Neuntes Capitel.


Neuntes Capitel.

Kälte und Wärme.

Mit einer gewissen Unruhe warteten schon Hatteras und Johnson auf die Wanderer. Diese waren froh, so ein warmes und bequemes Obdach zu finden. Die Temperatur war seit Anbruch des Abends merklich gesunken; das Thermometer zeigte im Freien vierundzwanzig Grad unter Null (-31° hunderttheilig).

Die Ankömmlinge, erschöpft von der Anstrengung und halb erfroren, hätten auch nicht mehr weiter gekonnt. Glücklicher Weise waren die Oefen gut im Gange; der Kochofen wartete nur auf den Ertrag der Jagd; der Doctor ward wieder zum Koch, schmorte einige Wallroßcotelette, und um neun Uhr saßen alle fünf Gefährten bei einem stärkenden Mahle.

»Meiner Treu, sagte Bell, und wenn ich für einen Eskimo gehalten würde, ich gestehe, daß die Mahlzeit mir das wichtigste Ding bei einer Ueberwinterung zu sein scheint. Wenn man einmal eine vor sich hat, soll man ordentlich einhauen.«

Alle Gefährten hatten den Mund voll und konnten nicht gleich antworten, aber der Doctor gab durch Zeichen seine Zustimmung zu erkennen.

Die Wallroßcotelette wurden für delicat erklärt, und wenn das nicht mit Worten geschah, so aß man sie doch bis zum letzten Bissen auf, was wohl alle Erklärungen aufwiegt.

Wie gewöhnlich bereitete der Doctor nach dem Essen Kaffee, er überließ es Niemand, dieses vortreffliche Getränk herzustellen; in einer Spiritus-Kaffeemaschine kochte er ihn auf dem Tisch und reichte ihn siedend. Er für seine Person verlangte, daß ihm das Getränk noch auf der Zunge brannte, sonst erachtete er es nicht werth, durch seine Kehle zu gleiten. Diesen Abend aber trank er den Kaffee so heiß, daß seine Gefährten es ihm nicht nachthun konnten.

»Sie verbrennen sich noch, Doctor, sagte Altamont.

– Das kommt nicht vor, erwiderte er.

– Dann ist Ihr Gaumen mit Kupfer ausgeschlagen? warf Johnson ein.

– Nein, Freunde; ich lade Alle ein, meinem Beispiele zu folgen. Es giebt eben Leute, und zu denen zähle auch ich, die den Kaffee in einer Wärme von hunderteinunddreißig Grad (+55° hunderttheilig) genießen.

– Hunderteinunddreißig Grad! rief Altamont aus; solche Hitze vermag ja kaum die Hand auszuhalten!

– Ganz recht, Altamont, da die Hand im Wasser gewöhnlich nicht mehr als hundertzweiundzwanzig Grad (+50° hunderttheilig) verträgt; aber Gaumen und Zunge sind in diesem Sinne auch weniger empfindlich als die Hand, und dauern noch da aus, wo es diese nicht könnte.

– Sie setzen mich in Erstaunen, sagte Altamont.

– Gut, ich werde Sie überzeugen.«

Da tauchte der Doctor das Thermometer des Salons in seinen heißen Kaffee, und wartete, bis das Instrument nur noch hunderteinunddreißig Grad zeigte. Mit merkbarem Wohlbehagen nahm er dann das erquickende Getränk zu sich. Bell wollte es ihm tapfer gleichthun, verbrannte sich aber, daß er laut aufschrie.

»Da fehlt’s an der Gewohnheit, sagte der Doctor.

– Clawbonny, fragte Altamont, könnten Sie uns wohl die höchsten Wärmegrade angeben, die der menschliche Körper zu ertragen vermag?

– Sehr wohl, erwiderte der Doctor, man hat darüber Versuche angestellt und hat auch ganz merkwürdige Erfahrungen gemacht. An zwei bis drei erinnere ich mich eben, und sie mögen Sie überzeugen, daß man sich an Alles gewöhnen kann, selbst daran, nicht zu braten, wo ein Beefsteak braten würde. So erzählt man, daß die Dienstmädchen beim Bannofen der Stadt Rochefoucauld in Frankreich zehn Minuten lang in diesem Backofen aushalten konnten, wenn darin eine Hitze von dreihundert Graden (+149° hunderttheilig) war, d. h. neunundachtzig Grad mehr als die des siedenden Wassers, während um sie her Aepfel und Fleisch lustig brieten.

– Was für Mädchen! rief Altamont aus.

– Erlauben Sie, da hören Sie ein anderes unzweifelhaftes Beispiel. Acht unserer Landsleute, Fordyce, Banks, Solander, Blagdin, Home, Nooth, Lord Seaforth und der Kapitän Philips ertrugen im Jahre 1774 eine Temperatur von zweihundertfünfundneunzig Graden (+146° hunderttheilig), während Eier und ein Rostbeef um sie herum gar wurden.

– Das waren aber auch Engländer, sagte Bell mit einem Anflug von Stolz.

– Ja wohl, Bell, bestätigte der Doctor.

– O! Amerikaner hätten das noch besser gekonnt, bemerkte Altamont.

– Die wären gebraten worden, sagte der Doctor mit Lachen.

– Und warum das? erwiderte der Amerikaner.

– Jedenfalls haben’s wenigstens Keine versucht; ich kann also nur von meinen Landsleuten sprechen. Ein letztes Beispiel will ich noch anführen, das ganz unglaublich wäre, wenn es nicht die Zeugen dafür außer Zweifel setzten. Der Herzog von Ragusa und ein Dr. Jung, ein Franzose und ein Oesterreicher, sahen einen Türken gar in ein Bad gehen, welches hundertsiebzig Grad (+77° hunderttheilig) warm war.

– Mir will aber scheinen, sagte Johnson, daß das nicht der Leistung der Bannofenmädchen und der unserer Landsleute gleichkommt!

– Entschuldigen Sie, erwiderte der Doctor, es ist ein großer Unterschied, ob man in heiße Luft oder in heißes Wasser geht. Die warme Luft ruft eine Verdunstung hervor, welche den Körper beschützt, während man in heißem Wasser nicht transpirirt und sich deshalb verbrennt. So ist die äußerste Temperaturgrenze, die man bei Bädern für zulässig erachtet, im Allgemeinen hundertsieben Grad (+42° hunderttheilig). Jener Türke mußte also ein außergewöhnlicher Mensch sein, um eine solche Hitze zu ertragen.

– Herr Clawbonny, fragte Johnson, welche Temperatur haben im Allgemeinen die lebenden Geschöpfe?

– Das ist je nach ihrer Natur verschieden, entgegnete der Doctor; so zeigen die Vögel unter allen Thieren die größte Eigenwärme und unter ihnen stehen Ente und Henne vornan; die Wärme ihres Körpers übersteigt hundertzehn Grad (+43° hunderttheilig), während die Nachteule z. B. nur hundertvier Grad (+40° hunderttheilig) hat; in zweiter Linie kommen dann die Säugethiere und die Menschen; die Temperatur der Engländer ist gewöhnlich hundertein Grad (+38° hunderttheilig).

– Ich bin ganz sicher, daß Herr Altamont für die Amerikaner mehr beanspruchen wird, sagte Johnson lachend.

– Nun gewiß, erwiderte dieser, es sind sehr Heißblütige darunter; da ich ihnen aber nie ein Thermometer in den Brustkasten oder unter die Zunge geschoben habe, kann ich unmöglich etwas Gewisses darüber sagen.

– Gut, setzte der Doctor hinzu, der Unterschied zwischen den verschiedenen Menschenracen ist auch nicht merkbar, wenn sie sich unter gleichen Verhältnissen befinden und dieselbe Nahrung genießen. Ich möchte fast behaupten, daß die menschliche Eigenwärme unter dem Aequator und dem Pole dieselbe ist.

– Also, sagte Altamont, ist hier unsere Körperwärme dieselbe wie in England?

– Ganz sicher, antwortete der Doctor; was die anderen Säugethiere betrifft, so übersteigt ihre Temperatur meist ein wenig die des Menschen. Das Pferd steht ihm sehr nahe, ebenso der Hase, der Elephant, das Meerschwein und der Tiger; aber Katze, Eichhörnchen, Ratte, Panther, Schaf, Ochse, Hund, Affe, Bock und Ziege erreichen hundertdrei Grad, und endlich, das Bevorzugteste unter derart Thieren, das Schwein, hat gar über hundertvier Grad (+40° hunderttheilig)..

– Das ist erniedrigend für uns, sagte Altamont.

– Es folgen hierauf die Amphibien und Fische, deren Temperatur je nach der des Wassers sehr verschieden ist. Die Schlange hat nur sechsundachtzig Grad (+30° hunderttheilig), der Frosch fünfundsechzig (+18° hunderttheilig), der Hai im Mittel gar noch ein und einen halben Grad weniger; die Insecten endlich scheinen gar die Temperatur der Luft und des Wassers zu haben.

– Das ist Alles ganz schön, sagte Hatteras, der jetzt endlich das Wort ergriff, und ich danke dem Doctor für die uns gewordene Mittheilung seiner Kenntnisse. Aber wir plaudern hier, als wenn uns große Hitze zu ertragen bevorstände. Wäre es nicht mehr am Platze, von der Kälte zu reden, zu wissen, was wir etwa zu erwarten haben, und welches die niedrigsten bis jetzt beobachteten Temperaturen sind?

– Das ist richtig, meinte Johnson.

– Nichts leichter als das, sagte der Doctor, und ich stehe gern mit Aufklärung zu Diensten.

– Das glaube ich, sagte Johnson, Sie wissen ja Alles.

– Ich weiß weiter Nichts, meine Freunde, als was ich von Anderen gelernt habe, und nach meinen Mittheilungen werden Alle ebenso unterrichtet sein, wie ich. Ueber die Kälte und die in Europa beobachteten niedrigsten Temperaturen kann ich nur etwa Folgendes sagen: Man zählt viele sehr harte Winter, und es scheint, daß die strengsten unter diesen nach einer Periode von etwa einundvierzig Jahren wiederkehren, ein Zeitraum, der mit dem reichlichsten Vorkommen von Sonnenflecken zusammenfällt. Ich erinnere hier an den Winter von 1364, wo die Rhône bis Arles hin gefror; an den von 1408, wo die Donau in ihrer ganzen Länge zufror und die Wölfe trockenen Fußes nach Jütland kamen; an den von 1509, während dessen das Adriatische Meer bei Venedig, Cette und Marseille fest wurde und die Ostsee noch am 10. April nicht zu befahren war; an den von 1608, während dessen in England alles Vieh umkam; an den von 1789, wo die Themse bis Gravesend, sechs Stunden unterhalb London, gefroren war; an den von 1813, an welchen sich die Franzosen mit Schrecken erinnern, und endlich an den von 1829, den strengsten und andauerndsten im neunzehnten Jahrhundert. Dies in Hinsicht Europas.

– Aber welchen Grad kann die Kälte hier, oberhalb des nördlichen Wendekreises, annehmen? fragte Altamont.

– Nun, meinte der Doctor, ich glaube, daß wir die härteste Kälte, die je beobachtet wurde, selbst erlebt haben; denn das Weingeist-Thermometer zeigte an einem Tage zweiundsiebzig Grad unter Null (-58° hunderttheilig), und, wenn ich mich recht entsinne, erreichen die niedrigsten von Polarreisenden bis jetzt aufgemerkten Temperaturen nur einundsechzig Grad auf der Insel Melville, fünfundsechzig Grad am Port Felix und siebzig Grad (-56°,7 hunderttheilig) am Fort Reliance.

– Ja, wir sind hier durch einen sehr rauhen Winter zurückgehalten worden, sagte da Hatteras, und sehr zu unserm Unglück.

– Sie sind aufgehalten worden, fragte rasch Altamont, den Kapitän scharf ansehend.

– Auf unserer Fahrt nach Westen, beeilte sich der Doctor zu sagen.

– Also schwankt, sagte Altamont, den Faden der Unterhaltung wieder aufnehmend, der höchste und niedrigste Stand der dem Menschen erträglichen Temperaturgrade etwa zwischen zweihundert Graden?

– Ja, antwortete der Doctor, ein im Freien und geschützt vor jeder Rückstrahlung angebrachtes Thermometer steigt nie und nirgends über hundertfünfunddreißig Grad über Null (+57° hunderttheilig), so wie es andererseits nicht unter zweiundsiebenzig Grad (-58° hunderttheilig) herabsinkt. Sie sehen also, meine Freunde, daß wir uns ganz nach Bequemlichkeit einrichten können.

– Wenn aber die Sonne, sagte Johnson, plötzlich verlöschte, würde die Erde nicht in eine weit beträchtlichere Kälte versinken?

– Die Sonne wird zwar nicht verlöschen, erwiderte der Doctor, aber auch wenn es geschähe, würde die Temperatur schwerlich unter den vorhin angedeuteten Grad herabgehen.

– Das ist merkwürdig.

– O, ich weiß, daß man früher für die außerhalb der Atmosphäre gelegenen Räume Tausende von Graden annahm, aber nach den Forschungen eines gelehrten Franzosen, Fourrier, muß man das jetzt abweisen; er hat es zwar wahrscheinlich gemacht, daß, wenn sich die Erde in einer völlig wärmelosen Umgebung befände, die Stärke des Frostes, den wir jetzt am Pole beobachteten, zwar noch größer, auch zwischen Tag und Nacht ein beträchtlicherer Unterschied der Temperatur stattfinden würde; dennoch, meine Freunde, ist es auch Millionen Meilen entfernt nicht so sehr kälter als hier.

– Sagen Sie mir, Doctor, fragte Altamont, ist die Temperatur Amerikas nicht geringer, als die der anderen Länder der Erde?

– Ohne Zweifel, Sie dürfen aber darauf nicht eitel werden, sagte der Doctor lachend.

– Und wie erklärt man sich diese Erscheinung?

– Man hat eine Erklärung dafür gesucht, aber keine genügende gefunden; so stellte Halley die Vermuthung auf, ein Komet, der einmal schief auf die Erde getroffen sei, habe ihre Rotationsaxe verschoben, d. h. also ihre Pole. Nach ihm soll der Nordpol, welcher früher bei der Hudsonsbai war, weiter nach Osten gerückt sein, und die Gegenden des alten Poles wären dann so weit abgekühlt, daß sie die Sonne noch nicht wieder habe zu erwärmen vermögen.

– Und Sie stimmen dieser Theorie nicht bei?

– Keinen Augenblick; denn was für die Ostküste Amerikas wahr ist, gilt nicht für die Westküste, deren Temperatur eine höhere ist. Nein! Es ist nur zu bestätigen, daß es Isothermenlinien giebt, welche von den Parallelkreisen der Erde abweichen, das ist Alles.

– Wissen Sie, Herr Clawbonny, sagte Johnson, daß es sich unter unseren jetzigen Verhältnissen recht hübsch von der Kälte plaudert.

– Gewiß, mein alter Johnson; wir sind eben dabei, die Praxis zur Unterstützung der Theorie anzurufen. Diese Gegenden sind ein ungeheures Laboratorium, in dem man merkwürdige Versuche über niedrige Temperaturen anzustellen vermag. Seien Sie aber immer aufmerksam und klug; sollte Ihnen ein Körpertheil erfrieren, so reiben Sie ihn sogleich mit Schnee ab, um die Blutcirculation wieder herzustellen, und nehmen sich in Acht, wenn Sie an’s Feuer zurückkommen, denn Sie könnten sich Hände oder Füße verbrennen, ohne es zu bemerken; das würde Amputationen nöthig machen, und wir wollen doch suchen, Nichts von uns selbst in diesen Polargegenden zurückzulassen. Ueberdies aber, meine Freunde, denke ich, wir werden gut thun, uns nun im Schlafe einige Stunden Ruhe zu gönnen.

– Gern, antworteten des Doctors Gefährten.

– Wer hat die Wache beim Ofen?

– Ich, antwortete Bell.

– Nun gut, Freundchen, so sehen Sie darauf, daß das Feuer nicht nachläßt, denn es ist eine Teufelskälte diesen Abend.

– Beruhigen Sie sich, Herr Clawbonny, das spornt genug, und übrigens, sehen Sie doch, der Himmel steht ganz in Flammen.

– Ja, erwiderte der Doctor, der sich dem Fenster näherte, ein Nordlicht von vollkommener Schönheit! Welch‘ prächtiges Schauspiel! Ich werde nie satt, es zu betrachten.«

In der That bewunderte der Doctor immer diese kosmischen Phänomene, welchen seine Genossen keine große Aufmerksamkeit mehr schenkten; er hatte übrigens bemerkt, daß ihrem Erscheinen immer Störungen der Magnetnadel vorhergingen, und notirte sich seine Beobachtungen, die für das »Weather- Book«2 bestimmt waren.

Bald war dann Jeder, während Bell nächst dem Ofen wachte, auf seinem Lager gestreckt in ruhigen Schlummer gesunken.

  1. Das »Wetterbuch« des Admirals Fitz-Roy, in dem alle meteorologische Erscheinungen berichtet werden.

Zehntes Capitel.


Zehntes Capitel.

Wintervergnügungen.

Das Leben am Pole ist von trauriger Einförmigkeit. Der Mensch ist vollständig den Launen der Atmosphäre unterthan, welche Stürme und strenge Kälte mit verzweifelter Eintönigkeit herbeiführt. Den größten Theil der Zeit ist es ganz unmöglich, einen Schritt aus dem Hause zu thun, und man bleibt in den Eishütten eingeschlossen. So vergehen lange Monate, welche die Ueberwinternden zu einer Maulwurfsexistenz verdammen.

Am anderen Tage ging das Thermometer um einige Grade herab, und die Luft war voll wirbelnden Schneegestöbers, wodurch das ganze Tageslicht entzogen ward. Der Doctor sah sich an’s Haus gefesselt und legte die Hände in den Schoß; er hatte Nichts zu thun, außer etwa den Verbindungsgang alle Stunden zu reinigen, der sonst sich ganz zu verstopfen drohte, und die Wände, welche von der Wärme im Innern feucht wurden, wieder zu glätten; das Eishaus selbst war höchst dauerhaft errichtet, und die Schneewehen, die seine Mauern verstärkten, erhöhten nur seine Widerstandsfähigkeit.

Die Magazine bewährten sich gleichmäßig gut. Alle aus dem Schiffe geräumten Gegenstände waren in bester Ordnung aufgestapelt in diesen »Warendocks«, wie sie der Doctor nannte. Obgleich diese Magazine übrigens kaum sechzig Schritt vom Hause entfernt lagen, so war es an manchen stürmischen Tagen doch fast unmöglich, sich dahin zu begeben; daher mußte auch eine gewisse Menge Proviant für den täglichen Bedarf immer in der Küche aufbewahrt werden.

Die Vorsicht, den Porpoise zu entladen, war ganz gerechtfertigt gewesen. Das Fahrzeug unterlag einem langsamen, unmerkbaren, aber unwiderstehlichen Drucke, der es nach und nach zerstörte. Es lag auf der Hand, daß aus seinen Trümmern Nichts zu machen sein werde; dennoch hoffte der Doctor immer, wenigstens eine Schaluppe zur Rückkehr nach England daraus zu gewinnen; der Augenblick, um deren Bau vorzunehmen, war aber noch nicht gekommen.

So verbrachten die fünf Wintergenossen den größten Theil der Zeit in tiefem Müßiggange. Hatteras lag in Gedanken versunken auf seinem Bette, Altamont trank oder schlief, und der Doctor hütete sich wohl, sie aus ihrem Halbschlummer zu erwecken, denn er fürchtete stets irgend einen bösen Wortwechsel. Nur selten sprachen diese beiden Männer mit einander.

Auch während der Mahlzeiten trug der kluge Doctor immer Sorge, die Unterhaltung zu führen und so zu leiten, daß keine Eigenliebe in’s Spiel kam; er hatte aber alle Mühe, die überreizte Empfindlichkeit abzulenken. Soviel als möglich suchte er seine Genossen zu unterrichten, zu zerstreuen oder doch ihr Interesse zu erregen. Wenn er nicht mit der Ordnung seiner Reisenotizen beschäftigt war, besprach er lauter Gegenstände aus der Geschichte, der Erdbeschreibung oder der Witterungskunde, welche sich aus ihrer Lage ergaben; er trug die Sachen in ansprechender, dem Verstand einleuchtender Form vor; zog aus den geringsten Zwischenfällen eine Nutzanwendung; sein unerschöpfliches Gedächtniß ließ ihn niemals im Stich; er wandte seine Lehrsätze auf die anwesenden Personen an; erinnerte sie an Dies oder Jenes, was aus diesem oder jenem Umstande hervorging, und erhöhte so das Gewicht seiner Theorieen durch persönliche Beweisgründe.

Man kann wohl sagen, daß dieser würdige Mann die Seele dieser kleinen Welt war, eine Seele, voll Offenherzigkeit und Gerechtigkeit, womit sie Alles durchdrang. Seine Genossen hatten zu ihm ein unbegrenztes Zutrauen; er verfehlte sogar seines Eindrucks auf Hatteras nicht, der ihn übrigens liebte. Durch seine Worte, sein Wesen und seine Gewohnheiten wirkte er so wohlthätig, daß die Existenz dieser wenigen, sechs Grad vom Nordpole vereinsamten Menschen ganz natürlich erschien; wenn der Doctor sprach, glaubte man ihn in seinem Zimmer in Liverpool zu hören.

Und doch, wie verschieden war diese Lage von der solcher Schiffbrüchiger, die auf eine Insel des Stillen Oceans verschlagen wurden, jene Robinsone, deren anziehende Geschichte stets die Leser fesselt. Dort bot allerdings ein fruchtbarer Boden, eine üppig reiche Natur tausend Hilfsquellen; in jenen herrlichen Ländern genügte ein wenig Einbildungskraft und Arbeit, um sich materielles Wohlsein zu schaffen; Jagd und Fischfang befriedigten alle menschlichen Bedürfnisse; die Bäume trieben für den Menschen, natürliche Höhlen boten ihm ihren Schutz, die Bäche rieselten, seinen Durst zu löschen, prächtiger Schatten schützte ihn gegen die Hitze, und niemals bedrohte ihn arger Frost in jenen milden Wintern; pflegelos hingeworfene Samenkörner lieferten einige Monate später eine Ernte. Abgesehen von dem Mangel an Gesellschaft war die Glückseligkeit vollkommen. Dazu lagen jene bezaubernden Inseln, jene herrlichen Länder an dem Wege anderer Schiffe; der Schiffbrüchige konnte immer hoffen, wieder mit aufgenommen zu werden, und er wartete geduldig, bis man ihn seiner glücklichen Existenz entriß.

Aber hier, an dieser Küste Neu-Amerikas, welcher Abstand! Diesen Vergleich stellte der Doctor zwar manchmal an, aber er behielt ihn für sich, obgleich er gewiß über den erzwungenen Müßiggang erzürnt war.

Mit Begierde erwartete er den Wiedereintritt des Thauwetters, um seine Ausflüge von Neuem vornehmen zu können, und doch sah er ihn nicht ohne Furcht sich nahen, denn er prophezeite sich ernsthafte Auftritte zwischen Hatteras und Altamont. Wenn man jemals bis zum Pole drang, was würde aus der Rivalität der beiden Männer sich ergeben?

