IX.


IX.

Am 19. October. – Jetzt wird mir Alles klar, das gegenseitige Zuzischeln der Matrosen, ihr unruhiges Aussehen, die Worte Owen’s, das Begießen des Verdecks, das man in fortwährend angefeuchtetem Zustande zu erhalten trachtet, und ebenso die Wärme, welche sich in den Wohnräumen entwickelt und nach und nach unerträglich wird. Die Passagiere haben davon gelitten, ebenso wie ich, und vermögen sich diese abnorme Temperatur gar nicht zu erklären.

Nachdem er mir diese sehr ernste Mittheilung gemacht, versinkt Robert Kurtis wieder in Stillschweigen.

Er scheint meine Frage zu erwarten, doch gestehe ich, daß mich zunächst ein kalter Schauer vom Kopf bis zu den Füßen überlief. Von allen Unfällen, die eine Seefahrt nur treffen können, ist jener der furchtbarste, und kein Mensch, er sei noch so kaltblütig, wird ohne ein leises Erzittern die Worte hören können: »Es ist Feuer an Bord!« Indessen gewinne ich die Herrschaft über mich selbst, und meine erste Frage lautet:

»Seit wann besteht diese Feuersbrunst?

– Seit sechs Tagen!

– Seit sechs Tagen! rufe ich. Es war also in jener Nacht …?

– Ja, erwiderte mir Robert Kurtis, seit der Nacht, während der die sonderbare Aufregung auf dem Verdeck des Chancellor herrschte. Die wachthabenden Matrosen hatten einen leichten Rauch bemerkt, der aus den Fugen am Deckel der großen Luke quoll. Der Kapitän und ich waren sofort bei der Hand. Kein Zweifel! Die Waaren im Kielraum hatten Feuer gefangen, und es gab keinen Weg, nach dem Herde der Entzündung zu gelangen. Wir haben gethan, was unter solchen Verhältnissen nur allein möglich ist, d. h. wir haben die Luken, so dicht als es irgend anging, verschlossen, um jeden Zutritt der Luft nach dem Innern des Fahrzeugs abzuhalten. Ich hoffte, wir würden dadurch im Stande sein, die Feuersbrunst im Entstehen zu ersticken, und die ersten Tage glaubte ich wirklich, wir waren ihrer Herr geworden. Seit drei Tagen steht es aber fest, daß das Feuer Fortschritte macht. Die Hitze unter unseren Füßen nimmt zu, und ohne die Vorsichtsmaßregel, das Verdeck immer in feuchtem Zustande zu erhalten, wäre es hier nicht zum Aushalten. Alles in Allem, Mr. Kazallon, ist es mir lieber, daß Sie von dem Stande der Dinge unterrichtet sind, deshalb sage ich Ihnen das.«

Schweigend lausche ich dem Berichte des zweiten Officiers. Ich durchschaue den ganzen Ernst der Situation gegenüber einer Feuersbrunst, die von Tag zu Tag mehr Ausbreitung gewinnt und welche zuletzt vielleicht keine menschliche Macht mehr zu dämpfen vermag.

»Ist Ihnen die Entstehung des Feuers bekannt? frage ich.

– Sehr wahrscheinlich ist sie in einer Selbstentzündung der Baumwolle zu suchen.

– Kommt eine solche häufig vor?

– Häufig? Nein! Aber dann und wann; denn wenn die Baumwolle zur Zeit der Einschiffung nicht vollkommen trocken ist, kann sie unter den Verhältnissen, in denen sie sich später befindet, d. h. bei der feuchten Luft eines Kielraumes, der nur sehr unzulänglich zu lüften ist, sich ganz von selbst entzünden. In mir steht die Ueberzeugung fest, daß die Feuersbrunst an Bord keine andere Ursache hat.

– Doch die Ursache fällt für uns jetzt nicht in’s Gewicht. Ist etwas dagegen zu thun, Mr. Kurtis?

– Nein, Mr. Kazallon, antwortet mir Robert Kurtis; doch wiederhole ich Ihnen, daß wir alle für den gegebenen Fall gebotenen Vorsichtsmaßregeln ergriffen haben. Ich hatte daran gedacht, das Schiff in der Wasserlinie an einer Stelle zu öffnen, um eine gewisse Menge Wasser einströmen zu lassen, welches die Pumpen später leicht herausgeschafft hätten; da wir aber zu der Ueberzeugung kamen, daß das Feuer jedenfalls in der Mitte des Cargo entstanden ist, hätten wir den ganzen Kielraum unter Wasser setzen müssen, um jenes zu erreichen. Inzwischen habe ich an mehreren Stellen des Verdecks kleine Oeffnungen anbringen lassen, durch welche während der Nacht Wasser eingegossen wird, doch erweist sich das als unzureichend. Nein, es ist wirklich nur ein Weg offen, – derselbe, welchen man in solchen Fällen immer einschlägt, das Feuer zu ersticken, indem man ihm jeden Luftzutritt von Außen abschneidet und dadurch den die Verbrennung unterhaltenden Sauerstoff raubt.

– Und das Feuer ist trotzdem im Wachsen?

– Ja, und das liefert den Beweis für das Eindringen von Luft in den Schiffsraum durch eine Oeffnung, die wir trotz alles Nachsuchens nicht zu entdecken im Stande sind.

– Hat man Beispiele dafür, Mr. Kurtis, daß Schiffe unter solchen Verhältnissen ausgehalten haben?

– O gewiß, Mr. Kazallon; es kommt gar nicht so sehr selten vor, daß mit Baumwolle befrachtete Schiffe in Liverpool oder Havre mit zum Theil verzehrtem Cargo anlangten. In diesen Fällen hatte man freilich das Feuer zu löschen, mindestens in Schranken zu halten vermocht. Mir ist mehr als ein Kapitän bekannt, der so, mit dem Feuer unter den Füßen, in den Hafen eingelaufen ist. Dann mußte natürlich eiligst die Ladung gelöscht werden, wodurch mit dem unversehrten Theile derselben auch das Schiff gerettet wurde. Bei uns liegen die Dinge leider schlimmer, und ich verhehle mir nicht, daß das Feuer, anstatt beschränkt zu werden, täglich weitere Fortschritte macht. Nothwendiger Weise existirt irgend eine Oeffnung, die sich unserem Nachsuchen entzieht und welche durch Zuführung frischer Luft den Brand ernährt.

– Erschiene es da nicht angezeigt, umzukehren, und sobald als möglich Land zu erreichen zu suchen?

– Vielleicht, entgegnet mir Robert Kurtis; das ist eine Frage, welche der Lieutenant, der Hochbootsmann und ich noch heute mit dem Kapitän besprechen wollen; doch ich gestehe, ich sage das Ihnen, Mr. Kazallon, daß ich es schon auf mich genommen habe, den bis jetzt gesteuerten Cours zu ändern; wir haben jetzt den Wind im Rücken und fahren nach Südwesten, d. h. nach der Küste zu.

– Die Passagiere wissen nichts von der ihnen drohenden Gefahr? frage ich den zweiten Officier.

– Nichts, und ich bitte Sie auch um Stillschweigen über die Ihnen gewordenen Mittheilungen. Es ist unnöthig, durch den Schrecken der Frauen und vielleicht kleinmüthiger Männer unsere Verlegenheiten zu vermehren. Auch die Mannschaft hat Befehl, nicht darüber zu sprechen.«

Mir leuchten die gewichtigen Gründe des Mannes, also zu sprechen, ein, und ich versichere ihn meiner unbedingtesten Verschwiegenheit.

