13.

Es giebt keine Verhältnisse, an die sich der Mensch nicht gewöhnen könnte; besonders wenn er sieht, daß alle, die ihn umgeben, ebenso leben.

Lewin hätte vor drei Monaten nicht geglaubt, daß er unter den Verhältnissen, in denen er sich jetzt befand, ruhig einschlafen könne; nie gedacht, daß er, indem er ein zweckloses, gehaltloses Leben führte, welches noch dazu über seine Mittel ging, nach seinem Rausche, – denn anders konnte er das nicht nennen, was es im Klub gab – nach Anknüpfung ungereimter, freundschaftlicher Beziehungen zu einem Manne, in welchen einst seine Frau verliebt gewesen war, und einem noch ungereimteren Besuch bei einer Frau, die man nur als gefallen bezeichnen konnte, sowie nach seinem Enthusiasmus für diese Frau und der Erbitterung der Gattin – unter solchen Verhältnissen ruhig einschlafen könne. Allein unter dem Einfluß der Ermüdung, einer schlaflos verbrachten Nacht und des genossenen Weines, entschlief er sanft und selig.

Um fünf Uhr weckte ihn das Kreischen einer geöffneten Thür. Er fuhr auf und schaute sich um. Kity war nicht mehr im Bett neben ihm, aber hinter der spanischen Wand bewegte sich ein Licht und er vernahm ihre Schritte.

»Was giebt es, was giebt es?« sprach er, aus dem Schlafe auffahrend, »Kity, was ist?«

»Nichts,« antwortete diese, das Licht in der Hand, hinter der Zwischenwand hervortretend. »Es war mir unwohl geworden,« sagte sie, mit eigentümlich weichem ausdrucksvollen Lächeln.

»Was ist? Fängt es an, fängt es an?« fuhr er erschreckt fort, »da muß geschickt werden,« und hastig wollte er sich ankleiden.

»Nein, nein,« sagte sie, lächelnd, und ihn mit der Hand zurückhaltend. »Es ist augenscheinlich nicht von Bedeutung. Es war mir nur ein wenig unwohl geworden. Jetzt aber ist es vorüber.« Zu ihrem Bett gehend, löschte sie wieder das Licht, legte sich nieder und blieb still liegen. Obwohl ihm ihre Ruhe, wie die eines verhaltenen Atmens, und mehr noch der Ausdruck einer eigenartigen Weichheit und Aufgeregtheit an ihr, mit welchem sie, hinter der Zwischenwand hervortretend, das »nichts« zu ihm gesagt hatte, verdächtig erschien, verlangte es ihn doch so sehr nach Schlaf, daß er sofort wieder einschlummerte. Erst später gedachte er dieses stillen Atmens, verstand er da alles, was in ihrer edlen, lieben Seele damals vor sich gegangen war, als sie, ohne sich zu rühren, in der Erwartung des wichtigsten Ereignisses im Leben des Weibes, neben ihm gelegen hatte.

Um sieben Uhr erweckte ihn ihre Hand, die ihn an der Schulter berührte, sowie ein leises Flüstern. Sie kämpfte gleichsam noch zwischen dem Bedauern, ihn wecken zu müssen und dem Wunsche, mit ihm zu sprechen.

»Mein Konstantin, erschrick nicht. Es ist nichts. Aber mir scheint – wir müssen nach der Lisabetha Petrowna schicken« –

Das Licht wurde wieder angezündet. Sie setzte sich im Bett und hielt ein Strickzeug in der Hand, mit welchem sie sich in den letzten Tagen beschäftigt hatte.

»Bitte, erschrick nicht, es ist nichts. Ich habe durchaus keine Angst,« sprach sie, sein erschrecktes Gesicht gewahrend, und drückte seine Hand an ihren Busen und dann an ihre Lippen.

Eilig sprang er auf, sich selbst nicht mehr empfindend und kein Auge von ihr wendend, zog seinen Hausrock an und blieb stehen, sie noch immer anblickend. Er mußte gehen, konnte sich aber nicht losreißen von ihrem Blick. Wie sehr er auch ihr Antlitz liebte, ihre Mienen kannte, und ihren Blick, aber so hatte er sie doch noch nie gesehen! Wie abscheulich und furchtbar erschien er jetzt sich selbst, indem er sich ihrer gestrigen Erbitterung entsann, hier vor ihr in ihrer Lage jetzt! Ihr gerötetes Gesicht, umgeben von dem sich unter dem Nachthäubchen hervordrängenden, weichen Haar, schimmerte von Freude und Entschlossenheit. So wenig Unnatürliches und Gekünsteltes auch im allgemeinen Charakter Kitys lag, so war Lewin dennoch betroffen von dem, was sich vor ihm jetzt enthüllte, als plötzlich alle die Schleier abgenommen waren, und der ganze Kern ihrer Seele in ihren Augen leuchtete.

In dieser Einfachheit und Hüllenlosigkeit wurde sie, die, welche er liebte, noch klarer sichtbar für ihn. Lächelnd schaute sie auf ihn, doch plötzlich erbebten ihre Brauen, sie hob das Haupt, und schnell zu ihm tretend, nahm sie ihn bei der Hand; sie schmiegte sich eng an ihn, und umgab ihn mit ihrem heißen Odem. Sie litt und es war, als beklage sie sich bei ihm über ihr Leiden. Auch ihm schien im ersten Augenblick nach seiner Gewohnheit, als sei er schuldig, aber in ihrem Blick lag eine Zärtlichkeit, welche sagte, daß sie ihm nicht nur keinen Vorwurf mache, sondern ihn für diese Leiden liebe. »Wenn ich es nicht bin – wer trüge dann die Schuld hieran?« dachte er unwillkürlich, den Urheber aller dieser Leiden suchend, um ihn zu strafen; aber es war kein Schuldiger da. Sie litt, klagte und triumphierte zugleich über diese Leiden, sie freute sich ihrer und liebte sie. Er sah, daß sich in ihrer Seele etwas Schönes vollziehe, aber was es war? Er konnte es nicht erfassen. Es stand über seinem Erkenntnisvermögen.

»Ich habe zu Mama geschickt, fahre du möglichst schnell nach der Lisabetha Petrowna – mein Konstantin – es ist nichts; schon vorüber« – Sie verließ ihn und schellte. »Also geh jetzt; Pascha kommt. Mir fehlt nichts.«

Mit Verwunderung sah Lewin, daß sie die Strickerei ergriff, die sie am Abend mitgebracht hatte und von neuem zu stricken begann.

Während Lewin durch die eine Thür hinausging, hörte er noch, wie das Mädchen durch die andere hereintrat. Er blieb an der Thür stehen und vernahm, wie Kity der Zofe ausführliche Anweisungen erteilte, und mit ihr selbst das Bett zu rücken begann.

Er kleidete sich an und eilte, bis man die Pferde angespannt haben würde – ein Mietgeschirr war noch nicht zu haben – wieder nach dem Schlafzimmer, nicht auf den Fußspitzen, sondern auf Flügeln wie ihm schien.

Zwei Mädchen räumten geschäftig um im Schlafzimmer; Kity selbst ging umher und strickte, schnell die Maschen werfend und Anordnungen dabei treffend. »Ich werde sogleich zum Arzte eilen. Nach der Lisabetha Petrowna ist man gefahren; ich aber will erst noch hin, ist nicht noch etwas nötig? Soll ich zu Dolly?«

Sie blickte ihn an, offenbar ohne zu hören, was er sprach.

»Ja. ja. Geh,« sprach sie schnell, sich verfinsternd und ihm mit der Hand zuwinkend. Er war schon in den Salon hinaus, als plötzlich ein klägliches, sogleich wieder verstummendes Stöhnen aus dem Schlafzimmer ertönte. Er blieb stehen und konnte lange nicht verstehen.

»Ja; das war sie,« sagte er zu sich selbst und lief, sich nach dem Kopfe greifend, hinab. »Gott erbarme dich! Vergieb mir und steh‘ mir bei!« stammelte er mit Worten, die gleichsam plötzlich und unerwartet ihm über die Lippen kamen. Er, der da nicht glaubte, wiederholte diese Worte nicht nur mit dem Munde allein. Jetzt, in dieser Minute erkannte er, daß nicht nur alle seine Zweifel, sondern auch die Unmöglichkeit, aus Verstandesgründen zu glauben, die er in sich selbst wahrgenommen hatte, ihn keineswegs daran verhinderten, sich an Gott zu wenden. Alles das flog ihm jetzt wie Staub von seiner Seele herunter. An wen sollte er sich wenden, wenn nicht an den, in dessen Händen er sich fühlte, seine Seele und seine Liebe?

Das Pferd war noch nicht fertig, und so eilte er im Gefühl einer eigentümlichen Spannung seiner physischen Kräfte und Wahrnehmungsfähigkeit für das, was er zu thun hatte, damit nicht eine Minute verloren ging – ohne auf das Pferd zu warten – zu Fuß hinweg und befahl Kusma, ihm nachzukommen. An der Ecke traf er auf eine daherjagende Nachtdroschke. In einem kleinen Schlitten, mit kurzem Sammetpelzmantel und in ein Umschlagtuch gewickelt, saß Lisabetha Petrowna.

»Gott sei Dank, Gott sei Dank!« sagte er, mit Entzücken sie und ihr kleines blondes Gesicht, welches jetzt einen eigentümlich ernsten, sogar strengen Ausdruck hatte, erkennend. Ohne dem Kutscher zu befehlen, anzuhalten, rannte er neben ihr wieder mit zurück.

»Also seit zwei Stunden? Nicht wahr?« frug sie, »Ihr werdet Peter Dmitrjewitsch schon treffen, aber drängt ihn nur nicht! Nehmt auch Opium aus der Apotheke mit.« »So denkt Ihr also, daß es glücklich geht? Gott erbarme sich und steh‘ mir bei!« sagte Lewin, welcher jetzt sein aus dem Thor herauskommendes Geschirr erblickte. Zu Kusma in den Schlitten springend, befahl er diesem, zum Arzt zu fahren.

14.

Der Arzt war noch nicht aufgestanden und der Diener sagte, er sei spät zu Bett gegangen und habe nicht befohlen, ihn zu wecken, doch stehe er bald auf.

Der Diener putzte Lampengläser und schien davon sehr in Anspruch genommen zu sein. Diese Aufmerksamkeit des Dieners für seine Gläser und der Gleichmut gegenüber dem, was sich bei Lewin vollzog, setzte diesen anfangs außer Fassung, doch erkannte er, zur Überlegung kommend sogleich, daß ja niemand seine Empfindungen kenne, und kennen müsse, und es daher um so notwendiger sei, ruhig zu handeln, wohlüberlegt und entschlossen, um diese Mauer der Indifferenz zu durchbrechen und seinen Zweck zu erreichen.

»Eile mit Weile,« sagte Lewin zu sich selbst, mehr und mehr eine Zunahme seiner physischen Kräfte, sowie seiner Wahrnehmungsfähigkeit für alles das, was er zu thun hatte, verspürend.

Nachdem er gehört, daß der Arzt noch nicht aufgestanden sei, blieb Lewin innerhalb der verschiedenen Pläne, die in ihm erstanden, bei dem, daß Kusma mit einem Billet zu einem andern Arzte fuhr, während er selbst in die Apotheke nach Opium eilte; sollte aber, wenn er zurückkäme, der Doktor noch nicht aufgestanden sein, so wollte er den Diener bestechen oder wenn derselbe nicht einwilligte, den Arzt mit Gewalt wecken, koste es, was es wolle.

In der Apotheke verschloß ein dürrer Provisor mit ganz dem nämlichen Gleichmut, mit welchem der Lakai die Gläser geputzt hatte, vermittelst einer Oblate Pulver für einen wartenden Kutscher, und verweigerte das Opium. Im Bestreben, nichts zu überhasten und nicht in Aufregung zu geraten, begann Lewin, nachdem er den Namen des Arztes und der Hebamme genannt, und erklärt hatte, wozu das Opium nötig sei, den Provisor zu überreden. Derselbe frug in deutscher Sprache um Rat, ob er es geben könne, und holte, nachdem er hinter einer Zwischenwand heraus Zustimmung erhalten hatte, ein Gläschen und einen Trichter herbei, worauf er langsam aus einem großen Gefäß in ein kleines Fläschchen goß, einen weißen Papierstreif anklebte und siegelte. Ungeachtet der Bitte Lewins, es nicht zu thun, wollte er das Fläschchen nochmals einwickeln. Das konnte aber Lewin nicht mehr aushalten; entschlossen riß er dem Manne das Fläschchen aus den Händen und stürzte zu der großen Glasthür hinaus.