Er mußte also zunächst Alles abzuwenden suchen, nach und nach diese beiden Rivalen zu einem unbewußten Einverständniß und zu freimüthigem Gedankenaustausche bringen; aber einen Engländer und einen Amerikaner unter einen Hut zu bringen, zwei Menschen, die schon ihre Abkunft zu Feinden machte, der Eine von ihnen erfüllt mit dem ganzen Ernste Alt-Englands, der Andere, begabt mit dem unternehmenden, kühnen und rücksichtslosen Geiste seiner Nation welche Arbeit voller Schwierigkeiten bot das!

Wenn der Doctor über diesen unversöhnlichen Wettstreit der Menschen, diese nationale Eifersucht nachdachte, konnte er nicht umhin, nicht etwa mit den Achseln zu zucken, denn das kam bei ihm überhaupt nie vor, aber doch die menschlichen Schwachheiten zu bedauern.

Mit Johnson sprach er oft über dieses Thema; der alte Seemann und er stimmten in dieser Hinsicht ganz überein; sie fragten sich dann, welche Mittel sie ergreifen, durch welches vorsichtige Verfahren sie zu ihrem Ziele gelangen sollten, und sahen wohl die in der Zukunft drohenden Verwickelungen.

Indeß dauerte die üble Witterung fort; nicht auf eine Stunde konnte man daran denken, das Fort Providence zu verlassen; Tag und Nacht mußte man in dem Eishause verweilen. Man langweilte sich, ausgenommen der Doctor, der immer ein Mittel fand, sich zu beschäftigen.

»Es giebt also keine Möglichkeit, sich zu zerstreuen? sagte eines Abends Altamont; das nennt man doch wahrlich nur nach Art der Reptilien leben, die den ganzen Winter über verscharrt liegen.

– Es ist wohl wahr, bestätigte der Doctor; leider sind wir nicht zahlreich genug, um irgend ein System von Zerstreuungen zu organisiren.

– Also glauben Sie, erwiderte der Amerikaner, daß wir weniger mit Müßiggang zu kämpfen hätten, wenn wir in größerer Zahl hier wären?

– Ohne Zweifel, denn wenn ganze Schiffsmannschaften einen Winter in den Polargegenden verbracht haben, fanden sie allemal ein Auskunftsmittel, sich nicht zu langweilen.

– Ich wäre wahrlich neugierig, sagte Altamont, zu wissen, wie sie das angefangen haben; es gehören sehr erfindungsreiche Geister dazu, um einer solchen Lage noch erheiternde Seiten abzugewinnen. Sie gaben sich, denk‘ ich, nicht Räthsel zu lösen auf!

– Nein, es fehlte aber nicht viel, versetzte der Doctor; sie hatten in diese hochnördlichen Länder zwei mächtige Zerstreuungsmittel eingeführt: die Presse und das Schauspiel.

– Wie? Sie hatten ein Journal? fragte der Amerikaner.

– Sie spielten Komödie? rief Bell.

– Allerdings, und sie fanden auch ein wahrhaftes Vergnügen dabei. So schlug der Commandant Parry bei Gelegenheit der Ueberwinterung auf der Insel Melville seinen Leuten diese beiden Arten Vergnügungen, und zwar mit bestem Erfolge vor.

– Nun, offen gestanden, meinte Johnson, ich hätte wohl dabei sein mögen, das muß merkwürdig gewesen sein.

– Merkwürdig und unterhaltend, mein braver Johnson; der Lieutenant Beechey wurde Theaterdirector, und der Kapitän Sabine Hauptredacteur der ‚Winter-Chronik‘, oder ‚Zeitung für Nord-Georgia.‘

– Schöne Titel, sagte Altamont.

– Diese Zeitung erschien vom 1. November 1819 bis 20. März 1820 jeden Montag. Sie berichtete Alles, was auf die Ueberwinterung Bezug hatte, über die Jagden, kleine Vorkommnisse, Unfälle, über Witterung und Temperatur; sie enthielt eine mehr oder weniger ergötzliche Chronik; zwar durfte man den Geist eines Sterne nicht darin suchen, oder etwa die schönen Artikel des ‚Daily-Telegraph‘; aber doch half man sich immerhin damit fort und zerstreute sich; die Leser waren weder zu peinlich noch blasirt und niemals, glaub‘ ich, wird die Aufgabe eines Tagesschriftstellers eine angenehmere gewesen sein.

– Wahrlich, sagte Altamont, ich wäre wohl begierig, Auszüge aus dieser Wochenschrift zu kennen, mein lieber Doctor; ihre Artikel müssen doch vom ersten Wort bis zum letzten von Frost gestarrt haben.

– Gott bewahre, entgegnete der Doctor; was jedenfalls der Philosophischen Gesellschaft in Liverpool oder dem Literarischen Institut in London etwas naiv vorgekommen wäre, das genügte doch den im Schnee vergrabenen Mannschaften vollkommen. Wollen Sie selbst darüber urtheilen?

– Was? Sie hätten das im Gedächtniß behalten …?

– Das zwar nicht, aber Sie hatten Parry’s Reisen an Bord des Porpoise, und ich brauche nur seine eigenen Berichte vorzulesen.

– Ja, thun Sie es! riefen die Gefährten des Doctors.

– Nichts leichter als das.«

Der Doctor suchte das betreffende Werk in dem Schranke des Salons, und fand leicht die einschlägige Stelle.

»Seht, sagte er, da haben wir einige Auszüge aus der ‚Zeitung für Nord-Georgia.‘ Hier ist ein an den Hauptredacteur gerichtetes Schreiben:

‚Mit wahrer Befriedigung wurde in unserer Mitte Ihr Vorschlag zur Begründung einer Zeitung aufgenommen. Ich bin der Ueberzeugung, daß sie unter Ihrer Leitung uns manches Vergnügen bereiten und die Last unserer hundert finsteren Tage wesentlich erleichtern wird.

Bei dem Interesse, welches ich persönlich daran nehme, habe ich den Eindruck Ihrer Anzeige auf die ganze Gesellschaft zu ermitteln gesucht, und ich kann Sie versichern, daß, um die der Londoner Presse geläufigen Ausdrücke zu gebrauchen, die Sache bei unserem Publicum eine tiefe Sensation hervorgerufen hat.

Am Tage nach dem Erscheinen Ihres Prospectes entstand an Bord eine ganz ungewohnte, noch nie dagewesene Nachfrage nach Tinte. Die grünen Decken unserer Tische hatten sich bald mit einer wahren Sündfluth von Federabschnitzeln bedeckt, zum großen Verdrusse eines unserer Diener, der sich beim Abschütteln einen davon unter den Nagel stach.

Ich weiß endlich aus guter Quelle, daß der Sergeant Martin nicht weniger als neun Federmesser zu schleifen hat. All‘ unsere Tische kann man unter der ungewohnten Last der Schreibepulte sich beugen sehen, die seit zwei Monaten nicht das Tageslicht gesehen hatten, und man sagt sogar, daß man aus den Tiefen des Schiffsraumes manches Ries Papier, das nicht so bald aus seiner Ruhe gestört zu werden glaubte, hervorgeholt habe.

Vergessen will ich nicht, Ihnen mitzutheilen, wie ich einigen Verdacht habe, daß man versuchen wird, in Ihren Briefkasten einige Artikel schlüpfen zu lassen, welche, da sie jeder Originalität entbehren und keineswegs noch ungedruckt sind, Ihrem Plane nicht entsprechen dürften. Ich kann versichern, daß schon gestern Abend ein Autor zu sehen war, der in der einen Hand einen aufgeschlagenen Band des »Spectators« hielt, während er mit der anderen seine Tinte an der Lampenflamme aufthaute! Es wird unnütz sein, Ihnen zu empfehlen, daß Sie sich vor solcher Arglist hüten; wir wollen nicht das in der »Winterchronik« wieder erscheinen sehen, was unsere Vorfahren, vielleicht vor einem Jahrhundert, beim Frühstück lasen.‘

– Gut, sehr gut, sagte Altamont, als der Doctor zu Ende gelesen hatte, darin ist wirklich gesunder Humor, und der Verfasser des Briefes muß ein rechter Schlaukopf gewesen sein.

– Schlaukopf, das ist das rechte Wort, antwortete der Doctor. Doch halt, da ist noch eine Anzeige, der es auch nicht an Humor fehlt:

‚Gesucht wird eine gut beleumundete Frau in mittleren Jahren, um den Damen der Truppe des königlichen Theaters im nördlichen Georgia bei der Toilette behilflich zu sein. Neben angemessenem Salär gewährt man ihr Thee und Bier nach Belieben. Adressen werden an das Theater-Comité erbeten. – NB. Eine Witwe erhielte den Vorzug.‘

– Meiner Treu‘, sagte Johnson, unsere Landsleute waren für den Spaß noch nicht verdorben.

– Aber die Witwe, fragte Bell, hat diese sich gefunden?

– Man sollte es wohl glauben, erwiderte der Doctor, denn hier findet sich auch eine an das genannte Comité gerichtete Antwort:

‚Meine Herren, ich bin Witwe und sechsundzwanzig Jahre alt. Für mein Verhalten und meine Geschicklichkeit kann ich unwiderlegliche Zeugnisse beibringen. Bevor ich aber die Toilette der Künstlerinnen an Ihrer Bühne in die Hand nehme, möchte ich wissen, ob dieselben ihre Hosen beibehalten wollen, und ob man mir zum Schnüren und Binden der Corsets zwei handfeste Matrosen zur Hilfe giebt. Wenn das der Fall ist, meine Herren, so zählen Sie auf Ihre ergebene Dienerin

A. B.

Nachschrift. Könnten Sie nicht Branntwein statt des Halbbieres liefern?‘

– Ah, bravo! rief Altamont, ich sehe nun schon Kammerfrauen, die mit der Schiffswinde zusammenschnüren. Aber wahrlich, lustig waren sie, die Begleiter des Kapitän Parry.

– Wie alle diejenigen, welche je ihr Ziel erreicht haben«, versetzte Hatteras.

Hatteras warf diese Bemerkung mitten in die Unterhaltung dazwischen, dann verfiel er wieder in sein gewohntes Schweigen. Der Doctor, der auf diesen Punkt nicht weiter eingehen wollte, las unverweilt weiter.

»Hier findet sich nun, fuhr er fort, ein Gemälde der Leiden im hohen Norden; man könnte es in’s Unendliche vervielfältigen; aber einige Beobachtungen sind gar zu treffend. Urtheilen Sie selbst:

Morgens ausgehen, um frische Luft zu schöpfen und beim ersten Schritt aus dem Schiffe ein unfreiwilliges kaltes Bad in dem Wasserloche des Kochs nehmen.

Auf die Jagd gehen, einem prächtigen Rennthier begegnen, anlegen und Feuer zu geben versuchen, und dann den abscheulichen Fehler begehen, von der Pfanne blitzen zu lassen, weil die Ladung feucht war.

Sich mit einem weichen Stück Brod auf den Weg begeben, und wenn man Appetit fühlt, es so hart zu finden, daß man wohl die Zähne zerbrechen kann.

Plötzlich die Tafel verlassen, da man hört, ein Wolf sei in Sicht des Fahrzeugs, und bei der Rückkehr sein Essen von der Katze verzehrt finden.

Vom Spaziergang heimkehren, sich tiefen und nützlichen Grübeleien hingeben und plötzlich durch die Umarmung eines Bären wieder herausgerissen werden.«

– Sie sehen, meine Freunde, wir würden nicht verlegen sein, dem noch mehrere andere polare Unannehmlichkeiten hinzuzufügen; aber wenn man diese einmal ertragen mußte, war es doch ein Vergnügen, sie zu constatiren.

– Das ist wahrlich eine unterhaltende Zeitschrift, sagte Altamont, und es ist schade, daß wir sie nicht halten können.

– Wenn wir nun versuchten, selbst eine zu gründen, bemerkte Johnson.

– Wir, zu Fünf? erwiderte Clawbonny; wir würden höchstens die Redacteure dazu sein, und es bliebe keine hinreichende Zahl von Lesern.

– Nicht mehr als Zuschauer, wenn wir uns in den Kopf setzten, Komödie zu spielen, fügte Altamont hinzu.

– Was das betrifft, Herr Clawbonny, sagte Johnson, so erzählen Sie uns doch Etwas vom Theater des Kapitän Parry; gab man da neue Stücke?

– Ohne Zweifel; anfangs wurden zwar zwei Bände mit solchen, die auf dem »Hekla« mit eingeschifft waren, benutzt; da aber alle vierzehn Tage eine Vorstellung gegeben wurde, ging das Repertoire bald total zur Neige. Dann machten sich improvisirte Schriftsteller an’s Werk, und Parry selbst schrieb für Weihnachten ein ihrer Lage ganz angepaßtes Stück, welches »Die Nord-West-Passage«, oder »Das Ende der Reise« hieß, und ungeheuren Erfolg hatte.

– Ein herrlicher Titel, sagte Altamont, doch gestehe ich, daß ich für meine Person bei der Behandlung desselben Sujets um die Lösung der Verwicklung verlegen sein würde.

– Sie haben wohl Recht, meinte Bell; wer weiß, wie das noch enden wird!

– Genug, sagte der Doctor; wer wird denn schon an den letzten Act denken, wenn die ersten gut verlaufen? Ueberlassen wir das der Vorsehung, meine Freunde; wir haben nur unsere Rollen nach besten Kräften zu spielen, und da die Lösung den Schöpfer aller Dinge angeht, so wollen wir auch seiner Weisheit vertrauen; er wird uns schon zu helfen wissen.

– Nun wollen wir aber alles das beschlafen, warf Johnson ein, es ist spät, und da die Zeit der Ruhe da ist, wollen wir auch schlummern.

– Sie haben rechte Eile, mein alter Freund, sagte der Doctor.

– Was meinen Sie, Herr Clawbonny, ich befinde mich so wohl in meinem Bette! Und dann träume ich auch gewöhnlich so schön; ich träume von den heißen Ländern, so daß ich wahrlich sagen möchte, daß ich die eine Hälfte meines Lebens unter dem Aequator und die andere am Pole zubringe.

– Den Teufel, sagte Altamont, da sind Sie ja glücklich organisirt.

– Wie Sie sagen, erwiderte der Rüstmeister.

– Nun gut, schloß der Doctor, es würde grausam sein, unseren braven Johnson noch länger sich sehnen zu lassen. Seine Tropensonne erwartet ihn; da wollen wir auch schlafen gehen.«

Siebentes Capitel.


Siebentes Capitel.

Eine kartologische Unterhaltung.

Während dieser Vorbereitungen zur weiteren Ueberwinterung hatte auch Altamont seine Gesundheit und seine Kräfte wiedergefunden; er konnte sich schon bei der Entladung des Schiffes mit betheiligen. Seine kräftige Constitution hatte doch endlich gesiegt und die frühere Blässe wich nun bald dem wieder gesunden Blute.

Jetzt erwachte in ihm wieder der kraftvolle, lebhafte Mensch der Vereinigten Staaten, der energische und intelligente Mann mit entschlossenem Charakter, der unternehmende, kühne, zu Allem geschickte Amerikaner; er stammte aus Newyork und war fast von Kindheit auf zur See gewesen, wie er seinen neuen Gefährten mittheilte. Sein Schiff war von einer Gesellschaft reicher Kaufleute der Union ausgerüstet worden, an deren Spitze der weltberühmte Grinnel1 stand.

Gewisse Beziehungen bestanden zwischen ihm und Hatteras; Aehnlichkeiten des Charakters wohl, aber keine Sympathieen, so daß aus beiden Männern schwerlich zwei Freunde werden konnten. Im Gegentheil. Uebrigens würde ein scharfer Beobachter bald genug Unterschiede zwischen Beiden bemerkt haben; so schien zwar Altamont mehr Offenheit auf den Lippen zu tragen, ohne sie im Grunde zu besitzen, seinem Gehenlassen der Dinge paarte sich eine geringere Biederkeit; sein scheinbar so offener Charakter flößte doch weniger Vertrauen ein, als der verschlossenere des Kapitäns. Dieser verlieh seinen Gedanken nur einmal den entsprechenden Ausdruck. Jener sprach viel, ohne immer Etwas zu sagen.

So weit enträthselte sich der Doctor den Charakter des Amerikaners bald, und er ahnte mit Recht für später ein feindschaftliches Verhältniß, wenn nicht offenen Haß, zwischen den Kapitänen des Porpoise und des Forward.

Von Beiden konnte doch zuletzt nur Einer den Befehl führen. Gewiß hatte Hatteras alles Anrecht, des Amerikaners Unterordnung zu erwarten; er hatte die Priorität und die Macht auf seiner Seite. Aber wenn der Eine das Haupt seiner Leute war, so befand sich der Andere an Bord seines Fahrzeugs. Und das spürte man.

War es Politik oder Instinct, jedenfalls schloß sich Altamont gleich anfangs dem Doctor an; er verdankte ihm das Leben, aber mehr noch als die Erkenntlichkeit fesselte ihn ein inneres Gefühl an diesen würdigen Mann. Es war die natürliche Folge des Charakters Clawbonny’s; wie die Halme im Sonnenschein, sproßten die Freunde rings um ihn. Man erzählt von Leuten, die um fünf Uhr früh aufgestanden seien, nur um sich Feinde zu erwerben; der Doctor that es schon um Vier, und kam nicht dazu.

Doch suchte er von der Zuneigung Altamont’s einen Vortheil zu ziehen, nämlich die wahre Ursache seiner Anwesenheit in den Polarmeeren zu erfahren. Aber bei all‘ seinem Wortreichthum antwortete der Amerikaner ohne eigentlich zu antworten und kam dabei immer auf sein beliebtes Thema von der Nordwest-Passage zurück.

Der Doctor legte der Expedition indeß ein anderes Motiv unter; dasselbe, welches Hatteras befürchtete; ebenso beschloß er, die beiden Gegner niemals auf diesen Gegenstand zu bringen; aber das gelang doch nicht immer. Die einfachsten Unterhaltungen drohten oft wider seinen Willen dahin überzuspringen und jedes Wörtchen war im Stande, als Funke das rivalisirende Interesse zu entzünden.

Wirklich kam das auch bald. Als das Haus fertig war, hatte der Doctor die Absicht, es durch ein festliches Mahl einzuweihen; es war ein guter Gedanke Clawbonny’s, der hier die Gewohnheiten und Vergnügungen des europäischen Lebens einzuführen strebte. Bell hatte gerade zur rechten Zeit einige Ptarmigane und einen weißen Hasen, die ersten Boten des nahenden Frühlings, erlegt.

Am 14. April fand die Festlichkeit statt, am Sonntag Quasimodogeniti bei schönem trockenen Wetter; der Frost vermochte aber nicht in das Eishaus einzudringen, die knackernden Oefen überwanden ihn leicht.

Man speiste mit Vergnügen; das frische Fleisch war eine zu erwünschte Abwechselung gegenüber dem Pemmican und dem Pökelfleisch; ein köstlicher Pudding von des Doctors Hand bereitet, erntete sogar ein da capo; man verlangte ihn noch einmal. Der gelehrte Küchenchef, die Schürze um die Hüften und das Messer im Gürtel, hätte der Küche des Lordkanzlers von England Ehre gemacht. Zum Dessert erschienen Liqueure auf der Tafel. Die englischen Enthaltsamkeits-Vereine gelten in Amerika nicht, es war also kein Grund vorhanden, sich ein Glas Gin oder Brandy zu versagen; die anderen Tischgenossen, sonst ganz nüchterne Leute, heute konnten sie ja wohl einmal von der strengen Regel abweichen; kurz, auf des Arztes Aufforderung mußten sie sich zum Schluß der Mahlzeit Alle einmal zutrinken. Bei einem Toaste auf die Union hatte Hatteras einfach geschwiegen.

Da brachte der Doctor eine interessante Frage zur Sprache.

»Meine Freunde, sagte er, es ist nicht genug, daß wir die Meerengen, die Eisdecken und Eisfelder überwunden haben, und bis hierher vorgedrungen sind; wir haben nun noch eine Verpflichtung. Ich wollte Ihnen vorschlagen, dieses gastfreundliche Land, an dem wir Rettung und Ruhe gefunden haben, zu taufen; diese Gewohnheit haben die Seefahrer aus aller Welt, und es wird Keinen geben, der sie unter gleichen Umständen nicht geübt hätte; bei unserer Rückkehr werden wir neben der hydrographischen Beschreibung der Küste auch die Namen der Caps, der Baien, Spitzen und Vorgebirge, die sie auszeichnen, angeben müssen. Das ist unumgänglich nothwendig.

– Das ist wohl gesprochen, rief Johnson; sobald man alle diese Landstrecken mit ihrem bestimmten Namen bezeichnen kann, giebt ihnen das ein ernsteres Ansehen, und man hat fast nicht mehr die Berechtigung, sich als verlassen auf einem unbekannten Continente zu betrachten.

– Ohne das anzuschlagen, fügte Bell noch hinzu, daß es die etwaigen Reise-Instructionen vereinfacht und die Befolgung der Befehle erleichtert; wir können bei einer Expedition, ja schon auf der Jagd, dazu kommen, uns von einander zu trennen, und Nichts begünstigt mehr die Wiederauffindung eines Weges, als daß man ihn zu benennen weiß.

– Gut, sagte der Doctor, da wir nun einmal bei diesem Gegenstande sind, so wollen wir uns zunächst über die zu gebenden Namen verständigen und weder unsere Vaterländer, noch unsere Freunde in dem Verzeichniß übergehen. Mich persönlich berührt, wenn ich die Augen auf eine Karte werfe, Nichts angenehmer, als dem Namen eines Landsmannes an einem Cap, an der Küste einer Insel oder auch mitten im Meere zu begegnen. Hier erweist die Erdkunde der Freundschaft einen liebenswürdigen Dienst.

– Sie haben Recht, lieber Doctor, erwiderte der Amerikaner, und die Art und Weise, wie Sie das aussprechen, verleiht der Sache noch einen höheren Werth.

– Wohlan, entgegnete der Doctor, gehen wir mit Ordnung daran.«

Hatteras hatte sich noch nicht an der Unterhaltung betheiligt; er überlegte; als er aber die Augen der Anderen auf sich gerichtet sah, erhob er sich und sprach:

»Meiner unmaßgeblichen Meinung nach, und doch denke ich, daß ihr Niemand hier widersprechen wird, – er sah dabei Altamont an – scheint es mir angemessen, unserer Wohnung den Namen ihres geschickten Architekten, des Besten unter uns, zu geben, und sie demnach ‚Doctors-House‘ zu nennen.

– So ist es, antwortete Bell.

– Schön! rief Johnson, das Haus des Doctors.

– Man kann nichts Besseres finden, setzte Altamont hinzu, ein Hurrah dem Doctor Clawbonny!«

Ein dreifaches Hurrah erschallte einstimmig, und Duk bellte voll Zustimmung dazu.

»So sei also, nahm Hatteras wieder das Wort, für jetzt diese Wohnung genannt, in der Erwartung, daß ein neues Land uns Gelegenheit geben wird, den Namen unseres Freundes daran zu knüpfen.

– Ah, sagte der alte Johnson, wenn das Paradies auf Erden noch keinen Namen hätte, der Name Clawbonny stände ihm am besten!«

Der Doctor, tief gerührt, wollte bescheiden ablehnen; es half ihm Nichts, er mußte es geschehen lassen.