X.


X.

Am 20. und 21. Oktober. – Unter diesen Umständen setzt der Chancellor seine Fahrt mit so vielen Segeln fort, als seine Masten tragen können. Manchmal beugen sich seine Obermasten so, als ob sie brechen sollten, aber Robert Kurtis wacht aufmerksam. Er bleibt immer neben dem Steuerrade, da der Mann daselbst nicht sich allein überlassen sein soll. Durch kleine geschickte Schwenkungen giebt er der Brise nach, wenn die Sicherheit des Fahrzeugs compromittirt sein könnte, und so weit, als es möglich ist, verliert der Chancellor unter der Hand, die ihn regiert, nichts an seiner Schnelligkeit.

Heute, am 20. October, sind alle Passagiere auf das Oberdeck gekommen. Sie haben offenbar die abnorme Temperaturerhöhung im Innern bemerken müssen; da sie indeß die Wahrheit nicht ahnen, so verursacht ihnen dieselbe keinerlei Unruhe. Da sie Alle starkes Schuhwerk tragen, so haben sie auch die Wärme, welche trotz der Begießung mit Wasser durch das Verdeck dringt, nicht gefühlt. Die fortwährende Thätigkeit der Pumpen hätte zwar ihre Aufmerksamkeit erregen sollen; doch nein, meist strecken sie sich auf die Bänke aus und lassen sich vollkommen ruhig von dem Rollen des Schiffes wiegen.

Mr. Letourneur allein scheint erstaunt, daß sich die Mannschaft einer auf Kauffahrtei-Schiffen ganz ungewohnten Reinlichkeit befleißigt. Er spricht darüber einige Worte zu mir, und ich antworte ihm in gleichgiltigem Tone. Dieser Franzose ist übrigens ein energischer Mann, ihm könnte ich wohl Alles mittheilen; ich habe Robert Kurtis jedoch versprochen zu schweigen, also schweige ich.

Wenn ich mir aber die möglichen Folgen der bevorstehenden Katastrophe vergegenwärtige, dann steht mir das Herz fast still. Achtundzwanzig Personen sind wir an Bord, vielleicht ebenso viele Opfer, denen die Flammen keine rettende Planke übrig lassen werden!

Heute hat die Conferenz zwischen dem Kapitän, dem zweiten Officier, dem Lieutenant und dem Hochbootsmann stattgefunden. Kapitän Huntly ist, wie vorauszusehen war, ganz gebrochen. Er hat weder kaltes Blut, noch Energie, und überläßt das Commando des Schiffes an Robert Kurtis. Die Fortschritte der Feuersbrunst im Innern sind nun unbestreitbar, und schon kann man in dem am Vordertheile gelegenen Mannschaftsraum kaum noch verweilen. Offenbar ist man nicht im Stande, das Feuer zu beschränken, und früher oder später muß es zum Ausbruch kommen.

Was wird nun zu thun sein? Es giebt nur ein Mittel: So bald als möglich das Land erreichen! Das nächstgelegene Land ist den Beobachtungen nach die Inselgruppe der kleinen Antillen, und kann man wohl hoffen, bei fortdauerndem Nordostwinde schnell dahin zu gelangen.

Da man sich in dieser Ansicht geeinigt hat, so will der zweite Officier die schon seit vierundzwanzig Stunden eingeschlagene Richtung weiter beibehalten. Die Passagiere, denen auf dem unendlichen Oceane jeder Anhaltepunkt fehlt, und die mit den Compaßangaben sehr wenig vertraut sind, haben die Aenderung in der Richtung des Chancellor nicht wahrnehmen können, der jetzt mit dem ganzen Segelwerk die Antillen zu gewinnen sucht, von denen er noch gegen 600 Meilen entfernt ist.

Auf eine von Mr. Letourneur an ihn hierüber gerichtete Frage antwortet Robert Kurtis, daß er, da man gegen den Wind nicht aufzukommen vermöge, im Westen günstige Strömungen aufzusuchen beabsichtige.

Es bildet das die einzige Bemerkung, welche die dem Chancellor ertheilte andere Richtung hervorgerufen hat.

Am anderen Tage, am 21. October, hat sich in unserer Lage nichts geändert. In den Augen der Passagiere geht die Fahrt unter den gewöhnlichen Umständen von Statten, und die Lebensweise an Bord erleidet keinerlei Abweichung. Uebrigens verrathen sich die Fortschritte des Feuers äußerlich noch auf keine Weise, und das ist ein gutes Zeichen. Alle Oeffnungen sind so hermetisch verschlossen, daß kein Rauch den Brand im Innern bemerken läßt. Vielleicht wird es doch noch möglich, das Feuer auf den Kielraum zu beschränken, und vielleicht verlöscht es gar noch ganz oder glimmt nur langsam fort, ohne die ganze Ladung zu ergreifen. Hierauf gründet Robert Kurtis seine Hoffnung und hat aus übermäßiger Vorsicht sogar die Oeffnungen der Pumpen verstopfen lassen, deren im Kielraum mündendes Rohr einige Lufttheilchen eintreten lassen konnte.

Möge uns der Himmel zu Hilfe kommen, denn wir sind nicht im Stande, selbst etwas Weiteres für uns zu thun!

Dieser Tag wäre ohne weitere Ereignisse vergangen, wenn der Zufall mich nicht zum Hörer weniger Worte eines Gesprächs gemacht hätte, aus welchen hervorgeht, daß unsere ohnehin sehr ernste Lage jetzt wahrhaft schrecklich wurde.

Man urtheile selbst.

Ich saß auf dem Oberdeck; zwei der Passagiere plauderten mit leiser Stimme, ohne zu ahnen, daß es mir dort verständlich sein könnte. Diese beiden Passagiere waren der Ingenieur Falsten und der Kaufmann Ruby, welche sich Beide öfter mit einander unterhalten.

Meine Aufmerksamkeit wird erst durch einige ausdrucksvolle Gesten des Ingenieurs erregt, der seinem Vis-à-Vis lebhafte Vorwürfe zu machen scheint. Ich kann nicht umhin, zu lauschen, und höre denn dabei Folgendes:

»Aber das ist ein Wahnsinn! wiederholt Falsten, wie können Sie so unklug sein!

– Bah, antwortet Ruby ganz sorglos, es wird ja nichts geschehen!

– Im Gegentheil, es kann das schlimmste Unheil geschehen! versetzte der Ingenieur.

– Gut, gut, erwiderte der Kaufmann, es ist nicht das erste Mal, daß ich mit dem Zeuge umgehe.

– Ein Stoß genügt aber schon, eine Explosion hervorzurufen.

– Das Gefäß ist sorgfältig verpackt, Mr. Falsten. und ich wiederhole Ihnen, daß Nichts zu fürchten ist.

– Weshalb haben Sie den Kapitän nicht davon unterrichtet?

– Ei, weil er mein Colli dann nicht mitgenommen hätte.«

Der Wind hat sich seit einigen Augenblicken gelegt und trägt mir die Worte nicht mehr zu; offenbar leistet aber der Ingenieur noch immer Widerstand, während Ruby sich begnügt, mit den Achseln zu zucken.

Jetzt, jetzt dringen auf’s Neue einzelne Worte an mein Ohr.