Der Arzt war noch nicht aufgestanden, und der Diener, jetzt mit dem Ausbreiten eines Teppichs beschäftigt, weigerte sich, ihn zu wecken. Lewin zog ohne Überstürzung ein Zehnrubelpapier hervor, gab es ihm, mit einigen langsam gesprochenen Worten, aber ohne Zeit zu verlieren, und erklärte, daß Peter Dmitrjewitsch – wie erhaben und bedeutungsvoll erschien Lewin jetzt der vorher so unbedeutend gewesene Peter Dmitrjewitsch – versprochen habe, zu jeder Zeit da sein zu wollen, und sicherlich nicht ungehalten sein werde selbst darüber, daß er ihn sogleich wecke.

Der Diener gehorchte, ging nach oben und lud Lewin ein, in das Empfangszimmer zu treten.

Lewin vermochte hinter der Thür zu hören, wie der Arzt hustete, umherging, sich wusch und Etwas sagte. Es vergingen drei Minuten; Lewin schien es, als wäre mehr als eine halbe Stunde vergangen. Er konnte nicht länger warten.

»Peter Dmitrjewitsch, Peter Dmitrjewitsch,« rief er mit beschwörender Stimme in die geöffnete Thür hinein; »um Gottes willen, verzeiht mir, nehmt mich heute, wie ich bin; es hat schon seit mehr als zwei Stunden begonnen!«

»Sofort, sofort!« antwortete eine Stimme und Lewin hörte mit Erstaunen, daß der Arzt dies lächelnd sagte.

»Auf eine Minute!«

»Sogleich.«

Es vergingen noch zwei Minuten, während deren der Arzt die Stiefel anzog, zwei weitere, während er das Tuch umwarf und sich den Kopf bürstete.

»Peter Dmitrjewitsch,« begann Lewin abermals mit kläglicher Stimme, doch gerade erschien der Arzt, angekleidet und gekämmt. »Diese Leute haben kein Gewissen,« dachte Lewin, »sich zu kämmen, während wir verderben!«

»Guten Morgen!« sagte der Arzt zu ihm, die Hand hinreichend, als wollte er ihn mit seiner Ruhe necken. »Beunruhigt Euch nicht, wie steht es?«

Sich bemühend, so ausführlich wie möglich zu sein, begann Lewin alle unnötigen Einzelheiten über den Zustand seiner Frau zu erzählen, seinen Bericht unaufhörlich mit Bitten, der Arzt mochte sogleich mit ihm kommen, unterbrechend.

»Habt keine Angst; Ihr kennt das wohl noch nicht. Ich bin gewiß gar nicht notwendig, habe es aber versprochen und werde kommen. Aber Eile hat es keine. Setzt Euch doch gefälligst; ist nicht ein Kaffee gefällig?«

Lewin schaute ihn an, mit dem Blick fragend, ob sich der Arzt über ihn lustig machen wolle. Doch dieser dachte gar nicht daran, zu scherzen.

»Ich weiß schon, weiß schon,« sprach er lächelnd, »auch ich bin Familienvater, aber wir, die Männer, sind in diesen Augenblicken doch die beklagenswertesten Menschen. Ich habe da eine Patientin, deren Mann in solchen Momenten stets in den Pferdestall läuft.«

»Aber wie meint Ihr, Peter Dmitrjewitsch? Glaubt Ihr, daß alles glücklich gehen kann?«

»Alle Bedingungen für einen günstigen Ausgang sind vorhanden.«

»Ihr kommt also sofort?« sagte Lewin, zornig auf den Diener blickend, der den Kaffee brachte.

»In einem Stündchen.«

»Ach, nein doch, um Gottes willen!«

»Aber dann laßt mich doch wenigstens meinen Kaffee trinken.«

Der Arzt widmete sich dem Kaffee. Beide schwiegen.

»Man wird die Türken doch entschieden schlagen. Habt Ihr die gestrige Depesche gelesen?« sagte der Doktor semmelkauend.

»Nein; ich kann nicht mehr,« rief Lewin aufspringend, »Ihr werdet also nach Verlauf einer Viertelstunde kommen?«

»In einer halben Stunde.«

»Auf Ehrenwort?«

Als Lewin wieder nach Hause kam, traf er mit der Fürstin zusammen, und beide begaben sich zur Thür des Schlafzimmers.

Die Fürstin hatte Thränen in den Augen und ihre Hände zitterten; als sie Lewin erblickte, umarmte sie ihn und brach in Thränen aus.

»Nun, liebe Lisabetha Petrowna,« sagte sie, die ihnen mit hellem, sorglichen Gesicht daraus entgegentretende Lisabetha Petrowna an der Hand fassend.

»Es geht gut,« sagte sie, »überredet sie nur, sich niederzulegen. Es wird ihr dann leichter sein.«

Seit dem Augenblick, als er erwacht war und erkannt hatte, um was es sich handelte, hatte er sich darauf vorbereitet, ohne Erwägungen und Vermutungen im voraus anzustellen, alle Gedanken und Gefühle in sich verschließend, mannhaft, sein Weib nicht aus der Fassung bringend, sondern im Gegenteil sie beruhigend und ihren Heldenmut stützend – zu ertragen, was ihm bevorstand.

Ohne sich zu gestatten, nur daran zu denken, was kommen würde, und wie das enden sollte, nur nach seinen eingehenden Erkundigungen, wie sehr sich derartige Ereignisse gewöhnlich in die Länge zögen, urteilend, hatte sich Lewin innerlich gefaßt gemacht, zu dulden, fünf Stunden lang, und es hatte ihm das auch möglich geschienen.

Als er indessen vom Arzte heimgekommen war und von neuem ihre Leiden sah, begann er öfter und öfter zu wiederholen »Gott vergieb mir und steh‘ mir bei!« und seufzend den Kopf emporzuheben, und fing an zu befürchten, daß er dies nicht aushalten, sondern in Thränen ausbrechen, oder davonlaufen würde. In solch qualvoller Stimmung befand er sich, und doch war erst eine Stunde vergangen.

Aber nach dieser Stunde verging noch eine; zwei, drei, alle fünf Stunden vergingen, die er sich als höchste Frist seiner Geduldsprobe gesetzt hatte, und die Situation war noch immer dieselbe; er litt noch immer, weil sich weiter nichts thun ließ als leiden, jede Minute denkend, er sei bis an die äußersten Grenzen der Geduld gekommen, und das Herz müsse ihm nun von Mitleid zerrissen werden.

Aber Minuten vergingen, Stunden, Stunden auf Stunden, und die Empfindungen von Schmerz und Angst in ihm wuchsen und wurden noch höher gespannt.

Alle jene gewöhnlichen Verhältnisse im Leben, ohne die man sich gewöhnlich nichts vorstellen kann, waren für Lewin nicht mehr vorhanden. Er hatte das Zeitbewußtsein verloren. Jene Minuten – jene Minuten, da sie ihn zu sich rief und er ihre schweißbedeckte, mit außergewöhnlicher Kraft seine Hand bald pressende, bald hinwegstoßende Rechte hielt, schienen ihm bald Stunden, bald schienen sie ihm Minuten. Er war verwundert, als Lisabetha Petrowna ihn bat, das Licht hinter dem Schirm anzuzünden und als er wahrnahm, daß es bereits fünf Uhr abends war.

Hätte man ihm gesagt, daß es jetzt erst zehn Uhr morgens wäre, er würde ebensowenig verwundert gewesen sein. Wo er während dieser Zeit war, wußte er ebensowenig, wie wenn Etwas geschah. Er sah ihr glühendes, bald verzweifeltes und leidendes, bald lächelndes und ihn beschwichtigendes Gesicht. Er sah auch die Fürstin, rot im Gesicht, aufgeregt, mit den aufgegangenen Locken der grauen Haare, und in Thränen, die sie mühsam verschluckte, sich die Lippen zernagen; er sah Dolly, den Arzt, welcher dicke Cigaretten rauchte, und Lisabetha Petrowna mit ihrem festen, energischen und ruhigen Gesicht, sowie den alten Fürsten, der mit finsterem Gesicht im Salon auf und abschritt. Aber wie sie gekommen waren oder gingen, wo sie waren – er wußte es nicht.

Die Fürstin war bald bei dem Arzte im Schlafzimmer, bald im Kabinett, wo sich ein gedeckter Tisch befand; bald war sie abwesend und Dolly war da. Dann erinnerte sich Lewin, daß man ihn fortgeschickt hatte; einmal hatte man ihn geschickt, einen Tisch und ein Sofa zu transportieren. Er hatte dies voll Eifers gethan, indem er meinte, es sei für sie nötig, und erst dann erkannt, daß er sich selbst damit ein Nachtlager bereitet hatte. Darauf sandte man ihn zum Arzt ins Kabinett, damit er nach etwas frage. Der Arzt antwortete und begann dann von den Unordnungen in der Duma zu sprechen. Hierauf schickte man ihn in das Schlafzimmer zur Fürstin, derselben ein Heiligenbild in silbernem, vergoldetem Gewand zu bringen. Er kletterte nebst der alten Kammerfrau der Fürstin auf einen Schrank, um es zu erlangen und zerbrach dabei eine Lampe; die Kammerfrau der Fürstin beruhigte ihn über seine Frau und über die Lampe und er brachte das Heiligenbild und stellte es zu Häupten Kitys, es sorgfältig hinter die Kissen steckend. Aber wo, wann und warum alles das war, wußte er nicht. Er verstand auch nicht, weshalb ihn die Fürstin bei der Hand nahm und ihn mit einem Blick voll Mitleid bat, sich zu beruhigen, weshalb Dolly ihm zuredete, zu essen, und ihn aus dem Zimmer führte, ja, selbst der Doktor ihn ernst und teilnahmsvoll anschaute und ihm einen stärkenden Tropfen empfahl.

Er wußte und fühlte nur, daß das, was sich jetzt vollzog, dem ähnlich war, was sich ein Jahr vorher in dem Hotel der Gouvernementsstadt auf dem Totenbett seines Bruders Nikolay vollzogen hatte.

Jenes aber war ein Schmerz gewesen – dies war eine Freude! – Doch sowohl jener Schmerz, wie diese Freude lagen vereinsamt außerhalb aller gewohnten Verhältnisse des Lebens; sie bildeten in diesem gewöhnlichen Leben gleichsam Öffnungen, durch welche etwas Höheres erschien. In ganz gleicher Weise unergründlich, erhob sich die Seele vor der Betrachtung dieses Höchsten auf eine Höhe, wie sie nie zuvor begriffen, und wohin der Verstand nicht mehr reichte.

»Gott vergieb mir und steh‘ mir bei,« stammelte er ohne Unterlaß, ungeachtet der so langjährigen und ihm vollkommen erschienenen Entfremdung, in dem Gefühl, daß er sich ganz so vertrauensselig und naiv wieder zu Gott wende, wie in den Zeiten seiner Kindheit und ersten Jugend.

Während dieser ganzen Zeit herrschten in ihm zwei in sich gesonderte Stimmungen. Die eine war vorhanden, wenn er sich nicht in der Gegenwart seiner Frau befand; sie gruppierte sich um den Arzt, welche eine seiner dicken Cigaretten nach der anderen rauchte und sie dann an dem Rande des gefüllten Aschenbechers löschte, um Dolly und den Fürsten, von denen ein Gespräch über das Essen, über die Politik und die Krankheit Marja Petrownas gepflogen wurde, und wo Lewin plötzlich auf einen Moment völlig vergaß, was vorging, sich gleichsam erwacht fühlte – die andere herrschte in ihm, wenn er in ihrer Gegenwart war; an ihrem Kopfkissen stand, und es ihm das Herz zerreißen wollte vor Mitleid und doch nicht zerriß, und wo er ohne Aufhören zu Gott flehte.

Jedesmal, wenn ihn ein aus dem Schlafzimmer zu ihm dringender Schrei einer Minute des Vergessens wieder entriß, geriet er in den nämlichen seltsamen Irrtum, dem er in der ersten Minute verfallen war. Jedesmal, sobald er einen Schrei vernahm, sprang er auf und eilte, um sich zu entschuldigen, besann sich aber unterwegs, daß er ja nicht schuld sei; er wollte schützen, helfen. Erblickte er sie aber dann, sah er von neuem, daß es unmöglich sei zu helfen, so geriet er in Schrecken und sprach »Gott vergieb mir und steh mir bei.«

Je weiter die Zeit vorrückte, um so stärker wurden diese beiden Stimmungen; um so ruhiger wurde er, indem er seine Frau völlig vergaß, in der Abwesenheit von ihr, um so qualvoller wurden ihm aber auch ihre Leiden und das Gefühl der Hilflosigkeit, diesen gegenüber. Er sprang empor, wollte fort, und lief zu ihr.