Es ward denn nun ganz gebührend festgestellt, daß dieses herzerquickende Mahl im großen Salon von Doctors-House abgehalten, in der Küche von Doctors-House bereitet war, und daß man sich in dem Schlafzimmer von Doctors-House freudig niederlegen werde.

»Nun wollen wir aber, sagte der Doctor, zu unseren wichtigeren Entdeckungen übergehen.

– Da ist dieses weite Meer, fuhr Hatteras fort, das uns umgiebt, und dessen Wogen noch kein Schiff durchsegelte!

– Noch kein Schiff! rief Altamont dazwischen, es scheint mir jedoch, daß man den Porpoise nicht vergessen dürfe, wenigstens, wenn er nicht über Land hierher gekommen ist, setzte er scherzend hinzu.

– Man könnte das fast glauben, erwiderte Hatteras, wenigstens in Anbetracht der Felsen, auf denen er jetzt schwimmt.

– Gewiß, Hatteras! sagte Altamont etwas gereizt, aber, Alles zusammengenommen, ist das nicht noch besser als in den Lüften zu verduften, wie der Forward?«

Schon wollte Hatteras lebhaft antworten, als sich der Doctor in’s Mittel schlug.

»Meine Freunde, sagte er, es handelt sich jetzt nicht um Schiffe, sondern um ein neues Meer …

– Es ist kein neues mehr, fiel ihm Altamont in’s Wort. Es ist schon auf allen Karten des Poles benannt. Es heißt Nördliches Polarmeer, und ich halte es nicht für angemessen, diesen Namen zu ändern; sollten wir später entdecken, daß es nur ein Meerestheil, etwa ein Golf sei, so wird es sich finden, was zu thun ist.

– Es sei, sagte Hatteras.

– Darin wären wir also einig, erwiderte noch der Doctor, der schon fast bedauerte, eine Discussion hervorgerufen zu haben, welche die nationale Eitelkeit so sehr reizte.

– Dann beschäftigen wir uns also mit dem Lande, dessen Boden uns jetzt trägt, nahm Hatteras das Gespräch wieder auf. Mir ist nicht bekannt, daß es selbst auf den neuesten Karten schon einen Namen trüge!«

Als er so sprach, fixirte er Altamont, der seinen Blicken nicht auswich, sondern sagte:

»Sie könnten sich doch irren, Hatteras.

– Mich irren! Was? Dieses unbekannte Land …

– Hat schon einen Namen«, setzte der Amerikaner ruhig fort.

Hatteras schwieg, aber seine Lippen zitterten.

»Und wie heißt es? fragte der Doctor etwas erstaunt über die Versicherung des Amerikaners.

– Mein lieber Clawbonny, erwiderte dieser, es ist die Gewohnheit, um nicht zu sagen, das Recht jedes Seefahrers, ein Land, wo er zuerst anlandet, zu benennen. Mir scheint also, daß ich bei früherer Gelegenheit von diesem Rechte Gebrauch machen konnte, ja durfte …

– Indessen … sagte Johnson, den die Kaltblütigkeit des Yankee erregte.

– Man wird schwerlich behaupten, fuhr dieser unbeirrt fort, der Porpoise sei nicht an diese Küste gekommen; selbst angenommen, er sei über Land gekommen, so ändert das Nichts an der Sachlage, fügte er mit einem Blick auf Hatteras hinzu.

– Das ist eine Behauptung, die ich nicht gelten lasse, erwiderte Hatteras, der nur mit Mühe an sich hielt. Um etwas zu benennen, muß man es wenigstens entdecken, was Sie doch im Grunde nicht gethan haben. Uebrigens, mein Herr, Sie, der Sie uns Gesetze vorschreiben wollen, wo wären Sie ohne uns? Zwanzig Fuß unter dem Schnee!

– Und Sie, mein Herr, erwiderte lebhaft der Amerikaner, wo wären Sie jetzt ohne mein Schiff? Vor Hunger und Frost elend umgekommen!

– Meine Freunde, sagte der Doctor, der, so gut er konnte, sich in’s Mittel legte, etwas Ruhe! Es wird sich Alles machen. Hören Sie mich!

– Der Herr da, fuhr Altamont fort, indem er auf den Kapitän zeigte, mag allen weiteren Ländern, wenn er deren entdeckt, nach Belieben Namen geben, aber dieser Continent gehört mir! Ich könnte nicht einmal zugeben daß er zwei Namen bekäme, wie das Grinnel-Land, das auch Prinz-Albert-Land heißt, weil ein Engländer und ein Amerikaner es fast gleichzeitig entdeckten. Hier liegt die Sache anders. Daß ich zuerst hinkam, ist unbestreitbar! Kein Schiff vor dem meinigen ist nur mit seinem Plattbord an diese Küste gestreift. Keines Menschen Fuß hat vor dem meinigen dieses Land betreten; ich habe ihm also einen Namen gegeben, und den wird es behalten.

– Und der ist? fragte der Doctor.

– Neu-Amerika«, erwiderte Altamont.

Hatteras‘ Hände ballten sich krampfhaft auf dem Tische. Aber er hielt an sich, wenn auch nur mit großer Selbstüberwindung.

»Können Sie mir nachweisen, fragte Altamont noch einmal, daß ein Engländer je vor einem Amerikaner diesen Boden betreten hat?«

Johnson und Bell schwiegen, obgleich sie, ebenso zornig wie der Kapitän, über das herrische Auftreten ihres Gegners aufgebracht waren. Aber es war eben Nichts auf seine Frage zu erwidern.

Nach einigen Augenblicken peinlichen Schweigens nahm der Doctor wiederum das Wort.

»Freunde, sagte er, das vornehmste menschliche Gesetz ist die Gerechtigkeit; es schließt alle anderen in sich. Seien wir also gerecht und geben uns nicht falschen Gefühlen hin. Die Priorität Altamont’s scheint mir hier allerdings unzweifelhaft. Darüber ist nicht zu rechten; wir werden später Revanche nehmen und England soll bei unseren Entdeckungen nicht zu kurz kommen. Lassen wir also diesem Lande den Namen Neu-Amerika. Aber Altamont hat, als er es so nannte, damit nicht der Bezeichnung der einzelnen Baien, Landspitzen und Vorgebirge, die es enthält, vorgegriffen, und ich sehe keinen Grund, warum wir die Bai, in der wir uns befinden, nicht die Victoria-Bai nennen sollten?

– Keinen, entgegnete Altamont, wenn das Cap, welches sich dort in’s Meer erstreckt, den Namen Cap Washington erhält.

– Sie hätten auch, rief Hatteras außer sich, einen für englische Ohren minder widerwärtigen Namen wählen können.

– Aber keinen theureren für ein amerikanisches, erwiderte Altamont voll Stolz.

– Halt! Halt! fiel der Doctor ein, der alle Mühe hatte, in dieser kleinen Welt Frieden zu erhalten, keine solchen Auseinandersetzungen! Ein Amerikaner möge stolz auf seine großen Männer sein. Ehren wir das Genie, wo wir es auch antreffen; und da Altamont seine Wahl getroffen hat, so reden wir nun für uns und die Unseren. Was unseren Kapitän …

– Doctor, sagte da der Letztere, das ist ein amerikanisches Land, und ich wünsche nicht, daß mein Name da verewigt wird.

– Ist das unwiderruflich? fragte der Doctor.

– Unbedingt!« erwiderte Hatteras.

Der Doctor bestand nicht weiter auf diesem Punkte.

»Nun denn, so ist an uns die Reihe, sagte er, sich an den alten Seemann und den Zimmermann wendend; wir wollen hier einige Spuren unserer Fahrt zurücklassen. Ich schlage vor, die Insel, welche man dort in der Entfernung von etwa drei Meilen sieht, die Johnson-Insel zu nennen, zu Ehren unseres Rüstmeisters.

– O! sagte dieser etwas verlegen, o, Herr Clawbonny!

– Den Berg, welchen wir da im Westen sehen, wollen wir Bell-Mount nennen, wenn unser Zimmermann zustimmt.

– Zu viel Ehre für mich, antwortete Bell.

– Es ist nur gerecht, erwiderte der Doctor.

– Es ist ganz gut so, bestätigte Altamont.

– Nun hätten wir also nur noch unser Fort zu taufen, sagte der Doctor; darüber wird es keinen Streit geben; weder ihrer huldreichen Majestät, der Königin Victoria, noch auch Washington verdanken wir es, jetzt hier gesichert zu sein, wohl aber der göttlichen Vorsehung, die uns Alle rettete, indem sie uns zusammenführte. So soll es also Fort Providence heißen.

– Das ist gut ausgedacht! meinte Altamont.

– Fort Providence, wiederholte Johnson, das klingt gut. Wenn wir also nun von unseren Ausflügen nach Norden zurückkehren, werden wir über Cap Washington gehen, um die Victoria-Bai zu erreichen, und von da nach Fort Providence, um Ruhe und Stärkung in Doctors-House zu finden.

– Einverstanden, sagte der Doctor. Später und je nach Maßgabe und der Wichtigkeit unserer Entdeckungen, werden wir andere Namen zu geben haben, die keine Veranlassung zu Streitigkeiten werden sollen, wie ich hoffe; denn, meine Freunde, hier müssen wir doch zu einander halten und uns lieben. Wir repräsentiren die ganze Menschheit auf diesem Küstenende. Geben wir uns nicht den abscheulichen Leidenschaften hin, welche die Gesellschaft zerreißen, vereinigen wir uns, stark und untrennbar im Ungemach zu sein. Wer weiß, welche Gefahren uns der Himmel noch aufgespart hat, welche Leiden unser noch warten, bevor wir die Heimat wiedersehen? Stehen wir Fünf also für Einen und lassen wir alle Eifersüchteleien bei Seite, die vielleicht nirgends am Platze sind, hier aber wohl am wenigsten. Sie verstehen mich, Altamont? Und Sie auch, Hatteras?«

Die beiden Männer antworteten nicht, aber der Doctor that so, als ob es geschehen wäre.

Später sprach man über andere Sachen. Es galt, die Jagd zu organisiren, theils um die Provision zu ersetzen, vorzüglich aber, in diese eine Abwechslung zu bringen; mit dem Frühjahr mußten weiße Hasen, Schneehühner, selbst Füchse und Bären wiederkommen; man beschloß also, keinen geeigneten Tag vorüber zu lassen, ohne eine Recognoscirung auf dem Lande von Neu-Amerika vorzunehmen.

  1. Ein reicher Rheder der Vereinigten Staaten, der auch die Kosten für die Expedition des Doctor Kane trug.

Achtes Capitel.


Achtes Capitel.

Ein Ausflug nach dem Norden der Victoria-Bai.

Tags darauf beim ersten Sonnenstrahl erklomm Clawbonny mit Mühe den steilen Felsen, an welchen sich Doctors-House lehnte. Er endigte oben mit einer stumpfen Spitze; der Doctor gelangte leicht auf diesen Gipfel, von dem aus sein Blick eine weite Strecke zerrissenen Terrains umfaßte, welches einem vulkanischen Ausbruche seinen Zustand zu danken schien. Eine unendliche, weiße Decke lag über Land und Meer gebreitet, so daß es nicht möglich war, Eins von dem Anderen zu unterscheiden.

Da der Doctor erkannte, daß dieser Punkt alle umgebenden Ebenen überragte, faßte er einen Gedanken, über den der Leser nicht wenig staunen wird.

Er durchdachte ihn, veränderte und verfolgte ihn und war seiner ganz Meister, als er in das Haus zurückkam, um ihn seinen Gefährten mitzutheilen.

»Da ist mir in den Sinn gekommen, sagte er, auf dem Gipfel des Kegels, der sich da über uns erhebt, einen Leuchtthurm zu errichten.

– Einen Leuchtthurm? fragten Alle.

– Ja, einen Leuchtthurm! Das wird den doppelten Vortheil gewähren, uns, wenn wir von weiteren Zügen heimkehren, bei Nacht als Führer zu dienen, und diese Hochebene während der Wintermonate zu beleuchten.

– Gewiß, meinte Altamont, wäre eine solche Einrichtung ganz nützlich; aber wie wollen Sie diese treffen?

– Mittelst einer der Schiffslaternen des Porpoise.

– Gut, aber womit soll das Feuer im Leuchtthurm unterhalten werden? Etwa mit Robbenthran?

– Nein; das Licht von diesem Oele ist zu schwach; das würde kaum den Nebel durchdringen.

– Wollen Sie etwa aus unserer Steinkohle Leuchtgas bereiten?

– Das Licht wäre ebenfalls unzureichend, und es wäre verkehrt, einen Theil unseres Brennmaterials zu verbrauchen.

– Nun, sagte Altamont, dann sehe ich aber nicht …

– Was mich betrifft, meinte Johnson, so glaube ich seit der Kugel aus Quecksilber, der Brennlinse aus Eis, und seit der Errichtung des Forts Providence, daß Herr Clawbonny eben Alles kann.

– Nun, versetzte Altamont, werden Sie uns mittheilen, welche Art Leuchtthum Sie zu errichten gedenken?

– Sehr einfach, entgegnete der Doctor, einen mit elektrischem Lichte.

– Einen elektrischen Leuchtthurm!

– Ohne Zweifel, hatten Sie nicht an Bord des Porpoise eine vollständige Bunsen’sche Batterie?

– Ja, antwortete der Amerikaner.

– Gewiß haben Sie auch, da Sie diese mitnahmen, die Absicht gehabt, sie zu Versuchen zu benutzen; denn es fehlt an ihr Nichts, weder die völlig isolirten Leitungsdrähte, noch die nöthigen Säuren, um die Elemente in Thätigkeit zu setzen. Es wird also leicht sein, uns elektrisches Licht darzustellen. Man wird besser dabei sehen, und trotzdem kostet es uns Nichts.

– Das ist herrlich, bemerkte der Rüstmeister, und ohne irgend Zeit zu verlieren …

– Nun ja, das Material ist vorhanden, erwiderte der Doctor; binnen einer Stunde können wir eine zehnfüßige Säule errichtet haben, die vollkommen ausreichend sein wird.«

Der Doctor ging hinaus; die Anderen folgten ihm nach dem Gipfel des Felsenkegels; die Säule wuchs rasch empor und war bald mit einer der Schiffslaternen des Porpoise gekrönt.

Dann brachte der Doctor die Verbindungs-Drähte daran an, welche mit dem anderen Ende an der Batterie hingen; diese war durch ihren Standpunkt nahe dem Ofen im Salon des Eishauses vor dem Einfrieren geschützt; von dort aus liefen die Drähte zur Laterne des Leuchtthurmes.

Alles das war schnell hergestellt, und man erwartete nur den Sonnenuntergang, um den Effect zu sehen. Bei Nacht wurden die beiden Kohlenspitzen, welche in der Laterne in angemessener Entfernung gehalten waren, einander genähert und sogleich blitzte ein Strahlenbündel dazwischen auf, gegen das auch ein Sturm ohnmächtig war. Es war ein prächtiges Schauspiel, diese blendenden Strahlen, deren Weiße mit der der Umgebungen wetteiferte, und einen grellen Schatten von allen vorspringenden Punkten warf. Johnson konnte nicht umhin, in die Hände zu klatschen.

»Da, seht den Herrn Clawbonny, sagte er, der Sonnenschein machen kann und wie schönen!

– Ein wenig muß man wohl Alles können«, erwiderte bescheiden der Doktor.

Die Kälte setzte der allgemeinen Bewunderung ein Ziel, und Jeder eilte sich in seine Decken zu hüllen.

Die Lebensweise wurde nun regelmäßig eingerichtet. Während der folgenden Tage, vom 15. bis 20. April, war die Witterung sehr unbestimmt; die Temperatur änderte sich manchmal plötzlich um zwanzig Grade, und die Atmosphäre überraschte mit Veränderungen, war einmal voller Schnee und Wirbelwinde, dann wieder trocken und so kalt, daß man ohne Vorsicht nicht einen Fuß in’s Freie setzen konnte.

Als am Sonnabend darauf sich der Wind legte, ward ein Ausflug möglich; man beschloß also, diesen Tag auf die Jagd zu gehen, um den Proviant zu erneuern.

Am Morgen schon machten sich Altamont, der Doctor und Bell, mit Doppelflinten, hinreichender Munition, und für den Fall, daß sie genöthigt wären, sich ein Obdach zu schaffen, mit Axt und Schneemesser ausgerüstet, bei bedecktem Himmel auf den Weg.

Während ihrer Abwesenheit sollte Hatteras die Küste erforschen und einige Aufnahmen vornehmen. Der Doctor sorgte für Anzündung des Leuchtthurmes, dessen Strahlen mit dem Sonnenschein wetteiferten. In der That vermag nur das elektrische Licht, welches hier etwa dreitausend Kerzen oder dreihundert Gasflammen gleich war, die Vergleichung mit dem Sonnenglanze auszuhalten.

Die Kälte war lebhaft, aber trocken und still. Die Jäger schlugen die Richtung nach Cap Washington ein; der harte Schnee erleichterte ihren Weg. In ein und einer halben Stunde legten sie die drei Meilen von dem Fort Providence aus zurück. Duk sprang um sie herum.

Nach Osten hin zog sich die Küste zurück und die höheren Gipfel an der Victoria-Bai schienen nach Norden zu abzufallen. Das gab zu der Vermuthung Anlaß, daß Neu-Amerika am Ende nur eine Insel sei; aber es handelte sich jetzt noch nicht darum, seine Form zu bestimmen.

Die Jäger hielten sich am Ufer des Meeres und schritten rüstig vorwärts. Keine Spur von Bewohntsein, kein Rest einer Hütte war sichtbar; sie wanderten auf bis jetzt noch von keinem Menschen betretenem Boden.

So legten sie während der ersten drei Stunden gegen fünfzehn Meilen zurück, und machten nicht einmal zum Essen Halt; die Jagd aber schien erfolglos bleiben zu sollen. Wirklich sahen sie kaum die Spuren eines Hasen, Fuchses oder Wolfs. Doch hüpften da und dort einige Schneehühner, als Vorboten des Frühlings und des arktischen Thierlebens, umher.

Die drei Jäger hatten weit landeinwärts gehen müssen, um tiefe Schluchten und spitze Felsen am Fuße des Bell-Mount zu umgehen; später gewannen sie indessen das Ufer wieder. Das Eis war noch nicht davon losgebrochen, und das Meer fortwährend fest gefroren; jedoch verkündigten einige Robbenfährten, daß diese Amphibien schon wieder auf dem Eisfelde erschienen. Mindestens war es, nach den breiten Spuren und frischen Eisbrüchen zu schließen, unzweifelhaft, daß mehrere Thiere der Art an’s Land gegangen waren.

Die Robben sonnen sich nämlich sehr gern und strecken sich behaglich an den Ufern aus, um die wohlthuende Wärme zu genießen.

Der Doctor machte seine Gefährten auf diese Einzelheiten aufmerksam.

»Wir wollen uns diese Stelle genau merken, sprach er; möglicher Weise treffen wir im Sommer die Robben hier in ganzen Schaaren an, in solchen von Menschen wenig besuchten Gegenden kann man sich ihnen leicht nähern und sie fangen. Wohl muß man sich hüten, sie zu erschrecken, denn dann verschwinden sie wie nach Verabredung auf Nimmerwiederkehr. So geschieht es nicht selten, daß ungeschickte Jäger, statt sie einzeln zu tödten, beim lärmenden Massenangriff auf dieselben ihre Beute einbüßen oder schmälern.

– Jagt man sie nur um ihres Felles und Thranes willen? fragte Bell.

– Die Europäer, ja; aber die Eskimos verzehren sie gar; sie leben davon, doch haben die Fleischstücke, welche sie mit Blut und Fett zurichten, wahrlich nichts Appetitliches. Indessen kann man doch einigen Gebrauch davon machen, und ich verpflichte mich, so schöne Cotelettes herzustellen, daß sie bis auf ihre schwärzliche Farbe gewiß nicht zu verachten sein dürften.

– Nun, Sie werden das ausführen können, antwortete Bell; ich habe solches Vertrauen, daß ich mich verpflichte, davon soviel zu essen, als Ihnen beliebt. Sie verstehen mich, Herr Clawbonny?

– Mein braver Bell, Sie wollen sagen, soviel es Ihnen selbst Vergnügen macht. Das können Sie getrost; den Verbrauch eines Grönländers werden Sie doch nicht erreichen, denn er ißt an einem Tage wohl fünfzehn Pfund davon.

– Fünfzehn Pfund! rief Bell, das nenne ich einen Magen!

– Ja, das sind Polarmagen, erwiderte der Doctor, die sich nach Belieben erstaunlich ausdehnen, aber, wohl zu merken, auch wieder zusammenschrumpfen, die Mangel und Ueberfluß gleichmäßig gut vertragen. Zu Anfang seiner Mahlzeit ist der Eskimo mager, wenn er aufsteht, aber dick und kaum wiederzuerkennen! Es steht fest, daß er manchmal einen ganzen Tag lang Mahlzeit hält.

– Offenbar, sagte Altamont, ist diese Gefräßigkeit den Bewohnern kalter Länder eigenthümlich?

– Ich glaube es, entgegnete der Doctor; in den arktischen Gegenden muß man viel essen, nicht nur um die Körperkräfte zu erhalten, sondern um überhaupt seine Existenz zu sichern. So liefert auch die Hudsons-Bai-Compagnie jedem Mann acht Pfund Fleisch oder zwölf Pfund Fisch oder auch zwei Pfund Pemmican täglich.

– Das ist aber eine kräftigende Lebensweise, bemerkte der Zimmermann.

– Es ist nicht so schlimm, als Sie denken, mein Freund, und ein so gefütterter Indianer leistet an Arbeit nicht mehr als ein Engländer, der sich von seinem einen Pfunde Rindfleisch und einer Pinte Bier ernährt.

– Also ist Alles gut eingerichtet, Herr Clawbonny.

– Gewiß, und doch kann uns eine echte Grönländer Mahlzeit manchmal in Erstaunen setzen. So war auch Sir Roß, als er auf Boothia überwinterte, verwundert über die Gefräßigkeit seiner Führer; er berichtet, daß zwei Mann, verstehen Sie wohl, ich sage zwei, an einem Morgen ein ganzes Viertel eines Bisonochsen vertilgten; sie zerlegten das Fleisch in lange Streifen, die sie nur so in die Speiseröhre gleiten ließen, dann schnitten sie unter der Nase davon ab, was ihr Mund nicht fassen konnte, und gaben es Einer dem Anderen; oder die Vielfraße ließen auch lange Bänder von Fleisch bis auf die Erde herabhängen und verschlangen sie nach und nach, so etwa wie eine Boa einen Ochsen, und lagen dabei ebenso lang auf der Erde wie jene.

– Pfui, sagte Bell, das ist ja widerliches Vieh!

– Jeder speist nach seiner Weise, erwiderte philosophisch der Amerikaner.

– Ja, glücklicher Weise, sagte der Doctor.

– Nun, bemerkte Altamont, wenn der Ernährungstrieb unter diesen Breiten so mächtig ist, wundere ich mich auch nicht mehr, daß man in den Reiseberichten der Eismeerfahrer auch immer der Mahlzeiten Erwähnung gethan findet.

