XLIII.


XLIII.

Vom 11. bis 14. Januar. – Owen ist in der Nacht unter tetanischen Zuckungen, welche einen seltenen Grad der Intensität erreichten, gestorben. Es ist nur zu wahr! Die vergiftete Tonne hat früher Kupfervitriol enthalten, das ist Thatsache. Durch welchen unglücklichen Mißgriff diese Tonne gerade als Wasserbehälter benutzt wurde und durch welchen bedauernswerthen Zufall gerade sie auf das Floß mit verladen worden ist?… Alles das kommt ja wenig in Betracht. Eins steht fest: daß wir kein Wasser mehr haben!

Owen’s Körper mußte sofort in’s Meer geworfen werden, da er unmittelbar nach dem Tode in Zersetzung überging, und der Hochbootsmann hätte nicht einmal seine Leine mit dem todten Fleisch als Köder versehen können, da dieses jeden Zusammenhang verloren hatte. Der Tod dieses Elenden ist für uns nicht einmal von Nutzen gewesen!

Wir Alle kennen unsere thatsächliche Situation und verhalten uns still in dumpfem Brüten. Was sollten wir auch sprechen? Schon den Ton unserer Stimme zu hören berührt uns schmerzlich. Bei unserer übermäßigen Reizbarkeit ist es besser, daß wir gar nicht reden, denn das geringste Wort, ein Blick, eine Geste könnte ausreichen, unberechenbare Folgen hervorzurufen. Ich begreife nicht, wie es kommt, daß wir noch nicht Alle von Sinnen sind!

Am 12. Januar haben wir keinen Tropfen Wasser erhalten, da der letzte Tropfen Tags vorher ausgeschöpft war. Am Himmel ist keine Wolke, die etwas Regen verspräche, und ein Thermometer zeigte im Schatten gewiß 40° C., wenn auf dem Flosse überhaupt an Schatten zu denken wäre.

Am 13. ist die Lage die gleiche. Das Meerwasser beginnt auch mir die Füße wund zu ätzen, doch das beachte ich fast gar nicht. Auch der Zustand Derjenigen, die an diesem Uebel schon länger leiden, ist dadurch nicht wesentlich verschlimmert. O, dieses Wasser, das uns rings umgiebt, wenn ich bedenke, daß wir es durch Verdampfen oder Gefrierenlassen trinkbar zu machen im Stande wären!

In Dampf oder Eis verwandelt würde es keine Spur Salz mehr enthalten, und man könnte es genießen! Aber uns fehlen alle Hilfsmittel, und wir vermögen sie auch nicht herzustellen.

Heute haben sich, auf die Gefahr hin, von Haien verschlungen zu werden, der Bootsmann und zwei Matrosen gebadet. Solch‘ ein Bad gewährt ihnen eine gewisse Erleichterung und erfrischt sie doch einigermaßen. Drei meiner Genossen und ich, – die wir nicht schwimmen können, – haben uns an ein Seil befestigt und sind wohl eine halbe Stunde lang im Meer geblieben. Robert Kurtis überwachte dabei die Wellen, und zum Glück hat sich kein Haifisch genähert. Trotz unserer Bitten und ihrer quälenden Leiden hat Miß Herbey unserm Beispiel nicht folgen wollen.

Am 14., gegen elf Uhr Morgens, nähert sich mir der Kapitän und flüstert mir in’s Ohr:

»Vermeiden Sie jede Bewegung, die Sie verrathen könnte, Herr Kazallon, denn ich könnte mich irren, und ich möchte den Andern eine neue Enttäuschung ersparen.«

Ich sehe Robert Kurtis erwartungsvoll an.

»Dieses Mal, sagt er zu mir, habe ich wirklich ein Schiff wahrgenommen!«

Der Kapitän hat wohl daran gethan, mich vorzubereiten, denn ich wäre gewiß nicht meiner ersten Bewegung Meister geworden.

»Schauen Sie, fügt er hinzu, da hinten über Backbord!«

Ich erhebe mich, affectire eine mir gewiß ganz fremde Gleichgiltigkeit, und meine Augen schweifen über den mir von Robert Kurtis bezeichneten Bogen am Horizont.

Meine Augen sind freilich nicht die eines Seemannes, aber ich erkenne doch, als kaum unterscheidbare Silhouette, ein Schiff unter Segel.

Fast zu gleicher Zeit ruft der Hochbootsmann, dessen Blicke einige Secunden nach dieser Gegend hinausschweifen:

»Ein Schiff in Sicht!«

Die Meldung eines entfernten Schiffes erweckt nicht unmittelbar die Bewegung, welche man wohl hätte erwarten sollen, und bringt jedenfalls keinerlei Aufregung hervor, ob man nun an dieselbe nicht glauben wollte, oder die Kräfte schon zu sehr erschöpft waren; kein Mensch erhebt sich. Aber der Bootsmann ruft wiederholt: »Ein Schiff! Ein Schiff!« Und Aller Blicke heften sich an den Horizont.