Bisweilen, wenn sie ihn immer und immer wieder rief, machte er ihr Vorwürfe, doch wenn er ihr ergebenes, lächelndes Antlitz gesehen, ihre Worte gehört hatte: »Ich martere dich,« machte er Gott Vorwürfe, gedachte er aber Gottes, so flehte er sogleich um Vergebung und Erbarmen.

8.

Anna fühlte sich in dieser ersten Zeit ihrer Freiheit und schnellen Genesung in einer Weise glücklich und voll Lebensfreude, die nicht zu vergeben war. Die Erinnerung an das Unglück ihres Gatten vergällte ihr ihre Seligkeit nicht. Diese Erinnerung war ihr einerseits zu furchtbar, als daß sie daran hätte denken mögen, andrerseits verlieh ihr das Unglück des Gatten eine viel zu hohe Seligkeit, als daß sie Reue über dasselbe hätte empfinden können. Die Erinnerung an alles, was sich mit ihr seit ihrer Krankheit zugetragen, die Aussöhnung mit dem Gatten, der Bruch mit ihm, die Nachricht von der Verwundung Wronskiys, dessen erneutes Erscheinen bei ihr, die Vorbereitung der Ehescheidung, das Verlassen des Hauses ihres Gatten, der Abschied von ihrem Sohne – alles das erschien ihr wie ein Fiebertraum, aus welchem sie, allein mit Wronskiy, im Auslande erwacht war. Die Erinnerung – das Böse, daß sie ihrem Gatten zugefügt hatte, erweckte in ihr ein Gefühl, welches dem Ekel und dem Gefühl ähnlich war, welches ein Mensch empfindet, der ertrinken wollte und sich von einem andern losgerissen hat, der sich an ihn anklammerte. Dieser letztere Mensch war ertrunken. Natürlich war das keine schöne Handlung, aber es war die einzige Rettung und man that daher am besten, an diese furchtbaren Einzelheiten nicht mehr zu denken.

Ein Schluß der sie über ihre Handlungsweise beruhigte, kam ihr damals, in der ersten Minute nach dem Bruch, und wenn sie jetzt an ihre ganze Vergangenheit dachte, erinnerte sie sich dieses Schlusses. »Ich habe unwiderleglich das Verhängnis dieses Mannes herbeigeführt,« dachte sie, »aber ich will aus diesem Unglück keinen Vorteil ziehen; auch ich leide und werde leiden, ich bin dessen beraubt, was ich über alles schätzte, – des ehrenhaften Namens und meines Sohnes. Ich habe schlecht gehandelt, und will daher kein Glück, keine Ehescheidung; ich werde leiden in meiner Schmach und der Trennung von dem Sohne.«

Aber so aufrichtig Anna auch leiden wollte, sie litt nicht; und ihre Schmach war für sie nicht vorhanden. Mit dem Takte, von welchem sie beide so viel besaßen, kamen sie im Auslande, indem sie russische Damen mieden, nie in eine falsche Situation und überall trafen sie Leute, die sich stellten, als ob sie die beiderseitige Lage noch weit besser verständen, als sie selbst sie auffaßten. Selbst die Trennung von ihrem Sohne, den sie liebte, war ihr in der ersten Zeit nicht schmerzlich. Ihr Töchterchen, sein Kind, war so lieb, hatte Anna so für sich eingenommen, seit ihr das Mädchen allein verblieben war, daß sie nur selten noch des Sohnes gedachte.

Ihr Bedürfnis zu leben, mit der Genesung erhöht, war so stark, und ihre Lebensverhältnisse waren so ungewohnte und angenehme, daß Anna sich unverzeihlich glücklich fühlte.

Je mehr sie Wronskiy erkannte, desto mehr liebte sie ihn. Sie liebte ihn um seiner selbst willen und wegen seiner Liebe für sie. Ihre vollständige Herrschaft über ihn war ihr eine fortwährende Freude. Seine Nähe war ihr stets willkommen. Alle Züge seines Charakters, den sie mehr und mehr erkannte, waren ihr unaussprechlich lieblich. Sein Äußeres, das sich im Civilanzug verändert hatte, war für sie so anziehend, wie für eine liebende junge Frau. In allem was er sprach, dachte und that, sah sie etwas besonders Edles und Erhabenes, und ihr Entzücken über ihn erschreckte sie selbst sogar häufig. Sie suchte nichts Unschönes in ihm und konnte auch nichts finden; sie wagte es nicht, das Bewußtsein ihrer Nichtigkeit vor ihm gewahr werden zu lassen, denn es schien ihr, als ob er, wenn er dies wüßte, schneller aufhören könne, sie zu lieben. Jetzt aber fürchtete sie nichts so sehr – obwohl sie nicht den geringsten Anlaß hierzu hatte – als, seine Liebe zu verlieren. Sie konnte nicht umhin, ihm dankbar zu sein für sein Verhältnis zu ihr und mußte ihm zeigen, wie hoch sie dasselbe schätzte. Er, der nach ihrer Meinung einen so ausgeprägten Beruf für die Staatscarriere besaß, in der er einmal eine bedeutende Rolle spielen mußte – er hatte seinen Ehrgeiz für sie geopfert, ohne je auch nur das geringste Bedauern darüber zu zeigen.

Er war mehr noch als früher, liebevoll und achtungsvoll gegen sie geworden und der Gedanke, sie möchte sich des Peinlichen ihrer Lage niemals bewußt werden, verließ ihn nicht eine Minute. Er, so ganz ein Mann, war vor ihr nicht nur widerspruchslos, er hatte nicht einmal seinen eigenen Willen, und war offenbar nur damit beschäftigt, auf welche Weise er ihren Wünschen zuvorkommen könne. Und sie konnte nicht umhin, dies hochzuschätzen, obwohl sie das Übermaß seiner Aufmerksamkeit für sie, diese Atmosphäre liebevoller Sorgfalt mit der er sie umgab, bisweilen bedrückte.

Wronskiy jedoch war ungeachtet der vollständigen Verwirklichung dessen, was er so lange ersehnt hatte, nicht vollkommen glücklich. Er fühlte bald, daß die Verwirklichung seines Wunsches ihm nur ein Körnlein von jenem Berg von Glück gewährt hatte, den er erwartete. Diese Verwirklichung zeigte ihm nur den ewigen Fehler, den die Menschen begehen, indem sie sich das Glück als Verwirklichung eines Wunsches denken. In der ersten Zeit, nachdem er sich mit ihr vereinigt und den Civilrock angelegt hatte, empfand er all den Reiz der Freiheit im allgemeinen, den er nicht vorher gekannt hatte, sowie die Freiheit der Liebe, und er war zufrieden; doch nicht auf lange. Bald fühlte er, daß sich in seiner Brust der Wunsch der Wünsche regte – die Langeweile. – Ganz ohne seinen Willen klammerte er sich an jeder vorüberhuschende Laune, indem er sie als Wunsch und Ziel erfaßte. Sechzehn Stunden des Tages mußte man sich beschäftigen, obwohl man im Ausland in vollkommener Freiheit lebte, außerhalb jenes Kreises von Anforderungen des gesellschaftlichen Lebens, wie er die Zeit in Petersburg für sich in Anspruch nahm.

An jene Zerstreuungen des Junggesellenlebens, die Wronskiy bei früheren Reisen ins Ausland beschäftigt hatten, war nicht mehr zu denken, da schon ein einziger Versuch dieser Art einen unerwarteten, einem verspäteten Abendbrot unter Bekannten nicht entsprechenden Trübsinn in Anna hervorrief. Beziehungen zu der Gesellschaft des Ortes, auch den Russen hier, konnten sie bei der Unbestimmtheit ihrer Verhältnisse ebenfalls nicht unterhalten. Eine Besichtigung der Sehenswürdigkeiten hatte, abgesehen davon, daß sie alles schon gesehen hatten, für ihn als einen Russen, und verständigen Menschen, nicht jene unerklärbare Bedeutung, wie sie die Engländer diesem Punkte beimessen.

Wie daher das hungernde Tier nach jedem fallenden Gegenstande schnappt, in der Hoffnung, in ihm etwas zu fressen zu finden, so griff auch Wronskiy vollständig instinktiv bald zur Politik, bald nach neuen Büchern, bald nach der Malerei.

Da er von Kindheit an Talent zur Malerei gehabt, und, indem er nicht wußte, wofür er sein Geld verausgaben sollte, Stahlstiche zu sammeln begonnen hatte, so blieb er endlich bei der Malerei, und begann sich mit ihr zu beschäftigen und jenen brachliegenden Wust von Wünschen, welcher nach Verwirklichung verlangte, in ihr abzulagern.

Er besaß die Fähigkeit, die Kunst zu erfassen, und in der That mit Geschmack die Kunst nachzuahmen; er meinte auch, daß er dasselbe besäße, was der Künstler brauche, und befaßte sich, nachdem er einige Zeit geschwankt hatte, welches Genre der Malerei er erwählen solle: das religiöse, historische oder realistische, mit Malen. Er verstand sich auf jedes Genre und konnte sich für dieses, wie für jenes begeistern, aber er vermochte sich nicht vorzustellen, daß es auch möglich sei, ganz und gar nichts zu wissen, was es für Richtungen in der Malerei gebe, und sich unmittelbar von dem inspirieren zu lassen, was in der Seele lebte, ohne Sorge, ob das, was man malte, auch zu einem bestimmten Genre in der Kunst gehörte. Da er dies nicht kannte, und sich nicht unmittelbar vom Leben beeinflussen ließ, sondern mittelbar, vom Leben wie es durch die Kunst schon verkörpert war, so begeisterte er sich sehr schnell und leicht und erreichte ebenso schnell und leicht, daß das, was er malte, demjenigen Genre sehr ähnlich wurde, welches er nachzuahmen wünschte.

Vor allem gefiel ihm die französische Schule, die graziöse und effektvolle, und nach dieser begann er, das Bild Annas in italienischem Kostüm zu malen. Das Porträt erschien ihm und jedermann, der es sah, als sehr gelungen.

15.

Er wußte nicht, ob es spät oder früh war. Die Kerzen waren schon sämtlich niedergebrannt. Dolly war soeben im Kabinett gewesen und hatte dem Arzte vorgeschlagen, sich niederzulegen.

Lewin saß, den Erzählungen des Doktors über den Charlatanismus eines Magnetiseurs zuhörend, und schaute auf die Asche seiner Cigarette. Es war eine Ruhepause eingetreten und er hatte sich in Gedanken verloren. Er hatte vollständig vergessen, was jetzt vorging, hörte der Erzählung des Arztes zu und verstand sie. Plötzlich ertönte ein mit nichts mehr zu vergleichender Schrei. Der Schrei war so furchtbar, daß Lewin nicht einmal aufsprang, sondern mit stockendem Atem, erschrocken fragend den Arzt anblickte. Dieser neigte lauschend den Kopf seitwärts, und lächelte befriedigt. Alles war so außergewöhnlich gewesen, daß Lewin schon nichts mehr in Erstaunen versetzte. »Es muß wahrscheinlich so sein,« dachte er und blieb sitzen. Von wem rührte der Schrei her? Er sprang auf und eilte auf den Fußspitzen in das Schlafzimmer; er eilte an Lisabetha Petrowna und der Fürstin vorüber und trat auf seinen Platz zu Häupten. Der Schrei war verstummt, aber es ging jetzt eine Veränderung vor sich. Was es war – das sah und erkannte er nicht, wollte er auch weder sehen, noch erkennen. Aber er nahm diese Veränderung wahr an dem Gesicht Lisabetha Petrownas, welches streng und bleich, noch immer so energisch war, obwohl ihre Kinnbacken bisweilen leise bebten und ihre Augen unverwandt auf Kity gerichtet waren.

Das glühende, erschöpfte Antlitz Kitys mit den am schweißbedeckten Gesicht klebenden Haargewirr war ihm zugewendet und suchte seinen Blick. Ihre erhobenen Arme verlangten nach den seinen, und mit ihren schweißbedeckten Händen die seinen, welche kalt waren, fassend, drückte sie dieselben an ihr Gesicht.

»Geh‘ nicht von mir, geh‘ nicht von mir! Ich habe keine Angst, ich habe keine Angst!« sprach sie rasch. »Mama, nehmt mir die Ohrringe weg, sie stören mich. Hast du auch keine Angst? – Bald, bald, Lisabetha Petrowna!« –

Sie sprach schnell, schnell, und wollte lächeln, aber plötzlich verzerrte sich ihr Gesicht und sie stieß ihn von sich.

