XXXIX.


XXXIX.

Am 5. und 6. Januar. – Diese Scenen haben uns tief ergriffen. Owen’s unter den thatsächlichen Verhältnissen gegebene Antwort ist wohl geeignet, auch die Muthigsten niederzuschlagen.

Sowie ich ein wenig wieder zur Ruhe gekommen bin, habe ich dem jungen Letourneur meinen Dank dafür ausgesprochen, daß er mir durch seine Intervention das Leben gerettet hat.

»Sie danken mir, antwortet er, wo Sie mir fluchen sollten!«

– Ihnen, André?

– Mr. Kazallon, ich habe ja nichts gethan, als Ihre Leiden verlängert!

– Darauf kommt es nicht an, Mr. Letourneur, mischt sich da Miß Herbey ein, Sie haben Ihre Pflicht gethan!«

Immer dasselbe Gefühl der Pflicht, welche dem jungen Mädchen über Alles geht! Sie ist durch die grausamen Entbehrungen abgemagert, ihre durch die fortwährende Feuchtigkeit verdorbenen und schadhaft gewordenen Kleider flattern umher, doch keine Klage kommt aus ihrem Munde und Nichts vermag ihr den Muth zu rauben.

»Mr. Kazallon, fragt sie mich, nicht wahr, wir werden Hungers sterben müssen? – Wie lange kann man wohl leben, ohne zu essen?

– Weit länger, als man glauben sollte! Vielleicht lange, unbestimmbare Tage!

– Kräftige Personen leiden ja wohl dabei am meisten?

– Ja, aber sie unterliegen schneller, das gleicht sich aus.«

Wie war ich nur im Stande, dem jungen Mädchen so zu antworten? Wie? Ich fand kein Wort des Trostes für sie? Ich habe ihr die gräßliche Wahrheit schonungslos in’s Gesicht geschleudert! Ist denn in mir jedes menschliche Gefühl erloschen? André Letourneur und sein Vater, die mich hören konnten, sahen mich wiederholt erstaunt mit ihren großen, vom Hunger erweiterten Augen an. Sie schienen sich zu fragen, ob ich es war, der also sprach.

Einige Minuten später, als wir ziemlich allein waren, sagte mir Miß Herbey mit leiser Stimme:

»Mr. Kazallon, würden Sie mir wohl einen Dienst erweisen?

– Gern, Miß, habe ich erregt geantwortet; bereit, für das junge Mädchen Alles zu thun.

– Wenn ich vor Ihnen sterbe, fährt Miß Herbey fort, und das kann ja der Fall sein, trotzdem ich schwächlicher bin, – so versprechen Sie mir, meine Leiche in’s Meer zu werfen.

– Miß Herbey, ich that sehr unrecht …

– Nein, nein, fällt sie mir trübe lächelnd in’s Wort, Sie thaten ganz recht daran, mir Alles zu sagen, nur versprechen Sie mir die Erfüllung meiner Bitte. Es ist wohl eine Schwäche von mir. Lebend fürchte ich Nichts … aber todt … versprechen Sie mir, mich in’s Wasser zu werfen.«

Ich habe es ihr versprochen. Miß Herbey reicht mir die Hand zum Danke, und ich fühle, wie ihre mageren Finger leise die meinigen drücken.

Noch eine Nacht ist vorübergeschlichen. Zu Zeiten sind meine Qualen so arg, daß ich unwillkürlich aufschreie; dann mildern sie sich wohl auch wieder, und ich versinke in eine Art Stumpfsinn. Beim Wiedererwachen wundere ich mich, meine Leidensgefährten noch lebend zu finden.

Derjenige von uns, der am wenigsten zu leiden scheint, ist der Steward Hobbart, von dem bis jetzt nur wenig die Rede gewesen ist. Es ist ein kleiner Mann von zweideutigem Aussehen, mit schmeichlerischen Blicken und einem ewigen Lächeln, »das aber nur seine Lippen angeht«; seine Augen sind stets halb geschlossen, so als wollte er seine Gedanken verbergen, und seine ganze Erscheinung athmet Falschheit. Er ist ein Heuchler, ich schwöre darauf. Und wirklich, wenn ich sagte, daß ihm die Entbehrungen am wenigsten zuzusetzen schienen, so ist damit nicht etwa gesagt, daß er keine Klagen laut werden ließe. Im Gegentheil, er seufzt ohne Unterlaß, aber ich weiß nicht, warum mir sein Gewimmer nur affectirt vorkommt. Es wird sich das wohl zeigen. Ich werde diesen Menschen beobachten, denn ich habe einen Verdacht gegen ihn, über den ich mir gern klar würde.

Heute, am 6. Januar, nimmt mich Mr. Letourneur bei Seite, führt mich nach dem Hintertheile des Flosses, und das mit dem Aussehen, als habe er mir eine »geheime Mittheilung« zu machen. Er wünscht weder gesehen noch gehört zu werden.

Ich begebe mich mit ihm nach der hinteren Ecke des Backbord, und nachdem der Abend angebrochen, vermag uns Niemand mehr zu sehen.

»Mein Herr, beginnt Mr. Letourneur mit leiser Stimme, André ist sehr schwach! Mein Sohn stirbt mir vor Hunger! Ich kann das nicht lange mit ansehen! Nein, ich kann es nicht!«

Mr. Letourneur spricht in einem Tone, dem man den verhaltenen Zorn anmerkt, und sein Accent hat etwas Wildes an sich; doch begreife ich wohl, wie dieser Vater leiden mag!

»Lieber Herr, sage ich und ergreife seine Hand, verzweifeln wir noch nicht. Wenn ein Schiff …

– Ich verlange von Ihnen keine billigen Trostesworte, unterbricht mich der arme Vater. Es wird hier kein Schiff vorbei kommen, das wissen Sie recht gut. Nein, es handelt sich um etwas Anderes. Seit wann hat mein Sohn, haben Sie selbst und wir Alle nichts gegessen?«

Diese Frage läßt mich einigermaßen erstaunen, und ich antworte:

»Seit dem 2. Januar ist der Zwieback ausgegangen. Wir haben jetzt den 6., es sind demnach vier Tage, daß …

– Daß Sie nichts gegessen haben! Nun wohl, bei mir sind es schon acht!

– Acht Tage!

– Ja! Ich habe für meinen Sohn gespart!«

Bei diesen Worten brechen ihm Thränen aus den Augen. Ich fasse Mr. Letourneur’s Hand. Kaum bin ich im Stande zu reden. Ich sehe ihn bewundernd an … acht Tage!

»Herr! Mein Herr, sage ich endlich, was verlangen Sie von mir?

– Halt! Nicht so laut! Es darf uns Niemand hören!

– So sprechen Sie! …

– Ich möchte …, und seine Stimme wurde noch leiser, ich wünsche, daß Sie André von meinem Ersparten anbieten …

– Aber können Sie das nicht selbst? …

– Nein, nein! Er würde glauben, daß ich mich für ihn beraubt habe … er würde es nicht annehmen … nein, es muß von Ihnen kommen …

– Mr. Letourneur! …

– Aus Mitleiden, bittet mich der unglückliche Vater, aus Erbarmen leisten Sie mir diesen Liebesdienst, den größten, um den ich Sie angehe … übrigens … für Ihre Bemühung …« Mr. Letourneur ergreift meine Hand und streichelt sie zärtlich.

»Für Ihre Bemühung können Sie ja auch ein wenig davon essen!…«

Armer Vater! Bei seinen Worten zittere ich wie ein Kind! Mein ganzes Wesen ist in Aufregung und mein Herz arbeitet zum Zerspringen. Gleichzeitig fühle ich, wie Mr. Letourneur ein Stück Schiffszwieback in meine Hand gleiten läßt.

»Nehmen Sie sich in Acht, daß Niemand Sie gewahr wird, sagt er. Die Ungeheuer fielen über Sie her und tödteten Sie! Das ist nur für einen Tag, doch morgen werde ich Ihnen ebenso viel übergeben!«

Der Unglückliche traut mir nicht! Vielleicht hat er recht, denn so wie ich das Stück Zwieback in meinen Händen fühle, kann ich’s mir kaum verwehren, es zum Munde zu führen!

Doch, ich habe mich überwunden, und wer diese Zeilen liest, wird begreifen, was meine Feder jetzt nicht zu schildern vermag.

Mit der in diesen niedrigen Breiten eigenthümlichen Schnelligkeit ist die Nacht hereingebrochen. Ich schleiche mich vorsichtig zu André Letourneur und biete ihm das kleine Stückchen Zwieback an, »so als ob es von mir käme«!

Der junge Mann erfaßt es mit Begierde.

»Und mein Vater?« sind seine nächsten Worte.

Ich versichere ihm, daß sein Vater auch seinen Theil hat … ich den meinen, daß ich ihm morgen … die folgenden Tage auch noch so viel würde zukommen lassen können! … Er möge es nur nehmen … nur nehmen! …

André hat mich nicht gefragt, woher dieser Zwieback komme, und hat ihn schleunig zum Munde geführt.

Und diesen Abend habe ich trotz Mr. Letourneur’s Angebot nichts gegessen … gar nichts!

XXVIII.


XXVIII.

Fortsetzung vom 6. December. – Der Chancellor wird jetzt im Wasser nicht mehr ganz im Gleichgewicht gehalten, und er droht allmälig unterzugehen.