– Sie haben Recht, meinte der Doctor, dieselbe Bemerkung habe ich auch gemacht; und das kommt wohl nicht nur daher, daß man hier eine sehr reichliche Nahrung braucht, sondern auch daher, daß man sich dieselbe oft nur sehr schwer beschaffen kann. Daher rührt es, daß man immer daran denkt und folglich auch häufig davon spricht.

– Wenn mich mein Gedächtniß aber nicht sehr trügt, erwähnte Altamont, so brauchen die Bauern in Norwegen, auch in den kältesten Districten, keine so stoffhaltige Nahrung; sie essen etwas Milchspeisen, Eier, Brod aus Birkenrinde, manchmal wohl Lachs, aber eigentlich nie Fleisch, und doch wachsen auch dabei ganz gesunde, kräftige Bursche auf.

– Das ist Sache der Organisation, erwiderte der Doctor, über die ich mir kein Urtheil erlauben möchte. Dennoch halte ich dafür, daß die zweite oder dritte Generation etwa nach Grönland ausgewanderter Norweger zuletzt auch auf grönländische Art und Weise essen würde. Ja, wenn wir noch lange in diesem gesegneten Lande bleiben, werden wir selbst halb zu Grönländern und vielleicht zu Erzvielfraßen.

– Herr Clawbonny macht mir ordentlich Hunger, wenn er so spricht, sagte Bell.

– Mir nicht, entgegnete Altamont, das benimmt mir den Appetit und flößt mir vor dem Robbenfleische nur Ekel ein. Ah, da! Ich glaube, wir werden ein Pröbchen machen können. Ich täusche mich jetzt sehr, oder da unten streckt sich eine belebte Masse auf dem Eise aus!

– Das ist ein Wallroß! rief erfreut der Doctor; nun still vorwärts!«

Wirklich ergötzte sich ein starkes Exemplar eines solchen Thieres in einer Entfernung von etwa zweihundert Yards; es reckte sich und wälzte sich wohlgemuth in den bleichen Strahlen der Sonne.

Die drei Jäger vertheilten sich so, daß sie dem Thiere den Rückzug abschnitten; so kamen sie, hinter Eishügeln verborgen, bis auf kurze Distanz heran und gaben Feuer.

Das Wallroß überschlug sich, noch voller Kraft, es zertrümmerte die Eisschollen und versuchte zu fliehen, aber Altamont griff es mit dem Beil an und hieb ihm die Rückenflossen durch. Noch setzte es sich zu verzweifelter Gegenwehr, doch von etlichen Kugeln getroffen lag es bald leblos auf dem Eisfelde, das von seinem Blute gefärbt war.

Es war ein tüchtiges Thier und maß vom Rüssel bis zum Schwanzende an fünfzehn Fuß, so daß es wohl mehrere Faß Oel geliefert hätte.

Der Doctor schnitt die leckersten Stücke Fleisch aus und ließ den Cadaver dann einigen Raben zur Beute, die zu dieser Jahreszeit schon in den Lüften kreisten.

Die Nacht war jetzt nicht mehr fern; man dachte daran, nach Fort Providence zurückzukehren; der Himmel war ganz klar geworden, und bevor der Mond aufging, erglänzte er in hellem Sternenlichte.

»Nun denn, brechen wir auf, sagte der Doctor, es wird schon spät; unsere Jagd ist zwar nicht sehr glücklich gewesen, aber wenn der Jäger nur Etwas zum Abendbrod mit nach Hause bringt, soll er nicht klagen. Wir wollen jedoch den kürzesten Weg wählen und uns vor dem Fehlgehen hüten; die Sterne werden uns den Weg zeigen.«

In den Gegenden aber, wo der Polarstern fast gerade über des Wanderers Kopfe glänzt, eignet er sich nur sehr schlecht zum Führer; in der That, wenn der Nordpunkt gerade am Scheitel der Himmelswölbung ist, bestimmen sich auch die anderen Hauptpunkte nur sehr schwierig; glücklicher Weise unterstützten der Mond und die auffallenderen Sternbilder den Doctor in der Bestimmung der Richtung.

Um den Weg abzukürzen beschloß er, die Biegungen des Ufers zu vermeiden und quer über das Land zu gehen; das war zwar mehr geradaus, aber auch unsicherer; und so hatte sich die kleine Gesellschaft denn nach einigen Stunden wirklich vollkommen verirrt.

Man berathschlagte, ob es nicht vorzuziehen sei, die Nacht in einer Eishütte zu verbringen, auszuruhen und am anderen Morgen nach der Küste zurückzukehren, um dann dieser zu folgen; der Doctor bestand aber, da er Hatteras und Johnson unnöthig zu beunruhigen befürchtete, darauf, den Weg fortzusetzen.

»Duk leitet uns, sagte er, und Duk kann sich nicht irren; sein Instinct ist jetzt mehr werth, als Boussole und Sterne. Folgen wir ihm.«

Duk lief voraus, und man vertraute seinem Spürsinn nicht mit Unrecht; bald wurde ein Lichtschein am Horizonte sichtbar; mit einem Sterne konnte konnte man ihn nicht verwechseln, da dessen Licht bei so niedrigem Stande des Nebels wegen nicht sichtbar gewesen wäre.

»Da ist unser Leuchtthurm! rief der Doctor.

– Glauben Sie, Herr Clawbonny? fragte der Zimmermann.

– Ja, gewiß; gehen wir nur darauf zu!«

Je näher die Jäger kamen, um so heller wurde das Licht, und bald gingen sie wie in einem Streifen Lichtstaubes hin. Der gewaltige Strahl warf über die Maßen lange Schatten, die sich scharf abhoben, über die Schneedecke.

Sie verdoppelten ihre Schritte, und nach weiteren anderthalb Stunden erklommen sie den Wall des Forts Providence.

Sechsundzwanzigstes Capitel.


Sechsundzwanzigstes Capitel.

Rückkehr nach dem Süden.

Drei Stunden nach diesem traurigen Ausgange der Abenteuer des Kapitän Hatteras fanden sich Clawbonny, Altamont und die beiden Matrosen in der Grotte am Fuße des Vulkans zusammen. Clawbonny wurde ersucht, seine Meinung über das, was nun geschehen solle, abzugeben.

»Meine Freunde, sagte er, wir können auf der Insel der Königin nicht lange verweilen: das Meer vor uns ist frei, wir haben hinreichenden Proviant, und werden in aller Eile nach Fort Providence zurückkehren müssen, um dort bis nächsten Sommer zu überwintern.

– Das ist auch meine Ansicht, sagte Altamont, der Wind ist günstig und morgen wollen wir wieder zur See gehen.«

In tiefer Niedergeschlagenheit verging vollends der Tag. Die Geistesstörung des Kapitäns erschien von schlimmer Vorbedeutung, und als Johnson, Bell und Altamont ihre Gedanken bezüglich der Rückkehr austauschten, erschraken sie über ihre Verlassenheit und die weite Entfernung. Hatteras‘ unerschrockene Seele fehlte ihnen.

Doch als geistesstarke Männer rüsteten sie sich, um von Neuem gegen die Elemente und gegen sich selbst zu kämpfen, wenn sie sich schwach fühlen sollten.

Am anderen Tage, Sonnabend den 13. Juli, wurden die Lagergeräthschaften eingeschifft, und bald war Alles zur Abfahrt bereit.

Bevor sie aber diesen Felsen auf Nimmerwiedersehen verließen, ließ der Doctor, um Hatteras‘ Absichten zu entsprechen, an dem Punkte, wo der Kapitän an der Insel gelandet war, einen Cairn errichten, der, aus großen, übereinander gelagerten Blöcken gebildet, ein leicht sichtbares Merkzeichen darstellte, vorausgesetzt, daß er von den Folgen der Eruptionen verschont blieb.

In einen der Seitensteine grub Bell mit dem Meißel die einfache Inschrift:

John Hatteras.

1861.

Im Innern des Cairn und in einem vollkommen geschlossenen Blechcylinder wurde eine Abschrift des Documentes niedergelegt, und so ruhte das Zeugniß der großen Entdeckung verlassen unter den wüsten Felsen.

Dann schifften sich die vier Männer und der Kapitän, – ein armer Körper ohne Seele – sammt dem treuen Duk, der jetzt so traurig war, zur Rückkehr ein. Es war um zehn Uhr des Morgens. Aus der Leinwand des Zeltes wurde ein neues Segel hergestellt. Die Schaluppe verließ, den Wind im Rücken, die Insel der Königin und am Abend warf der Doctor, auf seiner Bank stehend, einen letzten Blick zurück nach dem Mount-Hatteras, der noch am Horizonte Flammen sprühte.

Die Ueberfahrt ging sehr schnell von Statten; das überall freie Meer erleichterte die Schifffahrt, und es schien wirklich, es sei angenehmer, dem Pole zu entfliehen, als sich ihm zu nähern.

Nur Hatteras verstand nicht, was um ihn her vorging. Er lag in der Schaluppe mit stummem Munde, gebrochenem Blicke, die Arme über der Brust gekreuzt und Duk zu seinen Füßen. Vergeblich richtete der Doctor das Wort an ihn, – Hatteras verstand ihn nicht.

Während achtundvierzig Stunden blieb der Wind sehr günstig und das Meer ziemlich ruhig. Clawbonny und seine Genossen ließen den Nordwind gewähren.

Am 15. Juli bekamen sie im Süden Altamont-Harbour in Sicht; da aber das Polarmeer der ganzen Küste frei war, beschlossen sie, statt sich über Neu- Amerika hinweg des Schlittens zu bedienen, dieses bis zur Bai Victoria zu umsegeln.

Dieser Weg war schneller und kürzer. In der That hatten die Reisenden denselben Weg, zu dem sie mittels Schlitten vierzehn Tage gebraucht hatten, unter Segel in kaum acht Tagen zurückgelegt, und waren dabei noch der durch Fjorde unterbrochenen Küste gefolgt, deren Entwicklung sie bestimmten. Montag Abends, am 23. Juli, erreichten sie die Bai Victoria.

Die Schaluppe wurde am Ufer sicher verankert, und man begab sich nach Fort Providence. Aber welche Verwüstung zeigte sich da! Doctors-House, die Magazine, die Pulverkammer und die Befestigungen waren unter den Strahlen der Sonne zu Wasser zerflossen; die Vorräthe von reißenden Thieren beraubt.

Ein trauriger, trostloser Anblick!

Die Seefahrer waren mit ihren Lebensmitteln fast zu Ende und hofften sie in Fort Providence zu erneuern. Die Unmöglichkeit, jetzt einen Winter hier zuzubringen, lag auf der Hand. Als Leute, die gewöhnt waren, einen schnellen Entschluß zu fassen, entschieden sie sich, das Baffins-Meer auf kürzestem Wege zu gewinnen zu suchen.

»Wir können keinen anderen Ausweg ergreifen, sagte der Doctor; das Baffins-Meer ist kaum sechshundert Meilen entfernt. So lange unserer Schaluppe das Wasser nicht mangelt, können wir segeln, den Jones-Sund und von da aus die dänischen Niederlassungen erreichen.

– Gut, antwortete Altamont, so wollen wir den Rest der Provision sammeln und abreisen.«

Bei genauerem Nachsuchen fand man einige da und dorthin verschleppte Kisten mit Pemmican und zwei Fässer condensirtes Fleisch, die der Zerstörung entgangen waren, zusammen Proviant für sechs Wochen, und einen Ueberfluß an Pulver. Alles wurde sorgfältig gesammelt; man benutzte den Tag noch, die Schaluppe zu kalfatern und in Stand zu setzen, und am folgenden Tage, am 24. Juli, stach man wieder in See.

Unter dem dreiundachtzigsten Breitengrade fiel das Land nach Osten ab, und es war nicht unmöglich, daß es mit den unter den Namen Grinnel-Land, Ellesmeer und Nord-Lincoln bekannten Ländern, welche die Küste der Baffins-Bai bilden, in Verbindung stand. Man konnte demnach als ziemlich sicher ansehen, daß der Jones-Sund sich wie die Lancaster-Straße nach den inneren Meeren zu öffne.

Die Schaluppe segelte von nun an ohne besondere Schwierigkeiten; die schwimmenden Eisblöcke waren leicht zu vermeiden. Der Doctor setzte jedoch mit Rücksicht auf unvorhergesehene Verzögerungen seine Gefährten auf halbe Speiserationen; dennoch kamen diese dabei nicht sonderlich von Kräften und blieben bei guter Gesundheit.

Uebrigens konnten sie auch wiederholt von den Gewehren Gebrauch machen; sie erlegten Enten, Gänse und Taucherhühner, die ihnen frische und gesunde Nahrung lieferten. Ihr Wasserbedarf ward leicht durch Süßwasserschollen, deren sie genug antrafen, gedeckt, denn sie achteten immer darauf, sich nicht zu weit von der Küste zu entfernen, da sie es nicht wagten, mit der Schaluppe in das ganz freie Meer zu steuern.

Zu dieser Jahreszeit hielt sich das Thermometer durchschnittlich schon immer unter dem Gefrierpunkte; das Wetter, das anfangs sehr regnerisch gewesen war, neigte sich zum Schneien und wurde düster; die Sonne begann den Horizont zu streifen und tagtäglich wurde ein größerer Theil ihrer Scheibe verdeckt. Am 30. Juli verloren sie die Reisenden zum ersten Male aus dem Gesicht, d. h. sie hatten eine wenige Minuten dauernde Nacht.

Inzwischen segelte die Schaluppe recht gut und legte in vierundzwanzig Stunden manchmal sechzig bis fünfundsechzig Meilen zurück; nicht einen Augenblick wurde angehalten. Man wußte aus Erfahrung, welche Anstrengungen zu erleiden, welche Hindernisse zu überwinden waren, wenn man gezwungen wäre, auf das Land zurückzukehren; schon bildete sich hier und da junges Eis. Unter jenen hohen Breiten folgt der Winter ganz plötzlich dem Sommer; es giebt weder Frühling noch Herbst, die Uebergangszeiten fehlen. Man mußte sich also beeilen.

Am 31. Juli bemerkte man, da der Himmel bei Sonnenuntergang heiter war, die ersten Sterne von den Sternbildern im Zenith. Von diesem Tage ab herrschte aber ein fortdauernder Nebel, der die Schifffahrt sehr behinderte.

Der Doctor wurde, da er die Vorzeichen des Winters sich häufen sah, sehr unruhig. Er wußte, welche Schwierigkeiten Sir John Roß vorgefunden hatte, nachdem er sein Schiff verlassen, die Baffins-Bai zu erreichen; und zuletzt war dieser kühne Seefahrer, nachdem er einmal versucht hatte das Eis zu überschreiten, doch gezwungen gewesen, nach seinem Fahrzeuge zurückzukehren und ein viertes Mal zu überwintern; er hatte aber für die schlechte Jahreszeit doch wenigstens ein Obdach, Proviant und Heizmaterial.

Wenn den Ueberlebenden vom Forward ein ähnliches Unglück zustieß, wenn sie gezwungen waren, anzuhalten oder gar umzukehren, so waren sie verloren. Der Doctor theilte seinen Gefährten seine Beunruhigung zwar nicht mit, aber er trieb, soviel als möglich nach Osten zu gelangen.

Am 15. August endlich, nach einer schnellen dreißigtägigen Fahrt, nachdem sie achtundvierzig Stunden gegen sich häufende Eisschollen gekämpft, nachdem sie hundertmal ihre zerbrechliche Schaluppe in Gefahr gesetzt hatten, sahen sich die Schifffahrer vollkommen festgehalten, ohne weiter vorwärts zu können; das Meer war nach allen Seiten in Fesseln geschlagen, und das Thermometer zeigte im Mittel nur fünfzehn Grade über Null (-9° hunderttheilig).

Uebrigens war nach Norden und Westen hin die Nähe einer Küste an den platten und abgerundeten kleinen Steinen, welche die Wellen so an den Ufern abreiben, zu erkennen; auch dem Süßwasser-Eise begegnete man immer häufiger.

Altamont machte mit größter Sorgfalt eine Ortsaufnahme, und erhielt als Resultat 77°15′ Breite bei 85°2′ östlicher Länge.

»Nun, dann ist unsere Lage also bestimmt, sagte der Doctor; wir haben Nord-Lincoln erreicht, und zwar genau am Cap Eden. Wir treten jetzt in den Jones-Sund ein; mit etwas mehr Glück hätten wir diesen bis zum Baffins-Meere offen gefunden. Doch wir dürfen nicht klagen; wenn mein armer Hatteras zuerst ein so leicht zugängliches Meer gefunden hätte, wäre er schnell bis zum Pol gelangt; seine Mannschaft hätte ihn nicht verlassen, und er hätte nicht unter dem Einfluß so schrecklicher Gemüthsbewegungen den Verstand verloren!

– Nun, sagte Altamont, so haben wir keine andere Wahl, als die Schaluppe zu verlassen und die Ostküste von Lincoln mittels Schlitten zu erreichen.

– Die Schaluppe verlassen und wieder zum Schlitten greifen, ja wohl, antwortete der Doctor; aber statt über Lincoln zu fahren, schlage ich vor, über den Jones-Sund zu setzen und auf dem Eise Nord-Devon zu erreichen.

– Und warum?

– Weil wir, je mehr wir uns dem Lancaster-Sund nähern, desto mehr Aussicht haben, Wallfischfängern zu begegnen.

– Sie haben Recht, Doctor; doch glaube ich nicht, daß das Eis schon fest genug sein wird, uns den Uebergang zu gestatten.

– Wir werden es versuchen«, erwiderte Clawbonny.

Die Schaluppe wurde entladen; Bell und Johnson setzten den Schlitten wieder zusammen, dessen Theile alle in gutem Zustande waren; andern Tags wurden die Hunde wieder angeschirrt und man zog längs der Küste hin, um das Eisfeld zu erreichen.

Nun begann diese schon so oft beschriebene, ermüdende und langsame Reise wieder. Altamont hatte Recht gehabt, der Haltbarkeit des Eises zu mißtrauen, man konnte nicht über den Jones-Sund setzen und mußte sich an der Küste von Lincoln halten.

Am 21. August schnitten gelangten die Reisenden auf Umwegen an den Eingang der Glacier-Meerenge; dort begaben sie sich nun auf das Eisfeld und erreichten andern Tags die Insel Cobourg, die sie in weniger als zwei Tagen trotz andauernder Schneestürme durchzogen.

Von hier aus konnten sie wieder den bequemeren Weg über das Eisfeld nehmen und setzten den Fuß endlich, am 24. August, auf Nord-Devon.

»Nun haben wir, sagte der Doctor, nur noch dieses Land zu durchziehen und Cap Warender am Eingange des Lancaster-Sund zu erreichen.«

Das Wetter wurde aber nun abscheulich und sehr kalt; Schneewehen und Wirbelstürme gewannen ihre winterliche Heftigkeit wieder; die Reisenden waren mit ihren Kräften zu Ende. Die Nahrungsmittel gingen auf die Neige und Jeder mußte sich mit einer Drittelration begnügen, um den Hunden ein ihren Anstrengungen entsprechendes Futter zu sichern.

Die Natur des Bodens steigerte die Strapazen der Reise; dieses Land, Nord-Devon, war ungemein zerklüftet; man mußte das Trauter-Gebirg durch kaum zugängliche Schluchten überschreiten, und das im fortwährenden Kampfe gegen die entfesselten Elemente. Der Schlitten, die Menschen und die Hunde hätten beinahe nicht weiter gekonnt, und mehr als einmal bemächtigte sich die Verzweiflung der kleinen Truppe, welche doch so abgehärtet und an die Anstrengungen einer Polarexpedition gewöhnt war. Ohne sich davon Rechenschaft zu geben, waren diese armen Leute moralisch und physisch gebrochen; nicht ungestraft verträgt man achtzehn Monate lang unausgesetzte Anstrengungen und einen nervenzerrüttenden unaufhörlichen Wechsel von Hoffnung und Verzweiflung. Zudem ist nicht zu vergessen, daß die Hinreise mit einem Feuereifer, einer Ueberzeugung, einem Glaubensmuthe ausgeführt wurde, welche der Rückreise abgingen. So schleppten sich auch die Unglücklichen nur mit Mühe vorwärts; man könnte sagen, sie marschirten aus Gewohnheit, getrieben durch ein Ueberbleibsel thierischer, von ihrem Willen unabhängiger Energie.

Erst am 30. August kamen sie aus jenem Chaos von Bergen heraus, von denen die Orographie niederer Breitegrade keine Idee giebt, aber sie kamen heraus halb todt und halb erfroren. Der Doctor war nicht mehr im Stande, seine Genossen aufrecht zu erhalten, er fühlte selbst seine zunehmende Schwäche.

Die Trauter-Berge reichten bis zu einer zerrissenen und zerklüfteten Ebene.

Dort mußte man wohl oder übel einige Tage ausruhen; die Wanderer konnten nicht mehr einen Fuß vor den anderen setzen; zwei Zughunde waren auch schon vor Erschöpfung verendet.

Man suchte also, bei einer Kälte von zwei Grad unter Null (-19° hunderttheilig) hinter einigen Eisschollen Schutz; Niemand hatte den Muth, das Zelt aufzuschlagen.

Die Lebensmittelvorräthe waren sehr zusammengeschmolzen und konnten trotz der äußersten Sparsamkeit bei den Rationen nur noch auf acht Tage hinreichen; das Wild wurde auch selten, indem es sich für den Winter in mildere Gegenden zurückgezogen hatte. Der Hungertod nahte drohender den erschöpften Opfern.

Altamont, der eine große Ergebung und wahrhafte Selbstverleugnung bewies, raffte seine letzten Kräfte zusammen, um seinen Genossen mittels der Jagd einige Nahrungsmittel zu verschaffen.

Er nahm seine Flinte, rief Duk zu sich und wandte sich zu den Ebenen im Norden; fast gefühllos sahen ihn der Doctor, Johnson und Bell sich entfernen. Während einer Stunde vernahmen sie keinen einzigen Flintenschuß und sahen ihn auch zurückkehren, ohne daß er einen solchen abgegeben hätte; der Amerikaner lief aber wie Jemand, der von Entsetzen ergriffen ist.

»Was giebt es? fragte ihn der Doctor.

– Da unten! Unter dem Schnee! antwortete Altamont mit dem Ausdruck des Entsetzens, indem er nach einem Punkt am Horizonte zeigte.

– Was denn?

– Eine ganze Gesellschaft Menschen.

– Lebende?

– Todt …. erfroren …. und sogar …«

Der Amerikaner wagte seinen Gedanken nicht zu vollenden, aber sein Ausdruck verrieth ein unsägliches Entsetzen.

Der Doctor, Johnson und Bell, die durch diesen Zwischenfall wieder aufgerüttelt wurden, erhoben sich und zogen, den Spuren Altamont’s nachgehend, nach jenem Theile der Ebene, den Letzterer ihnen durch Handbewegungen bezeichnete.

Bald gelangten sie, im Grunde eines tiefen Hohlwegs, an eine enge Stelle – aber da – welches Schauspiel bot sich ihren Blicken!

Halb unter dem weißen Leichentuche begrabene Cadaver sahen da und dort nach aus dem Schnee hervor; hier ein Arm, dort ein Bein, weiterhin runzlich gewordene Hände, Köpfe mit dem noch erhaltenen Gesichtsausdruck der Drohung und Verzweiflung.