»Doch, doch, sagte Falsten, der Kapitän muß davon erfahren. Das Colli muß in’s Meer geworfen werden; ich verspüre keine Lust, mich in die Luft sprengen zu lassen!«

In die Luft sprengen! Ich erhebe mich rasch bei diesen Worten. Was will der Ingenieur damit sagen? Worauf spielt er an? Er kennt ja die Situation des Chancellor nicht und weiß nicht, daß eine Feuersbrunst seine Fracht verzehrt!

Aber ein Wort, – ein »furchtbares« unter den thatsächlichen Verhältnissen, jagt mich auf. Und dieses Wort »Natron-Pikrat« kommt mehrmals vor.

Im Augenblick bin ich neben den beiden Männern und unwillkürlich fasse ich mit unwiderstehlicher Gewalt Ruby beim Kragen.

»Es ist Pikrat an Bord?

– Ja, antwortet Falsten, ein Colli mit etwa dreißig Pfund.

– Und wo?

– Im Raum, bei der Schiffsfracht!«

VII.


VII.

Am 14. October. – Endlich hat der Chancellor das Vegetabilienmeer verlassen und die Gewalt des Windes sich vermindert, und wir kommen mit zwei gerefften Marssegeln rasch vorwärts.

Heute wurde die Sonne wieder sichtbar und leuchtet jetzt mit hohem Glanze. Es fängt allmälig an sehr warm zu werden. Die Aufnahmen betreffs der Ortsbestimmung ergeben 21° 33′ nördlicher Breite und 50° 17′ westlicher Länge. Der Chancellor ist also um mehr als zehn Breitengrade nach Süden gesegelt.

Noch immer hält er den südöstlichen Cours!

Ich habe mir über dieses unbegreifliche Verfahren des Kapitän Huntly Aufschluß zu verschaffen gesucht und mehrere Male mit dem Befehlshaber gesprochen. Hat er seinen klaren Verstand oder hat er ihn nicht? Ich weiß es noch nicht. Im Allgemeinen spricht er vernünftig. Steht er unter dem Einflusse einer partiellen Verrücktheit, einer Geistesabwesenheit, welche sich gerade bezüglich seines Geschäftes äußert? Derartige Fälle wurden schon wiederholt beobachtet. Robert Kurtis, mit dem ich davon spreche, hört mir nur sehr kühl zu. Der zweite Officier wiederholt seine frühere Aussage, daß er nicht das Recht habe, seinen Kapitän abzusetzen, so lange nicht durch einen wohl constatirten Act des Wahnsinns der Verlust des Schiffes drohe. Die Verantwortlichkeit für jenen angedeuteten Schritt ist eine sehr ernste.

Gegen acht Uhr Abends bin ich in meine Cabine zurückgekehrt, habe bei dem Lichte meiner Schwebelampe noch eine Stunde gelesen und meinen Gedanken nachgehangen, dann aber mich niedergelegt und bin bald eingeschlafen.

Einige Stunden später durch ein ungewohntes Geräusch erweckt, höre ich schwere Tritte und lautes Gespräch auf dem Verdeck. Die Mannschaft scheint eiligst hin und her zu laufen. Was mag der Grund dieser außergewöhnlichen Bewegung sein? Wahrscheinlich eine Veränderung der Segelstellung behufs Aenderung des Schiffscourses … Doch nein, das ist’s wahrscheinlich nicht, denn noch immer neigt sich das Schiff nach der Steuerbordseite und folglich ist seine Richtung nicht verändert worden. Die Bewegungen des Chancellor sind jetzt keine heftigeren, es stürmt also nicht.

Am folgenden Morgen des 14. begebe ich mich schon um sechs Uhr auf Deck und betrachte das Fahrzeug. An Bord ist scheinbar nichts geändert. Wir segeln unter Backbordhalsen mit den unteren Mars- und Focksegeln. Der Chancellor hält sich prächtig auf dem von der frischen Brise etwas bewegten Meere. Seine Schnelligkeit ist beträchtlich und kann jetzt nicht unter elf Meilen (Seemeilen, 4 = 1 geographische Meile) betragen.

Bald erscheinen auch die beiden Herren Letourneur auf dem Verdeck, ich helfe dem jungen Manne heraufsteigen. Mit großem Wohlbehagen schlürft André die belebende Morgenluft.

Ich frage die Herren, ob sie diese Nacht nicht durch ein Geräusch erweckt worden seien, das eine gewisse Bewegung an Bord verrathen habe.

»Ich für meinen Theil nicht, antwortet André Letourneur, ich habe in einem fort geschlafen.«

– Du schliefst ganz ruhig, liebes Kind, sagte Herr Letourneur, ich bin jedoch auch durch das Geräusch, von dem Mr. Kazallon spricht, munter gemacht worden. Ich glaubte die Worte zu vernehmen: »Schnell! Schnell! Nach den Luken! Nach den Luken!«

– Um wieviel Uhr war das wohl? fragte ich.

– Etwa um drei Uhr Morgens.

– Und die Ursache dieses Geräusches ist Ihnen unbekannt geblieben?

– Vollkommen, Mr. Kazallon, sie kann aber nur unbedeutend gewesen sein, da Niemand von uns nach dem Verdeck gerufen worden ist.«

Ich fasse die Luken, welche vor und hinter dem großen Maste angebracht sind und nach dem Kielraume hinabführen, in’s Auge, Wie gewöhnlich sind sie geschlossen, doch fällt es mir auf, daß sie sorgsam mit Pfortsegeln überdeckt erscheinen, als habe man sie möglichst hermetisch verschließen wollen. Warum ist das geschehen? Hier liegt Etwas zu Grunde, das ich mir nicht zu erklären vermag. Robert Kurtis wird mir ohne Zweifel darüber Aufschluß geben. Ich warte also, bis der zweite Officier an die Wache kommt und halte meine eigenen Gedanken zunächst zurück, da es mir besser scheint, sie den Herren Letourneur jetzt nicht mitzutheilen.

Der Tag verspricht schön zu werden, die Sonne ist prächtig und fast ganz dunstfrei aufgegangen. Ein gutes Vorzeichen. Noch sieht man über dem westlichen Horizonte die Sichel des Mondes, der vor zehn Uhr siebenundfünfzig Minuten nicht untergehen wird. In drei Tagen werden wir letztes Viertel und am 24. Neumond haben. Ich schlage in meinem Kalender nach und sehe, daß an demselben Tage eine starke Springfluth sein muß. Bei unserer Fahrt auf dem offenen Meere können wir freilich nichts davon wahrnehmen, an den Küsten aller Continente und Inseln aber wird das Phänomen merkwürdig zu beobachten sein, denn der Neumond muß die Wassermassen zu außergewöhnlicher Höhe emporheben.

Ich bin jetzt auf dem Oberdeck allein. Die Herren Letourneur sind zum Thee wieder hinab gegangen, und ich erwarte den zweiten Officier.

Um acht Uhr beginnt die Wache Robert Kurtis‘, der den Lieutenant Walter ablöst, und ich gehe diesem mit einem Händedrucke entgegen.

Noch ehe er mir guten Tag sagt, läßt Robert Kurtis seinen Blick über das Verdeck schweifen, und seine Augenbrauen ziehen sich leicht zusammen. Dann beobachtet er den Zustand des Himmels und die Takelage, um sich hierauf dem Lieutenant Walter zu nähern.

»Der Kapitän? fragte er.

– Ich sah ihn heute noch nicht.

– Nichts Neues?

