, welches ihren sich allmählich füllenden Körper hob.

Der Gärtner sah mit Verwunderung – trotzdem, daß sie nichts verfolgte und sie nichts zu fliehen hatten, daß auch auf der Bank nichts besonderes Erfreuliches zu finden sein konnte – daß sie an ihm vorüber nach dem Hause zurückkehrten, mit beruhigten, freudeschimmernden Gesichtern.

5.

»Barbara Andrejewna, als ich noch sehr jung war, hatte ich mir ein Ideal vom Weib gebildet, wie ich es einmal lieben wollte und welches mein Weib nennen zu können, ich glücklich sein würde. Ich habe nun ein langes Leben gelebt und begegne jetzt zum erstenmal dem, was ich suche, in Euch. Ich liebe Euch und trage Euch meine Hand an.« –

Sergey Iwanowitsch hatte dies zu sich selbst gesagt, während er noch zehn Schritte von Warenka entfernt war. Auf den Knieen liegend, und mit den Händen einen Pilz vor Grischa schützend, rief sie die kleine Mascha.

»Hierher, hierher; ihr Kleinen! Hier sind viel!« rief sie mit ihrer milden Bruststimme.

Als sie den Sergey Iwanowitsch herankommen sah, erhob sie sich nicht, veränderte auch ihre Stellung nicht; alles aber sagte ihm, daß sie sein Kommen fühle und sich dessen freue.

»Habt Ihr denn etwas gefunden?« frug sie unter ihrem weißen Tuch hervor, ihm das schöne, ruhig lächelnde Antlitz zukehrend.

»Nicht einen einzigen,« sagte Sergey Iwanowitsch, »und Ihr?«

Sie antwortete ihm nicht, mit den Kindern beschäftigt, die sie umringten.

»Noch diesen, neben dem Zweige da,« wies sie der kleinen Mascha einen kleinen eßbaren Erdschwamm, dessen elastischer roter Hut quer von einem trockenen Grase durchschnitten war, unter dem er sich hervorgemacht hatte.

Warenka erhob sich, als Mascha den Pilz, den sie in zwei Hälften zerbrochen hatte, aufgenommen hatte.

»Dies ruft mir meine eigene Kindheit ins Gedächtnis,« fügte sie hinzu, an der Seite Sergey Iwanowitschs von den Kindern hinwegschreitend.

Sie gingen schweigend einige Schritte. Warenka sah, daß er sprechen wollte; sie vermutete auch, was, und erstarrte fast in freudiger Erregung und Angst. Beide waren so weit hinweg geschritten, daß sie niemand mehr vernehmen konnte, aber noch begann er nicht zu sprechen. Für Warenka wäre es besser gewesen, zu schweigen. Nach einigem Stillschweigen war es leichter, das zu sagen, was sie sagen wollte, als nach den Worten über die Pilze, aber gegen ihren Willen, gleichsam wider Erwarten, sprach sie:

»So habt Ihr also nichts gefunden? Inmitten des Waldes giebt es allerdings stets weniger.«

Sergey Iwanowitsch seufzte und erwiderte nichts. Es war ihm verdrießlich, daß sie wieder von den Pilzen anfing. Hatte er sie doch auf ihre ersten Worte, die sie über ihre Kindheit gesagt hatte, führen wollen. Gleichsam wider seinen Willen, äußerte er nun, nachdem er einige Zeit geschwiegen, eine Bemerkung zu ihren letzten Worten.

»Ich habe nur gehört, daß die weißen vorzugsweise am Rande stehen, obwohl ich den weißen nicht zu unterscheiden verstehe.«

Wieder vergingen einige Minuten; sie gingen noch weiter von den Kindern hinweg und waren jetzt vollständig allein. Das Herz Warenkas pochte so stark, daß sie seine Schläge vernahm, und empfand, daß sie errötete, blaß wurde und wieder errötete.

Die Frau eines Mannes wie Koznyscheff zu sein, nach ihrer Stellung bei Madame Stahl, erschien ihr als Gipfel des Glücks. Dann aber war sie auch fest überzeugt, daß sie ihn liebe; und dies sollte nun bald entschieden werden. Ihr war furchtbar zu Mut; furchtbar, daß er sprechen würde, furchtbar, daß er nicht sprach.

Jetzt oder nie mußte man sich erklären; und dies empfand auch Sergey Iwanowitsch. Alles, im Blick, in der Röte ihres Gesichts, in den niedergeschlagenen Augen Warenkas, zeigte ihm ihre schmerzliche Erwartung. Sergey Iwanowitsch sah es und empfand Mitleid mit ihr. Er fühlte sogar, daß es sie bedeutend verletzt haben würde, wenn er jetzt nicht sprach. Er wiederholte nun schnell im Geiste die Gründe, die für seinen Entschluß sprachen, er wiederholte die Worte, mit welchen er seinen Antrag ausdrücken wollte; anstatt dieser Worte aber frug er infolge einer ihn unerwartet überkommenden Idee plötzlich:

»Welcher Unterschied ist denn zwischen einem weißen Pilz und einem Birkenschwamm?«

Die Lippen Warenkas bebten vor Erregung, als sie antwortete: »In den Köpfen ist fast gar kein Unterschied, nur im Stengel.«

Und kaum waren diese Worte gesagt, so hatte er wie sie erkannt, daß alles vorüber war; daß das, was hätte gesagt werden müssen, nun nicht gesagt werden würde, und die gemeinsame Erregung, die auf den höchsten Grad gestiegen war, begann sich zu legten.

»Der Birkenpilz – sein Stengel – erinnert an einen seit zwei Tagen nicht rasierten Bart eines Brünetten,« sagte Sergey Iwanowitsch, schon ruhig geworden.

»Ja, es ist wahr,« antwortete Warenka lächelnd; unwillkürlich hatte sich die Richtung ihrer Promenade verändert. Sie begannen sich den Kindern wieder zu nähern. Warenka war es schmerzlich zu Mute, und sie empfand Scham, zugleich aber auch verspürte sie ein Gefühl der Erleichterung.

Als Sergey Iwanowitsch heimgekehrt war und alle seine Beweisgründe wiederum durchmusterte, fand er, daß er falsch spekuliert hatte. Er konnte an dem Gedächtnis Marias nicht Verrat üben.

»Stiller, Kinder, seid stiller!« rief Lewin fast zornig den Kindern zu, vor seinem Weibe stehend, um es zu schützen, als der Haufe der Kinder mit Freudengeschrei ihnen entgegenflog.

Nach den Kindern war auch Sergey Iwanowitsch mit Warenka aus dem Walde gekommen. Kity brauchte Warenka nicht zu fragen; an dem ruhigen und etwas kühlen Ausdruck auf beider Gesichtern erkannte sie, daß sich ihre Pläne nicht verwirklicht hatten.

»Nun, wie steht es?« frug ihr Gatte sie, als sie wieder nach Hause zurückgekehrt waren.

»Er nimmt sie nicht,« sagte Kity, in Lächeln und Sprachweise an den Vater gemahnend, was Lewin häufig mit Vergnügen an ihr wahrnahm.

»Warum sollte er nicht?« –

»So steht es,« sprach sie, die Hand des Gatten ergreifend, sie an ihren Mund führend und mit geschlossenen Lippen berührend; »so wie man die Hand des Priesters küßt.«

»Wer aber mag denn wohl nicht?« sagte er lachend.

»Beide. – Sie müßten so hier« –

»Es kommen Bauern vorüber« –

»Sie haben nichts gesehen.« –

6.

Während die Kinder den Thee erhielten, saßen die Erwachsenen auf dem Balkon und unterhielten sich, als sei nichts vorgefallen, obwohl doch alle und insbesondere Sergey Iwanowitsch und Warenka, recht gut wußten, daß sich ein wenn auch negativer, so doch sehr wichtiger Umstand ereignet hatte.

Sie empfanden beide das nämliche Gefühl, ähnlich dem, welches wohl ein Schüler haben mag, der nach einem mißglückten Examen in der alten Klasse zurückgeblieben, oder für immer aus der Anstalt ausgewiesen worden ist. Alle Anwesenden, gleichfalls empfindend, daß etwas geschehen sei, sprachen lebhaft von Nebendingen.

Lewin und Kity fühlten sich besonders glücklich und liebeerfüllt an diesem Abend. Daß sie glücklich waren in ihrer Liebe, das schloß freilich einen unangenehmen Wink für diejenigen in sich, welche es ebenfalls sein wollten und nicht konnten – und hieraus machten sie sich ein Gewissen.

»Denkt an mein Wort, Alexandre wird nicht kommen,« sagte die alte Fürstin.

Am heutigen Abend erwartete man Stefan Arkadjewitsch von der Bahn, und auch der alte Fürst hatte geschrieben, daß er vielleicht gleichfalls kommen werde.

»Ich weiß, woher es kommt,« fuhr die Fürstin fort, »er sagt, man müsse junge Leute in der ersten Zeit allein lassen.«

»So hat Papa auch uns gelassen. Wir haben ihn noch nicht wiedergesehen,« sagte Kity, »und was wären wir denn für junge Eheleute? Wir sind doch schon so alt!«

»Nun, wenn er nicht kommt, muß ich euch verlassen, Kinder,« sprach die Fürstin, bekümmert seufzend.

»Was ist dir, Mama?« fielen ihr beide Töchter ins Wort. »Bedenke doch, sein Befinden – wir sind doch jetzt« –

– Die Stimme der alten Fürstin begann plötzlich und unverhofft zu schwanken. Die Töchter verstummten und blickten sich gegenseitig an. » Maman findet stets eine rührende Seite für sich,« sagten sie mit diesem Blick. Sie wußten nicht, daß, so wohl sich auch die Fürstin bei ihrer Tochter befand, so notwendig sie sich für diese auch hier fühlte, es ihr gleichwohl qualvoll traurig zu Mute war, ihr, wie ihrem Gatten, seit der Zeit, seit welcher sie ihre letzte geliebte Tochter verheiratet hatten, und das elterliche Heim verödet war.