Glücklicherweise soll das Floß noch diesen Abend fertig werden, und man wird sich auf demselben einrichten können, wenn Robert Kurtis es nicht vorzieht, damit bis zum Anbruch des Tages zu warten. Der Unterbau ist sehr fest ausgeführt. Die Balken desselben sind mit starken Tauen verbunden, und da sie kreuzweise übereinander liegen, so erhebt sich das Ganze etwa um zwei Fuß über das Wasser.

Die Plattform ist aus Planken der Schanzkleidung hergestellt, welche die Wellen abgerissen haben und die man geschickt verwendet hat. Schon im Laufe des Nachmittags beginnt man, es mit Allem, was an Lebensmitteln, Segelwerk, Instrumenten und Werkzeugen gerettet worden ist, zu beladen. Eile thut noth, denn der Mastkorb des Mittelmastes ragt nur noch zehn Fuß über das Meer empor, und vom Bugspriet ist nur die äußerste schief aufsteigende Spitze noch sichtbar. Ich würde mich sehr wundern, wenn der morgende Tag nicht der letzte des Chancellor wäre!

Und in welchem moralischen Zustande befinden wir uns nun? Ich suche mir klar zu werden über mein eigenes Innere, und es scheint mir, daß ich mehr zu einer unbewußten Theilnahmlosigkeit hinneige, als zu dem Gefühl der Ergebung. Mr. Letourneur lebt ganz in seinem Sohne, der seinerseits wieder nur an den Vater denkt. André zeigt übrigens eine muthige, würdige, christliche Resignation, die ich nicht besser als mit derjenigen Miß Herbey’s zu vergleichen vermag. Falsten ist stets der Alte, und, Gott verzeihe mir, der Ingenieur rechnet noch immer in seinem Notizbuche! Mrs. Kear geht trotz der Sorgfalt des jungen Mädchens und der meinigen der Auflösung mehr und mehr entgegen.

Von den Matrosen sind zwei oder drei ganz ruhig, die andern aber nahe daran, den Kopf zu verlieren, einige scheint ihr rohes Naturell zu Excessen zu verführen. Die Leute, welche dem verderblichen Einflüsse Owen’s und Jynxtrop’s unterliegen, werden schwer im Zaume zu halten sein, wenn wir mit ihnen auf dem beschränkten Flosse zusammen leben müssen!

Der Lieutenant Walter ist ganz entkräftet; trotz seines Muthes hat er darauf verzichten müssen, länger Dienst zu thun. Robert Kurtis und der Bootsmann sind energische, unerschütterliche Männer, welche die Natur »in ihrem besten Feuer geschmiedet hat«.

Gegen fünf Uhr Abends hat eine unserer Unglücksgefährtinnen aufgehört zu leiden. Mrs. Kear ist nach schmerzlichem Todeskampfe, doch wahrscheinlich ohne Bewußtsein unserer Lage, verschieden. Sie stieß nur einige Seufzer aus, und Alles war vorüber. Bis zum letzten Augenblicke hat Miß Herbey mit einer uns Alle tief ergreifenden Ergebenheit der Herrin alle ihre Sorgfalt gewidmet!

Die Nacht verging ohne allen weiteren Zufall. Am Morgen, beim ersten Tagesgrauen, habe ich die Hand der Todten ergriffen, welche schon ganz erkaltet und starr war. Den Körper konnten wir nicht länger im Mastkorbe behalten. Miß Herbey und ich, wir wickeln sie in ihre Kleider, sprechen ein stilles Gebet für die Seele der unglücklichen Frau und – das erste Opfer so vielen Elends stürzt in die Fluthen.

Da ruft Einer der Leute, die sich in den Strickleitern befinden, uns die entsetzlichen Worte zu:

»Da, um diese Leiche wird es uns noch leid thun!«

Ich drehe mich um. Owen war es, der also sprach.

Dann beschleicht mich aber der Gedanke, daß die Lebensmittel uns wirklich mit der Zeit ausgehen könnten!

XXIX.


XXIX.

Am 7. December. – Das Schiff sinkt weiter; das Meer ist nun bis zu den Spinnenköpfen des Besanmastes gestiegen. Oberdeck und Vorderkastell sind vollständig überfluthet; die Spitze des Bugspriets ist verschwunden, und nur die drei Masten erheben sich noch über den Ocean.

Doch das Floß liegt bereit und ist mit Allem beladen, was zu retten war. Am Vordertheile desselben ist eine Oeffnung ausgespart, welche einen Mast aufnehmen soll, den Strickleitern von den Seiten der Plateform halten werden. Das große Topsegel ist für denselben bestimmt und treibt uns vielleicht nach der Küste.

Wer weiß, ob dieser gebrechliche Bretterhaufen, der nicht wohl untersinken kann, nicht zu Stande bringen wird, was dem Chancellor nicht gelingen sollte? Die Hoffnung wurzelt doch so fest im Menschenherzen, daß ich sie auch jetzt noch sich in mir regen fühle!

Es ist sieben Uhr Morgens, und wir sind eben im Begriff, uns einzuschiffen, als das Schiff plötzlich so schnell versinkt, daß der Zimmermann und die auf dem Flosse beschäftigten Leute gezwungen sind, die Taue zu kappen, um nicht mit in den Wirbel hinabgezogen zu werden.

Unser bemächtigt sich eine unbeschreibliche Angst, denn in dem Augenblick, da das Schiff in den Abgrund versinkt, treibt unsere einzige rettende Planke mit der Strömung fort.

Zwei Seeleute und ein Schiffsjunge verlieren den Kopf, stürzen sich in das Meer, aber sie kämpfen vergebens gegen den Seegang. Es liegt auf der Hand, daß sie das Floß nicht erreichen, noch an Bord zurückgelangen werden, denn Wind und Wellen haben sie gegen sich. Robert Kurtis schlingt sich einen Strick um den Leib und versucht ihnen zu Hilfe zu eilen. Vergeblich! Noch bevor er sie erreicht hat, sehe ich die drei Unglücklichen, welche mit aller Macht sich zu halten suchen, langsam verschwinden, nachdem sie vergeblich die Arme nach uns ausgestreckt haben.

Man zieht Robert Kurtis wieder heran, der selbst bei dem wildbewegten Wasser nicht ohne Verletzung an Bord gelangt.

Inzwischen mühen sich Daoulas und seine Leute mittels Balken, die sie als Ruder gebrauchen, ab, dem Schiffe wieder nahe zu kommen, doch erst nach einer Stunde – eine Stunde, die uns eine Ewigkeit scheint und während der das Wasser bis zu den Mastkörben steigt, – gelingt es, das Floß, welches sich auf zwei Kabellängen von uns entfernt hatte, neben den Chancellor zu legen. Der Bootsmann wirft Daoulas eine Leine zu, und das Floß wird noch einmal an die Mastseile des Großmastes angebunden.

Jetzt ist kein Augenblick zu verlieren, denn ein furchtbarer Wirbel entsteht rings um den gesunkenen Schiffsrumpf, aus dem starke Luftblasen in großer Menge aufsteigen.

»Einschiffen! Einschiffen!« rief Robert Kurtis.

Wir stürzen auf das Floß. André Letourneur beobachtet erst, daß auch Miß Herbey auf dasselbe gelangt, und erreicht dann selbst glücklich die Plateform, wohin sein Vater ihm unmittelbar folgt. In kürzester Zeit sind wir Alle eingeschifft, – Alle, bis auf den Kapitän Robert Kurtis und den alten Matrosen O’Ready.

Robert Kurtis steht noch auf dem Mastkorbe des Großmastes und will sein Schiff nicht eher verlassen, als bis es in den Abgrund versinkt; das ist seine Pflicht und sein Recht. Man fühlt es mit, daß ihm fast das Herz bricht, da er den Chancellor, den er liebt und befehligt, aufzugeben gezwungen ist!

Der Ire ist im Mastkorbe des Besanmastes geblieben.

»Schiffe Dich ein, Alter! ruft ihm der Kapitän zu.

– Geht das Schiff schon unter? fragt der Starrkopf mit der größten Gleichgiltigkeit.

– Es sinkt geraden Wegs hinab.

– Er schifft sich schon ein«, antwortet O’Ready, als ihm das Wasser bis an den Gürtel gestiegen ist.

Kopfschüttelnd begiebt er sich nach dem Flosse.

Noch einen Augenblick verweilt Robert Kurtis auf dem Mastkorbe, wirft einen Blick ringsum und verläßt als der Letzte sein Fahrzeug.

Es ist die höchste Zeit. Die Taue werden gekappt, und langsam treibt das Floß ab.

Unser Aller Augen sind nach der Stelle gerichtet, an der das Schiff untergeht. Erst verschwindet die Spitze des Besanmastes, dann die des Großmastes, und nun ist – Nichts mehr sichtbar von dem schönen Schiffe, das vorher der Chancellor hieß.

XXX.


XXX.

Fortsetzung vom 7. December. – Jetzt trägt uns also ein anderer schwimmender Apparat; versinken kann er zwar nicht, denn die Balken, aus denen er besteht, müssen unter allen Verhältnissen auf der Oberfläche bleiben. Doch wird ihn das Meer nicht zertrümmern?

Wird es nicht die Taue zerreißen, die ihn verbinden?

Von achtundzwanzig Personen, die der Chancellor bei seiner Abfahrt von Charleston trug, sind schon zehn umgekommen.

Wir sind noch achtzehn, – achtzehn auf einem Flosse, das auf vierzig Fuß Länge eine Breite von etwa zwanzig Fuß bietet.