– Nichts.«

Dann unterhalten sich Robert Kurtis und Lieutenant Walter einige Augenblicke mit leiser Stimme. Auf eine an ihn gerichtete Frage antwortet Walter mit einem verneinenden Zeichen.

»Schicken Sie mir den Hochbootsmann herauf. Walter«, ruft der zweite Officier dem abgelösten Lieutenant nach.

Bald erscheint der Gerufene und Robert Kurtis stellt einige Fragen an ihn, auf welche dieser mit leiser Stimme, aber mit Achselzucken antwortet. Auf den Wink des zweiten Officiers läßt der Hochbootsmann durch die Deckwache die Pfortsegel über der großen Luke neu begießen.

Einige Augenblicke später nähere ich mich Robert Kurtis, und unser Gespräch dreht sich zunächst um unwichtige Dinge. Da es mir scheint, als wolle der zweite Officier nicht selbst auf den Gegenstand meines lebhaften Interesses eingehen, sage ich zu ihm:

»Ich bitte, Mr. Kurtis, was ist denn diese Nacht an Bord vorgekommen?«

Robert Kurtis betrachtet mich aufmerksam, giebt aber keine Antwort.

»Ja, fahre ich fort, ich wurde durch in ungewöhnliches Geräusch erweckt, ebenso Mr. Letourneur; was ist geschehen?

– Nichts Besonderes, Mr. Kazallon, erwidert Robert Kurtis, eine falsche Steuerbewegung des Untersteuermannes machte es plötzlich nöthig, zu brassen, was eine gewisse Bewegung auf dem Verdeck veranlaßt haben mag. Bald war der Fehler wieder gut gemacht und der Chancellor lief in seinem gewohnten Course weiter.«

Mir scheint, daß der sonst so offene Robert Kurtis diesmal nicht die Wahrheit gesagt hat.

VIII.


VIII.

Vom 15. bis 18. October. – Die Fahrt geht ganz in derselben Weise weiter, der Wind hält sich aus Nordosten, und für Jeden nicht tiefer Blickenden hat es den Anschein, als ob an Bord Alles in bester Ordnung sei.

Indeß, »es liegt etwas in der Luft«. Die Matrosen stecken die Köpfe zusammen und murmeln unter einander, schweigen aber bei unserer Annäherung. Wiederholt habe ich das Wort »Luke« gehört, das schon Mr. Letourneur aufgefallen war. Was befindet sich nur im Kielraum des Chancellor, das so besondere Vorsicht nöthig machen kann? Warum sind die Luken so luftdicht verwahrt? Wahrlich, wenn eine empörte Schiffsmannschaft im Zwischendeck gefangen gehalten würde, könnte man strengere Maßregeln zu ihrer Bewachung nicht wohl ergreifen.

Am 15., als ich mich auf dem Vordercastell erging, hörte ich den Matrosen Owen zu seinen Kameraden sagen:

»Ihr Anderen wißt es also, ich warte nicht, bis es zu spät ist. Jeder ist sich selbst der Nächste.

– Was willst Du aber thun, Owen? fragte ihn Jynxtrop, der Koch.

– Ei nun! hat der Matrose geantwortet, die Schaluppen sind doch nicht für Meerschweinchen erfunden!«

Das Gespräch wurde plötzlich unterbrochen, und ich konnte nicht mehr vernehmen. Ist etwa eine Verschwörung gegen die Schiffsoberleitung im Entstehen? Hat Robert Kurtis Vorzeichen einer Empörung bemerkt? Den bösen Willen mancher Matrosen hat man stets zu fürchten, und muß Jenen eine eiserne Disciplin entgegen setzen.

Drei Tage sind verflossen, ohne daß mir etwas Bemerkenswerthes aufgefallen wäre. An Robert Kurtis erkenne ich jedoch Zeichen von Ungeduld, was mich bei einem Manne, der seiner so sehr Herr ist, wie er, desto mehr verwundert; dennoch scheint mir Kapitän Huntly in Folge wiederholter Einsprache seiner Officiere nur noch hartnäckiger auf seinem Willen zu beharren. Uebrigens muß er an einer Ueberreizung leiden, deren Ursache mir noch dunkel ist.

Während der Mahlzeiten haben wir, Mr. Letourneur und ich, die Schweigsamkeit des Kapitäns und die Unruhe des zweiten Officiers wiederholt beobachtet. Dann und wann versucht Robert Kurtis eine Conversation zu unterhalten, doch schweigt sie meist sofort wieder, und weder der Ingenieur Falsten noch Mr. Kear sind die Leute dazu, eine solche zu führen.

Ruby natürlich ebenso wenig. Inzwischen fangen die Passagiere, und das nicht ohne Grund, an, sich über die lange Dauer der Fahrt zu beklagen. Mr. Kear, ein Mann, vor dem sich selbst die Elemente beugen müssen, scheint Kapitän Huntly für diese Verzögerung verantwortlich machen zu wollen und sagt ihm das in’s Gesicht.

Im Verlaufe des 17. und von da ab auch später wird das Verdeck auf Anordnung des zweiten Officiers wiederholt begossen. Gewöhnlich geschieht das nur am Morgen, jetzt mag die öftere Wiederholung dieses Verfahrens durch die hohe Temperatur veranlaßt sein, in der wir uns befinden, da wir so weit nach Süden herab getrieben sind. Die Pfortsegel über den Luken werden sogar stets ganz naß erhalten, und ihr dadurch eingelaufenes Gewebe bildet eine ganz undurchdringliche Decke. Der Chancellor besitzt Pumpen, welche das Ueberfluthen mit Wasser sehr bequem ausführen lassen. Ich glaube kaum, daß das Verdeck der luxuriösesten Goëletten peinlicher rein gehalten wird. Die Mannschaft des Schiffes hätte eigentlich Ursache, sich über die ihr mehr aufgebürdete Arbeit zu beklagen, aber »sie beklagt sich nicht«.

Während der Nacht vom 23. zum 24. erscheint mir die Temperatur in den Cabinen wahrhaft erstickend. Trotz des starken Meerganges habe ich die kleine Lichtpforte meiner Cabine in der Steuerbordwand des Schiffes offen lassen müssen.

Man kann nicht im Zweifel sein, daß wir uns in den Tropen befinden.

Mit Tagesgrauen bin ich nach dem Verdeck gegangen. In meiner Verwunderung habe ich die Lufttemperatur nicht entsprechend der im Inneren des Fahrzeuges gefunden. Der Morgen ist sogar recht kühl, denn die Sonne ist kaum über dem Horizont herauf, und doch habe ich mich nicht getäuscht, es war gewiß sehr warm im Schiffe.

Eben sind die Matrosen mit dem unvermeidlichen Abwaschen des Verdecks beschäftigt; die Pumpen speien Wasser, das je nach der Lage des Schiffes durch die Schanzenkleidung der Backbord- oder Steuerbordseite abläuft.

Die Seeleute laufen in dem Wasser mit bloßen Füßen umher. Ich weiß nicht, warum mich die Lust anwandelt, es ihnen nachzuthun. Ich entledige mich also der Stiefeln und der Strümpfe und pläntschere in dem frischen Seewasser herum.

Zu meinem größten Erstaunen fühle ich, daß das Verdeck des Chancellor sehr warm ist, und kann einen Ausruf darüber nicht zurückhalten.

Robert Kurtis hört mich, wendet sich um, kommt auf mich zu und beantwortet mir eine Frage, die ich noch gar nicht an ihn gestellt habe:

»Nun ja, sagt er, es ist Feuer an Bord!«

LIII.