»Was ist Euch, Agathe Michailowna?« frug Kity plötzlich die mit geheimnisvoller Miene und bedeutungsvollem Gesicht stehen gebliebene Agathe Michailowna.

»Die Bestimmung für das Abendessen.«

»Schön so,« sagte Dolly, »gehe du, um deine Verfügungen zu treffen, ich will mit Grischa dessen Lektion wiederholen; er hat ohnehin heute noch nichts gethan.«

»Laß mich doch diese Lektion geben! Nein, Dolly, ich will gehen« – sagte Lewin aufspringend.

Grischa, welcher bereits das Gymnasium besuchte, muhte im Sommer seine Lektionen repetieren. Darja Aleksandrowna, welche schon in Moskau mit ihrem Sohne zugleich die lateinische Sprache gelernt hatte, hatte es sich, nachdem sie zu Lewin gekommen war, zum Gesetz gemacht, mit ersterem die schwierigsten Lektionen im Lateinischen und der Arithmetik, wenigstens einmal täglich, zu repetieren.

Lewin hatte sich erboten, sie abzulösen, aber die Mutter, welche einmal den Unterricht Lewins mit angehört, und bemerkt hatte, daß derselbe nicht so erteilt würde, wie der Lehrer in Moskau repetierte, so erklärte sie ihm, verlegen und sich bemühend, Lewin nicht zu verletzen, bestimmt, daß man nach dem Buche so vorgehen müsse, wie der Lehrer, und daß sie dies am liebsten wohl selbst wieder thun möchte.

Lewin ereiferte sich über Stefan Arkadjewitsch, weit dieser in seiner Sorglosigkeit sich nicht selbst mit der Überwachung des Unterrichts befaßte, sondern die Mutter, welche doch nichts davon verstand, und ferner auch über die Lehrer, weil sie die Kinder so schlecht unterrichteten; seiner Schwägerin aber gab er das Versprechen, daß er den Unterricht so geben wolle, wie sie es wünschte. Er ging daher mit Grischa nicht mehr nach seiner Methode weiter, sondern nach dem Buche, und daher mit Widerwillen und häufig die Lehrzeit vergessend.

So war es auch heute.

»Nein, ich gehe, Dolly, bleib du sitzen,« sagte er; »wir werden schon alles machen, wie es der Ordnung gemäß ist, nach dem Buche. Sobald Stefan gekommen ist, wollen wir zur Jagd gehen; wir werden uns dann schon die Zeit vertreiben.«

Lewin begab sich zu Grischa.

Das Nämliche sagte Warenka zu Kity. Warenka hatte es verstanden, sich in dem glücklichen, wohlbestellten Haus der Lewin nützlich zu machen.

»Ich will das Abendessen bestellen, Ihr aber bleibt nur sitzen,« sagte sie und erhob sich, um zu Agathe Michailowna zu gehen.

»Man hat wohl keine jungen Hühner gefunden. Denn« – sagte Kity.

»Ich werde schon mit Agathe Michailowna überlegen« – und Warenka verschwand mit dieser.

»Welch ein liebes Mädchen,« sagte die Fürstin.

»Nicht lieb, Maman, reizend, wie es keines weiter giebt.«

»So erwartet Ihr also heute Stefan Arkadjewitsch?« sprach Sergey Iwanowitsch, der augenscheinlich das Gespräch über Warenka nicht fortzusetzen wünschte. »Es dürfte schwer sein, zwei Schwager zu finden, die einander weniger ähnlich wären,« sagte er mit seinem Lächeln. »Der Eine beweglich, nur in der Gesellschaft lebend wie ein Fisch im Wasser; der Andere, unser Konstantin, lebhaft, schnell, empfänglich für alles; aber sobald er in der Gesellschaft ist, erstirbt er, oder schlägt sich sinnlos wie ein Fisch auf dem Lande.«

»Ja, er ist sehr unüberlegt,« sagte die Fürstin, sich zu Sergey Iwanowitsch wendend, »ich wollte Euch eben bitten, ihm zu sagen, daß sie,« sie wies auf Kity, »unmöglich hier bleiben kann, sondern jedenfalls nach Moskau kommen muß. Er sagt, er würde einen Arzt verschreiben« –

» Maman, er thut alles und ist mit allem einverstanden,« antwortete Kity, voll Verdruß über die Mutter, weil sie in dieser Angelegenheit Sergey Iwanowitsch zum Richter berief.

Mitten in ihrer Unterhaltung wurde in der Allee das Schnauben von Pferden und das Geräusch von Rädern auf dem Schotter vernehmbar.

Dolly hatte sich noch nicht erhoben, um ihrem Mann entgegenzugehen, als Lewin aus dem Fenster des Zimmers, in welchem Grischa lernte, hinabsprang und Grischa heruntersetzte.

»Es ist Stefan!« rief Lewin unter dem Balkon hinauf, »wir sind fertig Dolly; fürchte nichts!« fügte er hinzu, und begann wie ein Knabe, der Equipage entgegenzurennen.

»Is, ea id, eius eius eius,« schrie Grischa, auf der Allee hinspringend.

»Und noch jemand ist mit! Wahrscheinlich der Papa!« rief Lewin, am Eingang der Allee stehen bleibend. »Kity geh nicht zu der steilen Treppe herunter!«

Lewin irrte indes, wenn er den, der noch im Wagen saß, für den alten Fürsten gehalten hatte. Als er dem Wagen näher kam, erkannte er neben Stefan Arkadjewitsch nicht den Fürsten, sondern einen rot aussehenden, wohlbeleibten, jungen Mann in schottischer Mütze mit langen Bandstreifen hinten hinunter.

Dies war Wasjenka Wjeslowskiy, ein Vetter im dritten Gliede von den Schtscherbazkiy, und ein in Petersburg und Moskau glänzender junger Mann, »ein ausgezeichneter Mensch und leidenschaftlicher Jäger«, wie ihn Stefan Arkadjewitsch vorstellte.

Durchaus nicht verlegen über die Enttäuschung, die er hervorrief, indem er mit seiner Person die des alten Fürsten vertrat, begrüßte Wjeslowskiy Lewin heiter, an die alte Bekanntschaft erinnernd, und Grischa in den Wagen hebend, setzte er denselben an des Pointeurs Stelle, den Stefan Arkadjewitsch mitgebracht hatte, weiterfahrend.

Lewin setzte sich nicht mit in den Wagen, sondern ging hinterdrein. Er war verdrießlich, daß der alte Fürst nicht mitgekommen war, den er umsomehr liebte, je mehr er ihn kennen lernte, sowie darüber, daß dieser Wasjenka Wjeslowskiy, ein vollständig fremder und überflüssiger Mensch erschienen war. Derselbe kam ihm um so fremder und überflüssiger vor, als er, indem Lewin zur Freitreppe schritt, auf welcher sich der ganze lebhafte Trupp der Erwachsenen und Kinder versammelt hatte, bemerkte, wie Wasjenka Wjeslowskiy mit besonderer Zärtlichkeit und galanter Miene Kity die Hand küßte.

»Aha, wir sind ja Cousins mit Eurer Frau und alte Bekannte,« sagte Wasjenka Wjeslowskiy, die Hand Lewins wiederholt außerordentlich stark drückend.

»Nun, giebt es viel Wild hier?« wandte sich Stefan Arkadjewitsch an Lewin, der kaum mit der Begrüßung eines jeden fertig wurde. »Ich und der da, wir haben die ernstesten Absichten. Nun maman, seit dem letzten Male nicht wieder in Moskau gewesen! Tanja, für dich habe ich Etwas! Hole dir’s, im Wagen, hinten,« so sprach er nach allen Seiten. »Wie du dich erholt hast, Dollchen,« sagte er zu seiner Frau, ihr nochmals die Hand küssend, indem er dieselbe in der seinen hielt und sie von oben mit der andern sanft pätschelte.

Lewin, eine Minute zuvor noch in der heitersten Stimmung gewesen, blickte jetzt finster auf alle; es gefiel ihm jetzt nichts mehr.

»Wen mag er gestern mit diesen Lippen da geküßt haben?« dachte er, die Zärtlichkeit Stefan Arkadjewitschs für seine Gattin sehend. Er schaute Dolly an, und auch sie gefiel ihm nicht. »Sie glaubt doch nicht an seine Liebe. Weshalb ist sie denn so erfreut? – Widerlich,« dachte Lewin.

Er schaute auf die Fürstin, die einen Augenblick zuvor noch so liebenswürdig mit ihm gewesen war, und es gefiel ihm die Art und Weise nicht, mit welcher sie diesen Wasjenka mit seinen Bändern bewillkommte, als lüde sie ihn in ihr eigenes Haus.

Selbst Sergey Iwanowitsch, der gleichfalls auf die Freitreppe herausgetreten war, erschien ihm unangenehm mit jener geheuchelten Freundlichkeit, mit der er Stefan Arkadjewitsch begegnete, obwohl doch Lewin wußte, daß sein Bruder Oblonskiy weder liebte noch achtete.

Selbst Warenka – selbst diese war ihm zuwider, dadurch, daß sie sich mit ihrem Ausdruck sainte nitouche mit diesem Herrn da bekannt gemacht hatte, obwohl sie doch nur daran dachte, wie sie wohl einen Mann bekommen könne. Am allerverhaßtesten aber war ihm Kity, da sie sich dem nämlichen Tone der Heiterkeit hingab, mit welchem dieser Herr, wie an einem Festtag, für sich und alle, seine Ankunft auf dem Dorfe betrachtete, und sie war ihm ganz besonders unangenehm durch das eigenartige Lächeln, mit welchem sie dem seinigen antwortete.

In geräuschvoller Unterhaltung gingen alle in das Haus; man hatte sich aber kaum niedergelassen, als Lewin sich wandte und hinausging.

Kity sah, daß in ihrem Manne etwas vor sich ging. Sie wollte eine Minute erhaschen, um mit ihm allein zu sprechen, er aber beeilte sich, vor ihr fortzukommen, indem er sagte, er müsse nach dem Comptoir.

Seit langem waren ihm die Wirtschaftsangelegenheiten nicht so wichtig erschienen, als jetzt. »Sie haben hier immer Feiertag,« dachte er, »hier aber giebt es Arbeiten, die nicht müßiger Natur sind, welche nicht warten, und ohne die man nicht existieren kann.«

4.