Hier folgen die Namen der Ueberlebenden: Die Herren Letourneur, der Ingenieur Falsten, Miß Herbey und ich, als Passagiere; Kapitän Kurtis, Lieutenant Walter, der Hochbootsmann, der Steward Hobbart, der Koch Jynxtrop, der Zimmermann Daoulas; – endlich die sieben Matrosen Austin, Owen, Wilson, O’Ready, Burke, Sandon und Flaypol.

Hat uns der Himmel in den zweiundsiebenzig Tagen seit unserer Abfahrt von der amerikanischen Küste nun hinreichend geprüft, und seine Hand schwer genug auf uns gelegen? Auch der Vertrauensvollste würde das nicht zu hoffen wagen.

Doch, lassen wir die Zukunft, denken nur an die Gegenwart, und fahren wir fort die Scenen dieses Dramas in der Reihenfolge, wie sie sich entwickeln, zu registriren.

Die Passagiere des Flosses sind bekannt. Welches sind aber ihre Hilfsmittel?

Robert Kurtis hat nichts Anderes einschiffen lassen können, als was von den schon aus der Kombüse entnommenen Provisionen übrig war, deren größter Theil damals, als das Verdeck des Chancellor überfluthet wurde, verdorben ist. Nur wenig verbleibt uns, wenn man bedenkt, daß achtzehn Personen zu ernähren sind, und wie lange es dauern kann, bis uns ein Schiff begegnet oder wir Land in Sicht bekommen. Ein Faß Schiffszwieback, ein Faß getrocknetes Fleisch, ein kleines Tönnchen Branntwein, zwei Behälter mit Wasser, das ist Alles, was zusammengerafft werden konnte, so daß wir uns vom ersten Tage an mit zugemessenen Rationen begnügen müssen.

An Kleidungsstücken zum Wechseln besitzen wir ganz und gar nichts. Einige Segel dienen uns als Decken und Schutzdächer. Die Werkzeuge des Zimmermanns Daoulas, der Sextant, die Bussole, eine Karte, unsere Taschenmesser, ein metallener Siedekessel und eine Weißblechtasse, welche den alten Irländer O’Ready noch niemals verlassen hat, das sind die Instrumente und Geräthe, die noch übrig sind, denn alle die auf dem Verdeck schon nieder gelegten und für das erste Floß bestimmten Kästen sind schon bei dem theilweisen Versinken des Schiffes verloren gegangen, und seit dieser Zeit hat Niemand mehr in den Kielraum dringen können. So ist also unsere Lage. Sie ist schwierig, doch nicht verzweifelt. Leider liegt die Befürchtung nahe, daß mehr als Einem mit der physischen Kraft auch die Seelenstärke schwinden wird, und es befinden sich Einige unter uns, welche nur schwer im Zaume zu halten sein werden.

IV.


IV.

Vom 30. September bis 6. October. – Der Chancellor ist ein schneller Segler, der viele Schiffe von gleicher Größe leicht überholen würde, und seitdem die Brise aufgefrischt hat, läßt er einen langen, kaum übersehbaren Streifen wirbelnden Kielwassers hinter sich, so daß man ein langes weißes Spitzengewebe, das auf dem Meere wie auf blauem Untergrunde hingebreitet läge, zu sehen vermeint.

Der Ocean ist vom Winde nur wenig bewegt. So viel ich weiß, wird Niemand an Bord von dem Schwanken und Stampfen des Schiffes besonders belästigt. Uebrigens befindet sich keiner der Passagiere auf der ersten Ueberfahrt und sind Alle mehr oder weniger mit dem Meere vertraut. Zur Zeit des Essens bleibt jetzt kein Platz am Tische leer.

Zwischen den Passagieren knüpfen sich allmälig Verbindungen an und das Leben an Bord gestaltet sich minder einförmig. Der Franzose, Mr. Letourneur, und ich, wir plaudern häufiger mit einander.

Mr. Letourneur ist ein Mann von fünfzig Jahren, hohem Wuchse, weißem Haar und ergrauendem Barte. Er erscheint noch älter, als er wirklich ist, – eine Folge langjährigen Kummers, der an ihm nagte und ihn auch heute noch verzehrt. Offenbar trägt dieser Mann eine nie versiegende Quelle der Traurigkeit mit sich herum, was man an seinem herabgekommenen Körper und dem häufig auf die Brust niedersinkenden Kopfe leicht erkennt.

Nie lacht er, nur selten lächelt er, und dann nur seinem Sohne gegenüber. Seine Augen sind sanft, blicken aber stets nur wie durch einen feuchten Schleier. Sein Gesicht verräth eine ganz charakteristische Mischung von Kümmerniß und Liebe, und seine ganze Erscheinung athmet eine gewisse wohlwollende Güte.

Man kommt auf den Gedanken, daß Mr. Letourneur über irgend ein unverschuldetes Unglück traure.

So ist es auch; doch wer sollte kein schmerzliches Mitgefühl empfinden, wenn er die wirklich übertriebenen Vorwürfe hört, die er sich als »Vater« selbst macht!

Mr. Letourneur ist nämlich mit seinem etwa zwanzigjährigen Sohne André, einem sanften, einnehmenden jungen Manne, an Bord. Dieser hat zwar im Gesicht einige Aehnlichkeit mit seinem Vater, aber – und das ist eben die Ursache des nie gestillten Schmerzes des Letzteren, – André ist gebrechlich. Sein linkes, stark nach außen verrenktes Bein zwingt ihn zu hinken, so daß er ohne Stock, auf den er sich stützt, gar nicht gehen kann.

Der Vater betet sein Kind an, und man sieht, daß dessen ganzes Leben jenem unglücklichen Wesen gewidmet ist. Er leidet durch das angeborene Gebrechen des Sohnes weit mehr, als sein Sohn selbst, und erbittet von diesem wohl dann und wann Verzeihung! Seine Hingebung gegen André äußert sich jeden Augenblick von Neuem. Er verläßt ihn nicht, belauscht seine geheimsten Wünsche, achtet auf Alles, was Jener thut. Seine Arme gehören mehr dem Sohne, als ihm selbst, sie umschlingen ihn und unterstützen ihn, wenn sich der junge Mann auf dem Verdeck des Chancellor ergeht.

Mr. Letourneur hat sich mir enger angeschlossen, und spricht unausgesetzt von seinem Kinde. Heute sprach ich ihn folgendermaßen an: »Eben komme ich von Mr. André. Sie haben einen guten Sohn, M. Letourneur, er ist ein begabter und unterrichteter junger Mann.

– Ja wohl, Mr. Kazallon, antwortet mir Mr. Letourneur, dessen Lippen ein schwaches Lächeln versuchen, eine schöne Seele in einem elenden Körper, – die Seele seiner armen Mutter, welche starb, als sie ihm das Leben gab.

– Er liebt Sie sehr.

– Das gute Kind! flüstert den Kopf senkend Mr. Letourneur. O, fährt er dann fort, Sie können es nicht mit fühlen, was ein Vater leidet beim Anblick seines gebrechlichen, von Geburt auf gebrechlichen Kindes!

– Mr. Letourneur, erwiderte ich ihm, bei dem Unglück, welches Ihren Sohn betroffen hat, theilen Sie die Last nicht ganz gerecht. Ohne Zweifel ist André tief zu beklagen, aber ist es denn gar nichts, von Ihnen so wie er geliebt zu werden? Eine Körperschwäche erträgt sich leichter, als ein Seelenleiden, und das Letztere trifft Sie doch ganz allein. Wiederholt beobachtete ich aufmerksam Ihren Sohn, und wenn ihm irgend Etwas nahe geht, so glaube ich behaupten zu können, daß das nur Ihre persönliche Bekümmerniß ist …

– Die ich ihm gegenüber stets verberge! fällt mir Mr. Letourneur schnell in’s Wort. Ich habe nur einen Lebenszweck, den, ihm fortwährend Zerstreuung zu verschaffen. Trotz seiner Schwäche erkannte ich an ihm eine leidenschaftliche Reiselust. Sein Geist hat Füße, nein, hat wirklich Flügel und schon seit mehreren Jahren reisen wir zusammen. Erst besuchten wir ganz Europa, und eben jetzt kehren wir von einer Tour durch die Hauptstaaten der Union zurück. Die Erziehung André’s habe ich, da ich ihn keiner öffentlichen Schule anvertrauen wollte, selbst geleitet und jetzt vollende ich sie durch Reisen. André besitzt lebendige Auffassung und glühende Phantasie. Er ist empfindsam, und manchmal bilde ich mir ein, daß er vergessen könne, wenn ich seine Begeisterung für die großartigen Naturschauspiele sehe.

– Ja, mein Herr, … gewiß …, sage ich.

– Aber wenn er auch vergäße, nimmt Mr. Letourneur wieder das Wort und begleitet es mit einem bekräftigenden Händedrucke, so vergesse ich nicht und werde nie vergessen können. Glauben Sie wohl, mein Herr, daß mein Sohn seiner Mutter und mir jemals vergeben kann, ihm ein so elendes Leben geschenkt zu haben?«

Der Schmerz dieses Vaters, der sich wegen eines Unglücks anklagt, für das kein Mensch verantwortlich sein kann, zerreißt mir das Herz. Ich will ihn trösten, doch in dem Augenblick erscheint sein Sohn. Mr. Letourneur läuft auf diesen zu und hilft ihm die etwas steile Treppe nach dem Oberdeck hinauf.