Dieses Mal ist die Thatsache nicht zu leugnen, wir sehen es, das unerwartete Fahrzeug. Wird es auch uns sehen?

Inzwischen besprechen die Matrosen die äußere Erscheinung des Fahrzeuges und seine Richtung, vorzüglich die letztere.

Robert Kurtis erklärt nach einer aufmerksamen Betrachtung desselben:

»Es ist eine Brigg, die mit Steuerbordhalsen dicht am Winde läuft. Hält sie ihren jetzigen Cours nur zwei Stunden lang ein, so muß sie unsern Weg kreuzen.«

Zwei Stunden! – Zwei Jahrhunderte! Das Schiff kann seinen Cours aber jede Minute wechseln und wird das um so wahrscheinlicher thun, weil es offenbar durch Laviren gegen den Wind Fahrt zu machen sucht. Bestätigt sich aber diese Annahme, so wird es nach Vollendung seines »Schlags« (d. i. die Strecke, welche ein lavirendes Schiff in ein und derselben Richtung zurücklegt) Backbordhalsen beisetzen und sich wieder entfernen. O, wenn es mit dem Wind im Rücken oder von der Seite segelte, wir hätten ein Recht, zu hoffen!

Uns handelt es sich jetzt darum, die Aufmerksamkeit jenes Schiffes zu erregen. Robert Kurtis ordnet alle möglichen Signale an, denn die Brigg ist wohl noch ein Dutzend Meilen von uns im Osten entfernt, und unsere Rufe könnten unmöglich gehört werden. Auch kein Feuergewehr steht uns zur Verfügung, dessen Detonationen so weit hin drängen. Wir wollen also eine ganz beliebige Flagge am Maste aufhissen. Miß Herbey’s rothes Shawltuch sticht am lebhaftesten von der Färbung des Meeres und des Himmels ab.

Das Tuch wird möglichst hoch angebracht, und eine leichte Brise, die gerade jetzt die Oberfläche der Wellen kräuselt, entfaltet es vollständig. Sein wiederholtes lustiges Flattern erfüllt unsere Herzen mit froher Hoffnung. Wenn ein Mensch am Ertrinken ist, weiß man ja, mit welcher Kraft er sich an einen Strohhalm klammert. Die Flagge ist dieser Strohhalm für uns!

Eine ganze Stunde lang bewegen uns tausend abwechselnde Gefühle. Ohne Zweifel hat sich die Brigg dem Flosse genähert, doch bisweilen scheint es, als ob sie anhielte, und man zerquält sich mit der Frage, ob sie nicht im Begriff ist, zu wenden.

O Gott, wie langsam schleppt dieses Schiff sich hin! Es fährt mit vollen Segeln, und doch ist sein Rumpf auch jetzt noch kaum über dem Horizonte sichtbar. Doch der Wind ist schwach und legt sich immer mehr!… Wir gäben ganze Jahre unseres Lebens darum, jetzt eine Stunde älter zu sein!

Gegen halb ein Uhr schätzen der Kapitän und der Hochbootsmann die Entfernung des Schiffes noch auf neun Meilen. In anderthalb Stunden ist es uns demnach nur drei Meilen näher gekommen, und kaum mag der Lufthauch, der noch über dem Flosse weht, bis zu ihm reichen. Mir scheinen seine Segel gar nicht mehr zu schwellen, sondern an den Masten schlaff herab zu hängen. Ich beobachte, gegen den Wind gerichtet, ob eine Brise wieder aufspringt; aber die Wellen scheinen zu träumen, und der Athem des Windes, der unsere Hoffnungen weckte, erstirbt.

Ich befinde mich auf dem Hintertheile neben den Mrs. Letourneur und der Miß Herbey; unsere ängstlichen Blicke richten sich abwechselnd auf das Schiff und den Kapitän. Robert Kurtis steht unbeweglich vorn, an den Mast gelehnt, der Hochbootsmann dicht neben ihm; ihre Augen wenden sich keinen Moment von der Brigg ab. Von ihrem Antlitz, das jetzt ja nicht ausdruckslos bleiben kann, lesen wir die Empfindungen ab, welche sie erregen. Nicht ein Wort kommt über ihre Lippen, bis der Zimmermann mit einem gar nicht wiederzugebenden Tone ausruft:

»Es wendet!«

Unser ganzes Ich scheint sich jetzt in die Augen zusammen zu drängen, und erstarrt stehen die Einen wie Bildsäulen, die Andern liegen auf den Knien. Ein furchtbarer Fluch entfährt dem Munde des Hochbootsmannes. Auf neun Meilen Entfernung hat das Schiff unsere Signale unmöglich wahrnehmen können! Das Floß stellt ja in dem unendlichen Raume nur ein Pünktchen dar, das in dem Glanze der blendenden Sonnenstrahlen wohl ganz verschwindet! Man hat uns nicht gesehen! Könnte der Kapitän jenes Schiffes, er sei wer auch immer, wenn er uns bemerkt hätte, so unglaublich unmenschlich sein, zu entfliehen, ohne uns geholfen zu haben? Nein! Das ist unmöglich! Nein, er hat uns nicht gesehen!