»Nein, das ist furchtbar! Ich sterbe, sterbe! Komm her, komm her!« schrie sie auf, und wieder ertönte der nämliche, mit nichts zu vergleichende Schrei.

Lewin griff sich nach dem Kopfe und stürzte aus dem Zimmer hinaus.

»Es ist nichts, nichts; alles geht gut!« rief Dolly ihm nach.

Doch was man auch sagen mochte, er wußte, daß jetzt alles verloren war. Den Kopf gegen die Oberschwelle der Thür gelehnt, stand er im Nebenzimmer und vernahm ein von ihm noch nie gehörtes Wimmern und Schreien; er erkannte, das jetzt ein Wesen schrie, welches früher Kity gewesen war. Ein Kind hatte er nicht gewünscht. Er haßte jetzt dieses Kind, ja wünschte jetzt nicht einmal dessen Leben, sondern nur die Abkürzung dieser entsetzlichen Leiden.

»Doktor! Was ist das! Was ist das; mein Gott!« sagte er, den eintretenden Arzt am Arme packend.

»Es geht zu Ende,« sagte der Arzt; sein Gesicht war so ernst, als er dies sagte, daß Lewin dieses »es geht zu Ende« in dem Sinne auffaßte, als ob sie stürbe.

Nicht mehr bei Sinnen, rannte er in das Schlafzimmer. Das erste, was er hier erblickte, war das Gesicht Lisabetha Petrownas. Es war noch finstrer und ernstrer geworden. Das Gesicht Kitys war nicht da. An der Stelle, wo es vorher gewesen, lag etwas Entsetzenerregendes, nach dem Ausdruck von Anstrengung und den Tönen die von dorther kamen, zu urteilen. Er fiel mit dem Kopfe auf die Bettstelle, und fühlte, wie es ihm das Herz zerriß. Das furchtbare Schreien verstummte nicht mehr, es wurde noch furchtbarer und, als wäre es bis zur höchsten Grenze des Entsetzlichen gelangt – verstummte es plötzlich. Lewin traute seinen Ohren nicht, aber es war nicht zu bezweifeln; das Schreien war verstummt und man hörte jetzt ein leises Geräusch und schnelles Atmen, sowie ihre sich losringende, lebhafte, milde und glückselige Stimme die ein leises »vorbei« hervorbrachte.

Er hob den Kopf. Kraftlos die Hand auf die Bettdecke sinken lassend, schaute sie ihn, seltsam schön und still, wortlos an; sie wollte lächeln, vermochte es aber nicht, und plötzlich fühlte sich Lewin aus jener geheimnisvollen und furchtbaren, überirdischen Welt, in der er die letzten zweiundzwanzig Stunden gelebt hatte, in die frühere, gewohnte zurückversetzt, die ihm jetzt jedoch in solch neuem Glanze von Glück erschien, daß er ihn nicht ertragen konnte. Die gespannt gewesenen Saiten waren sämtlich gerissen. Schluchzen und Freudenthränen, die er nimmermehr vorausgesehen hätte, stiegen in ihm mit solcher Gewalt, seinen ganzen Körper erschütternd, auf, daß sie ihn lange Zeit am Sprechen verhinderten.

Auf die Kniee niederfallend vor dem Bett, hielt er die Hand seines Weibes an seine Lippen und küßte sie, und diese Hand antwortete seinen Küssen mit einer schwachen Bewegung der Finger. Währenddem aber bewegte sich unten, zu Füßen des Bettes, in den gewandten Händen der Lisabetha Petrowna, wie ein Flämmchen auf dem Leuchter, ein lebendiges menschliches Wesen hin und her, welches früher nie gewesen war, nun aber mit dem gleichen Rechte, mit der nämlichen Bedeutung für sich selbst, leben sollte und seinesgleichen zeugen.

»Es lebt, es lebt! Und noch dazu ein Junge! Fürchtet nichts!« hörte Lewin die Stimme der Lisabetha Petrowna, die mit der zitternden Hand klatschend den Rücken des Kindes schlug.

»Mama, ist es wahr?« sagte die Stimme Kitys.

Nur das Schluchzen der Fürstin antwortete ihr.

Inmitten des Schweigens aber ertönte, wie eine unbegreifbare Antwort auf die Frage an die Mutter, eine Stimme, die vollkommen verschieden war von den Stimmen, welche verhalten im Zimmer sprachen. Es war der kecke, dreiste, unbekümmerte Schrei eines neuen menschlichen Wesens, das auf unbegreiflichem Wege erschienen ist.

Hätte man Lewin früher gesagt, daß Kity einmal sterben werde und er mit ihr zusammen, und daß ihre Kinder Engel würden und Gott dann bei ihnen sein werde – er hätte sich über nichts gewundert; jetzt aber, in die Welt der Wirklichkeit zurückversetzt, machte er die größten Anstrengungen im Denken, um zu begreifen, daß sie noch lebte, gesund sei, und daß jenes verzweifelt wimmernde Wesen sein Sohn sei.

Kity lebte, ihre Leiden waren vorüber, und er war unsagbar glücklich. Das erkannte er, und er war vollkommen glücklich darüber. Aber das Kind? Woher kam es, warum war es und was war es? Er vermochte sich durchaus nicht an diesen Gedanken zu gewöhnen; es erschien ihm aber auch durch irgend einen Umstand, an den er sich nicht gewöhnen konnte, überflüssig, überzählig.

11.

»Welch ein bewundernswertes, liebenswertes und beklagenswertes Weib,« dachte er, als er mit Stefan Arkadjewitsch in die kalte Luft hinaustrat.

»Nun, was sagst du? Ich hatte dir schon gesagt,« begann Stefan Arkadjewitsch, welcher sah, daß Lewin vollständig besiegt war.

»Ja,« versetzte dieser gedankenvoll, »ein ungewöhnliches Weib! Nicht nur, daß sie Verstand besitzt, sie ist auch wunderbar innig. Mir thut sie außerordentlich leid.«

»Jetzt wird ja wohl, so Gott will, bald alles in Ordnung sein. Man muß nur nicht zu früh richten,« sagte Stefan Arkadjewitsch, die Wagenthür öffnend; »entschuldige, wir haben doch nicht einen Weg.«

Fortwährend an Anna denkend, an alle die so einfachen Gespräche, welche mit ihr gepflogen worden waren, und sich dabei alle Einzelheiten ihres Gesichtsausdrucks ins Gedächtnis zurückrufend, mehr und mehr in ihre Lage eindringend und Mitleid mit ihr empfindend, fuhr Lewin nach Hause.

 

Daheim berichtete ihm Kusma, daß Katharina Aleksandrowna sich wohl befinde, sowie, daß die Schwestern nicht lange erst weggefahren wären, und überreichte zwei Briefe.

Lewin las dieselben gleich an Ort und Stelle, im Vorzimmer, um sich später nicht davon ablenken lassen zu müssen. Der eine Brief war von Sokoloff, seinem Verwalter. Sokoloff schrieb, daß der Weizen nicht verkauft werden könne, da man nur fünf und einen halben Rubel gebe, und ein höheres Gebot nirgends zu erlangen sei. Der andere Brief war von seiner Schwester. Dieselbe machte ihm Vorwürfe darüber, daß ihre Angelegenheit noch immer nicht erledigt sei.

»Nun; so werden wir für fünfeinhalb verkaufen, wenn man nicht mehr geben will,« entschied Lewin sofort mit einer ungewöhnlichen Leichtfertigkeit die erste Frage, die ihm früher so schwierig erschienen war. »Wunderbar, wie hier die Zeit stets in Anspruch genommen ist,« dachte er bei dem zweiten Briefe. Er fühlte sich schuldig der Schwester gegenüber, weil er bis jetzt nicht erledigt hatte, warum sie ihn gebeten. »Ich bin heute wieder nicht aufs Gericht gekommen, aber es war heute auch, als hätte man nicht die geringste Zeit.« Nachdem er beschlossen hatte, es morgen entschieden zur Ausführung zu bringen, begab er sich zu seiner Gattin. Auf dem Wege zu ihr ging er noch einmal schnell in der Erinnerung den ganzen Tag durch, so wie er ihn verbracht hatte. Alle Erlebnisse des Tages bestanden in Gesprächen – Gesprächen, welche er angehört und an denen er teilgenommen hatte.

Alle Gespräche hatten von Dingen gehandelt, mit denen er sich, hätte er allein und auf dem Lande gelebt, nie würde beschäftigt haben, die aber hier sehr interessant waren. Alle diese Gespräche waren auch gut gewesen; nur in zwei Punkten nicht so ganz. Der eine betraf das, was er von dem Hechte gesagt hatte, der andere, daß ihm Etwas »nicht richtig« vorkam in dem zarten Mitgefühl, welches er für Anna empfand.

Lewin fand sein Weib verstimmt und gelangweilt. Die Tafel der drei Schwestern hatte sich ganz heiter gestaltet, dann aber hatte man auf ihn gewartet und gewartet, alles begann sich zu langweilen, die Schwestern fuhren von dannen und sie war allein zurückgeblieben.

»Nun, was hast du denn gemacht?« frug sie, ihm in die Augen blickend, welche ein wenig, verdächtig glänzten. Um ihn nicht zu hindern, alles zu erzählen, verbarg sie jedoch ihre Wahrnehmung und hörte mit billigendem Lächeln seiner Erzählung zu, wie er den Abend verlebt hatte.

»Nun, ich freute mich sehr, daß ich Wronskiy begegnet bin. Ich habe mich recht wohl und unbefangen in seiner Gesellschaft gefühlt. Du begreifst, daß ich mich jetzt bemühen werde, ihn nie wieder zu sehen; aber diese peinliche Situation mußte doch ihr Ende erreichen,« sprach er, dachte daran, daß er »sich bemühend, ihn nie wieder zu sehen«, sogleich darauf zu Anna gefahren war, und errötete. »Da reden wir, daß das Volk trinkt; ich weiß nicht, wer mehr trinkt, das Volk oder unsere Gesellschaft; das Volk thut es wenigstens nur an Feiertagen, aber« –

Kity interessierte indessen die Betrachtung, wie das Volk trinke, nicht. Sie hatte gesehen, daß er rot geworden war, und wünschte zu wissen, warum.

»Nun, und wo warest du dann?«

»Stefan bat mich aufs Dringendste, mit zu Anna Arkadjewna zu fahren.«

Lewin hatte dies kaum gesagt, als er noch mehr errötete, und seine Zweifel darüber, ob er gut oder übel daran gethan habe, zu Anna zu fahren, waren endgiltig entschieden. Er wußte jetzt, daß es nicht gerade nötig gewesen war, dies zu thun.

Die Augen Kitys öffneten sich eigentümlich weit und blitzten auf bei dem Namen Annas, doch sich selbst bezwingend, verbarg Kity ihre Aufregung und täuschte ihn.

»Ah,« sagte sie nur.

»Du wirst wohl nicht ungehalten sein, daß ich dahin gefahren bin. Stefan bat mich und Dolly wünschte es,« fuhr Lewin fort.

»O nein,« sagte sie, doch in ihren Augen las er ihre Anstrengung über sich selbst, die ihm nichts Gutes verhieß.

»Sie ist sehr liebenswürdig, sehr, sehr beklagenswert, ein gutes Weib,« sagte er, von Anna erzählend, von ihren Beschäftigungen und von dem, was sie ihm auszurichten befohlen hatte.

»Ja, natürlich, sie ist sehr beklagenswert,« sagte Kity, nachdem er geendet hatte. »Von wem hast du einen Brief erhalten?«

Er gab ihr Bescheid, und ging, der Ruhe in ihrem Tone vertrauend, sich auszukleiden.

Als er zurückkehrte, fand er Kity noch in demselben Sessel sitzend. Nachdem er zu ihr hingetreten war, blickte sie ihn an und brach in Thränen aus.

»Was ist? Was ist denn?« frug er, schon vorher den Grund kennend.

»Du hast dich verliebt in dieses abscheuliche Weib; sie hat dich bestrickt. Ich seh es an deinen Augen! Ja, ja; was soll daraus werden? Du hast im Klub getrunken, getrunken, gespielt und dann bist du zu ihr gefahren. Zu wem? Nein; wir reisen ab! Morgen reise ich ab!«

Lewin vermochte lange nicht, sein Weib zu beruhigen. Endlich hatte er sie indessen beschwichtigt, jedoch nur dadurch, daß er eingestand, daß das Gefühl des Mitleids im Verein mit dem Weine ihn verleitet habe, und daß er dem hinterlistigen Einfluß Annas unterlegen sei, diese aber fortan meiden werde.