Dort setzt sich André Letourneur auf eine der Bänke, welche unter einigen Hühnerkäfigen angebracht sind, und sein Vater nimmt neben ihm Platz. Beide plaudern, und ich mische mich in ihre Unterhaltung. Sie betrifft die Fahrt des Chancellor, die Aussichten der Ueberfahrt an Bord. Mr. Letourneur hat ebenso wie ich von Kapitän Huntly einen mittelmäßigen Eindruck bekommen. Die Unentschiedenheit dieses Mannes, seine etwas schläfrige Erscheinung hat ihn unangenehm berührt. Dagegen fällt Mr. Letourneur ein sehr günstiges Urtheil über den zweiten Officier, Robert Kurtis, einen wohlgebauten Mann von dreißig Jahren mit großer Muskelkraft, der immer in Thätigkeit ist und dessen lebhafte Willenskraft sich fortwährend in Handlungen auszusprechen sucht.

Robert Kurtis betritt eben jetzt das Verdeck. Ich fasse ihn schärfer in’s Auge und erstaune, daß er mir vorher noch nicht mehr aufgefallen ist. Da steht er in straffer und doch ungezwungener Haltung, mit stolzem Blicke und wenig gerunzelten Augenbrauen. Ja, das ist ein energischer Mann, der den kalten Muth wohl besitzen mag, welcher den wahren Seemann auszeichnen muß. Gleichzeitig ist ihm ein gutes Herz eigen, denn er interessirt sich für den jungen Letourneur und sucht ihm bei jeder Gelegenheit behilflich zu sein.

Nach Beobachtung des Himmels und einem Blick über das Segelwerk nähert sich uns der zweite Officier und nimmt an der Unterhaltung theil.

Ich sehe, daß der junge Letourneur gern mit ihm spricht. Robert Kurtis theilt uns einiges über die Passagiere mit, zu denen wir noch nicht in nähere Beziehung getreten sind.

Mr. und Mrs. Klear sind beide Amerikaner aus dem Norden, die ihre Reichthümer der Ausbeutung der Petroleumquellen verdanken. Bekanntlich ist ja hierin überhaupt die Ursache manches großen Vermögens in den Vereinigten Staaten zu suchen. Dieser Mr. Kear, ein Mann von etwa fünfzig Jahren, dem man den »Parvenu« ansieht, ist ein trauriger Tischgenosse, der Nichts als sein persönliches Vergnügen im Auge hat. Fortwährend klappert das Metall in seinen Taschen, in welchen die Hände unausgesetzt herum wühlen. Stolz, aufgeblasen, ein Anbeter seiner selbst und Verächter aller Anderen, trägt er eine affectirte Theilnahmlosigkeit für Alles, was ihn nicht direct angeht, zur Schau. Er brüstet sich wie ein Pfau, »er riecht sich, er schmeckt sich und kostet sich«, um mit den Worten des berühmten Physiognomikers Gratiolet zu reden. Er ist ein Dummkopf und ein Egoist dazu. Ich begreife nicht, warum er an Bord des Chancellor gegangen ist, da das einfache Kauffahrtei-Schiff ihm den Comfort der transatlantischen Dampfer ja doch nicht gewähren kann.

Mrs. Kear ist eine nichtssagende, nachlässig auftretende Frau, der man die vierzig Jahre an den Schläfen schon ansieht, geistlos, unbelesen und ohne Unterhaltungsgabe. Sie schaut wohl hinaus, aber sieht Nichts; sie hört wohl, aber versteht Nichts. Ob sie wohl denken mag? Ich möchte es nicht behaupten.

Die einzige Beschäftigung dieser Frau besteht darin, sich jeden Augenblick von ihrer Gesellschaftsdame, der Miß Herbey, einer zwanzigjährigen Engländerin von sanftem und einnehmendem Wesen, bedienen zu lassen, einem jungen Mädchen, welches die wenigen Pfunde, die ihr der Oelbaron zuwirft, wohl nicht ohne Kränkung annimmt.

Diese Dame ist sehr hübsch; eine Blondine mit tiefblauen Augen, zeigt sie nicht jenes nichtssagende Gesicht, dem man bei so vielen Engländerinnen begegnet. Gewiß wäre ihr Mund reizend, wenn sie einmal Zeit oder Gelegenheit hätte, zu lächeln. Worüber sollte das arme Mädchen aber lächeln können, da sie jeden Augenblick den sinnlosen Nörgeleien und lächerlichen Launen ihrer Herrin ausgesetzt ist? Doch, wenn Miß Herbey im Inneren gewiß tief leidet, so verbirgt sie das doch und erscheint in ihr Schicksal völlig ergeben.

William Falsten, ein Ingenieur aus Manchester, vertritt den vollkommen englischen Typus. Er leitet ein großes Wasserwerk in Süd-Carolina und geht jetzt nach Europa, um neue vervollkommnetere Maschinen kennen zu lernen, unter Anderem die Centrifugen der Firma Cail. Ein Mann von fünfundvierzig Jahren, steckt etwas von einem Gelehrten in ihm, der aber nur an seine Maschinen denkt, den Mechanik und Rechnungen von Kopf bis zum Fuß erfüllen und der darüber hinaus für Nichts mehr Sinn hat. Wen er in seine Unterhaltung verwickelt, der kann unmöglich wieder davon loskommen und bleibt wie von einem endlosen Zahnrade darin gefesselt.

Mr. Ruby endlich repräsentirt den ganz gewöhnlichen Kaufmann ohne Erhabenheit und Originalität. Seit zwanzig Jahren hat dieser Mann nichts gethan, als zu kaufen und zu verkaufen, und da er im Allgemeinen theurer verkaufte, als er eingekauft hat, so hat er sich ein Vermögen erworben. Was er damit anfangen soll, weiß er selbst noch nicht. Dieser Ruby, dessen ganze Existenz in seinem Kramhandel aufging, denkt nicht und reflectirt nicht. Sein Gehirn ist für jeden Eindruck unzugänglich, und er rechtfertigt in keiner Weise das Wort Pascal’s: »Der Mensch ist offenbar zum Denken erschaffen, nur das macht seine Würde aus, und bildet sein Verdienst.«

XXXI.


XXXI.

Fortsetzung vom 7. December. – Der erste Tag hat sich durch kein besonderes Ereigniß ausgezeichnet.

Heute hat der Kapitän Robert Kurtis uns Alle, Passagiere und Matrosen, versammelt.

»Meine Freunde, sprach er uns an, achten Sie wohl auf meine Worte. Ich commandire auf diesem Flosse ebenso wie an Bord des Chancellor, und ich rechne ohne Ausnahme auf unbedingten Gehorsam. Denken wir nur an das allgemeine Wohl, seien wir einig, und möge der Himmel uns gnädig sein!«

Alle nahmen diese Worte mit Befriedigung auf.

Die schwache Brise, welche jetzt weht und deren Richtung der Kapitän mittels des Compasses bestimmt, nimmt etwas zu und bläst mehr aus Norden. Diesen günstigen Umstand darf man sich nicht entgehen lassen, um sich der Küste Amerikas so weit als möglich zu nähern. Sofort geht der Zimmermann Daoulas daran, den Mast in der Oeffnung des Vordertheils aufzurichten, den er durch zwei Spieren sorgsam stützt. Währenddem befestigen der Hochbootsmann und die Matrosen das kleine Topsegel an der Stenge, welche zu diesem Zwecke aufbewahrt worden ist.

Um neuneinhalb Uhr wird der Mast aufgerichtet, dem zwei von den Seiten der Plattform aufsteigende Strickleitern noch mehr Stabilität verleihen. Das Segel wird gehißt, und unser Floß bewegt sich mit dem Winde im Rücken merkbar fort.

Nach Beendigung dieser Arbeit versucht der Zimmermann auch ein Steuerruder herzustellen, um mit dessen Hilfe das Floß in der gewünschten Richtung zu erhalten. Robert Kurtis und der Ingenieur Falsten gehen ihm dabei mit Rath und That zur Hand, und nach zwei Stunden Arbeit ist an dem Hintertheile eine Art Bootsriemen angebracht, ähnlich denen, wie sie an den malayischen Dschonken gebräuchlich sind.

Inzwischen hat Kapitän Robert Kurtis die nothwendige Beobachtung zur Bestimmung der geographischen Länge unternommen, und zu Mittag gelingt es ihm, die Sonnenhöhe mit großer Genauigkeit zu messen.

Der Punkt unserer Lage ist nach seiner Beobachtung:

15° 7′ nördlicher Breite, 49° 35′ westlicher Länge von Greenwich.

Durch Eintragung auf die Courskarte ergiebt es sich, daß wir uns gegen 650 Meilen nordöstlich von Paramaibo, d. h. dem nächsten Theile des amerikanischen Continents, der wie erwähnt zum Gebiete von Holländisch-Guyana gehört, befinden.