LIII.

Am 26. Januar. – Der Vorschlag ist gemacht. Alle haben ihn gehört, Alle verstanden. Seit einigen Tagen schon war er zur fixen Idee geworden, welche nur Niemand in ihrer Nacktheit auszusprechen wagte.

Man will das Loos entscheiden lassen.

Jeder soll einen Theil von dem erhalten, den das Loos zum Opfer bezeichnen wird.

Nun gut, es sei! Wenn mich das Loos träfe, ich würde mich nicht beklagen.

Mir scheint, daß eine Ausnahme zu Gunsten der Miß Herbey vorgeschlagen worden ist, und daß sie von André Letourneur angeregt wurde. Doch ein Murmeln des Unmuths wird unter den Matrosen hörbar. Wir sind elf an Bord. Jeder hat also zehn Chancen für und nur eine gegen sich; die vorgeschlagene Ausnahme würde dieses Verhältniß umstoßen. Miß Herbey muß das Schicksal aller Anderen theilen.

Es ist nun zehn ein halb Uhr geworden. Der Hochbootsmann, den Daoulas‘ Vorschlag wieder belebt hat, dringt darauf, daß die Verloosung sogleich vorgenommen werden solle. Er hat recht. Uebrigens hängt wohl Keiner von uns besonders am Leben, und der, den das Loos treffen wird, geht ja den Uebrigen nur um wenige Tage, vielleicht nur um wenige Stunden im Tode voran. Man weiß das; der Tod hat seinen Stachel verloren. Aber nicht einen oder zwei Tage mehr von diesem Hunger leiden, und diesen entsetzlichen Durst empfinden, das will man, das wird man erreichen.

Ich weiß nicht, wie es gekommen ist, daß sich alle unsere Namen in einem Hute befinden; es kann nur Falsten gewesen sein, der sie auf ein aus seinem Notizbuche herausgerissenes Stück Papier geschrieben hat.

Die elf Namen sind vorhanden, und man kommt ohne Gegenrede dahin überein, daß der letzte Name, welcher gezogen wird, das Opfer bezeichnen soll.

Wer wird die Ausloosung vornehmen? Alle zaudern ein wenig.

»Ich«, antwortet da Einer von uns.

Ich sehe mich um und erkenne Mr. Letourneur.

Er steht da, bleich, mit vorgestreckter Hand, seine weißen Haare fallen ihm über die ausgehöhlten Wangen, und er erschreckt durch seine gespenstige Ruhe!

Ach, unglücklicher Vater, ich verstehe Dich; ich weiß es, warum gerade Du die Namen aufrufen willst! Deine väterliche Opferfreudigkeit wird auch so weit gehen.

»Wenn es Ihnen gefällig ist!« sagt der Hochbootsmann.

Mr. Letourneur senkt die Hand in den Hut, ergreift ein Billet, entfaltet es, spricht mit lauter Stimme den Namen aus, den es trägt, und übergiebt es Demjenigen, den es bezeichnet.

Der erste herausgezogene Name ist der Burke’s, der einen Freudenschrei ausstößt.

Der zweite der Flaypol’s.

Der dritte der des Hochbootsmannes.

Der vierte der Falsten’s.

Der fünfte der Robert Kurtis‘.

Der sechste der Sandon’s.

Die Hälfte der Namen und einer darüber ist ausgerufen.

Der meinige ist nicht gekommen, und ich suche die Chancen zu berechnen, die mir noch bleiben: Vier gute gegen eine schlechte.

Seitdem Burke jenen Schrei ausstieß, hat Niemand ein Wort vernehmen lassen.

Mr. Letourneur fährt in seinem traurigen Geschäfte fort.

Der siebente Name ist der der Miß Herbey, aber das junge Mädchen verräth kein Zeichen der Freude.

Der achte Name ist der meinige. Ja! Der meinige!

Der neunte Name:

»Letourneur!«

– Welcher? fragt der Hochbootsmann.

– André!« antwortet Mr. Letourneur.

Da hört man einen wiederholten Schrei, und André stürzt bewußtlos zusammen.

»Nur vorwärts!« ruft der Zimmermann Daoulas, dessen Name mit dem des Mr. Letourneur allein noch im Hute zurückgeblieben ist.

Daoulas betrachtet seinen Rivalen als das Opfer, das er verschlingen will. Mr. Letourneur selbst zeigt fast ein Lächeln. Er führt seine Hand wieder in den Hut, er zieht das vorletzte Loos heraus, entfaltet es langsam, und ohne daß seine Stimme zittert und mit einer Seelenstärke, welche ich diesem Greise kaum zugetraut hätte, spricht er den Namen »Daoulas!« aus.

Der Zimmermann ist gerettet, und ein Stoßseufzer entringt sich seiner Brust.

Dann nimmt Mr. Letourneur noch das letzte Billet und zerreißt es, ohne es erst zu öffnen.

Doch ein Stückchen des zerrissenen Papieres liegt von Niemand beachtet nach einer Ecke des Flosses. Ich krieche darnach hin, ich ergreife es, und auf einer Ecke desselben lese ich noch: And …

Mr. Letourneur kommt eiligst auf mich zu, entreißt meinen Händen das winzige Stück Papier, dreht es fest zusammen, und indem er mich scharf und ernst anblickt, wirft er es in das Meer.

LIV.


LIV.

Fortsetzung vom 26. Januar. – Ich hatte es wohl verstanden; der Vater hat sich für den Sohn geopfert, und da er ihm nichts mehr zu geben hat als sein Leben, so giebt er ihm dieses.

Doch alle jene Verhungerten wollen nicht warten, und der Schmerz in ihren Eingeweiden verdoppelt sich in Gegenwart des ihnen zugefallenen Schlachtopfers. Mr. Letourneur ist für sie kein Mensch mehr. Noch haben sie nichts gesagt, aber ihre Lippen spitzen sich, ihre Zähne, welche zum raschen Erfassen schon sichtbar werden, würden Jenen wie die Zähne der Raubthiere und mit der gierigen Gefräßigkeit der Bestien zerfleischen. Soll man es mit ansehen, daß sie sich auf ihr Opfer stürzen und es lebend verschlingen?

Wer sollte glauben, daß Jemand noch jetzt einen Appell an das Restchen von Menschlichkeit in Jenen wagen, und vorzüglich, daß er gehört werden würde? Ja! ein Wort war doch im Stande, ihnen in dem Augenblicke Halt zu gebieten, da sie sich auf Mr. Letourneur stürzen wollten, und der Hochbootsmann, in Begriff als Fleischer zu dienen, sowie Daoulas mit der Axt in der Hand sind plötzlich still stehen geblieben.

Miß Herbey geht oder schleppt sich vielmehr auf Jene zu.

»Meine Freunde, beginnt sie, wollt Ihr noch einen einzigen Tag warten? Nur einen Tag! Wenn bis morgen kein Land sich zeigt, kein Schiff uns begegnet ist, so mag unser armer Gefährte Euch als Beute gehören? …«

Bei diesen Worten wird mein Herz wieder lebendiger. Mir scheint es, als spräche das junge Mädchen in einem so zuversichtlich prophetischen Tone, und als sei es die Eingebung eines Höheren, welche diese edle Seele antreibt. O, wie kehrt die Hoffnung wieder in mein Herz ein. Die Küste, das Schiff, gewiß hat Miß Herbey sie schon in einer übernatürlichen Vision gesehen, welche Gott seinen Auserwählten manchmal sendet. Was will ein Tag bedeuten, gegenüber den Qualen, welche wir schon erduldet haben?