Ein Umstand, welchen er am Aufrichtigsten eingestand, war der, daß er, so lange schon in Moskau, lediglich durch diese Unterhaltung, das Essen und Pokulieren um seine klare Vernunft gekommen sei.

So sprachen sie bis drei Uhr nachts, und erst um drei Uhr hatten sie sich so weit versöhnt, daß sie Schlaf fanden.

12.

Nachdem Anna ihre Gäste hinausgeleitet hatte, begann sie, ohne wieder Platz zu nehmen, im Gemach auf und abzuschreiten. Obwohl sie unbewußt – wie sie in letzter Zeit in ihrem Verhalten jungen Männern gegenüber stets gethan – den ganzen Abend alles Mögliche versucht hatte, in Lewin die Empfindung der Liebe für sie zu erwecken, obwohl sie wußte, daß sie dies auch erreicht habe, so weit es eben in ihrem Verhältnis einem ehrenhaften verheirateten Manne gegenüber und für einen einzigen Abend möglich gewesen war – obwohl auch er selbst ihr sehr gefallen hatte (trotz des scharfen Kontrastes, welcher vom Gesichtspunkt des Mannes aus zwischen Wronskiy und Lewin bestand, sah sie als Weib in beiden ganz ebenso das Gemeinsame, wodurch Kity Wronskiy wie Lewin liebgewonnen hatte), dachte sie nicht mehr seiner, sobald er das Zimmer verlassen hatte.

Einundderselbe Gedanke verfolgte sie unablässig in verschiedenen Gestalten: »Wenn ich so auf andere wirke, auf diesen häuslichen, liebenden Mann, wie kommt es da, daß er so kalt ist gegen mich? Oder vielmehr, nicht daß er kalt wäre, er liebt mich, ich weiß es; aber etwas Fremdartiges trennt uns jetzt! Wie kommt es, daß er den ganzen Abend nicht hier ist? Er hat mir durch Stefan sagen lassen, daß er Jaschwin nicht verlassen könne und dessen Spiel verfolgen müsse. Was für ein Kind ist dieser Jaschwin? Aber gesetzt, es wäre wirklich so – er spricht ja nie die Unwahrheit – so liegt in dieser Wahrheit doch etwas anderes! Er freut sich über die Gelegenheit, mir zeigen zu können, daß er auch noch andere Verpflichtungen hat. Ich weiß das, und bin damit einverstanden. Aber weshalb muß er mir dies zeigen? Er will mir beweisen, daß seine Liebe zu mir nicht seine Freiheit hemmen darf! Aber ich brauche keine Beweise, sondern Liebe! Er hätte wohl all das Drückende dieses meines Lebens in Moskau begreifen müssen; lebe ich denn? Ich lebe nicht, ich erwarte eine Lösung, die sich mehr und mehr hinauszieht. Wieder keine Antwort! Stefan sagt, er könne sich nicht zu Aleksey Aleksandrowitsch begeben. Ich kann aber doch nicht nochmals schreiben. Ich kann nichts thun, nichts anfangen, nichts ändern; ich halte mich ruhig zurück, warte ab, indem ich mir Zeitvertreib ersinne – wie die Familie des Engländers, die Schriftstellern und Lektüre – und doch ist das alles nur eine Täuschung, alles das ist das nämliche Morphium! Er müßte mich beklagen,« sprach sie und fühlte, wie ihr die Thränen des Jammers über sich selbst in die Augen traten.

Da vernahm sie das jähe Läuten Wronskiys und wischte eilig diese Thränen ab. Sie wischte nicht nur ihre Thränen weg, sie setzte sich noch zur Lampe und schlug ein Buch auf, sich den Anschein der Ruhe gebend. Galt es doch, ihm zu zeigen, daß sie mißgestimmt sei, weil er nicht zurückgekehrt war, wie er versprochen hatte – nur mißgestimmt; aber nimmermehr wollte sie ihm ihren Schmerz zeigen, oder gar etwa ihr Mitleid mit sich selbst.

Sie durfte wohl Mitleid haben mit sich selbst, nicht aber er mit ihr. Sie wollte keinen Hader, sie machte ihm einen Vorwurf daraus, daß er zu streiten wünschte, und doch geriet sie unwillkürlich in streitlustige Stimmung.

»Du hast dich doch nicht gelangweilt?« sagte er, lebhaft und heiter zu ihr kommend. »Welch eine furchtbare Leidenschaft – das Spiel.« –

»Nein; ich habe mich nicht gelangweilt und habe schon seit langem gelernt, mich nicht zu langweilen. Stefan und Lewin waren hier.«

»Ja wohl; sie wollten zu dir fahren. Nun, wie hat dir Lewin gefallen?« sprach er, sich neben ihr niederlassend.

»Sehr gut. Sie sind nicht lange erst weggefahren. Was hat Jaschwin gemacht?«

»Er war im Gewinnen; siebzehntausend Rubel. Ich rief ihn zu mir, er war vollkommen einverstanden, schon aufzubrechen, kehrte aber wieder um und verspielt jetzt.«

»Weshalb bist du denn dann geblieben?« frug sie, plötzlich die Augen zu ihm erhebend. Der Ausdruck ihres Gesichts war kalt und feindselig, »du hast Stefan gesagt, du wolltest bleiben, um Jaschwin mit zu dir zu nehmen, und hast ihn doch verlassen.«

Der nämliche Ausdruck kalter Kampfbereitschaft drückte sich auch auf seinem Antlitz aus.

»Erstens habe ich ihn in keiner Weise gebeten, dich von etwas zu benachrichtigen, zweitens spreche ich nie die Unwahrheit. Die Hauptsache ist, ich wollte bleiben und bin geblieben,« sagte er, finster sprechend. »Anna, warum, warum nur das?« sprach er nach einer Minute des Schweigens, sich zu ihr beugend und die Hand öffnend in der Hoffnung, daß sie die ihre in sie legen werde.

Sie freute sich über diese Aufforderung, zärtlich zu sein, aber eine gewisse, seltsame Macht des Bösen gestattete ihr nicht, sich ihrem Zuge zu ihm hinzugeben, gleich als ob die Ursachen zum Hader es nicht zuließen, daß sie sich selbst überwinde.

»Natürlich; du wolltest bleiben und bist geblieben. Du thust eben, was du willst! Aber warum sagst du mir das? Zu welchem Zweck?« sagte sie, immer mehr in Erregung geratend. »Macht dir denn jemand deine Rechte streitig? Du willst in deinem Rechte sein; sei es.«

Seine Hand schloß sich, er wandte sich ab und sein Gesicht nahm noch mehr als vorher einen Ausdruck von Trotz an.

»Für dich ist dies nur eine Frage des Eigensinnes,« sagte sie, ihn unverwandt anblickend, indem sie plötzlich den Namen fand für diesen sie in Wallung versetzenden Ausdruck seines Gesichts, »einfach des Trotzes! Für dich giebt es nur die Frage, wirst du Sieger bleiben gegen mich. Für mich aber« – wieder empfand sie Mitleid mit sich selbst und sie wäre beinahe in Thränen ausgebrochen. »Wüßtest du, um was es sich für mich handelt! Wenn ich, so wie jetzt, fühle, daß du dich feindselig gegen mich verhältst, tatsächlich feindselig, wüßtest du, was das für mich bedeutet! Wenn du wüßtest, wie nahe ich in diesen Augenblicken dem Unglück bin, wie ich mich selbst fürchte!« – Sie wandte sich ab, ihr Schluchzen unterdrückend.

»Wovon sprichst du da?« sagte er, erschreckt vor dem Ausdruck ihrer Verzweiflung, und sich wiederum zu ihr neigend, ihre Hand ergreifend und sie küssend. »Meide ich etwa nicht den Umgang, mit den Weibern?«

»Das wäre auch noch!« sagte sie.

»Nun sag‘, was ich thun soll, damit du beruhigt bist? Ich bin bereit, alles zu thun, daß du glücklich sein möchtest,« sprach er, gerührt von ihrer Verzweiflung, »was thue ich nicht, um dich von einem Schmerz zu befreien, wie er dich jetzt erfüllt, Anna,« sagte er.

»Nicht doch, nicht doch,« sprach sie, »ich weiß selbst nicht; ist es das einsame Leben, sind es die Nerven – nun, wir wollen nicht weiter davon sprechen! Wie war es mit dem Rennen? Du hast mir nicht davon erzählt?« frug sie, sich bemühend, den Triumph über den Sieg zu verbergen, welcher nun doch auf ihrer Seite geblieben war.

Er befahl das Abendessen und begann ihr Einzelheiten über die Rennen zu erzählen, aber an seinem Tone, seinen Blicken, die kühler und kühler wurden, erkannte sie, daß er ihr ihren Sieg nicht vergeben hatte, daß jenes Gefühl des Trotzes, gegen welchen sie gekämpft hatte, wieder in ihm erstanden war. Er war kühler gegen sie, als vorher, gleichsam als bereute er es, sich unterworfen zu haben, während sie, an die Worte denkend, welche ihr den Sieg verliehen hatten »ich bin nahe einem furchtbaren Unglück und fürchte mich selbst«, erkannt hatte, daß diese Waffe eine gefährliche war, und sie dieselbe nicht ein zweites Mal anwenden könne.

Sie fühlte aber auch, daß neben der Liebe, die sie beide vereinte, zwischen ihnen der böse Geist einer Kampflust getreten war, den sie weder aus seinem Herzen, noch viel weniger aber aus dem ihren zu vertreiben vermochte.

10.

Sie trat ihm entgegen, ohne ihre Freude, ihn zu sehen, zu verhehlen. In dieser Ruhe, mit welcher sie ihm die kleine und energische Hand entgegenstreckte, ihn mit Workujeff bekannt machte und dann auf ein rothaariges, hübsches kleines Mädchen zeigte, welches hier bei einer Arbeit saß, und das sie ihre Pflegebefohlene nannte, lagen die Lewin bekannten, angenehmen Manieren der Frau aus der großen Welt, die stets ruhig und natürlich sind.

»Es ist mir sehr, sehr angenehm,« wiederholte sie, und in ihrem Munde erhielten diese einfachen Worte für Lewin aus unbekanntem Grunde eine eigentümliche Bedeutung. »Ich kenne und liebe Euch lange schon wegen Eurer Freundschaft für Stefan und wegen Eures Weibes; ich habe dieses nur kurze Zeit gekannt, aber es hat in mir den Eindruck einer reizenden Blüte hinterlassen, ja, einer Blüte! Sie wird also bald Mutter werden?«

Anna sprach ungezwungen und ohne Hast, bisweilen ihren Blick von Lewin auf ihren Bruder richtend. Erfterer empfand, daß der Eindruck, den er hervorbrachte, ein guter sein mußte, und sogleich wurde es ihm nun in ihrer Gesellschaft so leicht, so frei und behaglich zu Mut, als hätte er sie von Kindheit an gekannt.

»Ich habe mit Iwan Petrowitsch im Kabinett Alekseys Platz genommen,« sagte sie, Stefan Arkadjewitsch auf dessen Frage, ob man rauchen dürfe, – antwortend »damit er eben rauchen könne,« und nahm, auf Lewin blickend, anstatt zu fragen ob er rauche, ein Cigarrenetuis von Schildkrot, aus welchem sie eine Cigarette zog.

»Wie steht es jetzt mit deiner Gesundheit?« frug sie ihr Bruder.

»Wie soll es gehen; die Nerven sind stets dieselben.«

»Nicht wahr, ziemlich gut?« sagte Stefan Arkadjewitsch, bemerkend, daß Lewin das Porträt betrachtete.

»Ich habe noch nie ein besseres Porträt gesehen.«

»Und ziemlich ähnlich, nicht wahr?« sagte Workujeff.

Lewin schaute vom Porträt auf das Original. Ein eigentümlicher Glanz erleuchtete das Antlitz Annas, während sie seinen Blick auf sich ruhen fühlte. Lewin errötete, und wollte, um seine Verlegenheit zu verbergen, fragen, ob es schon längere Zeit her sei, daß sie Darja Aleksandrowna gesehen habe, doch im selben Augenblick begann Anna:

»Ich habe mit Iwan Petrowitsch soeben von den letzten Gemälden Waschtschenkoffs gesprochen. Habt Ihr sie gesehen?«

»Ja, ich habe sie gesehen,« antwortete Lewin.

»Doch entschuldigt, ich habe Euch unterbrochen, Ihr wolltet sagen« –

Lewin frug, ob sie vor längerer Zeit Dolly gesehen hätte.