Wenn wir nur mittelmäßiges Glück haben, dürfen wir doch nicht, selbst bei constanter Hilfe der Passatwinde, darauf rechnen, mehr als zehn bis zwölf Meilen täglich zurückzulegen, da ein so unvollkommener Apparat, wie ein Floß, den Wind nicht vortheilhaft auszunutzen vermag. Darnach hätten wir auf eine Fahrt von zwei Monaten zu rechnen, selbst unter den günstigsten Umständen, abgesehen von dem wenig wahrscheinlichen Falle der Begegnung eines Schiffes. Der Atlantische Ocean ist aber gerade in diesem Theile weit weniger besucht als weiter nördlich oder südlich. Wir sind zum Unglück zwischen die Schiffswege nach den Antillen und die nach Brasilien mitten hinein geworfen worden, welche die transatlantischen englischen oder französischen Steamer einhalten, und es ist besser, wir verlassen uns nicht auf den Zufall einer Begegnung. Wenn wir noch überdies in die Regionen der Calmen kämen oder der umschlagende Wind uns nach Osten treiben sollte, so werden aus den zwei Monaten vier, ja sechs werden, und vor Ablauf des dritten dürften unsere Lebensmittel wohl schon zur Neige gehen!

Die Klugheit erfordert also, daß wir nur das dringend nothwendige Quantum verzehren. Kapitän Kurtis hat uns das Alles vorgestellt, und wir haben die Lebensvorschriften strengstens festgesetzt. Für Alle ohne Unterschied werden die Rationen so bemessen, daß Hunger und Durst wenigstens halb gestillt werden. Die Leitung des Flosses erfordert keinen großen Aufwand physischer Kräfte, und uns kann wohl eine schmälere Kost genügen. Der Branntwein, von dem das Fäßchen nur fünf Gallonen (etwa 23 Liter) enthält, soll nur mit größter Sparsamkeit vertheilt werden, und Niemand ohne ausdrückliche Erlaubniß des Kapitäns das Recht haben, ihn anzurühren.

Das Leben an Bord ist in folgender Weise geregelt: fünf Unzen Fleisch und fünf Unzen Schiffszwieback täglich für den Mann! Das ist zwar wenig, doch kann die Ration nicht verstärkt werden, denn fünfzehn Magen verzehren bei diesen Verhältnissen des Consums fünf Pfund täglich, oder in vier Monaten 600 Pfund. Alles in Allem besitzen wir aber nur 600 Pfund Fleisch und Zwieback. Man muß also bei diesem Maße stehen bleiben. Die vorräthige Menge Wasser kann etwa auf 130 Gallonen (d. s. gegen 600 Liter) geschätzt werden, und man ist dahin übereingekommen, Jedem täglich eine Pinte (d. i. 56 Centiliter) zu verabreichen, wobei wir auch drei Monate ausreichen werden.

Jeden Morgen um 10 Uhr findet durch den Bootsmann die Vertheilung der Lebensmittel statt. Jeder empfängt dann die ihm auf den Tag zukommende Ration, die er verzehren kann, wann es ihm beliebt. Das Wasser, für welches es uns an geeigneten Gefäßen fehlt, um es zu schöpfen, soll zweimal des Tages, Morgens um zehn Uhr und Abends um sechs Uhr, ausgetheilt werden, und muß es Jeder sofort trinken.

Es ist nicht zu vergessen, daß es noch zwei Möglichkeiten giebt, die unsere Portionen vermehren könnten: den Regen, der uns Wasser liefern würde, und den Fischfang, der uns mit Fischen versorgen könnte. Zum Fangen des Regens werden zwei leere Behälter aufgestellt, und nach der anderen Seite beeilen sich die Matrosen, geeignete Angelgeräthschaften herzustellen.

Das sind die Maßregeln, welche wir verabredet haben und strengstens einzuhalten überein gekommen sind. Nur dadurch dürfen wir hoffen, einer Hungersnoth vorzubeugen. Wir kennen Alle genug Beispiele, welche uns die peinlichste Vorsicht gerathen erscheinen lassen, und wenn wir wirklich den Becher des Unglücks bis zum letzten Tropfen leeren sollen, so wird es uns beruhigen, gethan zu haben, was in unseren Kräften stand.

XXXII.


XXXII.

Vom 8. bis 17. December. – Der Abend ist herangekommen, wir haben uns unter die Segelstücken verkrochen, und da ich von dem Aufenthalt im Mastkorbe furchtbar ermüdet war, habe ich einige Stunden schlafen können. Das verhältnißmäßig gering belastete Floß hebt und senkt sich leicht, und da das Meer nicht schäumt, bleiben wir auch von den Wellen verschont. Zum Unglück kann aber der Seegang nur dadurch schwächer werden, daß der Wind sich ermäßigt, und gegen Morgen bin ich in der Lage, in mein Journal eintragen zu müssen: Ruhig Wetter.

Bis zum Anbruch des Tages hat sich nichts Neues ereignet. Auch die Herren Letourneur haben einen Theil der Nacht geschlafen, und noch einmal haben wir uns die Hand gedrückt. Miß Herbey hat ebenfalls geschlummert, und ihre jetzt weniger angegriffenen Züge haben ihre gewohnte Ruhe wieder angenommen.

Wir befinden uns unterhalb des fünfzehnten Breitengrades. Die Hitze am Tage ist sehr stark, und die Sonne glänzt ungewöhnlich hell. Ein heißer Dunst schwebt in der Atmosphäre. Da der Wind nur stoßweise auftritt, so hängt das Segel während der Ruhepausen, die immer länger werden, schlaff am Maste. Robert Kurtis und der Bootsmann wollen aus gewissen nur den Seeleuten verständlichen Zeichen erkennen, daß eine Strömung von zwei bis drei Meilen in der Stunde uns nach Westen zu weiter trägt. Das wäre ein sehr günstiger Umstand der unsere Ueberfahrt merklich abkürzen könnte. Möchten der Kapitän und der Hochbootsmann sich nicht getäuscht haben, denn bei der hohen Lufttemperatur dieser Tage will die Wasserration kaum hinreichen, nur unsern quälendsten Durst zu löschen.

Und doch, seitdem wir den Chancellor oder vielmehr die Mastkörbe des Schiffes verlassen und uns auf dem Flosse eingeschifft haben, hat sich unsere Lage wesentlich verbessert, denn der Chancellor konnte jede Minute untergehen, und die Plattform, welche uns trägt, ist wenigstens fest und solid. Alle, ich wiederhole es, erkennen auch die jetzige günstige Lage unverhohlen an. Man lebt fast ganz nach seinem Vergnügen und kann hin und her gehen. Am Tage tritt man wohl zusammen, plaudert, bespricht dieses und jenes, oder betrachtet das Meer. In der Nacht schläft man unter der Segeldecke. Die Beobachtung des Himmels, die nöthige Aufmerksamkeit auf die Logleinen, welche zur Bestimmung der Geschwindigkeit der Fahrt ausgelegt sind, alles erweckt unser Interesse.

»Mr. Kazallon, sagt da André Letourneur einige Tage nach unserer Einschiffung auf dem neuen Apparat zu mir, es scheint, als sollten wir hier die Tage der Ruhe wiederfinden, welche unseren Aufenthalt auf dem Ham-Rock-Eilande so angenehm machten.

– Gewiß, so scheint es, mein lieber André, habe ich geantwortet.

– Doch möchte ich auch hinzufügen, daß das Floß vor dem Eilande einen großen Vorzug hat, – es trägt uns weiter!

– So lange wir günstigen Wind behalten, André, ist der Vorzug offenbar auf der Seite des Flosses, wenn dieser aber umschlägt…

– Sie haben recht, Mr. Kazallon, antwortet mir der junge Mann. Doch wir wollen nicht niedergeschlagen sein, sondern frohe Hoffnung haben!«

Ja wohl, diese Hoffnung hegen jetzt auch alle Anderen! Es gewinnt den Anschein, daß wir die fürchterlichsten Prüfungen für immer überstanden haben! Alle Verhältnisse sind uns günstig geworden, und es ist Keiner unter uns, der sich jetzt nicht beruhigt fühlte!

Was in der Seele Robert Kurtis‘ vorgeht, weiß ich nicht; ebenso wenig, ob er unsere Gedanken theilt, denn er hält sich etwas abseits. Gewiß ist seine große Verantwortlichkeit daran schuld! Er ist der Chef, der nicht nur für sein eigenes Leben, sondern auch für das aller Uebrigen zu sorgen hat! Ich weiß, daß er seine Pflicht in diesem Sinne auffaßt. Oft sehen wir ihn in Gedanken versunken, und Jeder vermeidet es dann, ihn zu stören.

Die langen Stunden ohne Beschäftigung bringt der größte Theil der Mannschaft auf dem Vordertheile schlafend zu. Auf Anordnung des Kapitäns ist der Hintertheil für die Passagiere reservirt worden, wo man auf Stangen eine Art Zelt errichtet hat, das uns einigen Schutz gewährt. Wir erfreuen uns Alle eines befriedigenden Wohlseins. Nur der Lieutenant Walter kann nicht wieder zu Kräften kommen. Alle ihm zugewendete Sorgfalt ist vergebens, und er wird von Tag zu Tag schwächer.

André Letourneur habe ich niemals mehr schätzen gelernt, als unter unseren jetzigen Verhältnissen. Dieser liebenswürdige junge Mann ist die Seele unserer kleinen Welt. Bei seinem originellen Geiste überrascht er häufig durch seine neuen Ideen und unerwarteten Anschauungen der Sachen, die ihm so eigen sind. Seine Unterhaltung zerstreut immer und belehrt nicht selten. Wenn André spricht, belebt sich seine kränkelnde Physiognomie. Sein Vater scheint die Worte Jenes aufzusaugen, und manchmal erfaßt er die Hand des Sohnes, die er lange Zeit betrachtet.