Der Doctor ging näher, aber schnell eilte er, erblaßt und mit entstellten Zügen zurück, während Duk ein dumpfes, wie erschrockenes Bellen hören ließ.

»Entsetzlich! Grauenhaft! rief er.

– Nun, was? fragte der Rüstmeister.

– Sie haben sie nicht wiedererkannt? versetzte der Doctor mit dem Ton der Bestürzung.

– Was sagen Sie?

– Sehen Sie nur hin!«

Der Hohlweg war unlängst der Schauplatz eines letzten Kampfes von Menschen gegen das Klima, gegen die Verzweiflung, ja gegen den Hunger gewesen; denn an einigen entsetzlichen Resten sah man, daß die Unglücklichen durch menschliche Cadaver ihr Leben gefristet, vielleicht noch zuckendes Fleisch gegessen hatten, und unter ihnen hatte der Doctor Shandon, Pen und die übrige nichtswürdige Mannschaft vom Forward erkannt. Kräfte und Lebensmittel waren diesen Unglücklichen ausgegangen; ihre Schaluppe war wahrscheinlich durch Lawinen zertrümmert worden oder in eine Schlucht gestürzt, so daß sie das Meer nicht hatten zur Schifffahrt benutzen können. Es war ja auch möglich, daß sie sich mitten in jenen Continenten verirrt hatten. Dazu kommt, daß Leute, welche unter der Aufregung der Empörung davongingen, doch nicht lange Zeit in solcher Einigkeit leben konnten, welche allein es möglich macht, große Thaten zu vollbringen. Ein Anführer von Aufwieglern hat immer nur eine zweifelhafte Macht in den Händen. Ohne Zweifel wuchsen die Anderen Shandon bald über den Kopf.

Doch wie dem auch sei, jedenfalls hatte die Mannschaft tausend Qualen, tausendfache Verzweiflung zu bestehen und brachte es doch nur bis zu dieser schrecklichen Katastrophe. Aber die geheime Geschichte ihrer Leiden ist für immer mit ihnen unter dem Schnee des Poles eingesargt.

»Entfliehen wir! Fort!« rief der Doctor.

Er zog seine Genossen weit weg von dem Orte des Schreckens. Das Entsetzen verlieh ihnen eine augenblickliche Energie wieder. – Sie setzten ihre Reise weiter fort.

Siebenundzwanzigstes Capitel.


Siebenundzwanzigstes Capitel.

Schluß.

Warum sollte ich bei den Leiden, welche unablässig die Ueberlebenden der Expedition trafen, lange verweilen? Sie selbst vermochten niemals sich an alles Einzelne wieder zu erinnern, was sie in den acht Tagen nach der gräßlichen Entdeckung der Reste der Mannschaft zu erleben hatten. Indessen gelangten sie am 9. September durch wunderhafte Energie zum Cap Horsburg, am Ende von Nord-Devon.

Sie waren ausgehungert bis zur Erschöpfung: seit achtundvierzig Stunden waren sie ohne Nahrung und ihre letzte Mahlzeit hatte aus dem letzten Stück Fleisch ihrer Eskimohunde bestanden. Bell konnte nicht weiter, und der alte Johnson fühlte sich dem Tode nahe.

Sie befanden sich am Ufer des Baffins-Meeres, das zum Theil fest gefroren war, also auf dem Wege nach Europa. Drei Meilen von der Küste ab brandeten die eisfreien Wogen mit Getöse an den Spitzen des Eisfeldes.

Man mußte auf das zufällige Vorüberkommen eines Wallfischfahrers warten, und wie lange konnte dies dauern? …

Aber der Himmel erbarmte sich der Unglücklichen, denn am folgenden Tage gewahrte Altamont deutlich ein Segel am Horizont.

Man weiß, welche angstvolle Spannung herrscht, wenn ein Schiff sich zeigt, welche Furcht vor einer Täuschung dieser Hoffnung! Das Fahrzeug scheint bald näher zu kommen, bald sich wieder zu entfernen, in schrecklichem Wechsel von Hoffnung und Verzweiflung, und es geschieht nicht selten, daß ein am Horizont erblicktes Schiff wieder in der Ferne verschwindet.

Der Doctor und seine Gefährten hatten alle diese Prüfungen zu bestehen; sie waren, indem sie sich einander trugen und schoben, am westlichen Ende des Eisfeldes angelangt, und sahen allmälig das Schiff wieder verschwinden, ohne daß es ihre Anwesenheit gewahrt hatte. Sie riefen es an, doch vergebens!

Da kam dem Doctor zum letzten Mal ein sinnreicher Gedanke, wie sie diesem erfinderischen Kopf bisher so oft zu Statten kamen.

Ein Eisblock, der in der Strömung trieb, stieß wider das Eisfeld.

»Dieser Eisblock!« rief er, und wies mit der Hand darauf hin.

Man verstand ihn nicht.

»Fahren wir auf ihm! Fahren wir mit!« rief der Doctor.

Es war ein Hoffnungsstrahl für Alle.

»Ach! Herr Clawbonny, Herr Clawbonny!« rief Johnson, und drückte dem Doctor die Hände.

Bell eilte mit Hilfe Altamont’s zum Schlitten, holte daraus einen Pfosten, steckte ihn wie einen Mast auf den Eisblock und band ihn mit Stricken fest; aus dem abgerissenen Zeltdach machte man wohl oder übel ein Segel. Der Wind war günstig; die armen Verlassenen stürzten sich auf das zerbrechliche Fahrzeug und fuhren in’s weite Meer hinaus.

Schon nach zwei Stunden unerhörter Anstrengungen wurden die letzten der Mannschaft des Forward an Bord des dänischen Wallfischfahrers Hans Christian, welcher nach der Davis-Straße zurückkehrte, aufgenommen.

Der Kapitän empfing diese Gespenster, welche kaum noch wie Menschen aussahen, als ein Mensch von Gemüth; beim Anblick ihrer Leiden begriff er ihre Geschichte; durch die sorgfältigste Pflege gelang es ihm, sie am Leben zu erhalten.

Zehn Tage darauf stiegen Clawbonny, Johnson, Bell, Altamont und der Kapitän Hatteras zu Korsör, auf Seeland, in Dänemark, an’s Land; ein Dampfboot brachte sie weiter nach Kiel; von hier begaben sie sich über Altona und Hamburg nach London, wo sie am 13. desselben Monats ankamen, nachdem sie sich kaum von ihren langen Prüfungen erholt hatten.

Vor allen Dingen erbat sich der Doctor von der königlich Geographischen Gesellschaft zu London die Erlaubniß, ihr eine Mittheilung zu machen; in der Sitzung des 15. Juli wurde ihm diese Gelegenheit zu Theil.

Man denke sich das Erstaunen dieser gelehrten Gesellschaft, welche nach Verlesung der Urkunde Hatteras‘ enthusiastischen Beifall spendete.

Diese Reise, einzig in ihrer Art, die in den Annalen der Geschichte ihres Gleichen nicht hatte, begriff alle früheren, in den Polarregionen gemachten Entdeckungen in sich; sie verband miteinander die Expeditionen von Parry, Roß, Franklin, MacClure; sie vervollständigte zwischen dem hundertsten und hundertfünfzehnten Meridian die Karte der hohen Nordlande, und endlich, sie führte bis zu dem bisher unzugänglichen Punkte des Erdballs, dem Pol selbst.

Niemals, noch niemals hat eine so unerwartete Neuigkeit das staunende England überrascht.

Die Engländer haben eine leidenschaftliche Empfänglichkeit für so große geographische Thatsachen; man begrüßte sie mit Theilnahme und Stolz, vom Lord bis zum Cockney, vom größten Kaufmann bis zum Arbeiter der Docks.

Blitzschnell verbreitete sich die große Entdeckung mittels der Telegraphendrähte durch das Vereinigte Königreich; die Journale verehrten an der Spitze ihrer Spalten den Namen Hatteras‘ als eines Märtyrers, und England erhob ihn mit gerechtem Stolz.

Der Doctor und seine Gefährten wurden mit öffentlichen Festen geehrt, und sie wurden vom Lord-Kanzler in feierlicher Audienz Ihrer Königlichen Majestät vorgestellt.

Die Regierung bestätigte die Benennungen: Königin-Insel für den Felsen des Nordpols, Hatteras-Berg für den Vulkan, und Altamont-Hafen für den Hafen Neu-Amerikas.

Altamont trennte sich nicht mehr von den Genossen seines Elends und Ruhmes, welche seine Freunde geworden; er begleitete den Doctor, Bell und Johnson nach Liverpool, wo sie bei ihrer Rückkehr mit jubelndem Beifall begrüßt wurden, nachdem man sie längst für todt und im ewigen Eisgrabe bestattet glaubte.

Aber der Doctor Clawbonny wies diesen Ruhm beständig dem unter ihnen zu, welcher das Hauptverdienst hatte. In seinem Reisebericht: »Die Engländer und der Nordpol«, welcher im folgenden Jahre von der königlich Geographischen Gesellschaft herausgegeben wurde, führte er John Hatteras unter den größten Reisenden auf, als Nacheiferer der kühnen Männer, welche sich ganz dem Fortschritt der Wissenschaft als Opfer hingaben.

Indessen lebte dieses traurige Opfer einer erhabenen Leidenschaft friedlich im Genesungshause zu Sten-Cottage, nächst Liverpool, wohin sein Freund, der Doctor, ihn selbst gebracht hatte. Sein Irrsinn war von milder Art, aber er sprach nicht, es mangelten die Begriffe, und mit der Vernunft schien ihm auch die Fähigkeit zu reden geschwunden zu sein. Ein einziges Gefühl knüpfte ihn noch an die Außenwelt, seine Freundschaft für Duk, der ihm ein treuer Gesellschafter war.

Diese Krankheit nahm dann ihren ruhigen Verlauf, ohne irgend ein besonderes Symptom, als dem Doctor Clawbonny, der seinen armen Kranken oft besuchte, sein Benehmen auffiel.

Seit einiger Zeit machte der Kapitän Hatteras in Begleitung seines treuen Hundes, der ihn mit sanftem und traurigem Blick ansah, täglich stundenlang Spaziergänge, aber diese Gänge hatten unabänderlich dieselbe Richtung in einer gewissen Allee zu Sten-Cottage. War er am Ende der Allee angekommen, so kehrte er rücklings zurück. Wollte ihn Jemand anhalten, wies er mit dem Finger auf einen bestimmten Punkt am Himmel. Wollte man ihn nöthigen umzukehren, so wurde er zornig, und Duk, der seine Gefühle theilte, bellte wüthend.

Der Doctor beobachtete achtsam diese bizarre Manie, und der Grund dieser sonderbaren Hartnäckigkeit ward ihm klar; er errieth, weshalb dieser Spaziergang sich standhaft in derselben Richtung, so zu sagen, unter Einwirkung einer magnetischen Kraft erhielt:

Der Kapitän John Hatteras bewegte sich unabänderlich in nördlicher Richtung.

Viertes Capitel.


Viertes Capitel.

Der letzte Schuß Pulver.

Johnson hatte auch die müden Hunde mit in das Eishaus geführt; bei reichlichem Schneefall bereitet dieser den Thieren eine Decke, die ihre natürliche Wärme zusammenhält. Aber jetzt wären die armen Thiere bei einer trockenen Kälte von fast vierzig Grad in freier Luft ohne Zweifel bald erfroren.

Johnson, der sich viel mit dem Abrichten von Hunden beschäftigte, versuchte die Thiere mit dem schwärzlichen Robbenfleische, das ihnen widerstand, zu füttern, und zu seiner großen Freude schien das ihnen gar nicht übel zu munden, wovon er dem Doctor bald Nachricht gab. Dieser war gar nicht besonders erstaunt darüber; er wußte, daß sich im Norden Amerikas die Pferde vorwiegend von Fischen nähren, und was dem pflanzenfressenden Rosse genügte, das mußte wohl den fleisch- und pflanzenfressenden Hunden gelegen kommen.

Bevor er sich niederlegte, wollte der Doctor, obschon der Schlaf den Reisenden, die sich wieder fünfzehn Meilen über das Eis geschleppt hatten, sich dringend geltend machte, ihnen ihre thatsächliche Lage klar machen, ohne den Ernst derselben herabzusetzen.

»Wir sind erst unter’m zweiundachtzigsten Breitegrade, sagte er, und schon drohen uns die Lebensmittel zu fehlen.

– Das ist ein Grund mehr, erwiderte Hatteras, um keinen Augenblick zu verlieren. Wir müssen vorwärts! Die Stärkeren mögen die Schwächeren fortziehen.

– Werden wir an bezeichneter Stelle auch ein Schiff finden? fragte Bell, den die Strapazen der Reise trotz seiner Gegenwehr niederdrückten.

– Warum sollten wir das bezweifeln? Das Heil des Amerikaners ist auch das unsere«, antwortete Johnson.

Zu größerer Sicherheit wollte der Doctor noch einmal Altamont befragen; dieser sprach jetzt, wenn auch schwach, doch mit größerer Leichtigkeit; er bestätigte nur alle früher angegebenen Einzelheiten; er wiederholte, daß das auf felsigem Ufer gelagerte Fahrzeug seinen Ort nicht zu verändern im Stande sei, und daß es sich also bei hundertzwanzig Grad fünfzehn Minuten Länge und dreiundachtzig Grad fünfunddreißig Minuten Breite finden müsse.

»Wir können an der Richtigkeit dieser Aussage nicht zweifeln; die Schwierigkeit wird nicht darin liegen, den Porpoise aufzufinden, sondern ihn nur zu erreichen.

– Wie viel haben wir noch Proviant? fragte Hatteras.

– Etwa noch für drei Tage.

– Nun gut, so werden wir binnen drei Tagen dort ankommen müssen, sagte der energische Kapitän.

– Freilich ist das nöthig, fuhr der Doctor fort, und wenn wir es durchführen, werden wir es dem Wetter zu danken haben, das uns ganz auffallend günstig war. Fünfzehn Tage sind wir von Schnee verschont geblieben, und der Schlitten glitt leicht über das feste Eis. O, daß wir nicht noch zwei Centner Nahrungsmittel haben, unsere braven Hunde wären dann leicht dieser Aufgabe gewachsen. Doch wir müssen uns wohl in’s Unvermeidliche fügen.

– Könnte man denn, entgegnete Johnson, nicht mit ein wenig Glück und Geschick die paar Schuß Pulver verwenden, welche uns noch blieben? Wenn wir einen Bären erlegten, wären wir für den ganzen Rest der Reise versorgt.

– Ohne Zweifel, sagte der Doctor, aber diese Thiere sind selten und flüchtig. Und gerade, wenn man daran denkt, was von dem Erfolge eines Schusses Alles abhängt, zittert die Hand und versagt das Auge.

– Sie sind doch ein tüchtiger Schütze, sagte Bell.

– Ja, aber nur dann, wenn nicht die Beschaffung der Nahrung für vier Mann von meiner Fertigkeit abhängt; giebt es aber der Zufall, so will ich mein Bestes thun. Für jetzt, lieben Freunde, begnügen wir uns mit diesen dünnen Pemmicanschnitten und suchen zu schlafen. Morgen früh mag’s weiter gehen.«

Schon nach kurzer Zeit lagen Alle, von übermäßiger Müdigkeit bewältigt, trotz aller Gedanken, die sie beschäftigten, in tiefem Schlafe.

Am Sonnabend darauf weckte Johnson frühzeitig; die Hunde kamen an den Schlitten und fort ging’s nach Nordwesten.

Der Himmel war prächtig, die Luft überaus rein, und die Temperatur sehr niedrig. Als die Sonne über dem Horizont erschien, hatte sie die Form einer langen Ellipse; ihr horizontaler Durchmesser erschien durch eine sonderbare Strahlenbrechung doppelt so groß als der verticale. Klar, aber kalt, schossen ihre Strahlenbündel über die ungeheure Eisebene. Schon diese Rückkehr zum Licht, wenn auch nicht zur Wärme, erfreute die Wanderer.

Der Doctor schweifte, trotz Kälte und Verlassenheit, mit dem Gewehre eine bis zwei Meilen weit allein herum; vorher hatte er seine Munition sorgsam gemustert: er hatte nur noch vier Schuß Pulver und drei Kugeln, mehr nicht; und wie wenig war das, wenn man bedenkt, daß der starke und lebenszähe Eisbär oft erst auf den zehnten bis zwölften Schuß fällt.

Der Ehrgeiz des Jägers war auch gar nicht auf ein so großes Wild gerichtet; nach einigen Hasen oder zwei bis drei Füchsen sehnte er sich aber doch, die dem Proviant einen erheblichen Zuwachs herbeigeführt hätten.

Wenn er aber im Laufe dieses Tages ein derartiges Thier in Sicht bekam, konnte er ihm entweder nicht nahe genug kommen, oder es täuschte die Strahlenbrechung sein Auge, und er feuerte vergeblich; dieser Tag kostete ihm also eine vergeudete scharfe Ladung.

Seine Gefährten, die schon voller Freude waren, als sie den Knall seines Gewehres hörten, sahen ihn gesenkten Kopfes zurückkehren; sie sprachen kein Wort darüber; man legte sich am Abend nieder wie gewöhnlich, nachdem noch die beiden letzten Viertelrationen sorgfältig zurückgelegt waren.

Am folgenden Tage schien die Reise mehr und mehr beschwerlich zu werden. Man ging nicht mehr, man schleppte sich. Die Hunde hatten die Robbe bis auf die Eingeweide verzehrt und nagten schon wieder an dem Lederzeug.

Einige Füchse trabten in ziemlich großer Entfernung vorbei, und nachdem der Doctor einmal, ohne zu treffen, darauf geschossen hatte, wagte er es nicht, seine letzte Kugel und vorletzte Pulverladung an dieses unsichere Ziel zu setzen.

Abends machte man bei Zeiten Halt. Die Reisenden konnten kaum noch einen Fuß vor den andern setzen, und obschon der Weg durch ein prachtvolles Nordlicht erhellt war, mußten sie doch rasten.

Die letzte Mahlzeit am Sonntag Abend wurde in trauriger Stimmung eingenommen. Wenn der Himmel ihnen jetzt nicht beistand, waren sie verloren. Hatteras sprach nicht; Bell dachte wohl gar nicht mehr; Johnson brütete still vor sich hin; nur der Doctor verzweifelte noch nicht.

Johnson hatte den Einfall, für die Nacht einige Fallgruben anzulegen, da er aber keine Lockspeise hineinzulegen hatte, versprach er sich selbst nicht viel davon; er täuschte sich darin nicht; denn als er am Morgen darauf nachsah, fand man wohl Spuren von Füchsen, aber keiner von den Schlauköpfen war in die leere Falle gegangen.

Er kam sehr entmuthigt zurück, als er einen sehr großen Bären bemerkte, der den Schlitten in einer Entfernung von etwa hundertfünfzig Schritten witterte. Dem alten Seemann kam der Gedanke, es habe ihn die Vorsehung bestimmt, diese unerwartete Beute zu erlegen; ohne seine Gefährten zu wecken, bemächtigte er sich der Flinte des Doctors und war dem Thiere bald zur Seite.

Als er in Schußweite war, legte er an, doch als er schon den Drücker berühren wollte, fühlte er seinen Arm zittern; seine großen Fellhandschuhe behinderten ihn auch; schnell zog er sie aus und ergriff das Gewehr mit sicherer Hand.

Plötzlich entfuhr ihm ein Schmerzensschrei; seine Finger klebten vermöge der Kälte des Laufes an diesem, während gleichzeitig die Waffe zu Boden fiel, sich entlud und die letzte Kugel in die Luft jagte.

Durch den Knall aufgescheucht, lief der Doctor herzu; er durchschaute Alles; das aufgeschreckte Thier trottete ruhig von dannen. Johnson verzweifelte und dachte gar nicht mehr an seine eigenen Leiden.

»Ich bin doch eine rechte Memme! rief er aus, ein Kind, das nicht den geringsten Schmerz ertragen kann. O Jammer! Was bin ich so alt geworden!

– Halloh, Johnson, sagte da der Doctor, kommen Sie herbei; Sie werden erfrieren. Da, Ihre Hände sind schon ganz weiß, kommen Sie, kommen Sie!

– Ich bin Ihrer Besorgniß nicht werth, Herr Clawbonny, erwiderte der Rüstmeister, lassen Sie mich nur!

– Aber so kommen Sie doch, Sie Starrkopf! Kommen Sie! Es könnte bald zu spät sein.«

Der Doctor mußte den grauen Seemann bis unter das Zelt fortziehen, wo er ihn die Hände in ein Gefäß mit Wasser halten ließ, das zwar der Ofen aus Eisstücken zusammengeschmolzen, aber noch nicht erwärmt hatte; aber kaum waren Johnson’s Hände darin, als auch schon das Wasser, wo es sie berührte, gefror.

»Sie sehen, daß es höchste Zeit war, hereinzukommen, sagte der Doctor, sonst hätte ich in die Lage kommen können, Sie zu amputiren.«

Dank seiner Pflege war nach etwa einer Stunde jede Gefahr vorüber, aber doch hatte es wiederholter Abreibungen bedurft, das Blut in den Händen des alten Seemanns wieder in Umlauf zu bringen. Der Doctor empfahl ihm noch besonders, die Hände nicht dem warmen Ofen zu nähern, was nicht ohne sehr üble Folgen geblieben sein würde.

An diesem Morgen nun mußte man das Frühstück entbehren; Pemmican oder Salzfleisch – Nichts war mehr da; keine Schnitte Zwieback. Kaum noch ein halbes Pfund Kaffee. Man mußte sich wohl oder übel mit diesem erwärmenden Getränk begnügen, und setzte sich dann in Marsch.

»Nun sind wir am Ende! sagte Bell zu Johnson im Tone der Verzweiflung.

– Vertrauen wir Gott! erwiderte der alte Seemann, er ist allmächtig genug, uns zu retten.

– O, dieser Kapitän Hatteras! Von seinen früheren Zügen ist er wohl zurückgekehrt, der Verblendete! Von diesem kehrt er niemals wieder, und auch wir werden die Heimat nicht mehr sehen.

– Muth, Bell! Ich gebe zu, daß der Kapitän ein Waghals ist, aber neben ihm ist noch ein anderer Mann, der nie um einen Ausweg verlegen ist.

– Der Doctor Clawbonny? fragte Bell.

– Derselbe, antwortete Johnson.

– Was vermag er in unserer Lage zu thun? erwiderte Bell mit Achselzucken. Wird er die Eisschollen in Fleisch verwandeln können? Ist er ein Gott, der Wunder thut?

– Wer weiß es! setzte Johnson allen Zweifeln seines Gefährten entgegen. Ich wenigstens habe Vertrauen zu ihm.«

Bell zog den Kopf ein und versank wieder gedankenlos in düsteres Schweigen.

Drei Meilen legte man an diesem Tage zurück; zum Abend gab es – Nichts zu essen; die Hunde drohten einander aufzufressen, und nur mit Mühe kämpften die Menschen den nagenden Hunger nieder.

Kein Thier war sichtbar. Was hätte es auch genützt? Man konnte nur noch mit dem Messer jagen. Nur Johnson glaubte, etwa eine Meile unter dem Winde, den Bär zu bemerken, welcher der unglücklichen Gesellschaft nachtrabte.