»Er ist da! – Da ist er! Welcher ist es? Ist er nicht ziemlich jung? Und sie – ja – mehr tot als lebendig!« – klang es in der Menge durcheinander, als Lewin, nachdem er seine Braut an der Einfahrt begrüßt hatte, mit dieser zusammen die Kirche betrat.

Stefan Arkadjewitsch hatte seiner Gattin die Ursache der Verzögerung mitgeteilt, und die Trauzeugen zischelten nun lächelnd untereinander. Lewin sah und hörte nichts, er musterte nur unverwandten Blickes seine Braut.

Alle sagten, daß sie in den letzten Tagen sehr abgenommen hätte, und im Kranze bei weitem nicht so gut aussah, wie gewöhnlich, aber Lewin fand dies nicht. Er schaute ihre hohe Frisur mit dem langen weißen Schleier und den weißen Blüten an, den hochstehenden gefalteten Kragen, der eigenartig jungfräulich von den Seiten und von vorn ihren schlanken Hals bedeckte und auf die überraschend enge Taille, und ihm schien, daß sie so schöner sei, als sie je gewesen, nicht deshalb, weil diese Blüten, dieser Schleier, dieses aus Paris verschriebene Kleid zu ihrer Schönheit noch etwas hätte hinzufügen können, sondern, weil trotz der künstlichen Pracht der Kleidung der Ausdruck ihres guten Gesichtchens, ihres Blickes, ihrer Lippen, immer der nämliche bei ihr geblieben war mit seiner unschuldigen Treuherzigkeit.

»Ich dachte schon, du wolltest mir davonlaufen,« sagte sie lächelnd zu ihm.

»Es war so thöricht, was sich mit mir zugetragen hat, daß ich es gar nicht erzählen kann,« antwortete er, errötend, mußte sich aber jetzt zu seinem an ihn herantretenden Bruder Sergey Iwanowitsch wenden.

»Nicht übel, die Geschichte mit deinem Hemd,« sagte Sergey Iwanowitsch, lächelnd den Kopf schüttelnd.

»Ja, ja,« versetzte Lewin, ohne zu verstehen, wovon man mit ihm sprach.

»Nun, mein Konstantin, jetzt müssen wir,« sagte Stefan Arkadjewitsch mit scheinbar erschrecktem Gesicht, »eine wichtige Frage entscheiden. Du nur bist jetzt in der Verfassung, die ganze Bedeutung derselben zu ermessen. Man frägt mich, ob heruntergebrannte Kerzen angesteckt werden sollen, oder nicht heruntergebrannte? Der Unterschied macht zehn Rubel aus,« fügte er hinzu, die Lippen zu einem Lächeln kräuselnd, »ich habe entschieden, fürchte jedoch, daß du mir deine Einwilligung nicht geben wirst.«

Lewin erkannte, daß dies ein Scherz sein sollte, aber er vermochte nicht zu lächeln.

»Also wie? Nicht gebrannte oder heruntergebrannte? Das ist die Frage.«

»Nun, nicht gebrannte.«

»Nun, freut mich sehr. Die Frage ist entschieden,« sagte Stefan Arkadjewitsch lächelnd. »Aber wie thöricht doch die Menschen in einer solchen Situation werden,« fuhr er zu Tschirikoff gewendet fort, nachdem Lewin, ihn zerstreut anblickend, wieder zu seiner Braut getreten war.

»Paß auf, Kity, du mußt also zuerst auf den Teppich treten,« sagte die Gräfin Nordstone herzukommend. »Wie stattlich Ihr ausseht,« wandte sie sich an Lewin.

»Dir ist doch nicht ängstlich?« frug Marja Dmitrjewna, ihre alte Tante.

»Ist dir nicht wohl? Du bist blaß. Halt, beuge dich ein wenig,« sagte die Lwowa, die Schwester Kitys, ihre vollen schönen Arme krümmend und lächelnd ihr die Blüten auf dem Haupte ordnend.

Auch Dolly kam; sie wollte etwas sagen, konnte aber nichts herausbringen und begann zu weinen und unnatürlich zu lachen.

Kity schaute alle mit den nämlichen abwesenden Blicken an, wie Lewin. Mittlerweile hatten die Kirchendiener ihren priesterlichen Schmuck angelegt und der Geistliche mit dem Diakonus traten zu dem Altar, welcher in der Vorhalle der Kirche stand. Der Geistliche wandte sich an Lewin und sagte zu diesem einige Worte. Lewin vernahm nicht, was der Priester gesagt hatte.

»Nehmt Eure Braut an der Hand und führt sie,« sagte der Brautherr zu ihm.

Lange Zeit konnte Lewin nicht verstehen, was man von ihm wollte. Man besserte lange an ihm herum und wollte schon die Hoffnung aufgeben – weil er stets nicht mit der richtigen Hand griff, oder den richtigen Arm nahm – als er endlich erkannte, daß er mit der rechten Hand ohne seine eigene Stellung zu verändern, sie ebenfalls bei der rechten Hand zu nehmen hatte. Nachdem er endlich die Braut in der gehörigen Weise bei der Hand genommen hatte, ging der Priester einige Schritte vor und blieb auf der Altarerhöhung stehen. Die Schar der Verwandten und Bekannten in summendem Gespräch und unter dem Rauschen der Schleppen folgte ihnen; jemand beugte sich nieder und ordnete die Schleppe der Braut. In der Kirche wurde es so still, daß man das Fallen der Wachstropfen vernahm.

Der alte Priester im Scheitelkäppchen mit seinen schimmernden, silbergrauen Haarlocken, die hinter den Ohren nach beiden Seiten geteilt waren, streckte die greisen kleinen Hände aus dem schweren silbernen und mit einem goldenen Kreuz auf dem Rücken geschmückten Gewand hervor und blätterte noch ein wenig auf dem Altar.

Stefan Arkadjewitsch begab sich behutsam zu ihm hin und flüsterte ihm, nach Lewin hinblinzelnd etwas zu, worauf er wieder zurückkehrte.

Der Geistliche zündete zwei mit Blumen geschmückte Kerzen an, indem er sie mit der linken Hand schräg hielt, sodaß das Wachs langsam von ihnen herniedertropfte und wandte sich zu den Neuvermählten. Der Geistliche war der nämliche, bei welchem Lewin gebeichtet hatte. Er schaute mit mattem, traurigen Blick auf Bräutigam und Braut, seufzte und segnete mit der Rechten, die er unter dem Priestergewand hervorstreckte, den Bräutigam, worauf er gleichfalls, aber mit einem Anschein hütender Zärtlichkeit, die Finger auf das geneigte Haupt Kitys legte. Er reichte hierauf beiden die Kerzen und verließ sie langsam, das Räucherfaß nehmend.

»Ist es denn wahr?« dachte Lewin und blickte auf seine Braut. Wie von oben herab erschien ihm ihr Profil, und an einer kaum bemerkbaren Bewegung ihrer Lippen und Wimpern erkannte er, daß sie seinen Blick empfunden hatte. Sie schaute nicht auf, aber der hohe Rüschenkragen bewegte sich leise, der bis zu ihrem rosigen kleinen Ohr heraufging. Er sah, daß ein Seufzer ihre Brust belastete und die kleine Hand zitterte, welche in dem hohen Handschuh das Licht hielt. All jener eitle Kram mit dem Hemd, der Verspätung, die Auseinandersetzung mit den Bekannten und Verwandten, deren Mißvergnügen, seine komische Situation – alles das war plötzlich verschwunden und es wurde ihm freudig und bange zugleich zu Mut.

Der schöne stattliche Protodiakonus im silbern-schimmernden Chorhemd und den nach seitwärts in gewundenen Locken gekämmten Haaren trat schnell vor und blieb, in der üblichen Geste mit zwei Fingern die Stola hebend, dem Geistlichen gegenüber stehen.

»Segne, Herr!« ertönten langsam einer nach dem anderen, feierliche Klänge, die Luft in Schwingungen versetzend.

»Gelobt sei unser Gott immerdar jetzt und fürderhin in alle Ewigkeit,« antwortete sanft und in singendem Tone der alte Geistliche, noch immer auf dem Altar nach etwas suchend. Die ganze Kirche erfüllend von den Fenstern an bis zu den Kreuzbögen, erhob sich, harmonisch und getragen, ein voller Akkord vom unsichtbaren Chor aus, wuchs an, stand einen Augenblick und erstarb dann.

Man betete, wie üblich, für den himmlischen Frieden und das Seelenheil, für die Synode und für Gott, es wurde gebetet auch für den Knecht Gottes, Konstantin, und Jekaterina, die sich jetzt verlobten.

»Daß ihnen sende hernieder eine völlige friedsame Liebe, daß ihnen helfe Gott, das bitten wir,« atmete gleichsam die ganze Kirche von der Stimme des Protodiakonus.

Lewin vernahm die Worte und sie machten ihn betroffen. »Wie konnte man vermuten, daß Hilfe not that, gerade Hilfe?« dachte er, sich alle seine kürzlichen Befürchtungen und Zweifel wieder zurückrufend. »Was weiß ich! Was vermag ich in dieser schweren Aufgabe ohne Hilfe? Allerdings, Hilfe thut mir jetzt not.«

Als der Diakonus die Litanei beendet hatte, wandte sich der Priester mit seinem Buche zu den Verlobten: »Ewiger Gott, der du das Getrennte vereinet hast,« las er mit weicher, singender Stimme, »der das Band der Liebe unauflöslich gestiftet, und Isaak und Rebekka gesegnet hat, dir stelle ich diese als Nachfolger in deinem Bunde vor. Segne du sie selbst, diese deine Knechte, Konstantin und Jekaterina, denen ich allen Segen wünsche, gleichwie du ein erbarmender Gott voll Menschenliebe bist und wir dir Lob singen, dem Vater und dem Sohne und dem heiligen Geiste jetzt und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.« Wiederum ertönte in der Höhe der unsichtbare Chor.