Dann und wann mischt sich auch, obwohl mit sorglichster Zurückhaltung, Miß Herbey in unser Gespräch; Jeder von uns bestrebt sich nach Kräften, sie durch alle möglichen Zuvorkommenheiten vergessen zu lassen, daß sie Diejenigen verloren, die naturgemäß ihre Beschützer sein sollten. In Mr. Letourneur hat das junge Mädchen einen verläßlichen Freund gefunden, wie nur ein Vater einer sein könnte, und zu ihm spricht sie mit der hingebenden Offenheit, welche ihr das Alter desselben gestattet. Auf sein Ersuchen hat sie ihm ihre Lebensgeschichte mitgetheilt, – die Geschichte eines Lebens voll Muth und Selbstverleugnung, das so häufige Loos der meisten armen Waisen. Seit zwei Jahren war sie im Hause des Mr. Kear, und jetzt ohne alle Mittel, ohne Aussichten auf die Zukunft, doch immer voller Vertrauen, da sie sich gegen jede Prüfung des Schicksals gewappnet fühlt. Miß Herbey erzwingt sich durch ihren Charakter, ihre moralische Energie die ungetheilteste Hochachtung, und auch gewisse ungebildetere Leute an Bord hüten sich vor jedem Worte und jeder Geste, die sie unangenehm berühren könnten.

Vom 12. bis 14. December ist keine Aenderung in der Situation eingetreten, in wechselnder Stärke hat der Wind fortwährend aus Osten geweht. Eigentliche Schiffsmanoeuvre sind auf dem Flosse überflüssig; selbst das Steuer, oder vielmehr der Bootsriemen braucht in seiner Stellung nicht geändert zu werden. Unser Apparat läuft mit dem Winde im Rücken, und seine Gestalt verhindert das Schwanken nach der oder jener Seite. Im Vordertheile bleiben stets einige Matrosen auf Wache, welche beauftragt sind, das Meer mit peinlichster Sorgfalt zu beobachten.

Sieben Tage sind nun verflossen, seit wir den Chancellor verlassen, und gestehe ich, daß wir uns an die Rationen schon gewöhnt haben – wenigstens bezüglich der festen Nahrung. Freilich sind unsere Kräfte auch nach keiner Seite hin in Anspruch genommen. Wir »nutzen uns nicht ab«, – um den volksthümlichen Ausdruck zu gebrauchen, der meine Gedanken recht treffend bezeichnet, – und unter derartigen Verhältnissen braucht der Mensch nur wenig zu seiner Erhaltung. Am meisten empfinden wir die Beschränkung des Wassergenusses, und bei der großen Hitze ist die uns zugetheilte Quantität notorisch unzureichend.

Am 15. December wimmelt es plötzlich rund um das Floß von einer großen Menge Fische, sogenannter Seebrassen. Obwohl unser Angelgeräthe nur aus langen Schnuren besteht, an denen ein umgebogener Nagel mit einem Stückchen gedörrten Fleisches als Lockspeise befestigt ist, so gelingt es uns doch, eine nicht unbeträchtliche Menge dieser Brassen zu fangen.

Der Tag bescheerte uns einen wahrhaft wunderbaren Fischzug und veranlaßte ein wirkliches Fest an Bord. Ein Theil jener Fische wurde geröstet, ein anderer in Meerwasser über einem auf dem Vordertheile angezündeten Holzfeuer gekocht. O, das gab eine Mahlzeit! Und dabei sparten wir an unseren Vorräthen. Diese Brassen erscheinen in solcher Unzahl, daß wir binnen zwei Tagen über zweihundert Pfund derselben einfangen. Wenn jetzt noch Regen fallen sollte, müßte sich Alles für uns zum Besten wenden.

Leider hielt sich jener Schwarm von Fischen nicht lange in unserer Nähe auf. Am 17. sind einige große Haifische, von der vier bis fünf Meter langen Art der sogenannten getigerten Haie, an der Oberfläche des Meeres erschienen. Ihre Kiefern und der untere Theil des Körpers sind schwarz mit weißen Flecken und Querlinien. Die Gegenwart solcher gefährlichen Quermäuler hat immer etwas Beunruhigendes, denn wir befinden uns bei dem geringen Emporragen des Flosses fast in einem Niveau mit ihnen, und schon mehrmals haben sie mit dem Schwanze heftig gegen unseren Bau geschlagen. Zwar ist es den Matrosen gelungen, sie durch Schläge mit Pfählen zu vertreiben, doch sollte es mich sehr wundern, wenn sie uns nicht, wie eine Beute, die ihnen nicht entgehen kann, hartnäckig nachfolgten. Geschöpfe »mit solchem Ahnungsvermögen« liebe ich aber keineswegs.

XXV.


XXV.

Die Nacht vom 4. zum 5. December. – Robert Kurtis hat den jungen Letourneur aufgehoben, eilt mit ihm über das überschwemmte Verdeck und setzt ihn auf die Strickleiter am Steuerbord. Sein Vater und ich, wir klettern zu ihm hin.

Dann blicke ich um mich. Die Nacht ist hell genug, um erkennen zu können, was ringsum vorgeht. Robert Kurtis ist auf seinen Posten zurückgekehrt und steht auf dem Oberdeck. Ganz rückwärts, nahe dem noch nicht überflutheten Hackbord, gewahre ich Mr. Kear, seine Frau, Miß Herbey und Falsten; auf der äußersten Spitze des Vorderkastells den Lieutenant und den Bootsmann, in den Mastkörben und auf den Strickleitern den Rest der Mannschaft.

André Letourneur ist nach dem Mastkorbe des Großmastes geklettert, mit Hilfe seines Vaters, der ihm den Fuß Stufe für Stufe heben mußte, und trotz des Rollens ist er ohne Unfall hinaufgekommen. Mrs. Kear Vernunft beizubringen, ist freilich unmöglich gewesen; sie verbleibt auf dem Oberdeck und läuft Gefahr, von den Wellen weggespült zu werden, wenn der Wind noch mehr auffrischt. Auch Miß Herbey hält bei ihr aus, da sie jene nicht verlassen will.

Robert Kurtis‘ erste Sorge nach dem Aufhören des Sinkens war es, alle Segel abnehmen und alle Stengen und die Obermaste herabsenken zu lassen. Hierdurch hofft er das Kentern des Chancellor zu verhindern. Kann er aber nicht jeden Augenblick ganz untergehen? Ich begebe mich zu Robert Kurtis und richte diese Frage an denselben.

»Das kann ich nicht wissen, erwidert er mir mit dem ruhigsten Tone, denn das hängt ganz von dem Zustande des Meeres ab. Gewiß ist für jetzt nur, daß das Schiff sich im Gleichgewicht befindet; leider können sich diese Verhältnisse aber in jeder Minute verschlimmern.

– Kann der Chancellor noch, mit zwei Fuß Wasser über dem Deck, segeln?

– Nein, Mr. Kazallon, wohl aber kann er unter dem Einflüsse des Windes und der Strömung abweichen, und wenn er sich einige Tage so hält, doch irgend einen Küstenpunkt anlaufen. Uebrigens haben wir als letzte Zuflucht das Floß, das in wenigen Stunden fertig sein muß, und auf welchem wir uns, sobald der Tag anbricht, dann einschiffen können.

– Sie haben also noch immer nicht alle Hoffnung aufgegeben? fragte ich Robert Kurtis sehr erstaunt.

– Die Hoffnung darf nie zu Schanden werden, Mr. Kazallon, selbst unter den allerschlimmsten Verhältnissen nicht. Alles, was ich Ihnen sagen kann, ist, daß, wenn unter hundert Chancen neunundneunzig gegen uns sind, doch die hundertste uns gehört. Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, so befindet sich der halbversunkene Chancellor genau in derselben Lage, wie im Jahre 1795 der Dreimaster Juno. Länger als zwanzig Tage hat dieses Schiff halb im Wasser sich schwebend erhalten. Passagiere und Mannschaften waren in die Takelage geflüchtet, und als man endlich an’s Land trieb, wurden Alle, die nicht den Strapazen und dem Hunger erlegen waren, glücklich gerettet. Es ist das ein in den Annalen der Seefahrten zu bekanntes Factum, als daß es mir gerade jetzt nicht wieder in den Sinn kommen sollte. Nun, Mr. Kazallon, es liegt kein Grund vor, daß die Ueberlebenden des Chancellor nicht eben so viel Glück haben sollten, als die der Juno.«

Man konnte Robert Kurtis wohl so Manches dagegen einhalten, aus dem Gespräch geht aber doch hervor, daß unser Kapitän noch nicht jede Hoffnung verloren habe.

Da sich die Bedingungen des Gleichgewichts jeden Augenblick ändern können, werden wir doch den Chancellor früher oder später verlassen müssen. Auch bleibt es dabei, daß morgen, sobald der Zimmermann mit dem Flosse fertig ist, dasselbe bestiegen werden soll.

Nun stelle man sich die dumpfe Verzweiflung der Mannschaft vor, als Daoulas gegen Mitternacht die Bemerkung macht, daß das Gestell des Flosses verschwunden ist. Die Leinen, trotzdem man darauf gesehen hatte, nur haltbare zu verwenden, waren bei dem Auf- und Abschwanken des Fahrzeuges gerissen, und etwa seit einer Stunde trieb der Unterbau des Rettungsflosses in der weiten See.

Als die Matrosen dieses neue Unglück vernahmen, ließen sie manchen Verzweiflungsschrei erschallen.