»Macht Feuer! Laßt Rauch aufsteigen! ruft Robert Kurtis. Verbrennt die Planken des Flosses! Freunde! Meine Freunde! Das ist ja die letzte Möglichkeit, uns bemerkbar zu machen!«

Im Vordertheile werden einige Bretter zu einem Scheiterhaufen zusammen getragen. Nicht ohne Mühe setzen wir diese, da sie zu naß sind, in Brand, aber sie geben deshalb auch einen um so dichteren und weiterhin sichtbaren Rauch. Bald wirbelt eine schwarze Säule gerade empor. Wenn es jetzt Nacht wäre oder doch vor dem Verschwinden der Brigg dunkel würde, müßten die Flammen trotz der Entfernung bis zu jener hin erkennbar sein!

Doch – die Stunden verrinnen, das Feuer erlischt!…

Um in solchen Augenblicken sich mit frommer Ergebenheit dem göttlichen Willen zu unterwerfen, muß man mehr Macht über sich haben, als ich besitze. Nein! Jetzt schwindet mein Vertrauen auf Gott, der unsere Folterqualen durch solche aufblitzende Hoffnungsstrahlen noch erhöht, und ich lästere ihn, wie ihn der Hochbootsmann gelästert hat! … Da legt sich eine schwache Hand ganz leise auf meine Schulter, und Miß Herbey zeigt nach dem Himmel!

Doch, ich ertrage es nicht länger! Ich mag nichts mehr sehen und vergrabe mich seufzend unter unserer Segeldecke….

Inzwischen hat das Fahrzeug andere Halsen beigesetzt, dann entfernt es sich langsam nach Osten, und drei Stunden später vermochten auch die schärfsten Seemannsaugen kein Stückchen Leinwand mehr am Horizonte zu erblicken!

XLIV.


XLIV.

Am 15. Januar. – Nach diesem letzten Schlage, der uns getroffen, haben wir nichts mehr vor uns, als den Tod. Ob er schneller oder langsamer herankommen mag, er kommt doch gewiß.

Heute sind im Westen einige Wolken aufgestiegen, wobei sich dann und wann ein kurzer Windstoß fühlbar machte. Auch die Temperatur ist erträglicher, und trotz unserer äußersten Erschlaffung empfinden wir diese wohlthuende Aenderung. Meine Kehle saugt eine minder trockene Luft ein, aber seit dem Fischzug des Hochbootsmannes, d. h. seit sieben Tagen, haben wir nichts gegessen. Auf dem Flosse ist nichts mehr vorhanden, und gestern habe ich André Letourneur das letzte von seinem Vater ersparte Stück Schiffszwieback zugestellt, welches Jener mir unter Thränen übergab.

Seit gestern hat sich auch der Neger Jynxtrop seiner Fesseln zu entledigen gewußt, doch hat ihn Robert Kurtis deshalb nicht von Neuem binden lassen. Wozu auch? Dieser Elende und alle seine Mitschuldigen sind durch das lange Fasten ganz von Kräften gekommen. Was wären sie jetzt noch zu unternehmen im Stande?

Heute zeigen sich mehrere große Haifische, deren schwarze Flossen wir das Wasser mit großer Schnelligkeit durchschneiden sehen. Ich kann mich des Gedankens nicht entschlagen, daß sie die lebendigen Särge darstellen, die unsere erbärmlichen Ueberreste aufzunehmen bestimmt sind. Sie erschrecken mich keineswegs, nein, sie haben etwas Anheimelndes. Sie kommen bis dicht an den Rand des Flosses heran, und Flaypol’s Arm, der über denselben hinaushing, wäre beinahe von einem jener Ungeheuer weggeschnappt werden.

Der Hochbootsmann betrachtet mit starren, hohlen Augen und zusammengebissenen, hinter den erhobenen Lippen herausleuchtenden Zähnen diese Haifische unter einem wesentlich anderen Gesichtspunkte als ich. Er will sie verzehren, doch nicht von ihnen verzehrt werden. Wenn er einen derselben zu fangen im Stande wäre, er würde sich nicht vor seinem zähen Fleische scheuen. Wir Anderen auch nicht.

