Lewin stand ziemlich entfernt. Ein schwer und heiser atmend neben ihm stehender Adliger und ein zweiter mit knarrenden, dicken Stiefelsohlen, störten ihn, deutlich zu hören. Aus der Ferne vernahm er nur die weiche Stimme des Gouvernementsvorstehers, darauf das Pfeifende Organ des scharfzüngigen Adligen und dann die Stimme Swijashskiys. Sie stritten, soviel er zu verstehen imstande war, über die Bedeutung eines Paragraphen des Gesetzes und den Sinn der Worte, »wer sich unter gerichtlicher Untersuchung befindet«.

Der Haufe teilte sich, um dem zum Tisch herantretenden Sergey Iwanowitsch Raum zu geben. Sergey Iwanowitsch sagte, nachdem er die Beendigung der Rede des scharfzüngigen Adligen abgewartet hatte, ihm scheine, daß es am richtigsten sei, sich nach dem Paragraphen des Gesetzes zu richten und bat den Sekretär, den Paragraphen aufzusuchen. In demselben war gesagt, daß man im Falle der Meinungsverschiedenheit zu ballotieren habe.

Sergey Iwanowitsch verlas den Paragraphen, und begann den Sinn desselben zu erörtern, aber da unterbrach ihn ein großer, dicker und krummer Gutsherr mit roten Ohren, in enger Uniform mit im Nacken hinten hochstehendem Kragen. Er trat an den Tisch und rief laut, mit einem Finger darauf schlagend:

»Ballotieren! Zu den Kugeln greifen! Weg da mit dem Geschwätz! Zu den Kugeln!«

Mehrere Stimmen erhoben sich jetzt plötzlich zusammen, und der große Adlige mit seinem Finger, mehr und mehr in Zorn geratend, schrie lauter und lauter. Es ließ sich jedoch nicht unterscheiden, was er sagte. Er sagte das Nämliche, was Sergey Iwanowitsch vorschlug, aber offenbar haßte er diesen und dessen ganze Partei, und dieses Gefühl des Hasses teilte sich nun der ganzen Partei mit und rief den Widerstand einer gleichen, wenn auch gemäßigteren Erbitterung auf der anderen Seite hervor. Rufe erschallten und eine Minute lang wogte alles durcheinander, sodaß der Gouvernementsvorsteher genötigt war, um Ordnung zu bitten.

»Ballotieren! Ballotieren! Wer ein Edelmann ist, der sieht das ein! Wir vergießen unser Blut! Das Vertrauen des Monarchen! Nicht den Gouvernementsvorsteher achten; er ist kein Amtmann! Darum handelt es sich nicht! Bitte, zu den Kugeln! Es ist eine Schande!« vernahm man zornige, sinnlose Schreie von allen Seiten.

Die Blicke und Gesichter wurden immer zorniger und die Reden immer ungebärdiger. Sie drückten einen unversöhnlichen Haß aus. Lewin begriff nicht im geringsten, worum es sich handle, und war erstaunt über die Leidenschaftlichkeit, mit welcher die Frage, ob man über Phleroff ballotieren solle oder nicht, behandelt wurde. Er hatte, wie ihm später Sergey Iwanowitsch erklärte, jenen Syllogismus vergessen, daß im Interesse des allgemeinen Wohls der Gouvernementsvorsteher entfernt werden müsse; zu der Entfernung desselben aber war eine Majorität der Kugeln erforderlich; zur Erlangung dieser Majorität weiterhin mußte man Phleroff Stimmrecht erteilen, und zur Anerkennung Phleroffs als eines Stimmberechtigten mußte man erklären, wie der Paragraph des Gesetzes aufzufassen sei.

»Also eine Stimme kann die ganze Angelegenheit entscheiden, und man muß daher ernst und konsequent sein, wenn man der gemeinsamen Sache dienen will,« schloß Sergey Iwanowitsch.

Lewin hatte dies jedoch vergessen, und es wurde ihm schwer ums Herz, diese von ihm geachteten braven Männer in einer so unangenehmen schlimmen Erregung sehen zu müssen.