»Gestern war sie bei mir; sie ist wegen Grischa sehr schlecht auf das Gymnasium zu sprechen. Der Lehrer im Lateinischen scheint es, ist ungerecht gewesen gegen ihn.«

»Ich habe die Bilder gesehen; sie haben mir sehr gefallen,« wandte sich Lewin zu dem von ihr begonnenen Gespräch zurück.

Lewin sprach jetzt ganz und gar nicht mehr von jener handwerksmäßigen Stellung zum Gegenstande, aus der er am Morgen gesprochen hatte. Jedes Wort der Unterhaltung mit ihr erhielt eine eigentümliche Bedeutung. Schon mit ihr reden war ihm angenehm, noch angenehmer aber, ihr zuzuhören.

Anna sprach nicht nur natürlich, und klug, sondern auch klug und ohne Zwang, ohne ihren Gedanken Wert beizulegen, während sie den Ideen des anderen großes Gewicht beilegte.

Das Gespräch drehte sich um die neue Richtung in der Kunst, um die neue Illustration der Bibel durch einen französischen Künstler. Workujeff zieh den Künstler eines Realismus, der bis zur Derbheit ging. Lewin sagte, daß die Franzosen das Abstrakte in der Kunst entwickelt hätten wie niemand, und sie daher ein besonderes Verdienst in der Rückkehr zum Realismus erblickten. Schon darin, daß sie nicht mehr lögen, sähen sie Poesie.

Noch nie hatte Lewin etwas Vernünftiges, was er je einmal gesagt haben mochte, so viel Vergnügen gemacht, als dies. Das Gesicht Annas erglänzte plötzlich über und über, als sie diesen Gedanken momentan abwog. Sie begann zu lächeln.

»Ich lache,« sagte sie, »wie man lacht, wenn man ein sehr ähnliches Porträt sieht. Das, was Ihr sagtet, charakterisiert jetzt vollkommen die französische Kunst, wie sie jetzt ist, die Malerei, und selbst die Litteratur; Zola, Daudet. Doch ist es vielleicht stets so, daß man seine conceptions aus erdachten, abstrakten Gestalten konstruiert, dann aber, nachdem alle combinaisons ausgeführt sind, die von erdachten Gestalten langweilen und man beginnt, natürlichere wahrhafte Gestalten auszusinnen.«

»Das ist vollkommen richtig,« sagte Workujeff.

»Ihr waret wohl im Klub?« wandte sie sich zu ihrem Bruder.

»Ja. das ist ein Weib!« dachte Lewin, sich ganz vergessend und unverwandt in ihr schönes, bewegliches Gesicht blickend, welches sich jetzt plötzlich vollkommen verändert hatte. Lewin hörte nicht, wovon sie sprach, indem sie sich zu ihrem Bruder gewandt hatte, er war betroffen von der Veränderung ihres Ausdrucks. Vorher so herrlich in seiner Ruhe, drückte ihr Gesicht plötzlich eine seltsame Neugier, Zorn und Stolz aus. Doch dies währte nur eine Minute. Dann blinzelte sie, als denke sie an Etwas.

»Nun ja, dies ist aber doch für niemand von Interesse,« sagte sie und wandte sich zu der kleinen Engländerin. » Please, order the tea in the drawing-room.«

Das kleine Mädchen erhob sich und ging hinaus.

»Nun; hat sie das Examen bestanden?« frug Stefan Arkadjewitsch.

»Vorzüglich. Es ist ein sehr beanlagtes Mädchen und ein liebenswerter Charakter.«

»Und die Sache wird damit enden, daß du sie mehr liebst, als dein eigenes Kind.«

»So spricht ein Mann. In der Liebe giebt es kein mehr oder weniger; ich liebe meine Tochter mit einer bestimmten, dieses Mädchen mit einer anderen Liebe.«

»Ich sage eben zu Anna Arkadjewna,« sagte Workujeff, »daß sie, wenn sie auch nur ein Hundertstel der Energie, welche sie für diese Engländerin einsetzt, auf das gemeinsame Werk der russischen Kindererziehung verwendete, eine große, nützliche That vollbrächte.«

»Ja, das was Ihr da wollt, konnte ich nicht. Graf Aleksey Kyrillowitsch hat mich lebhaft ermuntert« – indem sie die Worte »Graf Aleksey Kyrillowitsch« aussprach, schaute sie schüchtern fragend Lewin an, welcher ihr unwillkürlich mit einem ehrerbietigen und bestätigenden Blicke antwortete, »mich mit dem Dorfschulwesen zu befassen. Ich kümmerte mich mehrmals darum; die Schulen sind mir sehr wert, aber ich vermochte es nicht, mich der Sache zu widmen. Ihr sprecht von Energie? Die Energie beruht auf der Liebe, und die Liebe läßt sich nicht irgend woher nehmen, nicht anbefehlen. So habe ich dieses Mädchen da lieb gewonnen, ohne selbst zu wissen, weshalb.«

Sie blickte wiederum Lewin an; ihr Lächeln, ihr Blick, alles sagte ihm, daß sie an ihn nur ihre Worte richte, seine Meinung würdige, und dabei im voraus wisse, daß sie sich gegenseitig verstanden.

»Ich begreife das vollkommen,« antwortete Lewin, »für die Schule und überhaupt für ähnliche Einrichtungen läßt sich nicht das Herz einsetzen, und ich glaube, daß eben infolge dessen diese humanistischen Einrichtungen stets so geringe Resultate erzielen.«

Anna schwieg eine Weile, dann lächelte sie. »Ja, ja,« bestätigte sie, »ich habe das nie vermocht. Je n’ai pas le coeur assez large, um ein ganzes Bewahrungshaus voller häßlicher kleiner Mädchen lieb haben zu können. Cela ne m’a jamais réussi. Es giebt jedoch so viele Frauen, welche sich hieraus eine position sociale begründet haben. Und jetzt,« sprach sie mit trauerndem, zutraulichem Ausdruck, äußerlich zu ihrem Bruder gewendet, augenscheinlich aber nur zu Lewin: »jetzt, wo mir eine Beschäftigung so nötig ist, kann ich es um so weniger.«

Plötzlich finster werdend – Lewin nahm wahr, daß sie es über sich selbst wurde, weil sie über sich gesprochen hatte – veränderte sie aber das Thema.

»Ich weiß von Euch,« sagte sie zu Lewin, »daß Ihr ein schlechter Bürger seid, und ich habe Euch doch verteidigt, so gut ich es verstand.«

»Wie habt Ihr mich denn verteidigt?«

»Bezüglich gewisser Angriffe. Indessen, ist nicht ein wenig Thee gefällig?« Sie erhob sich und nahm ein in Saffian gebundenes Buch zur Hand.

»Gebt mir dasselbe, Anna Arkadjewna,« sagte Workujeff, auf das Buch zeigend, »es ist recht wohl wert.«

»O nein; es ist noch so ungefeilt.«

»Ich habe ihm davon gesagt,« wandte sich Stefan Arkadjewitsch an seine Schwester auf Lewin deutend.

»Das hast du unnötigerweise gethan. Meine Schrift ist so nach Art jener Körbchen und Schnitzereien, die mir die Lisa Marzalowa aus den Ostrogs bisweilen verkaufte. Sie besuchte in seiner Gesellschaft die Ostrogs. Die Unglücklichen haben da Wunder an Geduldsproben geleistet.«

Lewin entdeckte einen neuen Zug an diesem Weibe, das ihm so außerordentlich gefiel. Außer Verstand, Grazie und Schönheit besaß sie auch Treuherzigkeit. Sie wollte vor ihm all das Drückende ihrer Lage gar nicht verheimlichen; und als sie dies gesagt hatte, seufzte sie, und ihr Gesicht, welches plötzlich einen strengen Ausdruck annahm, hatte sich gleichsam versteinert. Mit diesem Ausdruck auf den Zügen aber war sie noch schöner als vorher, doch derselbe war ein fremdartiger; er stand außerhalb dieses von Glück schimmernden, Glück erzeugenden Kreises von Ausdrücken, wie sie von dem Künstler auf dem Porträt aufgefangen worden waren. Lewin blickte noch einmal auf das Bild und auf ihre Gestalt, wie sie, den Arm des Bruders nehmend, mit diesem durch die hohe Thür schritt, und er empfand eine Zärtlichkeit und ein Mitleid mit ihr, das ihn selbst in Erstaunen versetzte.

Sie hatte Lewin und Workujeff gebeten, in den Salon zu treten, während sie selbst zurückgeblieben war, um mit dem Bruder über Etwas zu sprechen.

»Spricht sie von ihrer Ehescheidung, von Wronskiy, oder darüber, was er im Klub macht, oder von mir?« dachte Lewin, und die Frage, was sie mit Stefan Arkadjewitsch besprechen möchte, versetzte ihn so in Aufregung, daß er fast gar nicht vernahm, was ihm Workujeff über die Vorzüge des von Anna Arkadjewna geschriebenen Kinderromans erzählte.

Beim Thee wurde das nämliche, so angenehme, gehaltvolle Gespräch fortgesetzt. Es gab nicht nur keine einzige Minute, während welcher man nach einem Stoff für die Unterhaltung hätte suchen müssen, sondern im Gegenteil war fühlbar, daß man nur aussprach, was man sagen wollte, um sogleich bereitwillig innezuhalten und zu hören, was der andere sagte. Alles aber, was man auch sprechen mochte, sagte sie es nun selbst, oder Workujeff, oder Stefan Arkadjewitsch, alles erhielt wie Lewin schien, dank ihrer Aufmerksamkeit und ihren Bemerkungen, ein eigenartiges Gewicht.

Das interessante Gespräch verfolgend, versenkte sich Lewin während der ganzen Zeit in ihren Anblick und in ihre Schönheit, ihren Geist, ihre Bildung, und zugleich in ihre Natürlichkeit und Innerlichkeit. Mochte er zuhören oder reden, fortwährend dachte er an sie, an ihr inneres Leben, und bemühte sich, ihre Empfindungen zu erraten.

Er, der sie früher so streng verurteilt hatte, er rechtfertigte sie jetzt nach einem seltsamen Gedankengang, bemitleidete sie zugleich, und fürchtete, daß Wronskiy sie nicht vollkommen verstehen möchte. In der elften Stunde, als Stefan Arkadjewitsch sich erhob, um vorzufahren – Workujeff war schon zeitiger aufgebrochen – schien es Lewin, als sei er soeben erst angekommen. Nur ungern stand er gleichfalls auf.

»Lebt wohl,« sagte sie, seine Hand festhaltend und ihm mit anziehendem Blick ins Auge schauend; »ich freue mich recht sehr, que la glace est rompue.« Sie ließ seine Hand los und blinzelte mit den Augen. »Teilt Eurer Gattin mit, daß ich sie noch so lieb habe wie früher, und daß ich, wenn sie mir meine Situation nicht vergeben kann, wünsche, sie möge mir niemals verzeihen. Um vergeben zu können, muß man durchleben, was ich durchlebt habe, und davor behüte sie der Himmel.«

»Ich werde es sicher ausrichten,« sagte Lewin errötend.

7.

Wronskiy und Anna reisten bereits seit drei Monaten zusammen in Europa. Sie hatten Venedig, Rom, Neapel besucht und waren soeben in einer kleinen italienischen Stadt angekommen, wo sie sich für einige Zeit niederzulassen gedachten.

Ein eleganter Oberkellner, mit einem vom Nacken beginnenden Scheitel im dicht pomadisierten Haar, im Frack und mit breiter weißer Battistbrust im Oberhemd, auch einem Bündel Berloques auf dem gerundeten Bäuchlein, antwortete gerade, die Hände in den Taschen und geringschätzig mit den Augen zwinkernd, in gemessenem Tone einem stehenbleibenden Herrn. Als er von der andern Seite der Einfahrt Schritte vernahm, welche die Treppe hinaufgingen, wandte sich der Oberkellner um, zog, als er den russischen Grafen erblickte, welcher hier die besten Zimmer gemietet hatte, respektvoll die Hände aus den Taschen und erklärte mit einer Verbeugung, daß der Kurier da wäre, und die Angelegenheit mit dem Mieten eines Palazzo im Gange sei.

»Ach, das freut mich sehr,« sagte Wronskiy, »ist die gnädige Frau daheim oder nicht?«

»Gnädige Frau waren spazieren gegangen, sind aber jetzt zurückgekehrt,« antwortete der Kellner.

Wronskiy nahm den weichen, breitkrempigen Hut vom Kopfe und trocknete mit dem Taschentuch die schweißbedeckte Stirn und die halb über den Ohren hängenden Haare, welche zurückgekämmt waren und die kahle Stelle auf seinem Kopfe bedeckten. Zerstreut auf den noch immer dastehenden und ihn anschauenden Herrn blickend, wollte er vorübergehen.