Der Bootsmann will den Versuch machen; da er aber keinen geeigneten Haken besitzt, an den ein Seil zu befestigen wäre, so muß er einen solchen herzustellen suchen. Robert Kurtis und Daoulas haben ihn verstanden und halten Rath, während sie durch Auswerfen von Holzstücken und Seilenden bemüht sind, die Quermäuler in der Nähe des Flosses aufzuhalten.

Daoulas holt sein Zimmermannsbeil, das er als Angel zu benutzen gedenkt und dessen scharfe Schneide oder die derselben entgegengesetzte Spitze sich wohl in der Kinnlade eines Haies festsetzen könnten, wenn ein solcher darauf anbeißt. Der hölzerne Stiel des Beiles wird also an ein Greling (d. i. die kleinste Art Kabeltaue) befestigt und dieses an einen Tragbalken der Plattform gebunden.

Diese Vorbereitungen reizen unser Verlangen auf’s Aeußerste, und zitternd vor Ungeduld suchen wir die Aufmerksamkeit der Haie auf jede mögliche Weise rege zu erhalten, um sie nicht wegschwimmen zu lassen.

Der Haken ist bereitet, aber wieder fehlt es an einem Köder für denselben, und der Hochbootsmann, der vor sich hinmurmelnd da- und dorthin läuft und das ganze Floß durchsucht, hat das Aussehen, als forsche er nach einem Leichnam unter uns!…

Man muß endlich nochmals zu der schon früher versuchten Aushilfe greifen, das Eisen des Beiles mit einem Stücke rothen Stoffes zu umwickeln, den wiederum Miß Herbey’s Shawltuch liefert.

Der Hochbootsmann will aber nichts ohne die sorgsamsten Vorsichtsmaßregeln für ein glückliches Gelingen unternehmen. Ist der Haken wohl haltbar genug befestigt? Wird die Leine, welche diese Angel mit dem Flosse verbindet, nicht reißen? Wird der Tragbaum das Zerren eines gefangenen Haies aushalten? Der Hochbootsmann unterrichtet sich erst über alle diese jetzt sehr wichtigen Punkte und läßt erst dann sein Angelgeräth in das Wasser gleiten.

Das Meer ist so klar und durchsichtig, daß man in einer Tiefe von hundert Fuß noch jeden Gegenstand zu unterscheiden vermag. Ich folge dem hinabsinkenden Haifischhaken, dessen rothe Umhüllung sich leuchtend von dem Wasser abhebt, bequem mit den Augen.

Passagiere und Matrosen, Alle lehnen wir über die Schanzkleidung geneigt und beobachten das tiefste Stillschweigen. Es scheint aber, als ob die Haifische, seitdem ihnen dieser sonderbare Köder zugeworfen wurde, nach und nach verschwänden. Doch können sie unmöglich weit entfernt sein und würden gewiß jede ihnen erreichbare Beute schnell verschlingen.

Plötzlich giebt der Hochbootsmann mit der Hand ein Zeichen und weist auf eine ungeheure Masse, welche nach dem Flosse zu gleitet und fast die Oberfläche des Wassers streift. Es ist ein wohl zwölf Fuß langer Haifisch, der die Tiefe verlassen hat und in gerader Linie auf uns zu schwimmt.

Sobald das Thier nur noch vier Faden vom Flosse entfernt ist, zieht der Hochbootsmann vorsichtig seine Leine an, um den Haken jenem zu Gesicht zu bringen, und theilt dem rothen Packen eine leichte Bewegung mit, die ihm das Aussehen eines lebenden Körpers verleiht.

Ich fühle das heftige Klopfen meines Herzens, als wohne meine ganze Lebenskraft nur in diesem Organe!

Indessen nähert sich der Hai; seine gierigen, großen Augen leuchten fast auf der Oberfläche des Meeres und seine halbgeöffneten Kiefern zeigen die furchtbare Reihe seiner spitzen Zähne.

Da erhebt sich ein Schrei! … Der Haifisch hält an und verschwindet in der Tiefe des Wassers.

Wer von uns hat diesen Schrei, wenn auch unwillkürlich, ausgestoßen?

Sofort erhebt sich der Hochbootsmann bleich vor Zorn.

»Den Ersten, welcher ein Wort spricht, schlage ich nieder«, sagt er.

Dann geht er wieder an seine Arbeit.

Alles in Allem hat er wohl recht, der Hochbootsmann.

Der Haifischhaken wird wieder hinabgelassen, doch während einer halben Stunde erscheint kein solcher Seeräuber wieder, so daß man den Apparat bis auf zwanzig Faden Tiefe hinabgehen läßt. Doch kommt es mir vor, als wenn die tieferen Wasserschichten etwas getrübt wären, woraus man wohl auf die Anwesenheit jener Quermäuler schließen könnte.