»Der lauert uns auf, sagte er sich, er hält uns schon für eine sichere Beute!«

Gegen seine Genossen sprach sich Johnson nicht darüber aus; Abends machte man wie gewöhnlich Halt. Die ganze Abendmahlzeit bestand aus Kaffee. Die Unglücklichen bemerkten, wie ihre Augen sich trübten und ihr Gehirn eingenommen wurde; gepeinigt von wüthendem Hunger vermochten sie keine Stunde Schlaf zu finden; wilde und schmerzliche Träume betäubten ihren Geist.

Unter einem Breitegrade, wo der Körper um so gebieterischer eine kräftigere Kost verlangt, hatten die Unglücklichen nun, am Mittwoch Morgen, seit sechsunddreißig Stunden Nichts gegessen. Mit fast übermenschlicher Anstrengung nahmen sie doch ihren Weg wieder auf und drückten noch den Schlitten vorwärts, den die Hunde nicht mehr zu ziehen vermochten.

Nach zwei Stunden sanken sie erschöpft zusammen. Hatteras wollte noch weiter gehen. Er, der immer Energische, wandte alle Vorstellungen, alle Bitten an, auch seine Genossen dazu zu bewegen, aufzustehen, – vergeblich! Das hieß auch etwas Unmögliches verlangen.

Mit Hilfe Johnson’s arbeitete er noch eine Höhle in einem Eisberge aus. Es sah aus, als ob die beiden Männer ihr Grab grüben.

»Vor Hunger will ich wohl sterben, sagte Hatteras, aber nicht vor Kälte.«

Nach unendlicher Anstrengung war das Obdach fertig, und alle begaben sich hinein.

So verging der Tag. Am Abend, während Alle schliefen, hatte Johnson eine Art Wahngesicht; er träumte von gigantischen Bären.

Dieses von ihm öfter wiederholte Wort erregte endlich die Aufmerksamkeit des Doctors, der, aus seiner halben Betäubung erwacht, den alten Seemann fragte, warum er immer von Bären, und von welchem er denn spreche.

»Von dem Bären, der uns folgt, erwiderte Johnson.

– Ein Bär, der uns folgt? wiederholte der Doctor.

– Ja, seit zwei Tagen!

– So lange schon? Haben Sie ihn wirklich gesehen?

– Ja, er hält sich etwa eine Meile unter dem Winde.

– Und davon haben Sie mir Nichts gesagt, Johnson?

– Was hätte es genützt?

– Das ist wahr, sagte der Doctor, wir können keine Kugel nach ihm jagen.

– Ja, wir haben auch keinen Spieß, kein Stück Eisen, nicht einmal einen Nagel!« setzte der Seemann hinzu.

Nachdenklich schwieg der Doctor. Bald sagte er zum Rüstmeister:

»Sie sind also sicher, daß das Thier uns nachfolgt?

– Ja, Herr Clawbonny, das wartet auf ein Gericht Menschenfleisch; es weiß, daß wir ihm nicht entgehen.

– Johnson! rief der Doctor, erregt von dem verzweifelten Tone des Gefährten.

– Seine Nahrung ist ihm sicher, erwiderte der Arme, dem schon der Geist irre wurde; es wird hungrig sein, und ich sehe nicht ein, warum wir es warten lassen!

– Johnson, beruhigen Sie sich!

– Nein, Herr Clawbonny, da wir doch einmal dazu kommen müssen, warum sollen wir das Thier länger leiden lassen? Das hat Hunger, so gut wie wir, und es hat keine Robbe zu verzehren! Der Himmel sendet ihm Menschen, desto besser für den Bären!«

Der alte Johnson wurde närrisch, er schickte sich schon an, das Eishaus zu verlassen. Der Doctor hatte alle Mühe, ihn zurückzuhalten, und wenn ihm das gelang, so dankte er es nicht seinen Leibeskräften, sondern folgenden Worten, die er ihm aus des Herzens Ueberzeugung zurief:

»Morgen werde ich den Bären erlegen!

– Morgen, sagte Johnson, der aus einem schweren Traume zu erwachen schien.

– Morgen!

– Sie haben keine Kugel!

– Ich werde eine machen.

– Sie haben kein Blei!

– Nein, aber Quecksilber.«

Nach diesen Worten ergriff der Doctor das Thermometer. Es zeigte jetzt im Eishause fünfzig Grad über Null (+10° hunderttheilig). Der Doctor ging hinaus, legte das Instrument auf eine Eisscholle, und kam bald wieder herein. Die äußere Temperatur war fünfzig Grad unter Null (-46° hunderttheilig).

»Also auf morgen, sagte er zu dem alten Seemanne. Jetzt schlafen Sie und erwarten ruhig den Sonnenaufgang.«

Unter den Qualen des Hungers verstrich die Nacht; nur der Rüstmeister und der Doctor konnten sie durch einen schwachen Hoffnungsschimmer etwas mildern.

Beim ersten Tageslichte machte sich der Doctor, dem Johnson folgte, schon hinaus und lief zum Thermometer. Alles Quecksilber hatte sich in das untere Gefäß zurückgezogen und bildete einen compacten Cylinder. Der Doctor zerbrach das Instrument und zog daraus, mit Handschuhen wohl bedeckt, ein wirkliches, kaum hämmerbares Stück Metall hervor, einen wahren Barren.

»O, Herr Clawbonny, rief der Rüstmeister erfreut, das ist wunderbar! O, Sie sind ein großer Mann!

– Nein, lieber Freund, ich bin eben nur ein Mensch mit gutem Gedächtniß, der viel gelesen hat.

– Was wollen Sie damit sagen?

– Ich erinnerte mich eben einer Bemerkung des Kapitän Roß aus dessen Reiseberichte. Er hatte ein zolldickes Brett mit einer Kugel aus gefrorenen Quecksilber durchschossen; hätte ich Oel bei der Hand gehabt, so hätte das fast dasselbe gethan, denn er erzählt auch, daß eine Kugel aus süßem Mandelöl, natürlich aus gefrorenem, gegen einen Pfahl abgeschossen, denselben aufsplitterte und unzerbrochen zur Erde zurückprallte.

– Das ist unglaublich!

– Aber es ist doch so, Johnson. Da, dieses Stück Metall kann uns möglicher Weise das Leben retten; lassen wir es bis zum Gebrauche an der Luft liegen und sehen zu, ob uns der Bär nicht bereits verlassen hat.«

In diesem Augenblicke trat Hatteras aus der Hütte, der Doctor zeigte ihm den kleinen Barren Quecksilber und theilte ihm den Gebrauch mit, den er davon machen wolle; der Kapitän drückte ihm schweigend die Hand, und die drei Jäger brachen auf.

Das Wetter war ganz klar. Hatteras war seinen Genossen vorausgeeilt und entdeckte den Bären auf etwa achtzehnhundert Schritt.

Das Thier hatte sich niedergesetzt; langsam bewegte es den Kopf und schnüffelte die ungewohnten Ausdünstungen seiner Wirthe ein.

»Da ist er! rief der Kapitän.

– Stille!« sagte der Doctor.

Aber als der große Vierfüßler die sich Nähernden sah, fiel es ihm gar nicht ein, von der Stelle zu weichen. Ohne Schrecken und auch ohne Wuth sah er sie an. Dennoch war es nicht leicht, sich ihm genügend zu nähern.

»Meine Freunde, sagte Hatteras, es handelt sich jetzt hier nicht um ein bloßes Vergnügen, sondern um die Rettung unseres Lebens. Also handeln wir mit Klugheit!

– Ja, erwiderte der Doctor, wir haben nur einen Flintenschuß. Wir dürfen nicht fehlen; entflieht das Thier, so ist es für uns verloren, da es wohl einen Windhund im Laufe überholt.

– Also müssen wir gerade darauf losgehen. Das Leben gilt es, sagte Johnson, doch was thut das jetzt – ich will das meine daran wagen.

– Nein ich! rief der Doctor.

– Das thue ich, sagte einfach Hatteras.

– Nein, nein, stritt Johnson dagegen, sind Sie nicht für das Wohl Aller nützlicher, als ich alter Mann?

– Nein, Johnson, erwiderte der Kapitän, laßt mich nur machen. Ich werde mein Leben nicht unnöthig auf’s Spiel setzen; es ist sogar möglich, daß ich Euch zu Hilfe rufen muß.

– Hatteras, fragte der Doctor, wollen Sie wirklich dem Bären zu Leibe gehen?

– Wär‘ ich nur sicher, ihn zu erlegen, so thät‘ ich’s, wenn er mir auch den Schädel zerschlüge! Aber, wenn ich nahe komme, reißt er wohl aus. Es ist ein sehr listiges Thier, und wir müssen ihn überlisten.

– Was denken Sie zu thun?

– Ich will versuchen, mich ihm auf zehn Schritte zu nähern, ohne daß er mich bemerkt.

– Und wie das?

– Das Mittel ist kühn, aber einfach. Sie haben doch das Fell von der Robbe aufgehoben, die Sie erlegt haben?

– Es ist auf dem Schlitten.

– Gut, so wollen wir jetzt zurückkehren, während Johnson auf Wache bleibt.«

Der Rüstmeister glitt hinter einen Spitzhügel, der ihn den Blicken des Bären vollkommen entzog.

Dieser aber blieb ruhig auf seinem Platze und schnüffelte arglos weiter.

Fünftes Capitel.


Fünftes Capitel.

Robbe und Bär.

Hatteras und der Doctor kehrten nach der Hütte zurück.

»Sie wissen, sagte der Erstere, daß die Polarbären gern auf Robben Jagd machen, da sie ihnen vornehmlich als Nahrung dienen. Ganze Tage lauern sie denselben an Eisspalten auf, und erwürgen sie, sobald sie zu Tage kommen, zwischen ihren gewaltigen Tatzen. Ein Bär wird also bei der Erscheinung einer Robbe nicht erschrecken, sondern im Gegentheil darauf losgehen.

– Ich erkenne Ihre Absicht, sagte der Doctor, doch ist sie nicht ohne Gefahr.

– Aber erfolgversprechend, antwortete der Kapitän, also muß sie ausgeführt werden. Ich werde dieses Robbenfell umhängen und auf dem Eise hinkriechen. Wir wollen keine Zeit verlieren. Laden Sie mir Ihr Gewehr.«

Was sollte der Doctor dagegen sagen? Er hätte ja dasselbe gethan, was sein Gefährte jetzt vorhatte. Er nahm zwei Beile, eins für Johnson, das andere für sich, verließ das Haus und begab sich mit Hatteras nach dem Schlitten.

Dort machte Hatteras Jagdtoilette, d. h. er kroch in das Robbenfell, das ihn fast vollständig verhüllte.

Unterdessen lud der Doctor die Flinte mit dem letzten Pulverreste, und setzte das Quecksilbergeschoß auf, das so hart wie Eisen und schwerer als Blei war. Hatteras, dem er die Waffe übergab, verbarg sie unter dem Felle.

»So, nun gehen Sie mit zu Johnson, ich werde eine kurze Zeit zurückbleiben, um meinen Gegner irre zu führen.

– Nun Muth, Hatteras! sagte der Doctor.

– Seien Sie ohne Sorgen, und jedenfalls lassen Sie sich nicht sehen, bevor ich geschossen habe.«

Schnell war der Doctor hinter dem Eishügel, der Johnson verbarg.

»Nun? fragte dieser.

– Nur etwas Geduld, Hatteras wagt sein Leben, um uns zu retten.«

Der Doctor war selbst aufgeregt, er sah den Bären sich unruhig bewegen, als ob ihn eine nahe Gefahr bedrohe.

Nach einer kleinen Viertelstunde kroch die vermeintliche Robbe auf dem Eise daher; sie hatte einen Umweg um große Eisblöcke herum genommen, um den Bären desto sicherer zu täuschen; jetzt war sie noch dreihundert Fuß von diesem entfernt. Er bemerkte sie, stellte sich auf die Füße und suchte sich offenbar zu verbergen.

Hatteras ahmte mit großem Geschick die Bewegungen einer Robbe nach, und wenn ihm dies vielleicht auch nicht vollständig gelang, so ließ sich der Gegner doch davon täuschen.

»Da ist sie! Da ist sie!« sagte Johnson leise.

Die Robbe, die sich nun leise nach der Seite des Thieres heranschlich, schien dasselbe gar nicht zu bemerken; sie schien einen Spalt zu suchen, um in ihr nasses Element zurückzukehren.

Der Bär seinerseits schlich sich um einige Eisschollen und näherte sich ihr mit größter Vorsicht, doch aus seinen flammenden Augen sprach die brennende Begierde; seit einem, vielleicht seit zwei Monaten fastete er wohl, und jetzt warf ihm der Zufall eine sichere Beute in den Weg.

Nur zehn Schritte noch war die Robbe von ihrem Feinde entfernt; – dieser raffte sich auf, machte einen gewaltigen Sprung und blieb voll Staunen und Schrecken drei Schritte vor Hatteras stehen, der das Fell abgeworfen hatte und auf den Knieen liegend schon nach des Bären Herzen zielte.

Der Schuß krachte – das Ungethüm wälzte sich auf dem Eise.

»Vorwärts! Vorwärts!« schrie der Doctor.

Von Johnson gefolgt, eilte er nach dem Kampfplatze.

Das große Thier hatte sich wieder aufgerichtet, focht mit der einen Tatze in der Luft, und raffte mit der anderen Schnee auf, den es auf seine Wunde schob.

Hatteras, ohne zu straucheln, wartete mit dem Messer in der Hand. Aber er hatte trefflich gezielt und mit sicherer Hand jenem eine gut sitzende Kugel zugesendet. Schon bevor seine Leute eintrafen, hatte er auch sein Messer dem Unthier bis an’s Heft in die Kehle gestoßen, das nun vollends umfiel, um sich nicht wieder zu erheben.

»Sieg! Sieg! rief Johnson, und

– Hurrah! Hurrah!« der Doctor.

Hatteras betrachtete in aller Gemüthsruhe mit gekreuzten Armen den gigantischen Körper.

»Nun habe ich zu thun, sagte Johnson. Es war zwar die Hauptsache, das Stück Wild abzuthun, aber wir wollen nicht warten, bis es zu Stein gefroren ist, dann möchten unsere Zähne und unsere Messer nicht viel damit anfangen können.«

Johnson begann demnach das große Thier abzuhäuten, welches an Größe fast einem Stiere gleich kam; es hatte neun Fuß in der Länge bei sechs Fuß Umfang; zwei tüchtige Fangzähne von drei Zoll Länge starrten aus seinen Kiefern.

Als Johnson den Bären öffnete, fand er nur Wasser in dessen Magen; offenbar hatte er seit langer Zeit Nichts gefressen; dennoch war er reichlich fett und wog über fünfzehnhundert Pfund. In vier Theile zertheilt lieferte jedes zweihundert Pfund Fleisch, und freudig schleppten die Jäger diese Fleischmasse nach der Eishütte, ohne das Herz des Thieres zu vergessen, das drei Stunden vorher noch kräftig geschlagen hatte.

Des Doctors Genossen hätten sich gerne sogleich auch auf das rohe Fleisch gestürzt, aber dieser hielt sie zurück, bis dasselbe geröstet sein werde.

Als Clawbonny in das Eishaus zurückkehrte, fiel es ihm auf, daß es darin so kalt war; das Feuer im Ofen fand er denn auch vollkommen erloschen.

Die Beschäftigungen am frühen Morgen und die darauf folgenden erregten Scenen hatten Johnson, dem das Nachlegen eigentlich zukam, seine Pflichten versäumen lassen.

Der Doctor wollte das Feuer wieder entzünden, aber er fand auch kein Fünkchen mehr in der kalten Asche.

»Nun denn, etwas Geduld«, sagte er für sich.

Er ging nach dem Schlitten, um Feuerschwamm zu holen, und verlangte von Johnson dessen Stahl und Stein.

»Der Ofen ist erloschen! sagte er.

– Ei, daran bin ich Schuld«, erwiderte Johnson.

Dieser suchte nun das Feuerzeug in der Tasche, in der er es immer trug, und wunderte sich, es nicht darin zu finden; er visitirte auch seine anderen Taschen vergebens; im Hause wandte er seine Lagerstätte nach allen Seiten um – vergebens.

»Nun?« fragte der Doctor.

Johnson kam zurück und sah seine Gefährten an.

»Ja das Feuerzeug, haben Sie es nicht etwa, Herr Clawbonny?

– Nein, Johnson.

– Auch Sie nicht, Kapitän?

– Nein, erwiderte Hatteras.

– Sie haben es doch immer selbst gehabt, sagte der Doctor.

– Ja wohl! Aber ich habe es nicht mehr … murmelte erblassend der alte Seemann.

– Nicht mehr?!« rief der Doctor, der unwillkürlich erzitterte.

Es war kein anderes Feuerzeug vorhanden und der Verlust jenes einzigen konnte sehr üble Folgen haben.

»Suchen Sie ordentlich, Johnson«, mahnte der Doctor.

Dieser lief nach dem Schollenhaufen, von dem aus er den Bär beobachtet hatte; dann nach der Stelle, wo der Bär getödtet wurde und er ihn ausgeweidet hatte. Aber verzweifelnd kam er mit leerer Hand zurück.

Hatteras sah ihn an, ohne ihm jedoch irgend welchen Vorwurf zu machen.

»Das ist bitter, sagte er zum Doctor.

– Ja wohl, erwiderte dieser.

– Wir haben nun gar kein Instrument, nicht einmal ein Fernrohr, aus dem wir eine Linse nehmen könnten, um uns Feuer zu machen.

– Ich weiß es, meinte der Doctor, und das ist besonders traurig, da die Sonnenstrahlen leicht hinreichen würden, um mit ihrer Hilfe Schwamm zu entzünden.

– Nun, sagte Hatteras, so werden wir unseren Hunger mit rohem Fleische stillen müssen; dann nehmen wir den Marsch wieder auf und suchen das Fahrzeug zu erreichen.

– Ja, sagte der Doctor nachdenklich, das wäre der letzte Ausweg. Aber warum? – Man könnte versuchen …

– Woran denken Sie? fragte Hatteras.

– Da kommt mir ein Gedanke …

– Ein Gedanke! rief Johnson erfreut, ein Gedanke von Ihnen! O, dann ist uns geholfen.

– Ob er ausführbar sein wird, versetzte der Doctor, ist freilich noch eine Frage.

– Was denken Sie zu thun, sagte Hatteras.

– Wir haben keine Brennlinse, nun gut, so werden wir eine machen müssen.

– Was? fragte erstaunt Johnson.

– Von einem Stück Eis, das wir zuschneiden.

– Wie? Sie glauben …?

– Warum nicht? Es kommt ja nur darauf an, die Sonnenstrahlen auf einen Punkt zu sammeln, und dazu kann uns Eis so gut dienen, wie der schönste Krystall.

– Ist das möglich? sagte Johnson.

– Gewiß; ich hätte nur gern Süßwassereis dazu, das ist durchsichtiger und härter.

– Nun, wenn ich mich nicht täusche, sagte Johnson, indem er nach einem kaum hundert Schritte entfernten Spitzhügel wies, so verräth jener dunklere Block mit grünlichem Schimmer …

– Ja wohl, Sie haben Recht; kommen Sie, Freunde, und Sie, Johnson, nehmen das Beil mit.«

Die drei Männer verfügten sich nach dem Schollenhaufen, den sie wirklich aus Süßwassereis bestehend fanden.

Der Doctor ließ ein Stück von etwa einem Fuß Durchmesser ablösen, das er erst im Groben mit dem Beil, später mit dem Eismesser bearbeitete; endlich polirte er es noch nach und nach mit Hilfe der Hand und erhielt so eine große durchsichtige Linse, die mit dem besten Krystall wetteiferte.

Dann ging er vor den Eingang des Hauses, nahm ein Stück Zündschwamm und begann sein Experiment.

Die Sonne stand in reinstem Glanze am Himmel; der Doctor hielt seine Eislinse in geeigneter Lage gegen ihre Strahlen, welche er auf dem Schwamme sammelte.

In wenigen Secunden schon fing dieser Feuer.

»Hurrah! Hurrah! rief Johnson aus der kaum seinen Augen traute. O, Herr Clawbonny! Herr Clawbonny!«

Der alte Seefahrer konnte seine Freude gar nicht zügeln; wie närrisch lief er hin und her.

Der Doctor war in’s Haus zurückgegangen; in wenigen Minuten prasselte es im Ofen und bald weckte der köstliche Geruch eines Rostbratens auch Bell aus seinem Halbschlafe.

Es versteht sich wohl, daß mit dieser Mahlzeit ein wahres Fest gefeiert wurde, doch rieth der Doctor seinen Genossen, ihre Begierde zu mäßigen, ging ihnen selbst mit gutem Beispiele voran und sprach noch beim Essen also:

»Wir haben heute einen Glückstag und ausreichende Provision bis zu Ende der Fahrt. Dennoch dürfen wir uns nicht durch lucullische Mahle einschläfern, sondern werden gut thun, bei Zeiten wieder aufzubrechen.

– Vom Porpoise können wir nur noch gegen achtundvierzig Stunden entfernt sein, sagte Altamont, der mehr und mehr der Sprache wieder Herr wurde.

– Ich hoffe, wir finden da Etwas, um Feuer machen zu können, bemerkte lächelnd der Doctor.

– Gewiß, erwiderte der Amerikaner.

– Wenn mein Brennglas aus Eis auch ganz gut ist, so dürfte es an sonnenlosen Tagen doch den Dienst versagen, und solche Tage sind kaum sechs Grad vom Pole nicht eben selten.

– Wahrlich, seufzte Altamont, kaum sechs Grade! Mein Schiff ist soweit hinausgekommen, wie vor ihm noch kein anderes.

– Brechen wir auf! befahl Hatteras kurz.

– Ja, vorwärts!« wiederholte der Doctor, der mit unruhigem Blicke die beiden Kapitäne musterte.

Schnell hatten die Reisenden ihre Kräfte wieder gewonnen; die Hunde waren reichlich mit den Abfällen vom Bären gefüttert worden, und muthig wandte man sich wieder gen Norden.

Unterwegs versuchte der Doctor von Altamont einigen Aufschluß über den Zweck seiner Reise, die ihn soweit nach dem Pole geführt hatte, zu erhalten; doch der Amerikaner gab nur ausweichende Antworten.

»Da giebt es zwei Männer zu überwachen, sagte Clawbonny dem alten Rüstmeister in’s Ohr.

– Ja wohl! bestätigte Johnson.

– Hatteras hat nie ein Wort für den Amerikaner, und dieser scheint auch wenig erkenntlich zu sein. Zum Glücke bin ich noch zur Vermittlung da.

– Herr Clawbonny, antwortete Johnson, seit dieser Yankee wieder lebendig geworden ist, verspricht mir seine Miene nicht viel Gutes!

– Entweder täusche ich mich arg, versetzte der Doctor, oder er muthmaßt unseres Hatteras‘ Zwecke.

– Glauben Sie, daß der Fremde die nämlichen Absichten gehabt hat, wie wir?

– Wer weiß es? Johnson! Die Amerikaner sind unternehmend und kühn, und was ein Engländer ausführen wollte, konnte Jener ja wohl auch versuchen.

– Sie glauben, daß Altamont …?

– Ich glaube gar Nichts, fiel der Doctor ein, aber die Lage seines Schiffes auf dem Wege zum Pole giebt doch zu denken.