»Dieser Herr ist Russe und frug nach Ihnen,« berichtete der Oberkellner.

Mit einem Gefühl, in dem sich Verlegenheit und der Verdruß mischten, daß man nirgends seinen Bekannten entgehen könne, aber im Wunsche, doch wenigstens eine Zerstreuung in der Einförmigkeit seines Lebens zu finden, blickte Wronskiy nochmals den abseits getretenen und wartenden Herrn an, und in ein und demselben Augenblick leuchteten beider Augen auf.

»Golenischtscheff!«

»Wronskiy!«

In der That, es war Golenischtscheff, ein Kamerad Wronskiys vom Pagencorps her. Golenischtscheff gehörte im Pagencorps der freidenkenden Richtung an, trat aus demselben mit bürgerlichen Range aus und hatte nirgends Dienste genommen. Die Kameraden waren seit dem Verlassen des Corps ganz auseinandergekommen und hatten sich in späterer Zeit nur einmal wiedergesehen.

Bei jener Begegnung erkannte aber Wronskiy, daß Golenischtscheff eine hochgeschraubte, freisinnige Wirksamkeit entwickelt hatte und infolge dessen die Thätigkeit und den Beruf Wronskiys gering schätzte, und so kam es, daß dieser bei dem Zusammentreffen mit Golenischtscheff jene kalte stolze Haltung annahm, die er den Menschen gegenüber anzunehmen verstand, und deren Gedanke der war: »Mag Euch meine Lebensart anstehen oder nicht, dies ist mir ganz gleichgültig; Ihr müßt mich aber achten, wenn Ihr meine Bekanntschaft sucht.«

Golenischtscheff hingegen verhielt sich diesem Tone Wronskiys gegenüber mit geringschätzigem Gleichmut. Es dürfte nun scheinen, als ob jene Begegnung sie noch mehr voneinander hätte trennen müssen, jetzt aber erglänzten beider Mienen und sie riefen sich freudig an, indem sie einander erkannten.

Wronskiy hätte nie erwartet, daß er sich über Golenischtscheff so freuen könne, aber wahrscheinlich wußte er nur selbst nicht, wie er sich langweilte. Er hatte den unangenehmen Eindruck ihrer letzten Begegnung vergessen und streckte jetzt dem einstigen Schulkameraden mit offener, freudiger Miene die Hand entgegen. Ein solcher Ausdruck von Freude veränderte auch den ersten unsicheren Ausdruck im Gesicht Golenischtscheffs.

»Wie freue ich mich, dich zu treffen!« sagte Wronskiy, freundschaftlich lächelnd seine festen weißen Zähne zeigend.

»Ich habe gehört, ein Wronskiy ist hier; wußte aber nicht, welcher. Ich freue mich ganz außerordentlich!« –

»Komm doch mit herauf. Nun, was machst du denn?«

»Ich wohne schon seit zwei Jahren hier. Ich arbeite.«

»Ach so,« versetzte Wronskiy voll Teilnahme, »also komme mit herein.«

Nach der Gewohnheit der Russen begann er französisch, anstatt gerade russisch das zu sagen, was er vor der Dienerschaft verbergen wollte.

»Bist du mit der Karenina bekannt? Wir reisen zusammen. – Ich gehe zu ihr,« – fuhr er auf französisch fort, Golenischtscheff aufmerksam ins Gesicht blickend.

»Ah, ich wüßte nicht,« antwortete Golenischtscheff ruhig – der recht wohl das Verhältnis kannte – »bist du schon seit lange hier angekommen?« fügte er hinzu.

»Ich? Seit vier Tagen,« antwortete Wronskiy, noch einmal aufmerksam das Gesicht des Schulkameraden musternd.

»Ja wohl, er ist ein vernünftiger Mensch und nimmt die Dinge, wie sichs gehört,« sagte Wronskiy zu sich selbst, die Bedeutung des Gesichtsausdrucks Golenischtscheffs und den Wechsel der Unterhaltung verstehend; »man kann ihn schon mit Anna bekannt machen; er verhält sich ganz so, wie es sich gehört.«

Wronskiy hatte sich während der drei Monate, die er im Auslande mit Anna zugebracht hatte, im Zusammentreffen mit den Menschen stets die Frage vorgelegt, wie die betreffende neuerscheinende Person seine Beziehungen zu Anna betrachte, und größtenteils begegnete er bei den Männern der Auffassung »wie es sich gehörte«. Wenn man ihn aber frug, oder diejenigen frug, welche verstanden, was das »wie es sich gehört«, eigentlich bedeute, so wäre wohl er selbst ebenso wie jene in großer Verlegenheit gewesen.

In Wirklichkeit verstanden diejenigen, welche nach Wronskiys Meinung das »wie es sich gehört« kannten, dieses nicht im geringsten, sondern verhielten sich nur im allgemeinen so, wie wohlerzogene Leute sich in allen verwickelten und unlösbaren Fragen zu verhalten pflegen, die das Leben von allen Seiten umgeben – sie verhielten sich zurückhaltend, und mieden Anspielungen und unangenehme Fragen. Sie gaben sich den Anschein, als ob sie vollständig Bedeutung und Sinn der Situation erfaßt hätten, sie erkannten dieselbe an und hießen sie sogar gut, hielten es aber für unangebracht und überflüssig, das alles auszusprechen.

Wronskiy hatte sich nicht sogleich gedacht, daß Golenischtscheff einer von diesen Leuten wäre, und er war daher doppelt erfreut über ihn. In der That verhielt sich Golenischtscheff der Karenina gegenüber, nachdem er bei derselben eingeführt worden war, so, wie Wronskiy es nur immer wünschen konnte. Augenscheinlich vermied er ohne die geringsten Schwierigkeiten alle Gespräche, die zu einer peinlichen Situation hätten führen können.

Er hatte Anna früher nicht gekannt und war überrascht von ihrer Schönheit, noch mehr aber von der Naivetät, mit welcher sie ihre Lage auffaßte. Sie errötete, als Wronskiy Golenischtscheff einführte, und dieses kindliche Erröten, das ihr offenes schönes Gesicht überzog, gefiel ihm außerordentlich. Besonders aber sprach ihn an, daß sie sogleich, wie in der Absicht keinerlei Zweifel in Gegenwart eines Fremden möglich bleiben zu lassen, Wronskiy einfach »Aleksey« nannte und erzählte, daß sie mit ihm in ein neugemietetes Haus übersiedeln werde, welches man hier den Palazzo nenne. Dieses offenherzige und naive Verhalten angesichts ihrer Lage gefiel Golenischtscheff. Angesichts dieser gutmütig heitern energischen Art und Weise Annas und seiner Bekanntschaft mit Aleksey Aleksandrowitsch und Wronskiy schien es ihm, als ob er sie vollständig verstände. Es schien ihm als ob er erkenne, was sie nicht im entferntesten erkannte; nämlich das, daß sie sich, das Unglück eines Mannes verschuldend, indem sie ihn und ihren Sohn verließ und ihren guten Ruf verlor, dennoch voll Energie heiter und glücklich fühlen konnte.

»Er liegt dort drüben,« sagte Golenischtscheff, den Palazzo meinend, den Wronskiy gemietet hatte. »Es befindet sich ein schöner Tintoretto dort, aus der letzten Epoche des Künstlers.«

»Wißt Ihr was? Das Wetter ist schön, begeben wir uns einmal hin und besichtigen wir ihn nochmals,« sagte Wronskiy, sich zu Anna wendend.

»Sehr erfreut; ich komme sogleich mit und will nur meinen Hut aufsetzen, Ihr sagt, es ist heiß?« sprach sie, an der Thür stehen bleibend und fragend auf Wronskiy blickend. Wiederum bedeckte eine helle Röte ihr Gesicht.

Wronskiy erkannte an ihrem Blick, daß sie nicht wisse, in welchen Beziehungen er mit Golenischtscheff zu stehen gedenke, und besorgt sei, ob sie sich auch so verhalten habe, wie er es gewünscht haben möchte.

Er schaute sie mit einem zärtlichen langem Blicke an. »Nein, nicht so sehr,« versetzte er.

Ihr schien, daß sie damit alles verstanden hatte, namentlich, daß er zufrieden mit ihr sei, und ihm zulächelnd ging sie schnellen Schrittes zur Thür hinaus.

Die Freunde blickten einander an und in den Zügen beider erschien Verlegenheit, es war, als ob Golenischtscheff, augenscheinlich bezaubert von ihr, etwas über sie zu sagen wünschte, aber nicht fände was, während Wronskiy das Nämliche wünschte und es doch zugleich fürchtete.

»So ist es also« – begann Wronskiy, um doch wieder eine Unterhaltung anzuknüpfen, »du hast dich hier angesiedelt? Treibst du denn noch immer deine alte Beschäftigung?« fuhr er fort, sich erinnernd, daß man ihm gesagt hatte, Golenischtscheff schriebe etwas. »Ja. Ich schreibe den zweiten Teil meiner ›Zwei Gesetze‹,« antwortete dieser, vor Vergnügen über diese Frage ins Feuer geratend, »das heißt, um genau zu sein, ich schreibe noch nicht, sondern bereite noch vor, ich sammle Material. Dieser zweite Teil wird bei weitem umfangreicher werden und fast sämtliche Fragen umfassen. Man will bei uns in Rußland nicht begreifen, daß wir die Erben von Byzanz sind,« begann er eine lange eifrige Auseinandersetzung.

Wronskiy war es anfangs peinlich, daß er die erste Abhandlung über die »Zwei Gesetze«, über welche der Autor mit ihm sprach, als ob sie etwas ganz Bekanntes wäre, gar nicht kannte. Als aber Golenischtscheff seine Ideen zu entwickeln begann, und Wronskiy ihm zu folgen vermochte, hörte ihn der Letztere, auch ohne die »Zwei Gesetze« zu kennen, mit Interesse an, da Golenischtscheff gut sprach, doch versetzte ihn die verbissene Erregtheit, mit welcher Golenischtscheff über den ihn beschäftigenden Gegenstand sprach, in Erstaunen und Mißstimmung. Je länger jener sprach, umsomehr entflammte sich sein Blick, umsomehr beeilte er sich, eingebildeten Gegnern zu replizieren und um so unruhiger und trüber wurde sein Gesichtsausdruck. Wronskiy war, indem er sich Golenischtscheff als den hageren, lebhaften und gutmütigen Knaben von gutem Herkommen, der stets der Erste im Corps gewesen war, in die Erinnerung zurückrief, nicht imstande, einen Grund für diese Gereiztheit zu finden, und schüttelte den Kopf über ihn. Insbesondere wollte ihm nicht gefallen, daß Golenischtscheff als ein Mann aus der guten Gesellschaft, sich auf eine Stufe mit gewissen Skriblern stellte, die ihn gereizt hatten, und denen er nun grollte. War das die Sache wert? Wronskiy gefiel dies nicht, aber er empfand, daß Golenischtscheff unglücklich war, und fühlte Mitleid mit ihm. Verzweiflung, ja fast Geistesverwirrung war auf diesen beweglichen, ziemlich angenehmen Zügen sichtbar, während er, Annas Eintreten gar nicht einmal bemerkend, fortfuhr, hastig und eifrig seine Ideen zu äußern.

Als Anna in Hut und Überwurf, mit ihrer schönen Hand in schnellen Bewegungen mit dem Sonnenschirm spielend, neben Wronskiy stehen blieb, riß sich dieser mit einem Gefühl der Erleichterung von den starr auf ihn gerichteten, klagenden Blicken Golenischtscheffs los und schaute mit neuer Liebe auf seine reizende Freundin in ihrer Fülle von Lebenskraft und Freude.

Golenischtscheff konnte sich nur schwer wieder sammeln und blieb anfangs niedergeschlagen und finster, doch belebte ihn Anna, freundlich gegen jedermann gestimmt – wie sie überhaupt während dieser Zeit war – bald wieder durch die Natürlichkeit und Heiterkeit ihres Verkehrs. Nachdem sie verschiedene Themata versucht hatte, brachte sie das Gespräch auf die Malerei, über die er sehr gut sprach und hörte ihm aufmerksam zu. Sie gingen zu Fuße nach dem gemieteten Haus und besichtigten es.

»Über Eines freue ich mich sehr,« sagte Anna zu Golenischtscheff, als sie bereits auf dem Rückwege waren. »Aleksey wird ein gutes Atelier haben. Du wirst doch ohne Zweifel dieses Zimmer nehmen,« sagte sie zu Wronskiy auf russisch, ihn jetzt duzend, da sie schon erkannt hatte, daß Golenischtscheff ihnen in ihrer Einsamkeit sehr nahe treten würde, und man so vor ihm nichts zu verhehlen brauche.