Wirklich bemerkt man an der Leine plötzlich ein so heftiges Rucken, daß dieselbe den Händen des Hochbootsmannes entgleitet; da sie aber an den einen Tragbalken des Flosses sicher befestigt ist, hat sie deshalb nicht verloren gehen können.

Ein Haifisch hat angebissen und sich gleichsam selbst harpunirt.

»Zu Hilfe, Jungens, zu Hilfe!« ruft der Seemann.

Sofort ergreifen Alle, Passagiere und Matrosen, die Angelleine. Die Hoffnung leiht uns neue Kräfte, doch kaum wollen diese hinreichen, denn das Thier wehrt sich furchtbar. Wir ziehen ganz gleichzeitig an, und nach und nach kommen die oberen Wasserschichten von dem heftigen Peitschen des Schwanzes und der großen Brustflossen des Ungeheuers in Aufruhr. Ich beuge mich hinaus und sehe den enormen Körper, der sich inmitten blutig gefärbter Wellen windet.

»Tapfer! Fest daran!« ruft der Hochbootsmann.

Endlich taucht der Kopf des Thieres auf. Unser Haken ist ihm durch den geöffneten Rachen bis in den Schlund eingedrungen und hat sich dort so festgesetzt, daß ihn keine Zuckung und kein Stoß wieder heraus zu reißen vermag. Daoulas ergreift schon eine Axt, um das Thier, wenn es nahe genug heran sein wird, zu erschlagen.

Da läßt sich ein kurzes, eigenthümliches Geräusch vernehmen. Der Haifisch hat seine mächtigen Kiefern geschlossen, den langen Stiel des Beiles glatt durchgebissen, und schnell entweicht er in die grünliche Tiefe. Ein allgemeiner Aufschrei der schmerzlichen Enttäuschung entringt sich uns!

Der Hochbootsmann, Robert Kurtis und Daoulas versuchen auch noch ferner, trotzdem sie nun keinen Haken und kein irgend brauchbares Ersatzmittel dafür mehr haben, einen jener Haie zu fangen. Sie werfen Taue mit Schlingen in’s Wasser, doch diese Lassos gleiten auf der schlüpfrigen Haut jener Quermäuler ab. Der Hochbootsmann geht sogar so weit, sie dadurch heranzulocken, daß er ein Bein hinter dem Flosse in’s Wasser hält, selbst auf die Gefahr hin, durch den Biß eines der Ungeheuer amputirt zu werden. …

Endlich giebt man diese fruchtlosen Versuche auf, und Jeder schleppt sich auf seinen gewohnten Platz zurück, in Erwartung des Todes, den jetzt nichts mehr abzuwenden im Stande ist.

Ich bin aber Robert Kurtis gerade nahe genug, um es zu verstehen, wie der Hochbootsmann Jenen leise fragt:

»Kapitän, wann loosen wir?«

Robert Kurtis hat zwar nicht geantwortet, aber diese Frage ist nun doch schon gestellt worden.

XLV.


XLV.

Am 16. Januar. – Wir liegen Alle auf den Segeln ausgestreckt, und die Mannschaft eines vorübersegelnden Schiffes würde eine mit Todten bedeckte Seetrift zu sehen meinen.

Ich leide furchtbar. Könnte ich bei dem jetzigen Zustande meiner Lippen, meiner Zunge, meiner Kehle überhaupt noch essen? Ich glaube es nicht, und doch werfen wir Alle, meine Gefährten und ich mit, einander wilde Blicke zu.

Die Hitze ist heute bei gewitterdrohendem Himmel noch stärker. Dicke Dünste wälzen sich empor, aber ich will glauben, daß es vielleicht überall regnen kann, nur über dem Flosse nicht.

Dennoch sieht Jeder mit begehrlichem Blicke diese Ansammlung von Wolken, und unsere Lippen lechzen nach ihnen. Auf den Knieen liegend erhebt Mr. Letourneur stehend die Hände nach dem unerbittlichen Himmel!

Ich lausche, ob irgend ein fernes Rollen ein Gewitter verkündigt. Es ist elf Uhr Morgens; die Dunstmassen verdecken jetzt die Sonne vollkommen, doch schon haben diese ihren elektrischen Charakter merklich eingebüßt. Offenbar wird sich kein Gewitter entladen, denn das ganze Gewölk hat eine gleichmäßige Färbung angenommen und seine am Morgen so scharfen Ränder sind in einer verbreiteten grauen Dunstmasse verschwunden und verschwommen, die jetzt nur noch einem in der Höhe schwebenden Nebel gleich zu achten ist.

Doch kann denn dieser Nebel keinen Regen gebären, und wäre es noch so wenig, wären es nur einige erquickende Tropfen!

»Da, der Regen, der Regen!« rief plötzlich Daoulas.