– Altamont sagt aber, er sei wider Willen dahin verschlagen worden.

– Ja, er sagte es, aber er schien mir dabei verstohlen zu lächeln.

– Zum Teufel! Herr Clawbonny, eine Rivalität zwischen zwei Männern dieses Schlages könnte unter unseren Umständen eine schlimme Sache werden.

– Gott gebe, daß ich mich täusche, Johnson, aber das kann schwere Verwickelungen nach sich ziehen, die vielleicht gar zu gewaltsamer Lösung führen.

– Hoffentlich wird Altamont nie vergessen, daß wir ihm das Leben gerettet haben.

– Und er jetzt uns, nicht wahr? Ich gebe zu, daß er ohne unsere Hilfe jetzt nicht mehr lebte, was wäre aber ohne ihn, ohne sein Schiff, und die Hilfsquellen, die es birgt, aus uns geworden?

– Nun, Herr Clawbonny, Sie sind ja bei der Hand; Sie werden hoffentlich Alles zum Besten lenken.

– Ich hoffe es wenigstens auch, Johnson.«

Der Marsch ging ohne besondern Zwischenfall weiter; Bärenfleisch gab es ja genug, und so hielt man reichliche Mahlzeiten. Durch des Doctors Scherze und seine liebenswürdige Weltanschauung belebte sogar ein gewisser Humor die kleine Truppe. In seinem wissenschaftlichen Quersack fand er immer Anknüpfungspunkte, aus Dem und Jenem Belehrungen abzuleiten. Seine Gesundheit blieb immer gut; trotz aller Anstrengungen und Entbehrungen war er nicht besonders abgemagert; an der unverwüstlich guten Laune hätten ihn seine Freunde in Liverpool allemal wieder erkannt.

Als der Sonnabend Morgen herankam, änderte sich die Natur der ungeheuern Eiswüste merklich. Uebereinander geworfene Schollen, einzelne häufigere Erhöhungen und Spitzhügel bewiesen, daß das Eisfeld hier unter den Einwirkungen anderer Elementarkräfte stand; offenbar hatte ein unbekanntes Land, vielleicht eine neue Insel, hier das Fahrwasser verengt und dadurch jenes Durcheinander erzeugt. Blöcke von Süßwassereis, die häufiger und größer sich fanden, deuteten auch auf eine nahe Küste.

Sicher existirte in geringer Entfernung noch ungesehenes Land, und der Doctor brannte vor Begierde, die Karten der Umgebungen des Nordpols mit dessen Einzeichnung zu bereichern. Man kann sich wohl vorstellen, welches Vergnügen es gewähren muß, unerforschte Küsten aufzunehmen und mit dem Bleistifte ihre Form und Lage zu fixiren; das war, während Hatteras nur seinen Fuß auf den Pol der Erde setzen wollte, des Doctors Absicht, und mit Freude dachte er schon im Voraus an die Namen, die er den Meeren und Meerengen, den Baien und kleineren Einbuchtungen des neuen Continentes verleihen würde. Sicher würde er in diesem glorreichen Verzeichniß weder seine Gefährten, noch seine Freunde, »Ihre huldreiche Majestät« oder die königliche Familie vergessen, aber auch sich selbst wollte er nicht ganz übergehen, und bereits sah er mit einer gewissen berechtigten Befriedigung auch schon etwa ein »Cap Clawbonny« vor seinem geistigen Auge.

Den ganzen Tag über fesselten ihn derlei Gedanken. Abends wurde das Nachtquartier in gewohnter Weise bereitet, und Alle nach der Reihe thaten ihre Wache, in der letzten Nacht vielleicht, die sie vor der Entdeckung eines neuen Continentes verbrachten.

Am folgenden Tage, dem Sonntage, zogen die Reisenden nach einem tüchtigen Frühstück von Bärentatzen, welche vortrefflich mundeten, weiter nach Norden mit etwas Abweichung nach Westen; zwar wurde der Weg beschwerlicher, doch schritt man rasch vorwärts.

Mit fieberhafter Anspannung beobachtete Altamont von dem Schlitten aus den Horizont. Seine Gefährten waren ebenso die Beute einer unwillkürlichen Unruhe. Die letzten Sonnenbeobachtungen hatten genau eine Breite von 83°35′ und einer Länge von 120°15′ ergeben.

Das war der Punkt, wo das amerikanische Schiff sich finden sollte; die Entscheidung zwischen Leben oder Tod mußte also noch diesen Tag fallen.

Endlich, es war gegen Nachmittags zwei Uhr, brachte Altamont durch einen wiederhallenden Aufschrei die kleine Gesellschaft zum Stillstande. Er hatte sich ganz aufgerichtet, und mit den Fingern nach einer weißen Masse zeigend, die jeder Andere freilich noch mit den benachbarten kleinen Eisbergen verwechselt hätte, rief er laut hinaus:

»Der Porpoise!«

Sechstes Capitel.


Sechstes Capitel.

Der Porpoise.

Der 24. März war der Tag jenes hohen Festes, des Palmsonntags, an dem die Straßen der Dörfer und Städte des südlicheren Europas mit Blumen und Blättern überstreut sind; dann klingen die Glocken durch die Lüfte und die Atmosphäre füllt sich mit köstlichem Wohlgeruch.

Welch‘ trostloses Schweigen herrschte dagegen hier, in diesem verlassenen Lande! Ein scharfer, fast schmerzender Wind fegte darüber hin, aber kein abgefallenes Blatt, kein Grashälmchen wehte er daher.

Und dennoch war dieser Sonntag ein Freudentag für unsere Reisenden, denn endlich hatten sie Ersatz für die ihnen entzogenen Hilfsmittel gefunden, deren Mangel so nahe daran gewesen war, ihnen ein trauriges Ende zu bereiten.

Sie verdoppelten ihre Schritte; die Hunde zogen kräftiger, freudig bellte Duk und bald erreichten sie das amerikanische Schiff.

Der Porpoise war total in Schnee begraben. Man sah an ihm weder Masten, noch Raaen oder Tauwerk. Sein ganzes Takelwerk hatte der Schiffbruch zerstört; zwischen nicht sichtbaren Felsen lag der Rumpf desselben eingezwängt. Durch die Gewalt des Stoßes war das Fahrzeug auf die Seite gelegt und der geöffnete Schiffsraum versprach als Wohnung wenig Behaglichkeit.

Hiervon überzeugten sich der Kapitän, der Doctor und Johnson bald, als sie nicht ohne Mühe in das Innere desselben gedrungen waren; über fünfzehn Fuß Eis waren wegzuschaffen, bevor sie zu den Vorrathsräumen gelangten; zur Freude Aller sah man aber, daß die wilden Thiere, von denen sich zahlreiche Spuren fanden, nicht zu dem ihnen besonders wichtigen Proviant gelangt waren.

»Wenn wir hier nur, sagte Johnson, Feuerung und Lebensmittel genug haben, als Wohnung scheint mir dieser Rumpf nicht besonders tauglich.

– Nun wohl, dann werden wir ein Eishaus bauen, meinte Hatteras, und uns auf diesem Lande so gut als möglich einrichten.

– Gewiß, erwiderte der Doctor, aber nur keine Ueberstürzung. Zur Noth können wir vorläufig immerhin in dem Schiffe wohnen; unterdessen errichten wir ein solides Haus, das uns gegen den Frost und den Angriff wilder Thiere schützt. Ich werde den Architekten abgeben und Sie sollen mich bald bei der Arbeit sehen.

– Ich bezweifle gar nicht Ihr Geschick dazu, Herr Clawbonny, sagte Johnson; doch für jetzt richten wir uns hier nach besten Kräften ein, und könnten eine Umschau halten über das, was noch in dem Schiffe da ist; leider sehe ich weder ein kleineres noch ein größeres Boot, und diese Reste sind in zu schlechtem Zustande, um daraus ein kleines Fahrzeug zu bauen.

– Wer weiß! entgegnete der Doctor, kommt Zeit, kommt Rath! Jetzt handelt es sich aber nicht darum, zu Schiffe zu gehen, sondern eine dauernde Wohnung zu beschaffen. Ich schlage also vor, vorläufig alle anderen Projecte fallen zu lassen, und jedes Ding zu seiner Zeit zu thun.

– Weise gesprochen! bestätigte Hatteras; laßt uns mit dem Nöthigsten anfangen.«

Die drei Gefährten verließen also das Schiff, gingen zum Schlitten und theilten Bell und dem Amerikaner ihre Absichten mit; Bell war gleich bereit, an’s Werk zu gehen; der Amerikaner schüttelte den Kopf, als er hörte, daß mit seinem Schiffe nichts anzufangen sei; da aber weitere Auseinandersetzungen darüber jetzt doch fruchtlos gewesen wären, hielt man sich daran, vorläufig ein Obdach im Porpoise zu suchen und an der Küste eine geräumige Wohnung zu errichten.

Um vier Uhr Nachmittags waren die fünf Reisenden wohl oder übel im Zwischendeck untergebracht. Mittelst Sparren und Bruchstücken von Masten hatte Bell einen nahezu wagerechten Fußboden hergestellt. Die durch den Frost erhärteten Lagertheile wurden hineingeschafft; die Wärme eines Ofens versetzte sie bald wieder in brauchbaren Zustand; Altamont konnte sich, gestützt auf den Doctor, ohne zu große Mühe nach der ihm reservirten Ecke begeben. Als er den Fuß wieder in das eigene Schiff setzte, ließ er einen Laut der Befriedigung vernehmen, der dem Rüstmeister nicht das beste Anzeichen zu sein schien.

»Er fühlt sich zu Hause, sprach der alte Seemann zu sich; und sieht es nicht aus, als ob er uns einlade?«

Den Rest des Tages widmete man der Ruhe; einzelne Windstöße aus Westen deuteten auf einen Umschlag der Witterung; das Thermometer zeigte im Freien sechsundzwanzig Grad (-32° hunderttheilig).

In Summa befand sich der Porpoise über dem Kältepol hinaus und unter einer zwar nördlicheren, aber verhältnißmäßig minder eisigen Breite.

Man schloß den Tag mit einer Mahlzeit aus Bärenfleisch, nebst Zwieback, das sich im untern Schiffsraume vorfand, und einigen Tassen Thee; dann siegte aber die Ermüdung und alle verfielen in tiefen Schlaf.

Am anderen Morgen erwachten alle Schicksalsgenossen erst etwas spät; ihre Gedanken waren in ganz anderen Richtungen beschäftigt; frei von der quälenden Sorge um den anderen Tag, dachten sie nur daran, sich recht wohnlich einzurichten. Diese Schiffbrüchigen fühlten sich fast wie Colonisten, die an ihrem Ziele angelangt sind, und die Leiden der langen Reise vergessend nur die Zukunft sich erträglich zu gestalten suchen.

»Ah, rief der Doctor, die Arme ausstreckend, was ist es doch für ein Genuß, nicht fragen zu müssen, wo man den Abend schlafen, und was man den andern Tag essen werde.

– Wir wollen nur erst das Inventar aufnehmen«, sagte Johnson.

Der Porpoise war für eine sehr lange Fahrt ausgerüstet und mit Lebensmitteln versehen.

Die Inventur ergab an Provisionen Folgendes: sechstausendundhundertfünfzig Pfund Mehl, Fett und Rosinen zu Puddings; zweitausend Pfund eingesalzenes Rind- und Schweinefleisch; fünfzehnhundert Pfund Pemmican; siebenhundert Pfund Zucker und eben so viel Chocolade; anderthalb Kisten Thee, welche sechsundneunzig Pfund wogen; fünfhundert Pfund Reis; mehrere Fässer mit conservirten Früchten und Gemüsen; Citronensaft, Löffelkraut, Sauerampfer und Kresse in Ueberfluß; dreihundert Gallonen Rum und Branntwein; in der Pulverkammer fanden sich große Vorräthe an Pulver, Kugeln und Blei. Holz und Kohlen waren in sehr großer Menge da. Der Doctor musterte sorgfältig die physikalischen und navigatorischen Instrumente, und fand zu seiner besonderen Freude eine starke Bunsen’sche Batterie, die zum Zwecke elektrischer Versuche mitgenommen war.

Kurz, die Vorräthe aller Art reichten für fünf Menschen, bei reichlichen Rationen, gewiß über zwei Jahre lang, so daß alle Furcht, vor Hunger oder Frost umzukommen, verschwand.

»Nun wäre ja unsere Existenz gesichert, sagte der Doctor zum Kapitän, und es hindert uns nichts mehr, bis zum Pole vorzudringen.

– Bis zum Nordpole! erwiderte Hatteras freudig erregt.

– Ohne Zweifel, fügte der Doctor hinzu, was sollte uns hindern, während der Sommermonate dahin eine Expedition zu Lande zu unternehmen?

– Ueber das Land, ja, aber wie über das Meer?

– Läßt sich nicht aus Theilen des Porpoise ein Boot erbauen?

– Eine amerikanische Schaluppe, nicht wahr, erwiderte Hatteras geringschätzig, und von jenem Amerikaner befehligt!«

Der Doctor durchschaute den Grund der Ablehnung des Kapitäns, und hielt es nicht für gerathen, diese Frage jetzt weiter zu erörtern. Er ging also auf ein anderes Thema über.

»Jetzt, da wir wissen, welche Vorräthe uns zur Hand sind, sagte er, würden wir an die Errichtung eines Magazins für diese und einer Wohnung für uns denken müssen. An Material dazu fehlt’s ja nicht, und wir können uns ganz behaglich einrichten. Ich hoffe, Bell, schloß er, zum Zimmermann gewendet, daß Sie sich dabei selbst übertreffen werden; übrigens würde ich Ihnen mit gutem Rath gerne zur Hand gehen.

– Ich bin bereit, Herr Clawbonny, erwiderte Bell, aus den Eisblöcken hier baue ich zur Noth eine ganze Stadt mit Häusern und Straßen …

– Nun, nun, so viel brauchen wir nicht; nehmen wir uns die Agenten der Hudsons-Bai-Compagnie zum Muster: diese bauen sich kleine Forts zum Schutze gegen wilde Thiere und Indianer; das ist auch Alles, was wir bedürfen, verschanzen wir uns, so gut als möglich; auf einer Seite stehe die Wohnung, auf der anderen die Magazine, geschützt durch einen Mittelwall und zwei Bastionen. Ich werde versuchen, hierzu meine ganzen Kenntnisse der Lagerkunst aufzufrischen.

– Meiner Treu, Herr Clawbonny, das weiß ich voraus, daß wir unter Ihrer Leitung etwas Rechtes zu Stande bringen.

– Nun, wohlan, Freunde, so wollen wir denn zunächst die Oertlichkeit dazu auswählen. Ein guter Ingenieur muß vor Allem sein Terrain kennen. Kommen Sie mit, Hatteras?

– Ich verlasse mich ganz auf Sie, Doctor, erwiderte der Kapitän. Wählen Sie aus, während ich einmal die Küste besichtigen werde.«

Da Altamont noch zu schwach war, um sich an irgend einem Vorhaben betheiligen zu können, wurde er auf dem Schiffe zurückgelassen, während die vier Engländer an’s Land gingen.

Das Wetter war stürmisch und dunstig; zu Mittag zeigte das Thermometer elf Grad unter Null (-24° hunderttheilig), aber bei Windstille war die Temperatur ganz erträglich.

Nach der Uferbildung zu urtheilen mußte sich nach Westen hin, über Sehweite hinaus, ein jetzt freilich ganz erstarrtes Meer ausbreiten. Nach Osten war es von einer abgerundeten Küste begrenzt, die, von tiefen Buchten zerrissen, sich zweihundert Yards hoch steil aufthürmte; es bildete demnach eine ungeheure Bai, die von den Felsen umschlossen war, an denen auch der Porpoise scheiterte; weiter landeinwärts erhob sich ein Berg, dessen Höhe der Doctor auf achtzehnhundert Fuß schätzte. Gegen Norden verlief ein Vorgebirge im Meere, das einen beträchtlichen Theil der Bai zu decken schien. Aus der Eisfläche erhob sich auch eine kleinere Insel, oder besser ein Inselchen, etwa drei Meilen von der Küste entfernt, welches, wenn es nicht zu schwierig war, den Eingang zu dieser Rhede zu gewinnen, wohl einen sicheren und geschützten Ankergrund bieten mußte. In einer Einbuchtung des Ufers befand sich sogar noch ein kleiner, für Fahrzeuge scheinbar leicht zugänglicher Hafen, vorausgesetzt, daß die Sommerwärme überhaupt jemals diesen Theil des arktischen Meeres schiffbar zu machen vermochte. Nach den Angaben Belcher’s und Penny’s mußte aber dieses ganze Meer während der Sommermonate frei sein.

Dicht an der Küste entdeckte der Doctor eine Art kreisrunden Plateaus von etwa zweihundert Fuß Durchmesser: es beherrschte die Bai auf drei Seiten; die vierte war durch eine natürliche senkrechte Mauer von hundertzwanzig Fuß Höhe abgeschlossen.

Nur durch Einhauen von Stufen in das Eis war jenes zu ersteigen. Dieser Punkt schien vorzüglich geeignet, dort einen dauerhafteren Bau aufzuführen, da er sich auch leicht befestigen ließ; die erste Hand dazu hatte hier schon die Natur angelegt, und es galt nur, das Gebotene auszunützen.

Der Doctor, Bell und Johnson erstiegen die kleine Höhe, mußten sich aber mit der Axt den Weg durch und über das Eis zuhauen; sie fanden dieselbe völlig eben.

Als der Doctor sich von der Vortrefflichkeit des Ortes überzeugt hatte, beschloß er, die etwa zehn Fuß dicke Lage gefrorenen Schnees, welche ihn überdeckte, davon abzuräumen, denn für die Wohnung und die Magazine bedurfte es eines solideren Baugrundes.

Während des Montags, Dienstags und Mittwochs wurde nun eifrig daran gearbeitet; endlich kam der Urboden zu Tage, der aus feinkörnigem Granit bestand, dessen Kanten eine Glasschärfe aufwiesen; er enthielt ferner Granaten und Feldspathkrystalle eingeschlossen, die unter der Hacke Funken gaben.

Der Doctor bestimmte nun die Größe und den Plan des Eishauses; es sollte vierzig Fuß lang, zwanzig tief und zehn hoch werden. Drei Abtheilungen desselben bildeten ein Wohnzimmer, einen Schlafraum und eine Küche, von denen ersteres in der Mitte, der zweite zur Rechten und die letztere zur Linken gelegen war; mehr Räumlichkeiten brauchten sie ja nicht.

Fünf Tage lang wurden die Arbeiten fortgesetzt. Das nöthige Baumaterial fehlte ja nicht; die Eismauern mußten aber auch dick genug werden, um eintretendem Thauwetter zu widerstehen, denn auch für die Sommerzeit durfte man nicht wohl ohne sicheres Obdach sein.

Je mehr das Gebäude aufwuchs, ein desto netteres Aussehen gewann es; in der Front hatte es vier Fensteröffnungen, zwei für das Wohnzimmer und je eine für die anderen Räume; als Scheiben dienten, so wie es bei den Eskimos Sitte ist, besonders klare Eisschollen, durch welche, wie durch mattes Glas, genügend Licht eindrang.

Vor dem Wohnzimmer und zwischen seinen zwei Fenstern befand sich ein verdeckter Gang, von dem aus man in das Haus gelangte; eine gute Thüre, die man aus der Cabine des Porpoise entnahm, verschloß diesen vollkommen. Als das Gebäude fertig war, freute sich der Doctor selbst darüber; schwierig würde es freilich gewesen sein, zu sagen, welchem Baustyle es angehörte, obgleich der Architekt desselben seine Vorliebe für die in England so verbreitete sächsische Gothik aussprach; hier handelte es sich aber vor Allem um die Dauerhaftigkeit des Baues; der Doctor begnügte sich also, die Façade mit starken Strebepfeilern, gleich den kurzen dicken römischen Pfeilern, zu bekleiden. Oben lehnte sich ein steiles Dach an die Granitwand. Diese diente auch für die Rohre, welche den Ofenrauch ableiten sollten, als Stütze.

Als so der Rohbau vollendet war, ging man an die innere Ausstattung. Die Lagerstätten wurden aus dem Porpoise in den dafür bestimmten Raum rund um einen großen Ofen angebracht. Bänke, Stühle, Fauteuils, Tische, Schränke wurden in das Wohnzimmer gebracht, das auch als Speisezimmer diente. Endlich erhielt die Küche ihre Feuerungseinrichtungen aus dem Fahrzeuge, nebst ihren verschiedenen Geräthschaften. Auf dem Boden ausgebreitete Segel vertraten die Stelle der Teppiche und dienten auch als Portièren vor den inneren Thüröffnungen, die eines anderen Verschlusses entbehrten. Durchschnittlich hatten die Wände eine Stärke von fünf Fuß, so daß die Fensteröffnungen allerdings mehr wie Kanonenluken aussahen.

Alles dies war von größter Dauerhaftigkeit. Was konnte man mehr verlangen? Und wenn man gar immer auf den Doctor gehört hätte, was hätte der nicht Alles aus Eis und Schnee, die auf jede Art und Weise so verwendbar sind, gebaut! Den ganzen Tag ersann er tausend herrliche Projecte, und wenn es ihm auch gar nicht einfiel, diese auszuführen, so würzte er doch die allgemeine Arbeit durch seine geistreichen Einfälle.

Ein Bücherliebhaber, wie er war, hatte er auch Kraft’s so seltenes Werk mit dem Titel: »Genaue Beschreibung des zu Petersburg im Januar 1740 errichteten Eishauses und aller darin befindlichen Gegenstände« gelesen. Die Erinnerung daran reizte seinen erfindungsreichen Geist nur noch mehr. Eines Abends erzählte er selbst seinen Gefährten die Wunder dieses Eisbaues:

»Was man in Petersburg gemacht hat, sollten wir das nicht hier auch können? Was fehlt uns dazu? Nichts, nicht einmal die nöthige Phantasie!

– Das war dort wohl sehr schön? fragte Johnson.

– Das war feenhaft, guter Freund. Das Gebäude, welches auf Befehl der Kaiserin Anna errichtet wurde und in welchem sie im Jahre 1740 die Hochzeit eines ihrer Hofnarren feiern ließ, hatte ungefähr die Größe des unsrigen; vor seiner Front aber lagen sechs Kanonen aus Eis auf ihren Lafetten; mehrmals schoß man mit Kugeln und auch nur mit Pulver daraus, ohne daß sie zersprangen; desgleichen waren Mörser für sechzigpfündige Geschosse ebenso hergestellt; wir könnten uns also zur Noth eine ganze formidable Artillerie errichten; die Bronze für die Läufe ist nicht weit und fällt uns vom Himmel.

Ihren höchsten Triumph aber feierten Geschmack und Kunst an der Stirnwand des Gebäudes, wo Eisstatuen von seltener Schönheit angebracht waren; der Aufgang bot den Blicken Blumenvasen und Orangebäume aus demselben Material; zur Rechten befand sich ein großer Elephant, der Tags über einen Wasserstrahl von sich gab, in der Nacht aber mittelst brennender Naphtha leuchtete. Hei! Was könnten wir uns für eine Menagerie herstellen, wenn wir nur wollten!

– Nun, was Thiere betrifft, warf Johnson ein, so werden uns diese nicht fehlen, und wenn sie auch nicht aus Eis sind, so dürften sie doch nicht minder interessant sein!