»In’s Meer! In’s Meer! Die Masten kappen!« riefen sie halb von Sinnen.

Sie wollen die Taue zerschneiden und die Untermasten in’s Wasser stürzen, um sofort ein neues Floß daraus herzurichten.

Aber Robert Kurtis mischt sich ein.

»Auf Euern Posten, Jungens! ruft er. Daß kein Faden ohne meinen Befehl zerschnitten wird! Der Chancellor ist im Gleichgewicht! Der Chancellor geht noch nicht unter!«

Bei der entschiedenen Stimme ihres Kapitäns gewinnt die Mannschaft wieder einige Besinnung, und trotz der bösen Absicht Einiger unter ihnen begiebt sich Jeder wieder auf den ihm angewiesenen Platz.

Sobald der Tag graut, steigt Robert Kurtis so weit als möglich in die Höhe, und sein Blick durchschweift forschend den Umkreis um das Schiff.

Unnützes Suchen! Das Floß ist längst außer Sehweite! Soll man die Jolle bemannen und dasselbe aufzusuchen ausfahren? Auch das ist unmöglich, denn die See geht so hohl, daß das kleine Fahrzeug ihr nicht zu widerstehen vermag. Man muß sich demnach zur Construction eines neuen Flosses entschließen und ohne Zaudern an die Arbeit gehen.

Inzwischen sind die Wellen immer stärker geworden. Mrs. Kear hat sich endlich entschlossen, den Platz auf dem Oberdeck zu verlassen, auf dem sie übrigens in einem Zustande vollständiger Willenlosigkeit lag. Mr. Kear hat sich mit Silas Huntly im Mastkorbe des Besanmastes eingerichtet. Neben Mrs. Kear und Miß Herbey befinden sich die Herren Letourneur, Alle auf der in ihrem größten Durchmesser höchstens zwölf Fuß messenden Plattform enge an einander gedrückt. Von einer Strickleiter zur anderen hat man Seile angebracht, an die sich die Insassen bei dem Schwanken des Schiffes festhalten können. Robert Kurtis hat auch noch ein Dach zum Schutze der beiden Frauen über dem Mastkorbe anbringen lassen.

Einige Fässer, welche nach dem Sinken zwischen den Masten schwimmen, hat man rechtzeitig aufgefischt, und an den Stagen sicher befestigt. Es sind das Behälter mit Conserven und Zwieback, so wie einige Fässer Trinkwasser – unser ganzer Vorrath an Lebensmitteln!

XXVI.


XXVI.

Am 5. December. – Der Tag ist warm. Unter dem sechszehnten Breitengrade ist der December kein Herbst-, sondern ein vollkommener Sommermonat. Wenn der Luftzug nicht die Gluth der Sonne mildert, dürften uns noch grausame Leiden durch dieselbe bevorstehen.

Die See geht noch immer sehr hohl. Der zu drei Viertheilen versunkene Schiffsrumpf wird wie eine Klippe von den Wellen gepeitscht. Der Schaum spritzt bis zu den Mastkörben hinauf, und unsere Kleidungsstücke werden wie von einem feinen Regen durchnäßt.

Ueber der Meeresoberfläche befinden sich von dem Chancellor noch folgende Theile: die drei Masten mit den Mastkörben, das Bugspriet, an dem man jetzt die Jolle aufgehangen hat, um sie vor dem Anprall der Wogen zu sichern, ferner das Oberdeck und das Vorderkastell, beide nur durch den schmalen Rahmen der Schanzkleidung verbunden. Das Verdeck dagegen befindet sich vollständig unter Wasser.

Die Communication zwischen den Mastkörben ist sehr beschwerlich; die Matrosen, welche an den Stagen hinklettern, können sich allein von dem einen zu dem anderen hin begeben. Unter ihnen, zwischen den Masten vom Hackbord bis zum Vorderkastell schäumt das Meer, wie über einem Riffe, und löst nach und nach die Wände des Schiffes ab, deren Planken man zu erhaschen sucht. Für die auf die engen Plateformen geflüchteten Passagiere gewährt es ein erschütterndes Schauspiel, unter ihren Füßen den Ocean zu sehen und zu hören. Die aus dem Wasser emporragenden Maste erzittern bei jedem Wellenschlage, und man möchte glauben, daß sie weggerissen werden müßten.

Besser ist es, die Augen zu schließen, und gar nicht nachzudenken, denn dieser Abgrund übt eine eigene Anziehungskraft aus, und man fühlt die Versuchung, sich hinein zu stürzen!

Inzwischen ist die gesammte Mannschaft unablässig mit der Herstellung eines zweiten Flosses beschäftigt. Dabei finden die Obermasten, die Marsraaen und Bramstengen Verwendung und widmet man unter Robert Kurtis‘ Leitung dieser Arbeit alle mögliche Sorgfalt. Der Chancellor scheint wirklich nicht weiter zu sinken; wie der Kapitän es vorausgesagt, wird er voraussichtlich im Wasser sich eine Zeit lang schwebend erhalten. Robert Kurtis achtet also darauf, daß das Floß so solid als möglich gebaut wird.

Die Ueberfahrt wird bei der noch immer beträchtlichen Entfernung der nächsten Küste, der von Guyana nämlich, lange Zeit in Anspruch nehmen. Es empfiehlt sich also, lieber einen Tag länger in den Mastkörben auszuharren, und sich die nöthige Zeit zur Erbauung eines schwimmenden Gerüstes zu nehmen, auf welches man sich einigermaßen verlassen kann.

Die Matrosen selbst haben sich wieder mehr beruhigt, und jetzt geht die Arbeit ungestört von statten. Ein alter, etwa sechzigjähriger Seemann allein, dem Bart und Haar im Seewinde gebleicht sind, ist nicht der Ansicht, den Chancellor zu verlassen. Es ist ein Ire, mit Namen O’Ready.

Als ich mich eben auf dem Oberdeck befand, gesellte er sich zu mir.

»Mein Herr, beginnt er und schiebt mit bewundernswerther Gleichgiltigkeit sein Priemchen im Munde hin und her, meine Kameraden haben die Absicht, das Schiff zu verlassen. Ich nicht. Ich habe schon neunmal Schiffbruch gelitten – viermal auf offener See, fünfmal an der Küste. Es ist mein eigentliches Geschäft, zu scheitern. Ich kenne das aus dem Grunde. Nun, Gott soll mich verdammen wenn ich nicht immer die Hasenherzen habe elend umkommen sehen, die sich auf Flößen oder Booten zu retten suchten! So lange ein Kasten schwimmt, soll man darauf bleiben. Lassen Sie sich das gesagt sein!«

Nach diesen sehr bestimmt gesprochenen Worten, welche die alte irländische Wasserratte zur Beruhigung seines eigenen Gewissens von sich zu geben schien, versank der Mann wieder in ein vollkommenes Schweigen.

An demselben Tage bemerke ich auch, gegen drei Uhr Nachmittags, Mr. Kear und den Ex-Kapitän Silas Huntly im Mastkorbe des Besanmastes in eifrigem Gespräche. Der Petroleumhändler scheint dem Anderen heftig zuzusetzen, und dieser einem Vorschlage des genannten Mr. Kear gewisse Einwürfe entgegen zu halten. Lange Zeit betrachtet Silas Huntly wiederholt das Meer und den Himmel, und schüttelt mit dem Kopfe. Endlich, nach einer Unterhaltung von einer Stunde, gleitet er an den Besanstagen bis zur Spitze des Vorderkastells, mischt sich unter die Matrosen, und ich verliere ihn aus den Augen.

Uebrigens erscheint mir dieser Vorfall ohne Bedeutung, und ich steige wieder nach dem Großmast hinauf, wo die Herren Letourneur, Miß Herbey, Falsten und ich noch einige Stunden im Gespräche verbringen. Die Sonne brennt gewaltig, und ohne das Segel, welches uns als Zeltdach dient, wäre es hier wohl kaum auszuhalten.

Um fünf Uhr nehmen wir gemeinsam einen Imbiß ein, der aus Schiffszwieback, gedörrtem Fleisch und einem halben Glase Wasser per Mann besteht. Mrs. Kear, welche in heftigem Fieber darnieder liegt, genießt nichts. Mrs. Herbey vermag ihr nur dadurch einige Erquickung zu verschaffen, daß sie die brennenden Lippen der Kranken von Zeit zu Zeit benetzt. Die unglückliche Frau leidet schwer; ich bezweifle, daß sie diesen Zustand lange aushalten wird.

Ihr Mann hat sich auch nicht einmal nach ihr erkundigt. Gegen drei Viertel auf sechs Uhr aber scheint es mir doch, daß das Herz dieses Egoisten zu klopfen beginnt. Mr. Kear ruft nach einigen Matrosen vom Vorderdeck und bittet sie, ihm zum Verlassen des Besanmastes behilflich zu sein. Will er sich nun vielleicht zu seiner Frau nach dem Großmast begeben?

Die Matrosen beachten den Ruf Mr. Kear’s nicht sofort. Dieser wiederholt seine Bitten dringender und verspricht Denen eine gute Belohnung, die ihm diesen Dienst leisten würden.

Jetzt begeben sich zwei Matrosen, Burke und Sandon, über die Schanzkleidung hin nach dem Besanmast und steigen nach dem Mastkorbe.