Und wirklich, in der Entfernung einer halben Meile hat der Himmel jene schrägen Striche, welche man beim Regen beobachtet, und ich sehe die Tropfen von der Wasserfläche wieder in die Höhe springen. Der Wind, der sich etwas mehr erhebt, treibt sie zu uns. Möchte dieselbe Wolke sich doch nicht vorher erschöpfen, bevor sie über uns weggegangen ist!

Gott hat endlich einmal Mitleid mit uns; in großen Tropfen fällt der Regen, so wie aus einer Gewitterwolke. Doch ein solcher Platzregen ist niemals von Dauer, und wir müssen, so schnell es angeht, möglichst viel davon aufzufangen suchen, denn schon färbt ein hellerer Lichtschein den unteren Rand der Wolke über dem Horizonte.

Robert Kurtis hat die halbzerbrochene Tonne so aufstellen lassen, daß sie möglichst viel Wasser aufnehmen kann, und ringsum spannt man die Segel in der Art auf, daß sie die größten Oberflächen bieten.

Wir liegen auf dem Rücken mit offenem Munde. Das Wasser benetzt mein Gesicht, meine Lippen, und ich fühle, daß es in meine Kehle dringt! O, unaussprechliche Freude! Das ist neues Leben, das in mich einzieht! Die Schleimhäute meiner Kehle werden bei dieser Benetzung wieder schlüpfrig, und ich athme die belebende Flüssigkeit fast noch mehr ein, als ich sie trinke.

Zwanzig Minuten lang hat der Regen angedauert, dann löst sich die halberschöpfte Wolke in der Atmosphäre auf.

Wir haben uns gebessert wieder erhoben, ja, »gebessert«. Man drückt sich die Hände, man spricht wieder! Es scheint, als ob wir gerettet wären!

Gott wird uns in seiner Barmherzigkeit noch andere Wolken senden, die uns noch mehr Wasser bringen werden, Wasser, das wir so lange entbehrt haben!

Und auch das Wasser, welches nur auf das Floß gefallen ist, wird ja nicht verdorben sein, denn die Tonne und die Leinwand haben es aufgefangen.

Aber es muß sorgsam aufbewahrt und darf nur tropfenweise vertheilt werden.

In der That, die Tonne enthält jetzt zwei bis drei Pinten Wasser, und wenn wir das noch ausdrücken, was die Segel eingesogen haben, so vermögen wir unsern Vorrath noch bis zu einer gewissen Grenze zu vermehren.

Die Matrosen wollen eben zu jener Operation schreiten, als Robert Kurtis sie durch einen Wink daran hindert.

»Einen Augenblick! ruft er. Wird dieses Wasser auch trinkbar sein?«

Ich sehe ihn staunend an. Warum soll dieses Wasser, das doch nur vom Regen herstammt, nicht trinkbar sein?

Indessen drückt der Kapitän ein wenig von dem aufgesaugten Wasser einer Segelfalte in die Weißblechtasse, kostet dasselbe, und zu meiner größten Verwunderung wirft er diese von sich.

Ich koste nun auch selbst. Das Wasser ist fast noch salzhaltiger, als das Meerwasser selbst!

Es rührt das daher, daß die so lange Zeit dem Einflusse der Wellen ausgesetzten Segel sich mit Salz imprägnirt und dem aufgefangenen Wasser einen sehr hohen Gehalt davon mitgetheilt haben. Das ist freilich ein nicht wieder gut zu machendes Unglück! Doch, sei es! Wir haben ja wieder Vertrauen, und in dem Fasse sind noch einige Pinten Wasser übrig! Dazu ist ja einmal Regen gekommen, – er wird auch wiederkehren!

XLVI.


XLVI.

Am 17. Januar. – Wenn unser Durst für einen Augenblick gestillt wurde, so erwachte als ganz natürliche Folge davon unser Hunger desto wüthender. Giebt es denn kein Mittel, sich ohne Haken oder Köder eines dieser Haifische zu bemächtigen, welche sich rings um das Floß tummeln? Nein, man müßte sich denn selbst in’s Meer stürzen, um mit dem Messer eines dieser Ungeheuer in seinem eigenen Elemente anzugreifen, so wie es die Indianer der Perlenfischereien thun. Robert Kurtis hat daran gedacht, dieses Abenteuer zu bestehen. Wir halten ihn zurück. Die Haifische sind zu zahlreich, und es hieße sich ohne irgend einen Nutzen nur einem gewissen Tode weihen.

Ich mache die Bemerkung, daß, wenn der Durst hinweggetäuscht werden kann, etwa durch Eintauchen in’s Wasser oder durch Kauen irgend eines Gegenstandes, es sich mit dem Hunger nicht ebenso verhält, und daß Nichts im Stande ist, die eigentlichen Nahrungsmittel zu ersetzen. Außerdem kann das Wasser Schiffbrüchigen stets durch ein natürliches Ereigniß bescheert werden, z. B. durch den Regen. Wenn man also niemals zu verzweifeln braucht, vor Durst zu sterben, so kann man doch viel leichter durch Hunger wirklich umkommen.