»Der das Getrennte vereinet hat und das Band der Liebe gestiftet, wie gedankenvoll diese Worte sind und wie sie dem entsprechen, was man in diesem Augenblick empfindet,« dachte Lewin. »Ob sie wohl das Nämliche fühlt wie ich?«

Aufschauend begegnete er ihrem Blick, aus dessen Ausdruck er schloß, daß sie ebenso verstanden hatte, wie er. Aber dies war durchaus nicht der Fall; sie hatte fast gar nichts von den Worten der Ceremonie verstanden, ja, diese während der Verlobung nicht einmal vernommen. Sie war nicht fähig, sie zu vernehmen und zu fassen, so mächtig war jenes eine Gefühl, welches ihr die Seele füllte und mehr und mehr zunahm. Dieses Gefühl war das der Freude über die endgültige Vollendung dessen, was schon sechs Wochen zuvor in ihrer Seele vollendet gewesen war und sie im Laufe dieser langen Wochen erfreut und zugleich bedrückt hatte. In ihrer Seele hatte sich, am nämlichen Tage, als sie in dem zimmetfarbenen Kleid im Salon des Hauses Arbatskiy schweigend zu ihm hingetreten war und sich ihm ergeben hatte, zu Tag und Stunde ein völliger Bruch mit ihrem früheren Leben vollzogen; sie hatte ein vollständig anderes, neues, ihr noch völlig unbekanntes Leben begonnen, in der Wirklichkeit freilich das alte nur fortgesetzt. Diese sechs Wochen bildeten die seligste und doch zugleich auch qualvollste Zeit für sie. Ihr ganzes Leben, alle ihre Wünsche und Hoffnungen, vereinigten sich in jenem einen, von ihr noch nicht verstandenen Manne, mit welchem sie ein Etwas, welches von ihr noch weniger begriffen wurde, als jener Mann selbst, verband, ein bald näherungslustiges, bald abstoßendes Gefühl; bei alledem aber fuhr sie fort, in den Verhältnissen ihres vorherigen Lebens weiter zu leben. In diesem ihren alten Leben hatte sie Schrecken empfunden über sich selbst, über ihre vollendete, unbezwingbare Gleichgültigkeit ihrer gesamten Vergangenheit gegenüber; ihrem Eigentum, ihren Gewohnheiten, den Menschen, die sie geliebt hatten und noch liebten, ihrer Mutter die über diese Gleichgültigkeit erbost war, und ihrem guten, früher über alles in der Welt geliebten, zärtlichen Vater gegenüber. Bald erschrak sie über diesen Gleichmut, bald empfand sie Freude über das, was sie dazu gebracht hatte. Sie mochte nichts weiter denken oder wünschen als ein Leben mit jenem Manne, aber dieses neue Leben war noch nicht eingetreten, und sie vermochte es sich nicht einmal klar vorzustellen. Es war nur ein Erwarten – Furcht und Freude über etwas Neues und noch nicht Bekanntes. Jetzt aber, siehe da, war dies Erwarten und die Unkenntnis, die Reue über den Verzicht auf ihr vorheriges Leben vorüber, und etwas Neues sollte beginnen. Dieses Neue aber konnte nicht furchtbar sein in seiner Unbekanntheit; gleichviel, mochte es furchtbar oder nicht furchtbar sein, es hatte sich sechs Wochen vorher schon in ihrer Seele voll entwickelt und wurde jetzt nur das geweiht, was sich lange vorher schon in derselben vollzogen hatte.

Wieder auf den Altar zurückgekehrt, nahm der Geistliche mit Mühe den sehr kleinen Ring Kitys und steckte ihn, sich Lewins Hand reichen lassend, an dessen erstes Fingerglied. »Es wird verbunden der Knecht Gottes Konstantin mit der Magd Gottes Jekaterina.« Nachdem er den großen Ring an den rosigen kleinen, in seiner Schwächlichkeit Mitleid erregenden Finger Kitys gesteckt hatte, wiederholte der Priester das Nämliche.

Mehrmals glaubten die Brautleute zu erraten, was sie thun müßten, irrten aber jedesmal, und der Geistliche wies sie mit flüsternder Summe an. Endlich, nachdem alles Erforderliche erledigt war, und er die Ringe gesegnet hatte, übergab er nochmals Kity den großen und Lewin den kleinen Ring, aber von neuem gerieten beide in Verwirrung, und wechselten zweimal den Ring, ohne daß das zu stande kam, was erforderlich war.

Dolly, Tschirikoff und Stefan Arkadjewitsch traten vor, um zu verbessern. Eine Konfusion, Zischeln und Lächeln entstand, aber der feierlich stille Ausdruck auf den Zügen des Brautpaares änderte sich nicht, im Gegenteil, als sie sich mit den Händen geirrt hatten, schauten sie noch ernster und feierlicher als vorher, und das Lächeln, mit welchem Stefan Arkadjewitsch flüsterte, daß jetzt jedes seinen eigenen Ring aufzustecken habe, erstarb unwillkürlich auf dessen Lippen. Er fühlte, daß jedes Lächeln sie nur kränken könne.

»Denn du hast von Anfang an das männliche Geschlecht geschaffen und das weibliche,« las der Priester weiter nach dem Ringwechsel, »und von dir wird dem Manne das Weib gesellt zur Hilfe und zur Fortpflanzung des Menschengeschlechts. Denn du selbst, Herr unser Gott, hast die Wahrheit gesandt zu deiner Nachfolge und für deinen Bund, für deine Knechte, unsere heiligen Väter, deine Auserwählten; schaue auf deinen Knecht Konstantin und deine Magd Jekaterina und bestätige ihren Bund im Glauben und in der Einmütigkeit und in der Wahrheit und in der Liebe.«

Lewin empfand mehr und mehr, daß alle seine Ideen über das Heiraten, seine Gedanken darüber, wie er sein Leben hatte einrichten wollen, kindlich gewesen waren, und daß hier etwas vor sich ging, was er bis jetzt noch nicht verstanden hatte, und jetzt sogar noch weniger verstehe, obwohl es sich über ihm selbst vollzog. In seiner Brust hoben sich höher und höher innere Schauer, und zudringliche Thränen traten ihm in die Augen.

7.

Lewin kehrte erst nach Hause zurück, als man ihn zum Abendessen hatte rufen lassen. Auf der Treppe stand Kity und Agathe Michailowna in der Beratung über die Weine für das Abendessen.

»Aber wozu solchen Aufwand machen? Setzt doch vor, was es gewöhnlich giebt.«

»Nein; Stefan trinkt nicht – aber Konstantin, so warte doch, was ist denn mit dir?« rief Kity, ihm nacheilend; er aber ging unbarmherzig, ohne auf sie zu warten, mit großen Schritten nach dem Salon und mischte sich sofort in das allgemeine, lebhafte Gespräch, das hier Wasjenka Wjeslowskiy und Stefan Arkadjewitsch unterhielten.

»Nun, fahren wir morgen zur Jagd?« sagte Stefan Arkadjewitsch.

»Bitte, fahren wir,« sagte Wjeslowskiy, sich seitwärts auf einen anderen Stuhl setzend und das fette Bein unterschlagend.

»Freut mich sehr, wir werden fahren. Habt Ihr schon gejagt dieses Jahr?« sagte Lewin zu Wjeslowskiy, aufmerksam dessen Fuß betrachtend, aber mit erheuchelter Freundlichkeit, die Kity so gut an ihm kannte, und die ihm so wenig stand. »Ob wir Wachteln finden werden, weiß ich nicht, doch Bekassinen sind viel vorhanden; nur muß man zeitig fahren. Ihr seid doch nicht müde? Bist du nicht ermattet, Stefan?«

»Ich ermattet? Ich bin noch nie matt gewesen. Wir wollen die ganze Nacht nicht schlafen! Fahren wir spazieren!«

»In der That; wir wollen einmal nicht schlafen! Ausgezeichnet!« stimmte Wjeslowskiy bei.

»O, wir sind davon überzeugt, daß du nicht zu schlafen vermagst, und andere nicht schlafen lassen kannst,« sagte Dolly zu ihrem Gatten mit jener kaum bemerkbaren Ironie, mit welcher sie sich jetzt fast stets an ihn wandte. »Aber nach meiner Ansicht ist es jetzt schon Zeit – ich will gehen, ich werde nicht zu Abend essen.« –

»Nein, du bleibst sitzen, Dollchen,« rief Stefan Arkadjewitsch, auf ihre Seite am großen Tische hinübergehend, an welchem zu Abend gegessen wurde. »Ich habe dir noch soviel zu erzählen.«

»In Wahrheit aber nichts.«

»Weißt du, Wjeslowskiy war bei Anna; und er wird wieder zu den beiden fahren. Sie sind freilich einige siebzig Werft weit von euch entfernt. Auch ich werde zweifellos einmal hinfahren. Wjeslowskiy, komm doch hierher!«

Wasjenka war zu den Damen gegangen, und hatte sich neben Kity niedergelassen.

»Ach bitte erzählt uns doch, bitte, Ihr wäret also bei ihr? Wie geht es ihr?« wandte sich Darja Aleksandrowna an ihn.

Lewin war auf der anderen Seite des Tisches geblieben und sah, ohne in dem Gespräch mit der Fürstin und Warenka innezuhalten, daß zwischen Stefan Arkadjewitsch, Dolly, Kity und Wjeslowskiy ein lebhaftes und geheimnisvolles Gespräch geführt wurde. Obwohl das Gesprach leise geführt wurde, gewahrte Lewin doch auf dem Gesicht seiner Frau den Ausdruck einer ernsten Empfindung, als sie unverwandt in das rote Gesicht Wasjenkas blickte, der lebhaft erzählte.

»Es geht ihnen sehr gut,« berichtete Wasjenka von Wronskiy und Anna.

»Ich natürlich möchte es nicht auf mich nehmen, zu urteilen, aber in ihrem Hause befindet man sich wie in der Familie.«

»Was beabsichtigen sie denn zu thun?«

»Wie es scheint, wollen sie für den Winter nach Moskau.«

»Wie schön wäre es, wenn wir zusammen zu ihnen reisen konnten. Wann wirst du fahren?« frug Stefan Arkadjewitsch Wasjenka.