Robert Kurtis ist auch meiner Meinung; wir vereinigen unsere Bitten mit denen der Miß Herbey, Falsten spricht in demselben Sinne, wir flehen unsere Gefährten, den Hochbootsmann, Daoulas, die Anderen an …

Die Matrosen halten schweigend ein.

Der Hochbootsmann wirft die Axt weg und murmelt:

»Also bis morgen mit Anbruch des Tages!«

Dieses Wort sagt Alles. Wenn sich morgen weder das Land noch ein Schiff zeigt, wird das schreckliche Opfer gebracht werden.

Jeder kehrt nach seinem Platze zurück und unterdrückt seine Schmerzen mit dem Aufgebot der letzten Kräfte. Die Matrosen verbergen sich unter den Segelstücken und haben gar kein Interesse mehr daran, nach dem Meere auszuschauen. Sie sind gleichgiltig geworden, – morgen werden sie ja essen.

Inzwischen ist André Letourneur wieder zu sich gekommen, und mit dem ersten Blicke sucht er seinen Vater. Dann sehe ich, wie er die Insassen des Flosses zählt. … Es fehlt nicht Einer. Auf wen ist das Loos nun gefallen? Als André das Bewußtsein verlor, verblieben nur noch zwei Namen, der des Zimmermanns und der seines Vaters, im Hute! Und Mr. Letourneur so gut wie Daoulas sind doch Beide noch da!

Miß Herbey nähert sich dem jungen Manne und sagt ihm einfach, daß die Loosziehung nicht beendet worden sei.

André Letourneur verlangt nicht mehr zu wissen und ergreift die Hand seines Vaters. Das Gesicht des Mr. Letourneur hat einen ruhigen, fast lächelnden Ausdruck. Er sieht nichts, er versteht nichts Anderes, als daß sein Sohn gerettet ist. Diese beiden so innig verbundenen Wesen sitzen im Hintertheile und sprechen leise mit einander.

Doch ich muß noch einmal auf den ersten Eindruck zurückkommen, den das Dazwischentreten des jungen Mädchens in mir hinterließ. Ich glaube jetzt an eine Hilfe durch die Vorsehung, und ich vermag nicht zu sagen, bis zu welcher Tiefe dieser Gedanke in meinem Gehirn sich festwurzelt. Ich möchte behaupten, daß wir vor dem Ende unseres Elendes stehen, und daß das Land oder ein Schiff dort, einige Meilen unter dem Winde, sein müssen; so sicher bin ich dieser Hoffnung! Erstaune Niemand über diesen Umschlag in mir. Mein Gehirn ist so schwach, daß Chimären in ihm jetzt zur Wirklichkeit werden.

Ich spreche den Mr. Letourneur von meinen Ahnungen. André ist ebenso vertrauensselig, wie ich. Der arme Junge! Wenn er wüßte, daß morgen …!

Der Vater hört mir ernsthaft zu und bestärkt mich noch in meiner Hoffnung. Er glaubt gern – und sagt es wenigstens, – daß der Himmel die Ueberlebenden verschonen werde, und er überhäuft seinen Sohn mit Liebkosungen, mit den letzten des zärtlichen Vaterherzens.

Später, als ich mit ihm allein war, neigte sich Mr. Letourneur dicht zu mir.

»Ich empfehle Ihnen mein unglückliches Kind, flüstert er, und möge es ihm nie bekannt werden, daß …«

Er vermag den Satz nicht zu vollenden, heiße Thränen entquellen seinen Augen!

Ich, – ich bin ganz Hoffnung.

Ohne mich einen Augenblick abzuwenden, betrachte ich den Horizont und durchlaufe ihn mit den Blicken in seinem ganzen Umfange. Noch ist er leer, aber das beunruhigt mich nicht. Noch vor morgen wird das Land oder ein Segel gemeldet werden.

Robert Kurtis beobachtet das Meer ebenso wie ich. Miß Herbey, Falsten, selbst der Hochbootsmann fassen ihre ganze Lebensenergie in den Augen zusammen.

Inzwischen sinkt die Nacht herab, doch ich habe die felsenfeste Ueberzeugung, daß ein Fahrzeug bei dieser Dunkelheit uns nahe genug kommen werde, um unsere Signale mit Tagesanbruch sehen zu können.

LV.


LV.

Am 27. Januar. – Ich schließe kein Auge und höre das geringste Geräusch, das Plätschern des Wassers, das Murmeln der Wellen. Ich mache die auffällige Beobachtung, daß sich kein Haifisch mehr in der Nähe des Flosses befindet. Ich erblicke darin ein glückverheißendes Vorzeichen.

Der Mond ist um zwölf Uhr sechsundvierzig Minuten aufgegangen und zeigt sein letztes Viertel, doch gestattet mir sein unzureichendes Licht nicht, das Meer in einem größeren Umkreise zu überblicken. Wie häufig glaubte ich in der Entfernung einiger Kabellängen das so ersehnte Segel zu erschauen!

Aber der Morgen kommt, und die Sonne steigt über derselben Wasserwüste auf.

Der schreckliche Augenblick nahet, und ich fühle alle meine Hoffnungen des letzten Tages wieder verlöschen. Das Schiff erscheint nicht, ebenso wenig das Land. Ich kehre zur Wirklichkeit zurück, und in mir lebt die Erinnerung auf. Jetzt ist die Stunde, in der die schreckliche Hinrichtung stattfinden soll! Ich wage das Opfer nicht mehr anzusehen, und wenn seine so wohlwollenden, so resignirten Blicke sich auf mich richten, schlage ich die Augen nieder.

Ein unbesiegbarer Schrecken schnürt mir die Brust zusammen, und mein Kopf schwindelt, als ob ich betrunken wäre.

Es ist jetzt sechs Uhr Morgens. Ich glaube an keine göttliche Hilfe mehr. Mein Herz schlägt mehr als hundert Mal in der Minute, und ein kalter Angstschweiß dringt mir aus allen Poren.

Der Hochbootsmann und Robert Kurtis, die am Maste stehen, forschen unausgesetzt über den Ocean. Der Hochbootsmann ist schrecklich anzusehen. Man erkennt wohl an ihm, daß er der Stunde nicht vorgreifen, aber auch, daß er sie nicht vorübergehen lassen wird. Es ist mir unmöglich, zu errathen, welches die Empfindungen des Kapitäns sind, doch sein Gesicht ist bleich, und er scheint nur noch mit den Augen zu leben.

Die Matrosen schleppen sich über die Plateform, und mit ihren gierigen Blicken verschlingen sie schon das unglückliche Opfer.

Ich vermag mich nicht mehr auf meinem Platze zu halten und rutsche nach dem Vordertheil des Flosses hin.

Immer auslugend steht der Hochbootsmann da.

»Nun denn!« ruft er plötzlich.

Ich schnelle bei diesen Worten in die Höhe.

Der Hochbootsmann, Daoulas, Flaypol, Burke, Sandon begeben sich nach dem Hintertheile, und krampfhaft erfaßt der Zimmermann die Axt!

Miß Herbey kann jetzt einen Schrei nicht unterdrücken.

Plötzlich richtet sich André auf.

»Mein Vater? spricht er mit erstickter Stimme.

– Das Loos hat mich getroffen …« antwortet Mr. Letourneur.