Wir sind nun schon an diesem Punkte angelangt, und einige meiner Gefährten sehen sich gegenseitig mit wahrhaft gierigen Augen an. Man vergegenwärtige sich, auf welchem Abhange unsere Gedanken weiter gleiten und bis zu welchem Grade der Wildheit die durch ein einziges Verlangen gereizten Unglücklichen herabkommen können!

Seitdem die Gewitterwolken, welche uns einen halbstündigen Regen bescheert, vorüber sind, ist auch der Himmel wieder klar geworden. Einen Augenblick frischte der Wind auf, aber jetzt hat er sich wieder ganz gelegt, und das Segel schlottert am Maste. Uebrigens sehnen wir ihn uns gar nicht mehr als bewegende Kraft herbei. Wo befindet sich das Floß? Nach welchem Punkte des Atlantischen Oceans haben die Strömungen es wohl getrieben? Niemand vermag es zu sagen, noch zu bestimmen, ob wir den Wind jetzt lieber aus Osten, oder aus Norden oder Süden wehen sähen! Wir verlangen nur eines von ihm, daß er unsere Brust erfrische, daß er der trockenen Luft, die uns verzehrt, ein wenig Wasserdunst beimische, daß er die unausstehliche Hitze mäßige, welche die feurige Sonne vom Zenith herabgießt.

Der Abend ist gekommen, und bis Mitternacht, d. h. bis zu der Stunde, da der Mond aufgeht, der in sein letztes Viertel tritt, wird es dunkel sein. Die etwas verschleierten Sternbilder flimmern nicht mit dem hellen Lichte der kalten Nächte.

Eine Beute eines wahrhaften Deliriums und unter der Qual des fürchterlichsten Hungers, der sich immer mit Anbruch des Tages zu verdoppeln scheint, strecke ich mich auf einen Haufen Segel, die am Steuerbord liegen, und neige mich über das Wasser, um seine Frische einzuathmen.

Wie viele meiner Gefährten, welche an ihrem gewohnten Platz liegen, mögen wohl im Schlummer ein Vergessen ihrer Leiden finden? Vielleicht Keiner! Was mich betrifft, so ist mir der Kopf wüst und leer und von ängstlichem Alpdrücken belästigt.

Inzwischen bin ich einer krankhaften Betäubung, die weder Wachen noch Schlaf zu nennen ist, verfallen, und es ist mir unmöglich, anzugeben, wie lange ich mich in diesem Zustande der Prostration befunden hatte, als ich plötzlich durch ein eigenthümliches Geräusch wieder zu mir kam.

Ich glaubte zu träumen, denn meine Nase traf ein an Bord ganz unbekannter Duft, den der Wind mir dann und wann zuwehte. Meine Nasenlöcher erweiterten sich … »Was bedeutet dieser Geruch!« bin ich schon versucht auszurufen … eine Art Instinct hält mich davon zurück, und ich suche, so wie man in seinem Gedächtnisse einem vergessenen Worte oder Namen nachzuspüren pflegt.

Einige Augenblicke vergehen so. Die Intensität jener Ausdünstung, welche stärker zu werden scheint, läßt mich sie gieriger aufsaugen.

»Das ist ja aber, sage ich mir plötzlich, wie ein Mensch, der sich besonnen hat, das ist ja der Geruch von geräuchertem Fleische.«

Noch einmal suche ich mich zu versichern, daß meine Sinne mich nicht getauscht haben, und doch, auf diesem Flosse …

Ich erhebe mich auf die Knie, ich rieche von Neuem, ich, man verzeihe mir den Ausdruck – ich durchschnüffle diese Luft ringsum; und noch einmal trifft jener Geruch meine Nase. Also befinde ich mich unter dem Winde von jenem lieblich duftenden Gegenstande, und folglich ist derselbe auf dem Vordertheil des Flosses zu suchen.

So schleiche ich denn, kriechend wie ein Thier, von meinem Platze und stöbere überall, nicht mit den Augen, aber mit der Nase umher, gleite unter den Segelstücken hin, in und durch das Untergestell, immer mit der Vorsicht einer Katze, um die Aufmerksamkeit meiner Gefährten nicht zu erregen.

Einige Minuten lang krieche ich so in alle Winkel, vom Geruche wie ein Spürhund geführt. Bald verliere ich die Spur, entweder wenn ich mich zu weit von derselben entfernte, oder der Wind sich vollkommen legte, und bald trifft mich die Ausdünstung mit erneuter Stärke. Endlich bin ich im Stande, die Spur festzuhalten, ihr zu folgen, und ich fühle es gleichsam, daß ich jetzt auf den Gegenstand meiner Nachforschung gerade zugehe!