»Ich werde den Juli bei ihnen zubringen.«

»Und auch du wirst doch mitfahren?« wandte sich Stefan Arkadjewitsch an seine Frau.

»Ich habe schon lange hingewollt und werde sicher fahren,« sagte Dolly. »Sie thut mir leid, und ich kenne sie. Sie ist ein schönes Weib. Ich werde allein reisen, wenn du weggehst, und niemand dadurch belästigen. Es ist sogar besser, wenn du nicht da bist.«

»Auch gut,« sagte Stefan Arkadjewitsch, »und Kity?«

»Ich? Weshalb sollte ich hinreisen?« antwortete Kity, in mächtige Aufregung geratend, und schaute nach ihrem Gatten.

»Aber Ihr seid doch mit Anna Arkadjewna bekannt?« frug sie Wjeslowskiy, »sie ist ein sehr anziehendes Weib.«

»Ja,« antwortete sie Wjeslowskiy, noch tiefer errötend, erhob sich, und ging zu ihrem Manne.

»Du willst also morgen auf die Jagd fahren?« sagte sie.

Seine Eifersucht in diesen wenigen Augenblicken war, besonders angesichts dieser Röte, die ihre Wangen bedeckte, als sie mit Wjeslowskiy sprach, schon hoch gestiegen. Jetzt faßte er, indem er ihre Worte vernahm, diese nach seiner Weise auf. So seltsam es ihm auch erschien, wenn er späterhin hieran zurückdachte, jetzt schien es ihm klar zu sein, daß sie, wenn sie ihn frug, ob er auf die Jagd fahre, nur interessierte, zu erfahren, ob er Wasjenka Wjeslowskiy das Vergnügen machen wolle, ihm, in den sie nach seiner Auffassung schon verliebt war.

»Ja, ich werde fahren,« antwortete er mit unnatürlicher, ihm selbst abstoßend erscheinender Stimme.

»Aber Ihr verbrächtet doch besser den Tag morgen hier; Dolly hat ja sonst ihren Mann gar nicht gesehen; übermorgen könntet Ihr fahren,« sagte Kity.

Der Sinn dieser Worte Kitys war von Lewin bereits so gewandelt: »Trenne mich nicht von ihm. Daß du fährst, ist mir ganz gleichgültig, doch laß mich die Gesellschaft dieses reizenden jungen Mannes genießen.«

»Ach, wenn du willst, so werden wir morgen zu Haus bleiben,« antwortete Lewin mit eigentümlicher Zuvorkommenheit.

Wasjenka mittlerweile, der nicht im geringsten das Leid ahnte, welches seine Anwesenheit verursacht hatte, war mittlerweile nach Kity vom Tische aufgestanden und ihr, sie mit freundlichem lächelnden Blick verfolgend, nachgegangen.

Lewin sah diesen Blick. Er erblich und vermochte eine Minute nicht, Atem zu schöpfen. »Wie kann man sich erlauben, so auf mein Weib zu schauen,« schäumte es in ihm.

»Also morgen? Fahren wir also,« sagte Wasjenka, sich auf den Stuhl niederlassend und wiederum nach seiner Gewohnheit den Fuß unterschlagend.

Die Eifersucht Lewins stieg noch höher. Er sah sich schon als betrogenen Gatten, den die Frau und ihr Liebhaber nur dazu brauchen, ihnen die Annehmlichkeiten des Lebens und Vergnügungen zu gewähren. Aber nichtsdestoweniger frug er Wasjenka liebenswürdig und gastfreundlich nach seinen Jagdzügen, seinem Gewehr, den Stiefeln und war einverstanden damit, morgen zu fahren.

Zum Glück für Lewin kürzte die alte Fürstin seine Leiden dadurch, daß sie sich erhob und Kity anriet, schlafen zu gehen. Aber auch hierbei ging es nicht ohne einen neuen Schmerz für Lewin ab. Als sich Wasjenka von der Frau des Hauses verabschiedete, wollte er wiederum ihre Hand küssen, allein Kity sagte errötend, und mit einer naiven Herbheit, wegen der ihr später die alte Fürstin Vorwürfe machte, indem sie ihm ihre Hand entzog: »Das ist bei uns nicht üblich!«

In den Augen Lewins war sie dadurch schuldig, daß sie solche Beziehungen überhaupt zugelassen hatte, und noch schuldiger, weil sie so ungeschickt bewiesen hatte, daß dieselben ihr nicht gefielen.

»Was ist das für ein Vergnügen zu schlafen!« sprach Stefan Arkadjewitsch, nachdem er beim Abendessen einige Gläser Wein geleert hatte und in seine gemütliche und poetische Stimmung geraten war. »Sieh Kity,« sagte er, auf den hinter den Linden heraufsteigenden Mond weisend, »wie reizend! Wjeslowskiy, das wäre etwas, wenn du eine Serenade singen willst. Weißt du, er hat nämlich eine großartige Stimme, wir haben zusammen unterwegs gesungen. Er hat schöne Romanzen mit, zwei neue; die könnte man mit Barbara Andrejewna singen!«

 

Als sich alles schon zurückgezogen hatte, ging Stefan Arkadjewitsch mit Wjeslowskiy noch in der Allee spazieren, und man hörte ihre Stimmen in der neuen Romanze.

Lewin saß, den Stimmen lauschend, finster in dem Lehnstuhl im Schlafgemach seiner Frau und schwieg hartnäckig auf deren Fragen, was er denn habe; doch als sie endlich selbst schüchtern lächelnd frug: »hat dir etwa irgend etwas mit Wjeslowskiy nicht gefallen?« da brach es hervor aus ihm, und er sagte alles. Das, was er aber hervorbrachte, kränkte ihn, und erzürnte ihn nur so noch mehr.

Er stand vor ihr mit furchtbar unter den finster zusammengezogenen Brauen blitzenden Augen, und preßte die starken Hände auf die Brust, als biete er alle seine Kräfte auf, an sich zu halten. Der Ausdruck seines Gesichtes wäre rauh und selbst hart gewesen, wenn nicht zugleich auch der Schmerz sich darauf ausgeprägt hätte, was sie rührte. Seine Kinnbacken knirschten und seine Stimme brach ab.

»Verstehe wohl, daß ich nicht etwa eifersüchtig bin; dies ist ein häßliches Wort! Ich kann nicht eifersüchtig sein und glauben, daß – ich kann nicht sagen, was ich fühle, doch dies ist furchtbar! Ich bin nicht eifersüchtig, aber beleidigt, erniedrigt, dadurch, daß jemand wagt, zu denken – wagt, mit solchen Augen auf dich zu blicken!« – –

»Aber mit was für Augen?« sagte Kity, sich bemühend, so gewissenhaft als möglich sich alle ihre Reden und Bewegungen vom heutigen Abend, sowie alle Schattierungen derselben ins Gedächtnis zurückzurufen.

Auf dem Grund ihrer Seele fand sie, daß in jener Minute, als er ihr nach dem andern Ende des Tisches gefolgt war, in der That etwas gelegen hatte, aber sie wagte dies nicht einmal auch nur sich selbst einzugestehen, und entschloß sich daher um so weniger, es ihm zu sagen und dadurch seinen Schmerz noch zu vergrößern.

»Was soll nur Anziehendes sein an mir, wie ich jetzt bin« –

»Ach!« rief er, sich an den Kopf greifend; »hättest du nicht so gesprochen – das heißt also, wenn du anziehend gewesen wärest« –

»Mein Konstantin, halt ein, höre doch!« – sprach sie, ihn mit leidendem und mitleidvollem Ausdruck anblickend. »Was denkst du nur? Wo es für mich doch keinen Menschen giebt, keinen, keinen! Willst du, daß ich niemand hier sehen soll?«

In der ersten Minute war seine Eifersucht beleidigend für sie gewesen; es war ihr verdrießlich gewesen, daß ihr auch die kleinste Zerstreuung, selbst die unschuldigste, untersagt wurde; jetzt aber hätte sie sich gern, nicht in solchen Kleinigkeiten, sondern in allem für seine Ruhe geopfert, um ihn von dem Schmerz zu befreien, den er litt.

»Begreife doch nur das Entsetzliche und das Komische meiner Lage,« fuhr er in verzweifeltem Flüsterton fort, daß er in meinem Hause ist, daß er nichts Unanständiges begangen hat, abgesehen von jener Ungezwungenheit und dem Übereinanderschlagen seiner Füße. Er hält dies für den besten Ton, und demzufolge muß ich noch mit ihm liebenswürdig sein!«

»Aber, liebster Konstantin, du übertreibst ja,« sagte Kity, in der Tiefe ihres Herzens erfreut über die Kraft seiner Liebe zu ihr, die sich jetzt in seiner Eifersucht ausdrückte.

»Am Entsetzlichsten von allem ist, daß du – jetzt so wie du es stets gewesen, ein Heiligtum für mich – daß wir so glücklich gewesen sind, so selten glücklich – und plötzlich konnte dieser Wicht – nicht Wicht; weshalb sollte ich ihn schimpfen? – Ich habe mit ihm nichts zu schaffen! Aber weshalb soll mein Glück, dein Glück« – –

»Weißt du, ich begreife, woher dies alles gekommen ist,« begann Kity.

»Woher? Woher?«

»Ich habe gesehen, wie du blicktest, als wir beim Abendessen sprachen.«

»Nun ja, nun ja!« sagte Lewin erschreckt.

Sie erzählte ihm, wovon man gesprochen hatte, und als sie es erzählte, kam sie vor Erregung außer Atem. Lewin verstummte, betrachtete ihr bleiches, angstvolles Gesicht und griff sich plötzlich an den Kopf.