André stürzt sich auf seinen Vater und umschlingt ihn mit den Armen.

»Nie! Niemals! brüllt er. Eher tödtet mich! Bringt mich doch um! Ich bin es gewesen, der Hobbart’s Leiche in’s Meer geworfen hat. Ich bin es, ich bin es, den Ihr erwürgen müßt!«

Der Unglückliche!

Seine Worte steigern nur die Wuth der Henker, und Daoulas geht auf ihn zu und entreißt ihn den Armen des Mr. Letourneur mit den Worten:

»Nicht so viel Umstände!«

André stürzt rückwärts nieder, und zwei Matrosen fesseln ihn, so daß ihm jede Bewegung geraubt ist.

Zu gleicher Zeit ergreifen Burke und Flayvol ihr Opfer und zerren es nach dem Vordertheil des Flosses.

Dieser schreckliche Auftritt vollzog sich schneller, als ich ihn zu beschreiben im Stande bin. Das Entsetzen hält mich wie angenagelt zurück. Ich möchte mich zwischen Mr. Letourneur und seine Henker stürzen, ich kann es nicht!

Da hat sich Mr. Letourneur erhoben und die Matrosen, welche ihm schon einen Theil seiner Kleidung von den Schultern gerissen haben, zurückgestoßen.

»Nur einen Augenblick, sagt er mit einer Stimme voll unerschütterter Energie, einen Augenblick! Ich habe nicht die Absicht, Jemandem die ihm zukommende Ration zu entziehen! Doch ich denke, Ihr würdet mich heute doch nicht ganz und gar aufzehren können!«

Die Matrosen halten ein und sehen und hören erstaunt auf ihn.

Mr. Letourneur fährt fort:

»Ihr seid Zehn. Sollten Euch meine Arme nicht für heute genug sein? Schneidet sie ab und morgen erhaltet Ihr das Uebrige!«

Letourneur streckt seine beiden nackten Arme vor.

»Einverstanden!« ruft mit schrecklicher Stimme der Zimmermann Daoulas.

Und schnell wie Blitz erhebt er die Axt …

Robert Kurtis hat es nicht mehr mit ansehen können.

Ich auch nicht! So lange wir leben, darf dieser Mord nicht ausgeführt werden. Der Kapitän stürzt sich unter die entmenschten Henker, ihnen ihr Opfer zu entreißen, ich werfe mich in den Tumult … Aber kaum komme ich hinzu, so werde ich von einem der Matrosen mit aller Gewalt zurückgestoßen und falle in’s Meer …

Ich schließe den Mund. Ich will an Erstickung sterben, aber die Athemnoth überwindet meinen Willen; meine Lippen öffnen sich, und einige Schlucke Wasser dringen in meine Kehle! …

O Du ewiger Gott! Das Wasser ist süß!

LVI.


LVI.

Fortsetzung vom 27. Januar. – Ich habe getrunken! Ich habe getrunken! Ich bin neu geboren! Das Leben zieht wieder in mich ein! Ich will nicht mehr sterben!

Ich schreie und werde gehört. Kurtis erscheint über der Schanzkleidung und wirft mir ein Tau zu, das meine Hand erfaßt. Ich klettere an Bord und breche auf der Plateform zusammen.

»Süßwasser! Trinkwasser!« sind meine ersten Worte.

– Süßwasser! ruft Robert Kurtis, meine Freunde, das rettende Land ist da!«

Noch ist es Zeit! Der Mord ist noch nicht vollbracht! Das Opfer noch nicht geschlachtet! Robert Kurtis und André hatten gegen die Kannibalen gekämpft, und gerade als sie dem Unterliegen nahe waren, sind meine Rufe zu ihnen gedrungen.

Der Kampf schweigt. Ich rufe nochmals die Worte: »Süßwasser! Trinkwasser!« neige mich über den Rand des Flosses und trinke, ja, ich trinke mit langen, wohlthätigen Zügen!

Miß Herbey folgt zunächst meinem Beispiele. Robert Kurtis, Falsten, alle Uebrigen stürzen sich nun auf die neuerschlossene Lebensquelle; Jeder kühlt sein brennendes Verlangen. Die wilden Thiere der letzten Minuten strecken die Arme gen Himmel, und einige Matrosen bekreuzen sich, da sie ein Wunder vor sich zu haben glauben. Alle knieen am Bordrande nieder und trinken mit wahrhaft wollüstigem Entzücken. Der Ausbruch der Freude folgt dem der Wuth!

André und sein Vater sind die Letzten, die dem allgemeinen Beispiele folgen.

»Doch wo, wo sind wir? habe ich laut gefragt.

– Da!« antwortet Robert Kurtis und weist mit der Hand nach Westen.

Man sieht ihn verwundert an. Ist jetzt der Kapitän auch toll geworden? Es ist keine Küste in Sicht, und das Floß nimmt noch immer den Mittelpunkt der Wasserscheibe ein.

Und doch, das Wasser ist ja süß. Seit wann? – Einerlei; jetzt haben die Sinne uns nicht betrogen und unser Durst ist gelöscht.

»Ja wohl, fährt der Kapitän fort, noch ist das Land unsichtbar, doch wir haben es weniger als zwanzig Meilen unter dem Winde.

– Welches Land? fragt der Hochbootsmann.

– Das amerikanische Festland, und zwar denjenigen Theil, an welchem der Amazonenstrom mündet, denn dieser Strom allein wälzt seine Fluthen mit solcher Gewalt in’s Meer, daß er im Stande ist, bis auf zwanzig Meilen dessen Salzwasser zu verdrängen!»

LVII.


LVII.

Fortsetzung vom 27. Januar. – Robert Kurtis hatte vollkommen recht, denn die Mündung des Amazonenstromes, welcher so viel Wasser in’s Meer führt, ist die einzige Stelle des Atlantischen Oceans, an der wir Süßwasser antreffen konnten. Das Land ist da. Wir fühlen es voraus! Der Wind trägt uns dorthin.

In diesem Augenblicke erhebt sich Miß Herbey’s Stimme gen Himmel, und wir verbinden unsere Gebete mit dem ihrigen!

André Letourneur liegt in den Armen seines Vaters, und wir Anderen Alle, auf dem Vorder- und dem Hintertheile des Flosses, starren nach dem Horizonte im Westen …

Eine Stunde später ruft Robert Kurtis laut: »Land! Land!«

Das Tagebuch, in dem ich meine täglichen Beobachtungen niedergelegt habe, ist beendet. In wenigen Stunden waren wir gerettet, was ich noch mit kurzen Worten erzählen will.

Das Floß begegnete gegen elf Uhr Morgens an der Magouri-Spitze der Insel Marajo mitleidigen Schiffern, die uns aufnahmen und stärkten. Dann wurden wir nach Para übergeführt und der Gegenstand der rührendsten Sorgfalt.

Das Floß stieß unter 0º 12′ nördlicher Breite an’s Land. Es ist also, seit wir das Schiff verließen, mindestens fünfzehn Grad nach Süden getrieben worden. Ich sage mindestens, denn offenbar waren wir schon weiter nach Süden verschlagen, und wenn wir an der Mündung des Amazonenstromes anlangten, so kommt das daher, daß der Golfstrom das Floß wieder erfaßt und es dorthin getrieben hat. Ohne diesen glücklichen Umstand wären wir verloren gewesen.

Von zweiunddreißig Menschen, nämlich neun Passagieren und dreiundzwanzig Seeleuten, die sich in Charleston eingeschifft hatten, waren nur fünf Passagiere und sechs Seeleute übrig, – im ganzen elf Personen.