»Malst du denn?« sagte dieser, sich schnell zu Wronskiy hinwendend.

»Ja, ich habe mich lange damit beschäftigt und jetzt wieder ein wenig angefangen,« versetzte Wronskiy errötend.

»Er hat ein bedeutendes Talent,« antwortete Anna mit freudigem Lächeln, »ich bin natürlich kein Kritiker, aber kundige Kunstrichter haben es auch gesagt.«

5.

In der Matinee führte man zwei sehr interessante Novitäten vor. Die eine war eine Phantasie »König Lear in der Steppe«, die andere ein Quartett, dem Andenken Bachs gewidmet. Beide Stücke waren neu und von originellem Geiste und Lewin wünschte sich eine Meinung über sie zu bilden. Nachdem er seine Schwägerin, nach deren Stuhl begleitet hatte, trat er an eine Säule und nahm sich vor, so aufmerksam und gewissenhaft als möglich zuzuhören. Er bemühte sich, nicht abzuschweifen und den Eindruck in sich zu beinträchtigen, indem er auf die Armbewegungen des Kapellmeisters in der weißen Halsbinde blickte, die stets die musikalische Aufmerksamkeit so unangenehm ablenkten, oder auf die Damen in ihren Hüten, welche sich geflissentlich für das Konzert die Ohren mit Bändern zugebunden hatten, oder auf alle jene Personen, die entweder mit nichts beschäftigt, oder von den verschiedensten Interessen, nur nicht dem für Musik, eingenommen waren.

Er bemühte sich, den Begegnungen mit Musikkennern und Schwätzern aus dem Wege zu gehen, und stand nur vor sich niederblickend und lauschte. Doch je mehr er von der Phantasie König Lear hörte, um so ferner fühlte er sich der Möglichkeit gerückt, sich selbst eine bestimmte Meinung zu bilden.

Unaufhörlich begann es, als bereite sich der Ausdruck einer musikalischen Empfindung vor, sogleich aber fiel derselbe in Trümmer von neuen Ansätzen zu musikalischen Phrasen auseinander, bisweilen sogar einfach in durch nichts als die Laune des Komponisten verbundene, aber außerordentlich komplizierte Klänge.

Aber gerade die Unterbrechungen dieser musikalischen Phrasen, die bisweilen gut waren, zeigten sich als unangenehm, Weil sie vollständig unerwartet und durch nichts vorbereitet erschienen. Frohsinn und Trauer, Verzweiflung und Zartheit oder Triumph erschienen ohne jede innere Berechtigung, gleichsam wie die Gefühle eines Wahnsinnigen; und ebenso wie bei einem Wahnsinnigen, vergingen sie auch wieder unerwartet.

Lewin hatte während der ganzen Zeit der Aufführung das Gefühl eines Tauben, welcher auf Tanzende schaut. Er war in vollständiger Ungewißheit, nachdem das Stück geendet hatte, und fühlte große Ermüdung von der gespannten, durch nichts gelohnten Aufmerksamkeit. Von allen Seiten wurde lautes Händeklatschen vernehmbar. Alles erhob sich und begann herumzulaufen um sich zu unterhalten.

Im Wunsche, nach dem Eindruck anderer seinen Zweifel aufzuklären, begann auch Lewin zu gehen, um Kenner zu suchen, und war erfreut, als er einen namhaften Musikkenner im Gespräch mit dem ihm bekannten Peszoff erblickte.

»Wunderbar!« sagte der tiefe Baß Peszoffs.

»Guten Tag, Konstantin Dmitritsch. Ganz besonders formgerecht und monumental, sozusagen; und wie reich an Farben ist jene Stelle, in welcher man die Annäherung Cordelias fühlt, wo die Frau, ›das ewig Weibliche‹ wie der Deutsche sagt, in den Kampf mit dem Schicksal tritt. Nicht wahr?«

»Nun, inwiefern war denn da gerade Cordelia?« frug Lewin schüchtern; er hatte vollständig vergessen, daß die Phantasie König Lear in der Steppe ausdrücken solle.

»Es zeigt sich Cordelia – hier!« sagte Peszoff, mit den Fingern auf den atlasglänzenden Zettel schlagend, den er in der Hand hielt und Lewin nun hinreichte.

Jetzt erst erinnerte sich Lewin des Titels der Phantasie und beeilte sich nun, die Verse Shakespeares in der russischen Übersetzung zu lesen, welche auf der Rückseite des Programms gedruckt standen.

»Ohne dies kann man freilich nicht folgen,« sagte Peszoff, sich zu Lewin wendend, da der Herr mit welchem er sich unterhalten hatte, gegangen war, und er mit niemand mehr zu sprechen hatte.

Im Zwischenakt entspann sich zwischen Lewin und Peszoff ein Streit über die Vorzüge und Mängel der Wagnerschen Musikrichtung. Lewin wies nach, daß der Irrtum Wagners und aller seiner Nachfolger darin bestehe, daß hier die Musik in das Gebiet einer fremdartigen Kunst übergehen wolle, daß auch die Poesie irre, wenn sie die Züge eines Gesichts beschreibe, was die Malerei zu thun hätte, und führte als Beispiel eines solchen Irrtums jenen Bildhauer an, welcher die Schatten der poetischen Gestalten, die rings um die Figur des Dichters auf dem Piedestal aufragten, in Marmor zu bilden gedachte.

»Diese Schatten werden ebensowenig Schatten für den Bildhauer sein, daß sie sich sogar an der Leiter anhalten können,« sagte Lewin. Der Satz gefiel ihm, doch er konnte sich nicht entsinnen, ob er ihn nicht schon früher einmal ausgesprochen hatte, gerade gegen Peszoff, und geriet daher, nachdem er ihn geäußert, in Verlegenheit.

Peszoff hingegen wies nach, daß die Kunst einheitlich sei und ihre höchsten Offenbarungen nur in der Vereinigung aller ihrer Arten erreichen könne.

Die zweite Nummer des Konzerts konnte Lewin nicht mehr hören. Peszoff, der neben ihm stehen geblieben war, hatte fast die ganze Zeit mit ihm gesprochen, indem er dieses Stück wegen seiner übermäßigen geschmackswidrigen, unvermittelten Einfachheit den Praeraphaeliten in der Malerei verglich.

Beim Hinausgehen begegnete Lewin noch vielen Bekannten, mit welchen er über Politik, über Musik und gemeinsame Bekannte sprach, unter anderen traf er auch den Grafen Bolj, dessen Besuch er gänzlich vergessen hatte.

»Nun, so fahrt nur gleich hin,« sagte die Lwowa zu ihm, der er dies mitgeteilt hatte, »vielleicht empfängt man Euch nicht und Ihr kommt dann zu mir in die Sitzung. Ihr werdet mich da schon noch treffen.«

6.

»Man empfängt wohl nicht?« sagte Lewin, in den Flur des Hauses der Gräfin Bolj tretend.

»Man empfängt, bitte,« antwortete der Portier, ihm resolut den Pelz abnehmend.

»Ist das unangenehm,« dachte Lewin, mit einem Seufzer den einen Handschuh abstreifend und seinen Hut glättend. »Weshalb komme ich denn eigentlich? Was soll ich denn mit ihnen reden?«

Durch den ersten Salon schreitend, traf Lewin in der Thür die Gräfin Bolj, welche mit geschäftigem und ernstem Ausdruck dem Diener einen Befehl erteilte.

Als sie Lewin erblickte, lächelte sie und nötigte ihn in den folgenden, kleinen Salon, aus welchem Stimmen vernehmbar waren. In diesem Salon saßen auf Lehnstühlen die beiden Töchter der Gräfin und ein, Lewin bekannter, Moskauer Oberst. Lewin näherte sich ihnen, grüßte, und ließ sich neben dem Diwan nieder, den Hut auf dem Knie haltend.

»Wie ist das Befinden Eurer Frau? Waret Ihr im Konzert? Wir konnten nicht! Mama mußte bei einer Totenmesse gegenwärtig sein.«

»Ja, ich habe gehört – welch ein plötzlicher Todesfall,« sagte Lewin.

Die Gräfin kam, setzte sich auf den Diwan und frug gleichfalls nach seiner Frau und dem Konzert.

Lewin antwortete und wiederholte die Frage nach dem plötzlichen Tode der Arpaksina.

»Sie war überhaupt stets von schwacher Gesundheit.«

»Waret Ihr gestern in der Oper?«

»Ja, ich war da.«

»Die Lucca war sehr gut.«

»Ja, sehr gut,« sagte er und begann, da es ihm ganz gleichgültig war, was man von ihm denken mochte, zu wiederholen, was er hundertmal schon über die Eigentümlichkeit des Talentes der Sängerin gehört hatte. Die Gräfin Bolj stellte sich, als höre sie zu. Als er dann genug geredet hatte, und nun schwieg, begann der Oberst, welcher bis jetzt geschwiegen hatte. Der Oberst fing gleichfalls an, über die Oper und die Beleuchtung zu sprechen und als er endlich noch von einem vorgeschlagenen folle journée bei Tjurin berichtet hatte, brach er in Gelächter aus, verursachte ein Geräusch, erhob sich und ging. Auch Lewin war aufgestanden, bemerkte aber an dem Gesicht der Gräfin, daß für ihn die Zeit des Gehens noch nicht da sei; noch zwei Minuten fehlten, und so setzte er sich denn wieder. Da er indessen noch immer darüber nachdachte, wie thöricht das alles sei, so fand er auch keinen Stoff zu einem Gespräch und blieb stumm.

»Fahrt Ihr nicht in die öffentliche Sitzung? Man sagt, sie sei sehr interessant,« begann die Gräfin.

»Nein, ich habe nur meiner belle soeur versprochen, sie dort abzuholen,« sagte Lewin.

Ein Schweigen trat ein. Die Mutter wechselte nochmals einen Blick mit der Tochter.

»Jetzt scheint es Zeit zu sein,« dachte Lewin und stand auf. Die Damen drückten ihm die Hand und baten, seiner Gattin mille choses ausrichten zu wollen.

Der Portier frug ihn, als er ihm den Pelz reichte, »wo beliebt Ihr zu stehen?« und trug ihn sogleich in ein großes, hübsch gebundenes Buch ein.

»Mir ist das natürlich doch ganz gleichgültig, aber dennoch bleibt das lästig und entsetzlich thöricht,« dachte Lewin, sich damit tröstend, daß alle es ja so machten, und fuhr nach der öffentlichen Sitzung des Komitees, wo er seine Schwägerin treffen sollte, um mit derselben zusammen nach Haus zu fahren.

In der öffentlichen Sitzung des Komitees war viel Volk und fast die gesamte Gesellschaft zugegen. Lewin trat gerade ein, als das Protokoll verlesen wurde, welches wie jedermann sagte, sehr interessant war. Als die Lektüre des Protokolls beendet war, mischte sich die Gesellschaft untereinander und Lewin traf auch Swijashskiy, der ihn für den Abend dringend in die Gesellschaft für Landwirtschaft einlud, wo ein berühmter Vortrag gelesen werden würde, ferner Stefan Arkadjewitsch, der soeben von den Rennen gekommen war, und noch viele andere Bekannte, und Lewin äußerte und vernahm verschiedene Urteile über die Sitzung, über das neue Musikstück und einen Prozeß. Doch mochte er, wohl infolge der Ermüdung seiner geistigen Spannkraft, die er zu empfinden begann, irren, indem er von dem Prozeß sprach, und dieser Irrtum kam ihm in der Folge mehrmals noch zu seinem Verdruß wieder in die Erinnerung. Indem er von der bevorstehenden Bestrafung eines Ausländers sprach, der in Rußland abgeurteilt wurde, sowie davon, daß es ungesetzmäßig wäre, ihn mit Verbannung ins Ausland zu bestrafen, wiederholte Lewin, was er gestern in einem Gespräch von einem Bekannten vernommen hatte. »Ich denke, daß seine Ausweisung ebensoviel wert wäre, als wenn man einen Hecht damit bestrafen wollte, daß man ihn ins Wasser setzt,« meinte Lewin. Erst später dachte er wieder daran, daß dieser scheinbar von ihm geäußerte Gedanke, den er von einem Bekannten gehört hatte, aus einer Fabel Kryloffs stammte, der Bekannte aber diesen Gedanken aus dem Feuilleton eines Journals wiederholt hatte.

Nachdem Lewin mit seiner Schwägerin nach Haus gefahren war und Kity heiter und wohl gefunden hatte, fuhr er nach dem Klub.