»Katja, ich habe dich gemartert! Mein Täubchen, verzeihe mir! Dieser Wahnsinn! Katja, ich bin unendlich schuldig! Kann man nur durch solche Thorheit sich quälen!«

»Nein, du nur thust mir leid.«

»Ich? Ich? Was für ein Wahnwitziger ich bin! Weshalb thue ich dir leid? Es ist mir entsetzlich zu denken, daß jeder fremde Mensch unser Glück zerstören kann.«

»Natürlich! das ist eben das Kränkende« –

»Nein; so werde ich ihn mit Absicht den ganzen Sommer bei uns behalten und mich in Liebenswürdigkeiten gegen ihn überbieten,« sprach Lewin, ihr die Hand küssend. »Du wirst sehen. Morgen. Ja, es ist wahr, morgen wollen wir fahren.«

8.

Am andern Tage hatten. sich die Damen noch nicht erhoben, als die Jagdwagen schon vor der Einfahrt standen und Laska, der bereits am Morgen gemerkt hatte, daß es zur Jagd gehe, sich heulend und nachdem er sich satt getummelt hatte, m den einen der Wagen neben dem Kutscher setzte, welcher ärgerlich und mißlaunig über die Verspätung nach der Thür blickte, aus welcher die Jäger noch immer nicht herauskommen wollten.

Zuerst erschien Wasjenka Wjeslowskiy, in großen neuen Jagdstiefeln, welche bis zur Hälfte der dicken Schenkel gingen; in grüner Bluse, mit einer neuen, nach Juchten duftenden Patronentasche gegürtet und in seiner Bändermütze und dem neuen englischen Gewehr. Laska sprang ihm entgegen, begrüßte ihn, sprang an ihm empor und frug ihn auf seine Weise, ob bald noch die anderen herauskommen würden, kehrte aber dann, da er keine Antwort von ihm erhielt, auf seinen Warteposten zurück, um hier wieder still zu werden, den Kopf auf die Seite gewendet und das eine Ohr spitzend.

Endlich öffnete sich kreischend die Thür, und heraus flog, sich wirbelnd und in der Luft drehend, Krack, der hellgescheckte Pointeur Stefan Arkadjewitschs, worauf dieser selbst heraustrat, die Flinte in den Händen und die Cigarre im Munde. Freundlich rief er seinem Hunde zu, der ihm die Pfoten auf Leib und Brust setzte und sich mit denselben in der Jagdtasche verwickelte.

Stefan Arkadjewitsch war mit ledernen Schnürstücken mit untergelegten Strumpflappen an den Füßen, einem zerrissenen Beinkleid und einem kurzen Rock bekleidet. Auf dem Kopfe saß die Ruine eines Hutes, das Gewehr aber, nach modernstem System, war ein wahres Spielzeug und die Jagdtasche und Patrontasche, obwohl abgetragen, von vorzüglicher Qualität.

Wasjenka Wjeslowskiy hatte früher diese echte Jägerkoketterie nicht begriffen, in Lumpen zu gehen, und dabei ein Jagdgerät von vorzüglichster Güte zu führen. Er begriff sie aber jetzt, als er Stefan Arkadjewitsch mit diesen Lumpen, in all seiner eleganten, wohlgenährten und behaglich gestimmten Herrenerscheinung erblickte, und faßte den Entschluß, sich bei der nächsten Jagd unfehlbar ebenso zu equipieren.

»Nun, und was macht unser Wirt?« frug er.

»Ein junges Weib,« sagte Stefan Arkadjewitsch lächelnd.

»Und noch dazu ein reizendes.«

»Er war bereits angekleidet, aber wahrscheinlich ist er nochmals zu ihr gelaufen.«

Stefan Arkadjewitsch hatte es erraten. Lewin war mehrmals zu seiner Gattin geeilt, um sie noch einmal zu fragen, ob sie ihm seine gestrige Dummheit vergeben habe, und dann, um sie zu bitten, doch um Christi willen vorsichtiger zu sein. Hauptsächlich – sich vor den Kindern ferner zu halten – sie konnten sie leicht einmal stoßen. Dann mußte er von ihr nochmals die Versicherung erhalten, daß sie ihm nicht gram sei darüber, daß er auf zwei Tage fortfuhr, und sie bitten, ihm unbedingt morgen früh, mit dem ersten Zug, ein Billet zu schicken, und ihm wenigstens zwei Worte zu schreiben, damit er nur wußte, daß sie sich wohl befinde.

Kity war es wie stets schmerzlich, sich auf zwei Tage von ihrem Gatten trennen zu sollen; allein als sie seine lebhafte Erscheinung, die besonders groß und kraftvoll in den Jagdstiefeln und der weißen Bluse erschien, und einen gewissen, ihr unverständlichen Schimmer der Jagdfreude wahrgenommen hatte, vergaß sie, um ihm seine Freude zu lassen, ihren Schmerz, und verabschiedete sich heiter von ihm.

»Entschuldigung, meine Herren!« sagte er, auf die Freitreppe herauskommend. »Hat man das Frühstück eingepackt? Warum ist der Fuchs rechts gespannt? Nun gleichviel! Laska – leg‘ dich! – Laß sie in die ledige Herde,« wandte er sich an den Viehwärter, der an der Treppe mit einer Frage über die Wallachen wartete.

Lewin sprang vom Wagen, auf dem er sich schon setzen wollte, zu einem Zimmermann hin, der mit einem Ellenmaß zur Treppe gekommen war.

»Gestern ist er nicht ins Comptoir gekommen und heute hält er mich nun ab. Was ist denn?«

»Wir müssen noch drei Stufen hinzunehmen; dann paßt es; sie wird dann bequemer liegen.«

»Hättest du mir gehorcht,« antwortete Lewin ärgerlich. »Ich habe gesagt, du sollst zuerst die Treppenlager, und die Stufen zuletzt machen! Jetzt kommst du nun nicht aus. Thu wie ich dir befohlen habe, und mache ein neues Lager.«

Es handelte sich darum, daß in einem im Bau befindlichen Flügel der Zimmermann die Treppe verpfuscht hatte, indem er sie selbständig, ohne die Höhe zu berechnen, gefertigt hatte, sodaß nun alle Stufen schräg hingen, als man die Treppe an ihrem Platz aufstellte. Der Zimmermann wollte nun, die Treppe lassend wie sie war, nur noch drei Stufen hinzufügen.

»Es wird so viel besser werden.«

»Aber wohin willst du denn kommen mit den drei Stufen!«

»Gestattet,« antwortete der Zimmermann mit geringschätzigem Lächeln; »da sie sich von unten erhebt,« er sprach dies mit überzeugender Gebärde, »muß es gehen, sie muß passen!«

»Aber drei Stufen gehen doch noch in die Länge? Wohin soll sie denn da kommen?«

»Da sie von unten auf geht, so muß sie passen,« beharrte der Zimmermann.

»Bis unter die Decke und an die Wand kommt sie.«

»Aber, mit Verlaub, sie kommt doch von unten, da wird sie passen.«

Lewin ergriff seinen Ladestock und begann ihm im Staube die Treppe zu zeichnen.

»Siehst du nun?«

»Wie Ihr befehlt,« sagte der Zimmermann, plötzlich mit den Augen hell aufblickend und endlich offenbar die Sache begreifend. »Es ist klar, es muß eine neue Treppe gezimmert werden.«

»Nun also, thue nun, wie dir geheißen ist,« rief Lewin und setzte sich wieder in den Wagen. »Fahr zu! – Halt die Hunde, Philipp!«

Lewin empfand jetzt, nachdem er alle Sorgen des Hauses und der Wirtschaft hinter sich gelassen hatte, ein so mächtiges Gefühl von Lebensfreude und Erwartung, daß er keine Lust verspürte, zu sprechen. Er hatte auch das Gefühl der konzentrierten Aufregung, welche jeder Jäger verspürt, wenn er sich seinem Revier nähert. Wenn ihn jetzt überhaupt etwas beschäftigte, so waren es nur die Fragen, ob man im Kolpenskischen Moor etwas finden werde, wie sich Laska im Vergleich zu Krack zeigen, und wie ihm selbst heute das Jagdglück lächeln würde.

Daß man sich vor einem fremden Jäger keine Blöße gab; daß Oblonskiy ihn nicht überschießen möchte, auch dies kam ihm in den Kopf.

Oblonskiy hatte ein ganz ähnliches Gefühl, und war gleichfalls wortkarg. Nur Wasjenka Wjeslowskiy schwatzte lustig und unaufhörlich weiter.

Als Lewin ihn jetzt hörte, fühlte er sich beschämt, wenn er daran dachte, wie ungerecht er gestern gegen ihn gewesen sei.

Wasjenka war in der That ein vorzüglicher, naiver, gutmütiger und sehr heiterer Mensch. Wäre Lewin noch unverheiratet mit ihm zusammengekommen, so würde er sich ihm genähert haben. Nur war ihm ein wenig unangenehmer seine müßige Stellung zum Leben, und eine gewisse Ungezwungenheit bei aller Eleganz. Er schien sich gewissermaßen selbst eine hohe unzweifelhafte Bedeutung beizumessen, daß er lange Nägel und eine kleine Mütze trug und alles übrige dementsprechend, doch konnte man dies bei seiner Gutherzigkeit und Solidität entschuldigen. Er gefiel Lewin wegen seiner guten Erziehung, einer ausgezeichneten Aussprache des Französischen und Englischen, und dann deshalb, weil er ein Mensch seiner eignen Welt war.

Wasjenka gefiel das donische Steppenpferd am linken Strang außerordentlich. Er war fortwährend exaltiert davon, »wie schön muß es sich auf einem Steppenpferd durch die Steppe jagen lassen! Ha? Nicht so?« sprach er. Er stellte sich in dem Ritt auf einem Steppenroß etwas wundersames Poetisches vor, woraus sich zwar nichts ergab, aber seine Naivetät, besonders im Verein mit seiner Schönheit, seinem freundliches Lächeln und der Grazie seiner Bewegungen war sehr anziehend. Kam es nun davon her, daß seine Natur Lewin sympathisch war, oder davon, daß Lewin sich bemühte, zur Sühne für seinen gestrigen Fehltritt alles an ihm gut zu finden, genug, Lewin fühlte sich angenehm von ihm berührt.

Nachdem man drei Werst gefahren war, tastete Wjeslowskiy plötzlich nach seinen Cigarren und der Brieftasche, und wußte nicht, ob er beides verloren oder auf dem Tische liegen gelassen hatte.