Das sind die einzigen Ueberlebenden des Chancellor.

Von den brasilianischen Behörden wurde ein officielles Protokoll aufgenommen.

Unterzeichnet haben es: Miß Herbey, J. R. Kazallon, Letourneur sen., André Letourneur, Falsten, der Hochbootsmann, Daoulas, Burke, Flaypol, Sandon und als Letzter – Robert Kurtis, Kapitän.

Ich füge hinzu, daß uns in Para sofort Gelegenheit geboten wurde, in unser Vaterland zurückzukehren. Ein Schiff brachte uns nach Cayenne, und wir wollen die Französische Transatlantische Linie von Aspinwall benutzen, deren Steamer Ville-de-Saint-Nazaire uns nach Europa zurückbringen soll.

Ist es aber jetzt, nach so viel gemeinschaftlich überstandenen Prüfungen, nach so vielen Gefahren, denen wir nur wie durch ein Wunder entgangen sind, nicht ganz natürlich, daß ein unlösliches Freundschaftsband sich um die Passagiere des Chancellor schlingt, und daß sie unter allen Verhältnissen, und wie weit das Schicksal sie auch von einander wegführe, sich niemals vergessen werden? Robert Kurtis ist jetzt auf immer der Freund derjenigen, die seine Unglücksgefährten waren.

Miß Herbey hatte die Absicht, sich von der Welt zurückzuziehen und ihr späteres Leben den Leidenden zu widmen.

»Ist denn mein Sohn nicht auch ein Kranker!…« hat Mr. Letourneur darauf zu ihr gesagt.

Miß Herbey hat jetzt in ihm einen Vater, in seinem Sohne einen Bruder gefunden. Ich sage, einen Bruder, doch in kurzer Zeit wird dem muthigen Mädchen in ihrer neuen Familie dasjenige Glück winken, das sie verdient und wir ihr Alle von ganzem Herzen wünschen.

XLVII.


XLVII.

Am 18. Januar. – Ich erwarte den Tag mit einer ganz eigenthümlichen Angst! Was wird Hobbart sagen? Mir scheint, er habe ein Recht dazu, mich zu denunciren! Doch nein! Das ist absurd. Wenn ich das Vorgefallene erzählen wollte, wenn ich sagte, wie gut Hobbart lebte, während uns der Hungertod angrinste, wie er sich so lange Tage ohne unser Wissen genährt hat, seine Gefährten würden ihn ohne Erbarmen zerfleischen.

Und doch… ich wünschte, es wäre erst heller Tag.

Augenblicklich ist mein hungriger Magen befriedigt worden, trotzdem, daß das Stückchen Speck nur klein, nur »ein Bissen«, der letzte war, wie der Unglückliche sagte. Indessen, ich leide jetzt nicht mehr, und doch, ich gestehe es offen, mache ich mir fast Vorwürfe, den erbärmlichen Rest nicht mit meinen Unglücksgefährten getheilt zu haben. Ich hätte an Miß Herbey, an André, an seinen Vater denken sollen… und ich habe nur an mich gedacht!

Der Mond steigt langsam nieder, und bald folgt ihm das erste Morgenlicht. Schnell wird es Tag werden, denn wir befinden uns unter jenen niedrigen Breiten, die weder Morgen- noch Abenddämmerung kennen.

Ich habe kein Auge zuthun können; sobald es einigermaßen hell wird, scheint es mir, als schwanke eine unförmliche Masse in halber Höhe am Maste.

Was mag das sein? Noch vermag ich es nicht zu erkennen und verbleibe ausgestreckt auf meinem Segelbündel.

Doch endlich streifen die ersten Sonnenstrahlen über das Meer, und bald sehe ich einen Körper, der an einem Stricke hängt und den Bewegungen des Flosses folgt.

Eine schreckliche Ahnung überschleicht mich fröstelnd und ich nähere mich dem Maste…

Es ist ein Erhängter; und dieser Erhängte ist – der Steward Hobbart, dieser Unglückliche, und ich, ja ich, habe ihn zum Selbstmorde getrieben!

Ich stoße einen Schreckensschrei aus. Meine Gefährten erheben sich, sehen einen Körper und stürzen auf ihn zu. Ob noch ein Fünkchen Leben in ihm schlummere, darnach fragt Niemand!… Uebrigens, Hobbart ist wirklich todt und sein Körper schon erkaltet.

In einem Augenblicke wird der Strick zerschnitten. Der Hochbootsmann, Daoulas, Jynxtrop, Falsten, noch Andere sind bei der Hand, fallen über den Leichnam her…

Nein! Ich habe nichts gesehen! Ich habe nichts sehen wollen – ich nehme keinen Antheil an dieser entsetzlichen Mahlzeit! Weder Miß Herbey, noch André Letourneur oder sein Vater haben eine Erleichterung ihrer Leiden mit diesem Preise bezahlen wollen!

Robert Kurtis? – Das weiß ich nicht… ich habe nicht gewagt, ihn darüber zu fragen.

Die Anderen aber… o, der Mensch verwandelt sich so leicht in ein Raubthier… es ist schrecklich!

Die Herren Letourneur, Miß Herbey und ich, wir haben uns unter das Zelt verkrochen, um nichts mit ansehen zu müssen! Es war schon mehr als zu viel, was wir hörten!

André Letourneur wollte sich auf die Kannibalen stürzen und ihnen die grauenvollen Ueberreste entreißen, so daß ich Noth hatte, ihn davon zurückzuhalten.

Und übrigens, es war ja ihr Recht, das Recht der Unglücklichen! Hobbart ist ja todt; sie haben ihn nicht gemordet! Und wie eines Tages der Hochbootsmann sagte, »es ist besser, von einem Todten zu essen, als von einem Lebendigen«!

Wer weiß aber, ob dieser Auftritt nicht die Einleitung zu noch schrecklicheren sein wird, welche das Floß mit Blut besudeln könnten!

Ich theile André Letourneur meine Gedanken mit, aber ich vermochte das Entsetzen nicht zu unterdrücken, das bei ihm seinen Höhepunkt erreicht und alle seine Qualen verstummen läßt.

Indeß, man bedenke, wir sterben vor Hunger, und acht unserer Gefährten können nun diesem grausamen Tode vielleicht entgehen!

Hobbart war, Dank seinen versteckten Vorräthen, der Wohlgenährteste von uns. Keine organische Krankheit hat sein Körpergewebe verändert, in voller Gesundheit ist er durch einen Gewaltstreich aus dem Leben geschieden! …

Doch zu welcher entsetzlichen Schlußfolgerung läßt sich mein Geist hinreißen? Wohin gerathe ich? Flößen mir jene Kannibalen jetzt mehr Vergnügen oder mehr Abscheu ein?

In diesem Augenblicke erhebt einer derselben seine Stimme. Es ist Daoulas, der Zimmermann.

Er spricht davon, Meerwasser zu verdampfen, um Salz zu gewinnen.

»Und das Übrigbleibende salzen wir ein, sagt er.

– Ja«, antwortet der Hochbootsmann.

Dann wird es still. Der Vorschlag des Zimmermanns ist ohne Zweifel angenommen worden, denn ich höre nichts mehr. Ein tiefes Schweigen herrscht wieder an Bord des Flosses, und ich schließe daraus, daß meine Gefährten schlafen.

Sie haben jetzt keinen Hunger mehr.