Um sich von diesem beklemmenden Gefühl frei zu machen, ging er, ohne das Ende des Streites abzuwarten, in den Saal, in welchem sich niemand befand, als einige Lakaien beim Büffet. Als er die mit dem Abwischen von Geschirr, dann Aufstellen von Tellern und Gläsern beschäftigten Diener, ihre ruhigen, aber lebhaften Gesichter sah, empfand Lewin ein unerwartetes Gefühl der Erleichterung, als sei er aus einem Zimmer voll widrigen Geruchs in die reine Luft hinausgetreten. Er begann auf und abzuschreiten, mit Befriedigung auf die Diener blickend. Es gefiel ihm sehr, als einer derselben, ein Mann mit grauem Backenbart, den jüngeren, die diesen zum besten hatten, voll Geringschätzung lehrte, wie man Servietten falten müsse. Lewin hatte sich gerade mit dem alten Diener in ein Gespräch eingelassen, als der Sekretär der Adelsvormundschaft, ein alter Herr, der die spezielle Eigenschaft besaß, alle Adligen des Gouvernements dem Namen und der Herkunft nach zu kennen, ihn davon abzog.

»Bitte gefälligst, Konstantin Dmitritsch,« sagte er zu ihm, »Euer Bruder sucht Euch. Es wird ballotiert.«

Lewin trat in den Saal, erhielt eine weiße Kugel und begab sich hinter seinem Bruder Sergey Iwanowitsch zum Tische, an welchem mit wichtiger, ironischer Miene Swijashskiy stand, der seinen Bart in die volle Hand genommen hatte und daran roch.

Sergey Iwanowitsch steckte die Hand in den Kasten, legte seine Kugel hinein und blieb, Lewin Platz machend, am Orte stehen. Lewin trat heran, wandte sich aber, da er vollständig vergessen hatte, um was es sich handle und in Verlegenheit geraten war, an Sergey Iwanowitsch mit der Frage, wohin er die Kugel legen solle? Er frug leise, während man in seiner Nähe sprach, sodaß er hoffen konnte, es habe niemand seine Frage vernommen. Aber die Sprechenden verstummten und seine unziemliche Frage wurde gehört. Sergey Iwanowitsch runzelte die Stirn.

»Das ist Sache der Überzeugung für einen jeden,« sagte er gemessen. Einige lächelten. Lewin errötete, streckte hastig die Hand unter das Tuch und legte die Kugel nach rechts, da sie sich gerade in seiner rechten Hand befand. Nachdem er dies gethan hatte, besann er sich, daß er auch die linke Hand hineinstecken müsse und steckte sie hinein, doch schon zu spät, und zog sich dann, noch mehr in Verlegenheit geraten, schnell in die hintersten Reihen zurück.

»Einhundertsechsundzwanzig dafür! Achtundneunzig dagegen!« klang die Stimme des Sekretärs, welcher den Buchstaben r nicht aussprechen konnte. Gelächter erschallte: ein Knopf und zwei Nüsse waren in dem Kasten gefunden worden. Der Adlige war zugelassen und die Jungpartei hatte gesiegt. Aber die Partei der Alten hielt sich noch nicht für besiegt. Lewin vernahm, daß man Sjnetkoff bat, zu ballotieren, und gewahrte, daß ein Trupp der Edelleute den Gouvernementsvorsteher umringte, welcher sprach. Lewin trat näher. Sjnetkoff sprach, indem er den Edelleuten antwortete, vom Vertrauen des Adels, von dessen Liebe zu ihm, deren er nicht würdig sei, da sein ganzes Verdienst nur in seiner Ergebenheit für den Adel bestehe, dem er zwölf Jahre des Dienstes geweiht hätte. Mehrmals wiederholte er die Worte, »ich habe gedient, soviel es meine Kräfte gestatteten, im Glauben und m der Wahrheit; ich schätze euch hoch und danke euch!« und plötzlich hielt er, von Rührung überwältigt, inne und verließ den Saal.