In der Brieftasche waren dreihundertsiebzig Rubel, und daher durfte man sie nicht im Stich lassen.

»Wißt Ihr was, Lewin, ich werde auf diesem donischen Beipferd nach Hause reiten. Das wäre ausgezeichnet. Nicht?« sagte er, schon bereit, aufzusitzen.

»Nein; warum das?« antwortete Lewin, der schon berechnet hatte, daß Wasjenka nicht weniger als sechs Pud Gewicht haben müsse. »Ich werde den Kutscher schicken.«

Der Kutscher ritt auf dem Beipferd ab, und Lewin lenkte nun selbst die beiden übrigen Pferde.

4.

Warenka mit ihrem weißen Tuch auf dem schwarzen Haar, von den Kindern umringt, und gutherzig und heiter mit ihnen beschäftigt, erschien, augenscheinlich aufgeregt durch die Möglichkeit einer Erklärung mit dem Manne, welcher ihr gefallen hatte, sehr anziehend.

Sergey Iwanowitsch schritt neben ihr hin und ließ nicht nach, ihr Aufmerksamkeiten zu erweisen. Sie anblickend, rief er sich alle die freundlichen Worte ins Gedächtnis zurück, die er von ihr vernommen hatte, alles, was er von ihr Gutes wußte, und erkannte dabei immer mehr und mehr, daß das Gefühl, welches er für sie empfand, ein gewisses besonderes war, das er schon lange vorher nur einmal gehegt hatte in seiner ersten Jugend. Das Gefühl der Freude über ihre Nähe wurde immer stärker, und ging so weit, daß er, als er ihr einen von ihm gefundenen Birkenschwamm auf dünnem Stengel in ihren Korb gab, und die Röte der freudigen und zugleich ängstlichen Aufregung gewahrte, die ihr Gesicht überdeckte, selbst in Verwirrung geriet, und ihr schweigend zulächelte, in einer Weise, die nur zu sprechend war.

»Wenn dem so ist,« sagte er zu sich, »muß ich erwägen und mich entscheiden, aber mich nicht wie ein Knabe der Verleitung des Augenblickes hingeben. »Ich werde jetzt abgesondert von allen, Pilze suchen gehen, da sonst meine Ausbeute nicht bemerkenswert ausfallen wird,« sprach er und ging allein vom Rande des Waldes, an welchem sie auf dem seidenartigen, niedrigen Grase zwischen vereinzelten alten Birken hingeschritten waren, nach der Mitte des Waldes zu, wo zwischen den weißen Birkenstämmen graue Eschen und dunkle Nußbüsche schimmerten. Nachdem er vierzig Schritt abseits gegangen war und einen in voller Blüte rosenrot prangenden Busch erreicht hatte, blieb Sergey Iwanowitsch stehen, da er wußte, daß man ihn nicht mehr sehen könne.

Rings um ihn herrschte vollkommene Stille. Nur im Wipfel der Birken, unter welchen er stand, summten gleich einem Bienenschwarm, ohne zu verstummen, die Fliegen, und vereinzelt klangen auch die Stimmen der Kinder bis zu ihm. Plötzlich, unweit des Waldrandes, erklang die Altstimme Warenkas, die Grischa rief, und ein freudiges Lächeln trat auf die Züge Sergey Iwanowitschs. Seines Lächelns inne werdend, schüttelte er mißbilligend den Kopf über seinen Zustand, holte das Cigarrenetuis hervor und begann zu rauchen. Lange gelang es ihm nicht, das Zündholz an einem Fichtenstamm m Brand zu setzen. Eine seine Schicht der weißen Rinde haftete auf dem Phosphor und das Feuer erlosch. Endlich brannte eines der Zündhölzer und der duftige Rauch der Cigarre verbreitete sich wie ein hin und her wallendes, breites Tischtuch scharfbegrenzt vor- und rückwärts über dem Busch unter den herniederhängenden Zweigen der Birke. Mit den Augen den Streifen des Rauches folgend, ging Sergey Iwanowitsch leisen Schrittes weiter, über seine seelische Verfassung nachdenkend.

»Warum sollte ich nicht?« dachte er. »Wäre es ein Strohfeuer oder ein leidenschaftlicher Rausch, fühlte ich nur diese Neigung, diese wechselseitige Neigung – ich kann sagen ›wechselseitige‹ – und fühlte ich dabei, daß sie im Widerspruch mit meiner ganzen Art zu leben – fühlte ich, daß ich in der Hingabe an diese Neigung meinen Beruf, meine Pflicht verletzte, – aber dies ist nicht der Fall! Das Einzige, was ich dagegen sagen kann, ist dies, daß ich, als ich Maria verlor, mir sagte, ich wollte ihrem Angedenken getreu bleiben. Dies Eine nur kann ich gegen mein Gefühl einwenden; ›und das ist wichtig,« sagte Sergey Iwanowitsch zu sich, zugleich dabei empfindend, daß dieser Gedanke für ihn persönlich keine Bedeutung weiter habe, als die, daß er etwa in den Augen anderer Leute seine poetische Rolle verdarb. »Abgesehen hiervon, werde ich, soviel ich auch suchen mag, nichts finden, was ich gegen meine Empfindung einzuwenden hätte. Hätte ich allein mit meinem Verstande gewählt, ich könnte nichts Besseres finden.«

So viele Frauen und Mädchen aus seiner Bekanntschaft er sich auch vergegenwärtigen mochte, er konnte sich keiner Jungfrau erinnern, die bis zu solchem Grade alle, gerade alle diejenigen Eigenschaften in sich vereinigte, welche er bei kühler Beurteilung einmal in seinem Weibe zu sehen gewünscht hätte.

Sie besaß den ganzen Reiz und die Frische der Jugend, war aber kein Kind mehr, und wenn sie ihn liebte, liebte sie ihn mit Bewußtsein, so wie ein Weib lieben muß. Dies war das Eine.

Ein Zweites lag darin, daß sie nicht nur der Weltlichkeit fern stand, sondern offenbar einen Ekel vor der Welt empfand, sie zugleich aber doch kannte, und alle die Manieren der Frau aus der guten Gesellschaft besaß, ohne welche für Sergey Iwanowitsch eine Lebensgefährtin undenkbar war.

Ein Drittes bestand darin, daß sie religiös war; doch nicht wie ein Kind, religiös, ohne sich Rechenschaft davon zu geben, und gut wie beispielsweise Kity; sondern ihr Leben war auf religiösen Überzeugungen begründet. Selbst bis auf Kleinigkeiten fand Sergey Iwanowitsch in ihr alles, was er von einer Frau wünschte; sie war arm und stand allein; so daß sie keinen Haufen von Verwandten und deren Einfluß mit in das Haus des Mannes schleppte, so, wie er das bei Kity sah; sie mußte vielmehr ihrem Gatten in allem verpflichtet sein, was er auch immer für sein künftiges Familienleben gewünscht hätte.

Und dieses Mädchen nun, welches alle jene Eigenschaften in sich vereinte, liebte ihn. Er war bescheiden, mußte dies aber doch wahrnehmen – und liebte sie wieder. – Den einzigen Gegengrund bildeten seine Jahre. Doch seine Konstitution war dauerhaft, er hatte noch kein einziges graues Haar, niemand maß ihm vierzig Jahre bei und er entsann sich, daß Warenka gesagt hatte, nur in Rußland hielten sich die Leute von fünfzig Jahren für Greise, während sich in Frankreich der fünfzigjährige Mann »dans la force de l’âge« erachte, ja, der vierzigjährige als »un jeune homme«.

Aber was bedeutete die Altersrechnung, da er sich jung an Geist fühlte, so wie er es vor zwanzig Jahren gewesen? War denn nicht Jugend das Gefühl, welches er jetzt empfand, da er, auf der anderen Seite wieder zu dem Rande des Waldes hinaustretend, im hellen Glanz der schrägen Sonnenstrahlen die graziöse Gestalt Warenkas im gelben Kleid und mit dem Körbchen, leichten Schrittes an dem Stamm einer alten Birke vorüberschreitend erblickte, und der Eindruck dieser Erscheinung Warenkas in Eins zusammenfloß mit dem ihn durch seine Schönheit frappierenden Anblick des von den schrägen Lichtstrahlen übergossenen, gelbschimmernden Haferfeldes und des alten fernen Waldes hinter dem Felde, der, mit Gelb ins Bunte spielend, in blauer Ferne verschwamm?

Sein Herz zog sich zusammen vor Lust, ein Gefühl des Friedens überkam ihn, und er empfand, daß er einen Entschluß gefaßt hatte.

Warenka, welche sich soeben niedergelassen hatte, um einen Pilz aufzunehmen, erhob sich mit schneller Bewegung und schaute sich um. Die Cigarre wegwerfend, begab sich Sergey Iwanowitsch mit schnellen Schritten auf sie zu.

31.

So sehr wie Anna auch ein Wiedersehen mit ihrem Sohne gewünscht hatte, so lauge sie auch nur hieran gedacht, sich nur hierauf vorbereitet hatte, so hatte sie doch keineswegs erwartet, daß dieses Wiedersehen eine so mächtige Wirkung auf sie ausüben würde.

Zurückgekehrt in ihre einsamen Appartements im Hotel, konnte sie lange nicht fassen, warum sie eigentlich hier. sei.

»Ja; das ist alles vorüber und ich bin wieder allein,« sagte sie zu sich und setzte sich, ohne den Hut abzulegen, auf einen am Kamin stehenden Sessel. Mit unbeweglichen Augen auf die Bronzeuhr blickend, welche auf dem Tische zwischen den Fenstern stand, begann sie zu sinnen.

Die französische Zofe, die mit aus dem Auslande gebracht worden war, trat ein, um sie anzukleiden. Verwundert, blickte sie dieselbe an und sagte nur »später«. Der Lakai brachte den Kaffee; sie sagte nur »später«. Die italienische Amme, die das kleine Mädchen geputzt hatte, trat mit demselben ein und brachte es Anna. Das dicke, wohlgenährte Kind hob, wie stets, wenn es die Mutter sah, die nackten mit Bändern umspannten Händchen, die Handflächen nach unten, und begann, mit dem noch zahnlosen Mündchen lächelnd, wie ein Fisch an der Angel mit den Händchen zu arbeiten, und mit ihnen an den gesteiften Falten des gestickten Jäckchens zu scheuern.