Mit Mr. Kear feilschen sie lange um die Bedingungen für ihre Bemühung. Offenbar verlangen sie viel, und der Erdölbaron will nur wenig geben. Schon schicken sich die Seeleute wieder an, den Passagier an seinem Platze zurück zu lassen. Endlich wird man einig und zieht Mr. Kear ein Päckchen Papierdollars hervor, das er dem einen Matrosen einhändigt. Dieser zählt die Summe sorgfältig durch, und scheint es mir, daß er wenigstens hundert Dollars in der Hand hat.

Es handelt sich nämlich, wie ich gewahr werde, darum, Mr. Kear längs der Besanstagen nach dem Vorderkastell zu befördern. Burke und Sandon umwickeln Jenen mit einem Tau, das sie um die Stagen schlingen; dann lassen sie ihn unter Nachhilfe einiger Rippenstöße wie ein Colli vor sich hergleiten, was nicht ohne ein spöttisches Gelächter ihrer Kameraden abgeht.

Aber ich hatte mich getäuscht. Mr. Kear fiel es gar nicht ein, seine Frau im Mastkorbe aufsuchen zu wollen. Er bleibt auf dem Vorderkastell in Gesellschaft Silas Huntly’s und die eintretende Dunkelheit wehrt mir, etwas Weiteres zu erkennen.

Die Nacht bricht an; der Wind hat sich gelegt, aber die See geht hohl. Der Mond, schon seit vier Uhr Nachmittags am Horizonte, wird nur dann und wann zwischen Wolkenstreifen sichtbar. Die niedrigeren derselben färben sich am Horizonte mit röthlichem Tone, was für morgen eine steife Brise erwarten läßt. Gott gebe, daß sie aus Nordosten weht und uns nach dem Lande zu treibt, denn jede andere Windrichtung wäre für uns verderblich, wenn wir erst auf dem Flosse eingeschifft sind, das nur mit dem Wind im Rücken einige Fahrt machen kann!

Robert Kurtis ist gegen acht Uhr nach unserem Mastkorbe gekommen. Ich bin der Meinung, daß ihm der Anblick des Himmels Sorge verursacht und er im Voraus beobachten will, was für Witterung morgen sein werde. Eine Viertelstunde lang beobachtete er; dann drückt er mir, vor dem Herabsteigen, ohne ein Wort zu sagen, die Hand und nimmt seinen Platz auf dem Oberdeck wieder ein.

Ich versuche auf dem beengten Raume des Mastkorbes zu schlafen, kann aber nicht dazu gelangen. Böse Ahnungen beunruhigen mich. Die Atmosphäre kommt mir »gar zu ruhig« vor. Kaum streicht von Zeit zu Zeit ein Lüftchen durch das Takelwerk und läßt die Metallfäden in demselben ertönen. Indessen, das Meer »fühlt« etwas, denn es bleibt in hochgehender Bewegung und unterliegt offenbar der Rückwirkung eines entfernten Sturmes.

Gegen elf Uhr Nachts leuchtet einmal der Mond mit hellem Scheine in dem Zwischenraume zweier Wolken, und das Wasser erglänzt, als würde es von unten her erhellt.

Ich erhebe mich und blicke hinaus. Sonderbar. Ich glaube einige Augenblicke einen dunklen Punkt wahrzunehmen, der sich mitten in der intensiven Weiße der Wellen hebt und senkt. Ein Felsen kann das nicht sein, da er die Bewegungen der See mitmacht und wahrscheinlich hat mich eine Illusion getäuscht. Dann verschleiert sich der Mond von Neuem, und wird es tief dunkel, so daß ich mich nahe der Backbordstrickleiter wieder niederlege.

XXVII.


XXVII.

Am 6. December. – Ich habe einige Stunden schlafen können. Um vier Uhr Morgens erweckt mich das Pfeifen des Windes, und ich vernehme Robert Kurtis‘ Stimme, welche noch das Brausen der Windstöße, unter denen die Masten erzittern, hörbar durchdringt.

Ich erhebe mich, packe die um unseren luftigen Aufenthalt gezogenen Leinen und versuche mir darüber klar zu werden, was unter mir und um mich herum vorgeht.

Mitten durch die Dunkelheit grollt das Meer unter meinen Augen, und zwischen den Masten schäumen die jetzt mehr bleichen als weißen Wellen auf. Zwei schwarze Schatten ganz am Hintertheile heben sich von der helleren Farbe des Wassers ab. Diese Schatten sind der Kapitän Kurtis und der Hochbootsmann.

Ihre bei dem Klatschen der Wellen und dem Pfeifen der Brise nur wenig verständlichen Stimmen dringen nur wie ein zerrissenes Seufzen zu meinem lauschenden Ohre. Was geht wohl vor?

Da kommt ein Matrose, der in die Takelage gestiegen war, um ein Tau zu befestigen, an mir vorüber.

»Was ist geschehen? frage ich ihn.

– Der Wind ist umgesprungen …«

Noch einige Worte fügt der Matrose hinzu, die ich nicht genau verstehen kann. Indessen glaubte ich die Worte »gerade umgekehrt« zu hören.

Gerade umgekehrt! Dann müßte der Wind aber von Nordosten nach Südwesten umgeschlagen sein, und er müßte uns jetzt in die offene See hinaustreiben! Meine Ahnungen trügten mich also nicht!

Nach und nach wird es heller. Der Wind hat sich zwar nicht vollkommen verkehrt, aber – ein ebenso verderblicher Umstand für uns, – er bläst aus Nordwesten und entfernt uns von dem Lande. Jetzt stehen nun fünf Fuß Wasser über dem Deck, und die Linie der Schanzkleidung ist vollkommen verschwunden. Das Schiff sank in der Nacht noch tiefer ein, auch Vorderkastell und Oberdeck befinden sich jetzt in gleichem Niveau mit dem Wasser, das ununterbrochen darüber hinströmt. Unter dem Winde arbeiteten Robert Kurtis und seine Leute an der Herstellung des Flosses, doch machen sie bei der bewegten See nur langsame Fortschritte, und erforderte es die aufmerksamste Fürsorge, die Balken des Unterbaues sich nicht verschieben zu lassen, bevor sie unverrückbar fest verbunden wurden.

Die Herren Letourneur stehen an meiner Seite; der Vater umschlingt mit den Armen den Sohn, den er bei dem heftigen Rollen des Schiffes zu halten sucht.

»Dieser Mastkorb wird brechen!« ruft Mr. Letourneur, der in der beschränkten Plateform, die uns trägt, ein Krachen vernommen hat.

Miß Herbey erhebt sich bei diesen Worten und zeigt auf die neben ihr liegende Mrs. Kear.

»Was sollen wir thun, meine Herren? fragt sie.

– Wir müssen bleiben, wo wir sind, habe ich ihr geantwortet.

– Hier ist noch unsere sicherste Zuflucht, Miß Herbey, fügt Andre Letourneur hinzu. Fürchten Sie nichts, Miß …

– O, für mich fürchte ich auch nicht, erwidert das junge Mädchen mit ruhiger Stimme, aber für Diejenigen, welche Ursache haben, an ihrem Leben zu hängen!«

Um acht ein viertel Uhr ruft der Bootsmann seinen Leuten zu:

»He! Ihr da auf dem Kastell!

– Was wollen Sie, Meister, antwortet einer der Matrosen, ich glaube O’Ready.

– Habt Ihr die Jolle dort?

– Nein, Meister.

– Nun, dann ist sie also weggeschwemmt worden.« In der That hängt die Jolle nicht mehr am Bugspriet, fast gleichzeitig gewahrt man aber auch das Verschwundensein Mr. Kear’s, Silas Huntly’s und dreier Leute von der Mannschaft, eines Schotten und zweier Engländer. Jetzt wird mir der Gegenstand der gestrigen Unterhaltung zwischen Kear und dem Ex-Kapitän klar. In der Befürchtung, daß der Chancellor noch vor Fertigstellung des Flosses untergehen könne, sind sie überein gekommen, zu entfliehen, und haben drei Matrosen durch Geld bestochen, sich des kleinen Bootes zu bemächtigen. Auch über den schwarzen Punkt, den ich verwichene Nacht vorübergehend sah, geht mir nun ein Licht auf. Der Elende hat seine Frau im Stiche gelassen! Der unwürdige Kapitän sein Schiff! Sie haben uns die Jolle gestohlen, das einzige noch übrig gebliebene Boot.

»Fünf Gerettete! sagt der Bootsmann.

– Fünf Verlorene!« antwortet der alte Irländer.

Wirklich giebt der Zustand des Meeres O’Ready’s Worten am meisten recht. Wir sind nur noch Zweiundzwanzig an Bord. Wie weit wird sich diese Zahl noch vermindern?

Bei dem Bekanntwerden jener feigen Flucht und des diebischen Schurkenstreichs macht sich die Stimmung der Mannschaft in einem Schwall von Flüchen über die Entflohenen Luft, und wenn der Zufall sie an Bord zurückführen sollte, würden sie ihren Verrath schwer zu büßen haben!

Ich halte es für gerathen, der Mrs. Kear die Flucht ihres Mannes zu verheimlichen. Die bedauernswerthe Frau wird vom Fieber furchtbar geschüttelt, gegen das wir völlig ohnmächtig dastehen, weil das Schiff so schnell gesunken ist, daß auch die Arzneikiste nicht zu retten war. Und wenn wir auch Arzneimittel gehabt hatten, welchen Erfolg hätten sie bei dem Zustande, in dem sich Mrs. Kear thatsächlich befand, wohl noch erzielen können?