Mochten nun diese Thränen von dem Gefühl einer Ungerechtigkeit gegen ihn, von der Liebe zum Adel, oder von der Gespanntheit der Situation herrühren, in welcher er sich befand, indem er sich von Gegnern umgeben fühlte – genug, die Erregung teilte sich weiter mit, die Majorität des Adels war gerührt und auch Lewin empfand ein Gefühl von Zärtlichkeit für Sjnetkoff.

In der Thür stieß der Gouvernementsvorsteher mit Lewin zusammen.

»Entschuldigt, bitte, entschuldigt,« sagte er wie zu einem Unbekannten, lächelte aber, als er Lewin erkannt, und diesem schien es, als ob er etwas hätte sagen wollen, aber vor Erregung nicht sprechen könne.

Der Ausdruck seines Gesichts und seiner ganzen Gestalt in der Uniform, mit den Ordenskreuzen und den weißen galonnierten Beinkleidern, erinnerte Lewin, als er so hastig dahinschritt, an ein gemästetes Schlachtvieh, welches sieht, daß es mit seiner Sache übel bestellt ist.

Der Gesichtsausdruck des Mannes hatte etwas eigentümlich Rührendes für Lewin, welcher erst am Tage vorher in Vormundschaftsangelegenheiten in seinem Hause gewesen war und ihn in der ganzen Größe eines guten und geselligen Menschen kennen gelernt hatte. Das große Haus mit den altertümlichen Familienmeubles; keine geschniegelten oder unsauberen, sondern ehrerbietige alte Diener, offenbar noch aus der Zeit der ehemaligen Leibeigenschaft stammend, die ihren Herrn nicht geändert hatten; eine wohlbeleibte, gutmütige Hausfrau im Häubchen mit Spitzen und einem türkischen Spitzenshawl, welches ihr liebes Enkelchen, die Tochter ihrer Tochter liebkoste; ein jugendlicher Sohn, Gymnasiast der sechsten Klasse, welcher von der Schule gekommen war und den Vater begrüßte, indem er ihm die große Hand küßte; die ermahnenden, freundlichen Reden und Gebärden des Hausherrn; alles dies hatte in Lewin gestern unwillkürlich Hochachtung und Sympathie erweckt. Jetzt erschien ihm dieser alte Herr rührend und beklagenswert und er wünschte, ihm einige angenehme Worte zu sagen.

»Ihr werdet vielleicht wieder unser Vorsteher werden,« sprach er.

»Kaum,« versetzte jener, erschreckt aufblickend, »ich bin abgespannt, schon alt; es giebt würdigere und jüngere als ich, mögen die nun dienen,« und der Vorsteher verschwand durch eine Seitenthür.

Es trat nun der feierlichste Augenblick ein; man mußte zur Wahl schreiten. Die Wortführer der einen und der anderen Partei zählten an den Fingern die weißen und die schwarzen Kugeln nach.

Die Debatten wegen Phleroff hatten der Jungpartei nicht nur die eine Kugel Phleroffs mehr verschafft, sondern auch einen Gewinn an Zeit herbeigeführt, sodaß noch drei Adlige herbeigeholt werden konnten, welchen es durch Intriguen der Alten unmöglich gemacht worden war, an den Wahlen teilzunehmen. Zwei der Adligen, die eine Schwäche für den Wein besaßen, hatte man durch Kumpane Sjnetkoffs trunken gemacht, dem dritten die Uniform entwendet.

Als die Jungpartei dies erfahren hatte, sandte sie sogleich, während der Debatten über Phleroff, in einer Mietkutsche Freunde fort, um den Einen uniformieren zu lassen, und Einen der beiden Berauschten zur Sobranje zu bringen.

»Den Einen habe ich gebracht, ich habe ihn mit Wasser begossen,« sagte der nach ihm gesandte Gutsherr, zu Swijashskiy tretend, »doch es ist nicht gefährlich, er taugt schon noch dazu.«

»Ist also nicht zu sehr berauscht, daß er nicht etwa umfällt?« sagte Swijashskiy kopfschüttelnd.

»Nein; er ist ganz munter; doch hätten sie ihn bald völlig niedergetrunken. Ich habe dem Buffetier gesagt, er soll ihm auf keinen Fall Wein geben.«