Man mußte unwillkürlich lächeln und das Kindchen küssen, man mußte ihm einen Finger vorhalten, an dem es anfassen konnte, jauchzend und mit dem ganzen Körper in Bewegung. Man konnte nicht umhin, ihm die Lippe darzubieten, die es anstatt eines Kusses in das Mündchen nahm. Und alles das that Anna, und sie nahm das Kind auf ihre Arme und ließ es hüpfen, und küßte es auf die frische Wange und die entblößten Ärmchen, aber bei dem Anblick dieses Kindes wurde es ihr nur noch klarer, daß das Gefühl, welches sie für dasselbe hegte, nicht einmal Liebe war im Vergleich zu dem, was sie für Sergey fühlte. Alles an diesem kleinen Mädchen war lieblich, aber alles das fand keinen Eingang in ihr Herz. Auf ihrem ersten Kinde – hatte sie es auch gleich von einem ungeliebten Manne – ruhte alle Kraft jener Liebe, die keine Befriedigung gefunden hatte; das Mädchen war unter den schwierigsten Verhältnissen geboren worden, und auf dasselbe war nicht der hundertste Teil der Sorgfalt verwendet worden, wie auf das erste Kind; außerdem war bei diesem Mädchen alles noch Erwartung, Sergey hingegen schon fast wahrhaft Mensch und ein geliebter Mensch; in ihm kämpften bereits Gedanken und Gefühle miteinander. Er begriff und liebte, er beurteilte sie, wie sie meinte, indem sie seiner Worte und Blicke gedachte. Und doch war sie auf immer nicht nur körperlich, sondern auch geistig von ihm getrennt, ließ sich nichts mehr besser gestalten.

Sie gab das kleine Mädchen der Amme zurück, entließ diese, und öffnete ein Medaillon, in welchem ein Porträt Sergeys war, ihn darstellend, als er noch fast das nämliche Alter hatte, wie das kleine Mädchen jetzt. Sie stand auf und nahm, ihren Hut ablegend, von einem kleinen Tische ein Album, in welchem sich Photographieen ihres Sohnes aus anderen Lebensaltern befanden. Sie wollte diese Photographieen vergleichen, und begann sie aus dem Album herauszunehmen; sie nahm sie alle heraus, nur eine einzige, die letzte und beste, war noch übrig. In weißem Hemd saß er darauf auf einem Stuhle, machte böse Augen und lächelte mit dem Munde. Dies war ein ganz eigentümlicher Ausdruck, der ihm am besten stand. Mit den kleinen, flinken Händen, die sich jetzt besonders angespannt mit ihren weißen, schmalen Fingern bewegten, hatte sie mehrmals an die Ecke des Bildes geklopft, aber das Bild war losgerissen und sie konnte es nicht erlangen. Ein Messer befand sich nicht ans dem Tische, und sie nahm daher eine Photographie, welche daneben stand – es war ein in Rom gefertigtes Bild Wronskiys, welches ihn in rundem Hut und langen Haaren darstellte – und stieß damit das Bild ihres Sohnes heraus.

»Das ist ja er!« sagte sie, auf das Bild Wronskiys blickend, und sich plötzlich vergegenwärtigend, wer die Ursache ihres jetzigen Harmes sei. Sie hatte noch nicht ein einziges Mal während dieses ganzen Morgens an ihn gedacht. Jetzt aber, als sie dieses männliche, edle, ihr so vertraute und liebe Gesicht wieder erblickte, empfand sie plötzlich eine unerwartete Regung der Liebe zu ihm. »Aber wo bleibt er denn? Läßt er mich allein mit meinem Leiden?« dachte sie mit einem Gefühl des Vorwurfs, und vergaß dabei, daß sie selbst vor ihm doch alles verborgen hielt, was ihren Sohn betraf. Sie sandte zu ihm mit der Bitte, doch sogleich zu ihr zu kommen; mit stockendem Herzen, sich die Worte vergegenwärtigend, mit denen sie ihm alles sagen wollte, und die Worte seiner Liebe, mit welchen er sie trösten würde, erwartete sie ihn. Der Bote kam mit dem Bescheid zurück, der Herr habe Besuch, würde aber sofort kommen; Wronskiy hatte befohlen, bei ihr anzufragen, ob sie ihn zusammen mit dem Fürsten Jaschwin, der nach Petersburg gekommen sei, empfangen könne.

»Er kommt nicht allein, und hat mich doch seit dem gestrigen Mittag nicht gesehen,« dachte sie, »er kommt nicht allein, daß ich ihm alles sagen kann, sondern mit Jaschwin.« Und plötzlich tauchte ein seltsamer Gedanke in ihr auf. »Wie wenn er aufgehört hätte, sie zu lieben?«

Und indem sie die Vorkommnisse der letzten Tage musterte, schien ihr, als ob sie in allem eine Bestätigung dieses entsetzlichen Gedankens sehe; schon darin, daß er gestern nicht zu Haus zu Mittag gespeist hatte, daß er darauf bestanden hatte, sie möchten in Petersburg getrennt logieren, wie darin, daß er jetzt nicht einmal allein zu ihr kam, gerade als ob er einem Wiedersehen Auge in Auge mit ihr aus dem Wege gehen wollte.

»Aber er muß mir dies sagen. Ich muß es wissen; und so bald ich es weiß, dann weiß ich auch, was ich zu thun habe,« sagte sie zu sich, ohne Fähigkeit, sich die Lage vorzustellen, in welche sie kommen würde, wenn sie sich von seiner Gleichgültigkeit überzeugte. Sie glaubte, er habe aufgehört, sie zu lieben, sie fühlte sich der Verzweiflung nahe, und infolgedessen besonders reizbar. Sie schellte der Zofe und begab sich nach dem Ankleidezimmer. Beim Ankleiden beschäftigte sie sich mehr als während der letztvergangnen Tage mit ihrer Toilette, als ob Wronskiy sie, wenn er sie nicht mehr lieben sollte, deshalb von neuem lieben müsse, weil sie diese Robe und jene Frisur, die ihr besser standen, trug.

Sie hörte die Glocke, noch bevor sie fertig war. Als sie in den Salon trat, begegnete nicht er, sondern Jaschwin ihrem Blick. Jaschwin betrachtete die Photographieen ihres Sohnes, die sie auf dem Tische vergessen hatte, und er beeilte sich nicht eben, den Blick nach ihr zu wenden.

»Wir sind ja Bekannte,« sagte sie, ihre kleine Hand in die große Jaschwins legend, der in Verwirrung geraten war – was sich bei dem riesigen Wuchs und dem derben Gesicht desselben sonderbar genug ausnahm. – »Wir sind Bekannte seit dem vorigen Jahre, von den Rennen. Gebt doch her,« sagte sie, mit schneller Bewegung die Bilder des Sohnes, die er ansah, vor Wronskiy wegnehmend, und ihn bedeutungsvoll mit den blitzenden Augen anschauend. »Waren im gegenwärtigen Jahre die Rennen gut? Anstatt der unsrigen, habe ich die Rennen auf dem Corso in Rom gesehen. Ihr liebt übrigens wohl nicht das Leben im Ausland?« frug sie mit freundlichem Lächeln. »Ich kenne Euch, und kenne alle Eure Geschmacksrichtungen, obwohl ich Euch wenig begegnet bin.«

»Das thut mir sehr leid, da meine Geschmacksrichtungen immer schlechter werden,« sagte Jaschwin, sich in seinen linken Schnurrbart beißend.

Nachdem er noch einige Zeit geplaudert und bemerkt hatte, daß Wronskiy nach der Uhr blickte, frug Jaschwin sie, ob sie noch lange in Petersburg bleiben werden und griff, seine mächtige Gestalt einknickend, ans Käppi.

»Wahrscheinlich nicht mehr lange,« sagte sie voll Verwirrung, auf Wronskiy blickend.

»So sehen wir uns also nicht wieder?« antwortete Jaschwin, aufstehend und sich an Wronskiy wendend, »wo speisest du?«

»Kommt, mit mir zu dinieren,« sagte Anna entschlossenen Tones, gleichsam erzürnt über sich selbst wegen ihrer Verlegenheit, aber errötend, wie dies stets bei ihr der Fall war, wenn sie vor einer ihr nicht vertrauten Persönlichkeit ihre Meinung äußerte. »Das Essen ist hier nicht gut, aber Ihr könnt ihn doch wenigstens wiedersehen. Aleksey liebt von allen seinen Kameraden aus dem Regiment keinen so, wie Euch.«

»Sehr erfreut,« sagte Jaschwin mit einem Lächeln, aus dem Wronskiy ersah, daß ihm Anna sehr gefiel.

Jaschwin empfahl sich und ging, Wronskiy blieb allein zurück.

»Du gehst auch?« sagte sie.

»Ich habe mich schon verspätet,« antwortete er, »geh! Ich komme dir sogleich nach!« rief er Jaschwin nach.

Sie nahm ihn bei der Hand und blickte ihn, ohne das Auge abzuwenden, an, in ihren Gedanken suchend, was sie ihm sagen sollte, um ihn zurückzuhalten.

»Warte, ich habe dir etwas zu sagen,« seine kleine Hand nehmend, preßte sie dieselbe an ihren Hals, »nicht wahr, es thut nichts, daß ich ihn zum Essen geladen habe?«

»Das hast du ganz recht gemacht,« sagte er, mit ruhigem Lächeln seine engstehenden Zähne zeigend und ihre Hand küssend.

»Aleksey, du bist nicht anders geworden gegen mich?« sprach sie, mit beiden Händen seine Reckte drückend. »Aleksey, ich quäle mich hier ab, wann reisen wir?«

»Bald, bald. Du kannst nicht glauben, wie auch mir das Leben hier schwer ist,« sagte er, seine Hand ausstreckend.

»Nun so geh, geh,« sagte sie verletzt und ging schnell von ihm hinweg.