– Schön, erwiderte der kriegsmuthige Doctor, wir werden uns gegen ihre Angriffe zu vertheidigen wissen. Um aber auf besagtes Haus in Petersburg zurückzukommen, so will ich noch hinzufügen, daß darin Tische, Toiletten, Spiegel, Armleuchter, Kerzen, Betten, Matratzen, Kopfkissen, Vorhänge, Uhren, Stühle, Spielkarten, Schränke mit vollständigem Geschirr u.s.w. – Alles aus Eis, ciselirt, guillochirt, vom Bildhauer gearbeitet, kurz ein Mobiliar war, an dem absolut Nichts fehlte.

– Das war ja ein leibhaftiger Palast, sagte Bell.

– Ein ebenso prächtiger, als einer Herrscherin würdiger Palast. O, das Eis! Wie war die Vorsehung weise, das zu erfinden, was zu solchen Wundern ebenso geeignet, wie wohlthätig für Schiffbrüchige ist!«

Die Ausstattung des Hauses nahm die Zeit bis zum 31. März in Anspruch; auf diesen Tag fiel das Osterfest, und so ward er der Ruhe gewidmet. Man verbrachte ihn ganz im Salon, in dem auch ein Gottesdienst abgehalten wurde, und Alle hatten Gelegenheit, sich von der schönen Einrichtung des Eishauses zu überzeugen.

Am anderen Tage ging man an die Errichtung der Magazine und einer Pulverkammer; das erforderte wieder eine Woche Arbeit, eingerechnet der für die vollständige Ausladung des Porpoise nöthigen Zeit, welche nicht ganz ohne Schwierigkeiten war, denn die wieder strengere Kälte ließ nicht lange dabei ausdauern.

Endlich, am 8. April, waren Brennmaterial, Provision und Munition auf festem Lande unter Dach und Fach. Die Magazine lagen nördlich, das Pulverhäuschen südlich, mindestens sechzig Fuß vom Hause entfernt. Neben den Magazinen wurde noch eine kleine Hütte erbaut, bestimmt die grönländer Hunde zu beherbergen; der Doctor beehrte diese mit dem Namen: »Doggenpalast«. Duk theilte die allgemeine Wohnung.

Darauf beschäftigte sich der Doctor mit der Wehrbarmachung des Platzes. Unter seiner Leitung wurde die kleine Hochebene mit einer wahren Fortification aus Eis umgürtet, die sie vor jedem Ueberfall sicherte. Ihre Höhe bildete eine natürliche Böschung, und da diese weder vor- noch einspringende Winkel bildete, war sie nach allen Richtungen hin gleich stark. Als der Doctor diese Art der Vertheidigung entwarf, erinnerte er unwillkürlich an den würdigen Onkel Tobias Sterne’s, dessen milde Güte und gleichmäßig gute Laune er auch besaß. Man mußte ihn sehen, wie er den Abhang der inneren Böschung, die Neigungswinkel der Wälle und die Breite des Laufwegs dahin berechnete. Aber mit dem so gefälligen Schnee machte sich die Arbeit so leicht, daß sie ein reines Vergnügen war, und der liebenswürdige Ingenieur vermochte seinen Eismauern eine Dicke von sieben Fuß zu geben. Da das Plateau die Bai beherrschte, brauchte er weder Gegenwall, noch äußere Böschung, noch Glacis anzulegen. Die Brüstung aus Schnee, welche den Umfangslinien des Plateaus folgte, lief bis an die Felsen und schloß sich an die zwei Seiten des Hauses an. Am 15. April waren die Lagerbauten vollendet, das Fort war nun fertig und der Doctor nicht wenig stolz auf sein Werk.

Der befestigte kleine Platz hätte in der That geraume Zeit den Angriffen eines Eskimostammes widerstehen können, wenn solche Feinde sich überhaupt je in so hohen Breiten gezeigt hätten. Die Küste aber zeigte gar nichts von menschlichen Spuren; auch Hatteras sah, als er die Küste aufnahm, niemals Reste von Hütten, wie sie in Gegenden, in welche noch Grönländer kommen, so häufig sind. Die Schiffbrüchigen vom Forward und dem Porpoise schienen die ersten Menschen zu sein, die diesen jungfräulichen Boden betraten.

Wenn aber auch von Menschen nichts zu fürchten war, so blieb das doch zweifelhaft bezüglich der Thiere, und das Fort hatte eben vorzüglich den Zweck, die wenigen Insassen gegen deren Angriffe zu schützen.

Zwanzigstes Capitel.


Zwanzigstes Capitel.

Abdrücke im Schnee.

Der 4. Juli verlief mitten in dichtem Nebel. Die Richtung nach Norden konnte nur mit größter Mühe eingehalten, und mußte jeden Augenblick durch den Compaß verbessert werden. Kein Unfall ereignete sich glücklicher Weise während dieser Finsterniß, nur verlor Bell seine Schneeschuhe, die er an einem Felsenvorsprunge zerbrach.

»Meiner Treu, sagte Johnson, ich glaubte, daß man, wenn man an der Mersey und der Themse bekannt ist, in Hinsicht der Nebel etwas schwer zu befriedigen sei, aber ich sehe, daß ich mich getäuscht habe.

– Nun, sagte Bell, wir sollten Fackeln anzünden, wie in London und Liverpool!

– Warum das nicht? versetzte der Doctor; wirklich, das ist eine Idee! Den Weg würden wir zwar nur wenig heller machen; doch wenigstens den Führer erkennen können, und besser in gerader Richtung vorwärts kommen.

– Aber, meinte Bell, wie sollen wir Fackeln herstellen?

– Durch Werg, welches mit Weingeist getränkt und an das Ende der Stöcke befestigt wird.

– Gut ausgedacht, erwiderte Johnson, und das wird nicht lange Zeit erfordern, um hergerichtet zu sein.«

Eine Viertelstunde später nahm die kleine Gesellschaft bei Fackelschein den Weg durch den feuchten Nebel wieder auf.

Wenn man nun aber auch mehr gerade vorwärts kam, so geschah das doch nicht schneller, und diese dunkeln Dünste zerstreuten sich nicht vor dem 6. Juli; dann, als die Erde wieder kalt geworden war, verscheuchte ein frischer Nordwind den ganzen Nebel, wie Fetzen eines zerrissenen Stoffes.

Der Doctor nahm alsbald die Ortslage, wo sie sich befanden, auf und fand, daß sie während dieser dunstigen Tage nur acht Meilen im Mittel zurückgelegt hatten.

Am 6. beeilte man sich nun, die verlorene Zeit wieder einzuholen, und man brach schon früh am Morgen auf. Altamont und Bell nahmen ihre Stelle als Vortrab wieder ein, sondirten das Terrain und spürten das Wild auf; Duk begleitete sie; das Wetter war in Folge seiner erstaunlichen Veränderlichkeit sehr klar und trocken geworden, und trotzdem, daß die Führer wohl zwei Meilen dem Schlitten voraus waren, entging dem Doctor doch keine einzige ihrer Bewegungen.

Er war daher nicht wenig erstaunt, sie plötzlich innehalten und mit offenbarem Erstaunen stehen bleiben zu sehen; sie schienen neugierig in die Ferne zu sehen, wie Leute, welche nach dem Horizonte ausschauen.

Dann bückten sie sich nieder, prüften aufmerksam den Boden und erhoben sich mit Zeichen des Erstaunens. Bell schien selbst vorwärts gehen zu wollen, aber Altamont hielt ihn zurück.

»Nun, was machen denn diese da? sagte der Doctor zu Johnson.

– Ich mustere sie ebenso, wie Sie, Herr Clawbonny, antwortete der alte Seemann, aber ich verstehe ihre Bewegungen nicht.

– Sie werden Spuren von Thieren gefunden haben, versetzte Hatteras.

– Das kann nicht sein, sagte der Doctor.

– Warum nicht?

– Weil Duk bellen würde.

– Es sind doch wohl Abdrücke im Schnee, die sie betrachten.

– Nun vorwärts nur, sagte Hatteras, so werden wir bald sehen, woran wir sind.«

Johnson trieb die Hunde an, welche hintrabten.

Nach zwanzig Minuten waren die fünf Reisenden beisammen, und Hatteras, der Doctor und Johnson theilten die Verwunderung Altamont’s und Bell’s.

Wirklich zeigten sich auf dem Schnee deutliche, unzweifelhafte Fußspuren von Menschen, und zwar so frisch, als ob sie erst am Tage vorher entstanden wären.

»Das sind Eskimos, meinte Hatteras.

– In der That, antwortete der Doctor, da sind Abdrücke von ihren Schneeschuhen.

– Sie glauben …? sagte Altamont.

– Gewiß.

– Nun, aber dieser Schritt hier? fragte Altamont weiter, auf eine sich mehrfach wiederholende Fußspur zeigend.

– Dieser Schritt?

– Meinen Sie, daß der auch einem Eskimo angehöre?«

Aufmerksam betrachtete ihn der Doctor mit größtem Erstaunen, der Abdruck eines europäischen Schuhes mit Nägeln, der Sohle und dem Absatze war tief in dem Schnee ausgehöhlt; ein Mann, und zwar ein Fremder war hier gegangen.

»Europäer hier! rief Hatteras aus.

– Unleugbar! sagte Johnson.

– Und doch, fügte der Doctor hinzu, ist es so unglaublich, daß man zweimal hinsehen muß, bevor man das behauptet!«

Der Doctor prüfte die Fußtapfen zwei-, dreimal, er mußte aber ihren ganz außergewöhnlichen Ursprung anerkennen.

Der Held Daniel de Foës war gewiß nicht mehr erstaunt, im Sande seiner Insel eingedrückte Fußtapfen zu finden; Jener aber fürchtete sich deshalb, hier ärgerte sich Hatteras nicht wenig darüber. Ein Europäer, so nahe am Pol!

Man ging weiter, um diese Spuren zu deuten; eine Viertelmeile weit wiederholten sie sich, vermischt mit anderen Spuren von Schneeschuhen und Mocassins; dann verliefen sie sich nach Westen zu.

An diesem Punkte angelangt, fragten sich die Reisenden, ob sie jene Spuren noch weiter verfolgen sollten.

»Nein, entschied Hatteras. Vorwärts …!«

Da unterbrach ihn ein Ausruf des Doctors, der aus dem Schnee einen noch überzeugenderen Gegenstand aufhob, über dessen Ursprung kein Zweifel sein konnte. Es war das Objectivglas eines Taschenfernrohres.

»Nun kann man freilich, sagte dieser, die Anwesenheit eines Fremden in diesem Lande nicht mehr in Zweifel ziehen! …

– Vorwärts!« trieb Hatteras.

Er sprach dieses Wort so energisch aus, daß ihm Jeder folgte, und der Schlitten setzte sich nach kurzer Unterbrechung wieder in Bewegung.

Jeder sah gespannt nach dem Horizont, außer Hatteras, den ein stummer Zorn aufregte und der Nichts sehen wollte. Da man aber auf eine Abtheilung Reisender zu stoßen befürchten mußte, galt es, die nöthigen Vorsichtsmaßregeln zu treffen; wahrlich, das hieß doch wirklich ein schlimmes Spiel, sich jetzt auf diesem unbekannten Wege überholt zu sehen. Der Doctor, wenn er auch nicht den Zorn Hatteras‘ theilte, konnte sich doch, trotz seiner natürlichen Philosophie, eines gewissen Verdrusses nicht entschlagen. Altamont schien ebenso unangenehm berührt; Johnson und Bell murmelten drohende Worte zwischen den Zähnen.

»Nun wohlan, sagte endlich der Doctor, wir wollen gute Miene zum bösen Spiele machen.

– Ich muß gestehen, sagte Johnson, ohne von Altamont gehört zu werden, es könnte Einem die ganze Lust zur Reise nach dem Pol nehmen, wenn der Platz schon in Besitz genommen wäre.

– Und doch, erwiderte Bell, ist daran fast gar nicht zu zweifeln.

– Nein, meinte der Doctor, wenn ich das Abenteuer noch einmal überlege, und mir immerhin sage, daß es unglaublich, daß es unmöglich ist, – wir müssen uns doch darein ergeben! Jener Schuh hat sich eben nicht in den Schnee eingedrückt, ohne an einem Beine zu sitzen, und ohne daß dieses Bein einem menschlichen Körper angehörte. Wären hier Eskimos, ich ließe es noch hingehen, aber ein Europäer!

– Die Sache ist die, sagte Johnson, daß es sehr ärgerlich wäre, in der Herberge am Ende der Welt die Wohnung bereits in Besitz genommen zu finden.

– Gewiß, höchst ärgerlich, erwiderte Altamont.

– Nun, wir werden das ja am Ende sehen«, sagte der Doctor.

Man machte sich wieder auf den Weg.

Der Tag verlief, ohne daß ein neues Zeichen die Anwesenheit von Fremden in Neu-Amerika verrathen hätte, und man richtete sich endlich Abends zum Lagern ein.

Von Norden her hatte sich ein heftiger Wind erhoben, so daß für das Zelt ein geschützter Standort in einem Hohlwege gesucht werden mußte; drohend sah der Himmel aus; lang gezogene Wolken jagten schnell durch die Luft; fast streiften sie den Boden, und das Auge hatte Mühe, ihrem wirren Laufe zu folgen; manchmal hingen Fetzen dieser Nebelmassen wirklich bis zur Erde, und nur schwierig widerstand das Zelt dem tobenden Orkan.

»Das wird eine abscheuliche Nacht werden, sagte Johnson nach dem Abendessen.

– Nicht kalt, aber geräuschvoll, erwiderte der Doctor, wir wollen auch vorsichtig sein und das Zelt durch große Steine sichern.

– Sie haben Recht, Herr Clawbonny; wenn der Sturm unsere schützende Leinwand entführte, weiß es Gott nur, wo wir sie wieder antreffen würden.«

Die sorgsamsten Vorsichtsmaßregeln wurden also getroffen, um diese Gefahr zu vermeiden, und dann versuchten die müden Wanderer zu schlafen.

Aber das war unmöglich; der Sturm hatte sich entfesselt und blies mit unglaublicher Heftigkeit von Norden nach Süden; die Wolken zerstreuten sich in der Luft, wie etwa die Dämpfe aus einem explodirten Dampfkessel. Unter den Stößen des Orkanes prasselten die letzten Lawinen nieder in die Hohlwege, und das Echo gab seinen dumpfen Wiederhall zurück; die Atmosphäre schien der Schauplatz eines entsetzlichen Kampfes zwischen Luft und Wasser zu sein, zwei Elemente, welche jedes allein furchtbar genug sind, und nur das Feuer fehlte noch bei dem Kampfe.

Das überreizte Ohr vernahm zwischen dem allgemeinen dumpfen Getöse noch eigenthümliche Töne; nicht das Gepolter herunterstürzender schwerer Massen, sondern mehr den hellen Laut zerbrechender Körper. Man hörte deutlich das kurze und glatte Zerbrechen, wie von zerspringendem Stahl, mitten durch das lange Rollen in Begleitung des Sturmes.

Das Letztere fand seine natürliche Erklärung in den durch den Wirbelsturm hervorgerufenen Lawinenstürzen; das andere Geräusch aber wußte der Doctor zunächst nicht zu deuten.

In den Augenblicken beängstigenden Schweigens, in denen der Orkan nur Athem zu schöpfen schien, um desto heftiger zu wüthen, tauschten die Reisenden ihre Vermuthungen aus.

»Man hört die Stöße, sagte der Doctor, als ob Eisberge und Eisfelder gegeneinander stießen.

– Ja, bestätigte Altamont, es ist als ob die ganze Erdkruste ihre Lage veränderte. Geben Sie Acht! Hören Sie es?

– Wenn wir nahe dem Meere wären, fuhr der Doctor fort, so würde ich wirklich an einen Eisaufbruch denken.

– Wirklich, sagte Johnson, der Lärmen ist gar nicht anders zu deuten.

– Demnach wären wir also an der Küste angelangt? fragte Hatteras.

– Das wäre nicht unmöglich, antwortete der Doctor; hören Sie da, fuhr er nach einem furchtbaren Krachen, das eben auftrat, fort, sollte man das nicht für das Bersten von Eisschollen halten? Wir dürften wohl dem Ocean nahe sein.

– Wenn dem so ist, fiel Hatteras ein, würde ich keinen Augenblick zögern, über die Eisfelder vorwärts zu dringen.

– O, sagte der Doctor, die dürften denn doch wohl bei einem derartigen Sturme gesprengt sein. Wir werden morgen darüber Gewißheit haben; doch wie es auch sei, ich bedauere alle Diejenigen, welche in einer solchen Nacht zu reisen gezwungen sind, von ganzem Herzen.«

Zehn Stunden dauerte der Orkan ohne Unterbrechung fort, und Keiner der Inwohner des Zeltes konnte nur einen Augenblick schlafen; die Nacht verging in fortwährender Unruhe.

Jeder neue Unfall, ein Sturm, eine Lawine konnte unter den gegebenen Verhältnissen wichtige Verzögerungen herbeiführen; gern wäre der Doctor einmal hinausgegangen, um sich von dem Stande der Sachen zu überzeugen, aber sollte er sich bei diesem fessellosen Winde einer Gefahr aussetzen?

Mit den ersten Tagesstunden legte sich glücklicher Weise der Wind; endlich konnte man das Zelt, welches tüchtig ausgehalten hatte, verlassen; der Doctor, Hatteras und Johnson wendeten sich nach einem etwa dreihundert Fuß hohen Hügel, den sie leicht erstiegen.

Ihre Blicke schweiften über ein gänzlich verändertes Land, das aus bloßliegenden Felsen und scharfen Spitzen bestand, aber gänzlich frei von Eis und Schnee war.

Der Sommer folgte hier ohne Uebergangszeit dem von dem Sturme verjagten Winter; der Schnee, welcher durch den Orkan wie mit einer scharfen Klinge weggefegt war, hatte zum Schmelzen keine Zeit gehabt, und der Boden erschien in seiner ganzen ursprünglichen Rauhheit.

Wohin sich aber Hatteras‘ Blicke fast gierig wendeten, das war der Norden. Der Horizont erschien dort in schwärzlichen Dünsten gehüllt.

»Dort, das könnte durch den Ocean hervorgebracht sein, sagte der Doctor.

– Sie haben Recht, bemerkte Hatteras, dort muß das Meer sein.

– Das ist die Farbe, welche wir den ‚Blinck‘ (Schimmer) des offenen Wassers nennen, erwähnte Johnson.

– Genau diese, versetzte der Doctor.

– Nun denn, zum Schlitten, rief Hatteras, marschiren wir nach dem neuen Ocean!

– Das ist ja herzerfreuend, sagte Clawbonny zum Kapitän.

– Ja, ganz gewiß, erwiderte dieser mit Enthusiasmus. In Kurzem werden wir den Pol erreicht haben! Und Sie, mein guter Doctor, macht Sie diese Aussicht nicht auch etwas glücklich?

– Ich, ich bin immer glücklich, und vor Allem über das Glück Anderer.«

Die drei Engländer kehrten zu dem Hohlwege zurück, und man hob, nachdem der Schlitten in Stand war, das Lager auf; der Weg wurde fortgesetzt; noch fürchtete Jeder, die Spuren vom gestrigen Tage wiederzufinden; aber auf dem ganzen weiteren Wege fanden sich weder Fußtapfen von einem Ausländer, noch solche von Eingeborenen auf dem Boden. Drei Stunden später gelangte man an die Küste.

»Das Meer! das Meer! riefen Alle einstimmig.

– Und das eisfreie Meer!« setzte der Kapitän hinzu.

Es war um zehn Uhr Morgens.

Wirklich hatte der Orkan in dem polaren Bassin rein ausgefegt; nach allen Richtungen verschwanden die zerbrochenen Schollen. Die größten, welche Eisberge bildeten, »lichteten eben die Anker«, wie die Seeleute sagen, und schwammen im offenen Meere. Das Eisfeld war dem heftigen Anprall des Windes ausgesetzt gewesen; ein Hagel von spitzen Eiszapfen und eisigem Staube überdeckte die benachbarten Felsen. Das wenige Eis, welches noch an der Uferwand haftete, erschien morsch; an den der Brandung ausgesetzten Vorsprüngen hingen lange Seealgen und Büschel von entfärbtem Tang.

Der Ocean erstreckte sich über Sehweite hinaus, ohne daß eine Insel oder ein neues Land den Gesichtskreis beschränkte. Im Osten und im Westen bildete die Küste zwei Vorsprünge, die sich in sanfter Abdachung in den Wellen verloren; das Meer brach sich an ihrer Spitze, und ein feiner Schaum wurde gleich weißen Tüchern von den Flügeln des Windes fortgeführt; der Boden Neu-Amerikas verschwand also in dem Polarmeer, ohne Zuckung, ruhig und sanft abfallend; er rundete sich zu einer weit offenen Bai ab und bildete eine von den beiden Vorgebirgen begrenzte offene Rhede. Im Mittelpunkte bildete ein vorspringender Felsen einen natürlichen nach drei Richtungen hin geschützten Hafen, der mit der breiten Rinne eines Baches sich in das Land hinein fortsetzte; der gewöhnliche Weg des Schneewassers nach dem Winter und jetzt ein reißender Sturzbach.

Nachdem Hatteras sich bezüglich der Küstenbildung unterrichtet hatte, beschloß er, noch denselben Tag die Weiterfahrt vorzubereiten, nämlich die Schaluppe auf’s Meer zu setzen, den Schlitten zu entladen und diesen selbst zu späteren Ausflügen einzuschiffen.

Das erforderte wohl den Rest des Tages; das Zelt wurde also aufgeschlagen und nach einer kräftigenden Mahlzeit begannen die Arbeiten; während dieser Zeit holte der Doctor die Meßinstrumente, um die hydrographische Lage eines Theils der Bai zu bestimmen.

Hatteras beeilte die Arbeit; er trieb zur Abreise; er wollte schon das feste Land verlassen und einen Vorsprung gewonnen haben, für den Fall, daß eine andere Gesellschaft an das Meer käme.

Um fünf Uhr Abends konnten Johnson und Bell die Arme in den Schoß legen. Graziös wiegte sich die Schaluppe in dem kleinen Hafen; ihr Mast war aufgerichtet, der Klüverbaum niedergeholt, und das Focksegel hing an den Leinen; die Nahrungsmittel und die auseinander genommenen Theile des Schlittens waren darin untergebracht; nur das Zelt und einige Lagergeräthe waren am andern Tage einzuschiffen.

Bei seiner Rückkehr fand der Doctor diese Zurüstungen beendigt. Als er die Schaluppe ruhig, vor dem Winde geschützt, erblickte, kam ihm der Gedanke, den kleinen Hafen zu benennen, und er schlug für ihn den Namen Altamont’s vor.

Das erregte keine Schwierigkeiten, da es Jeder ganz gerechtfertigt fand.

Der Hafen wurde folglich »Altamont-Harbour« genannt.

Nach den Berechnungen des Doctors lag er 87°5′ nördlicher Breite und 118°35′ östlicher Länge von Greenwich, d. h. also nicht mehr drei Grade vom Pol entfernt. Von der Bai Victoria bis nach Altamont’s Hafen hatten die Reisenden zweihundert Meilen zurückgelegt.