Da erreiche ich im Vordertheile die Ecke am Steuerbord und erkenne jetzt deutlich, daß jener Geruch von einem Stück geräuchertem Speck herrührt. Nein, ich täusche mich nicht; es ist mir, als ob alle Nervenpapillen meiner Zunge vor Verlangen sich strotzend erhöben!

Jetzt schlüpfe ich unter einen dicken Haufen Segelwerk. Niemand sieht mich, Niemand hört mich. Ich gleite auf den Knien, auf den Ellenbogen hin. Ich strecke den Arm aus, und meine Hand erfaßt einen in Papier gewickelten Gegenstand. Schnell hole ich ihn hervor und sehe ihn beim Scheine des Mondes, der gerade jetzt über den Horizont emporsteigt, näher an.

Es ist keine Illusion! Ich halte ein Stück Speck in der Hand, kaum ein Viertelpfund, doch das vermag für einen ganzen Tag meine Qualen zu stillen, und schnell führe ich es zum Munde.

Da hält eine andere Hand die meinige zurück. Ich drehe mich um, kaum kann ich mich eines Murrens enthalten, und erkenne den Steward Hobbart.

Jetzt wird mir Alles klar; das eigenthümliche Benehmen Hobbart’s, seine verhältnißmäßig gute Gesundheit, seine erheuchelten Klagen. Bei Gelegenheit des Schiffbruchs hat er einigen Mundvorrath zu bergen gewußt, den er in einem Verstecke unterbrachte, und er hat sich genährt, während wir Anderen vor Hunger sterben wollten! O, der Schurke!

Doch nein! Hobbart hat vielleicht ganz klug gehandelt. Ich finde, daß er ein sehr vorsichtiger Mann ist, und wenn er ohne Wissen der Uebrigen etwas an Nahrungsmitteln aufbewahrt hat, so ist das desto besser für ihn… und für mich.

Hobbart ist aber dieser Meinung nicht. Er ergreift meine Hand und sucht mir das Stück Speck wieder zu entreißen, doch ohne ein Wort zu sprechen, da er die Aufmerksamkeit der Anderen zu erregen fürchtet.

Wir kämpfen schweigend, denn ich habe ja dieselbe Ursache, still zu sein. Ich will natürlich nicht, daß noch Andere dazukommen, mir meine Beute abzujagen, und wehre Hobbart mit allen Kräften ab; da höre ich ihn die Worte zwischen den Zähnen murmeln: »Mein letztes Stückchen! Mein letzter Bissen!«

Sein letzter Bissen! Aber er muß um jeden Preis mein werden, und ich packe meinen Gegner an der Gurgel, der unter meinen Händen nach Luft schnappt und bewegungslos zusammensinkt – die Beute ist mein!

Und während ich Hobbart noch immer nieder halte, zermalme ich den Speck zwischen den Zähnen…

Dann lass‘ ich den Unglücklichen los, krieche wieder fort und nehme meinen Platz am Hintertheile wieder ein.

Niemand hat mich bemerkt. Ich habe einmal gegessen!

XXXIX.


XXXIX.

Am 5. und 6. Januar. – Diese Scenen haben uns tief ergriffen. Owen’s unter den thatsächlichen Verhältnissen gegebene Antwort ist wohl geeignet, auch die Muthigsten niederzuschlagen.

Sowie ich ein wenig wieder zur Ruhe gekommen bin, habe ich dem jungen Letourneur meinen Dank dafür ausgesprochen, daß er mir durch seine Intervention das Leben gerettet hat.

»Sie danken mir, antwortet er, wo Sie mir fluchen sollten!«

– Ihnen, André?

– Mr. Kazallon, ich habe ja nichts gethan, als Ihre Leiden verlängert!

– Darauf kommt es nicht an, Mr. Letourneur, mischt sich da Miß Herbey ein, Sie haben Ihre Pflicht gethan!«

Immer dasselbe Gefühl der Pflicht, welche dem jungen Mädchen über Alles geht! Sie ist durch die grausamen Entbehrungen abgemagert, ihre durch die fortwährende Feuchtigkeit verdorbenen und schadhaft gewordenen Kleider flattern umher, doch keine Klage kommt aus ihrem Munde und Nichts vermag ihr den Muth zu rauben.

»Mr. Kazallon, fragt sie mich, nicht wahr, wir werden Hungers sterben müssen? – Wie lange kann man wohl leben, ohne zu essen?

– Weit länger, als man glauben sollte! Vielleicht lange, unbestimmbare Tage!

– Kräftige Personen leiden ja wohl dabei am meisten?

– Ja, aber sie unterliegen schneller, das gleicht sich aus.«

Wie war ich nur im Stande, dem jungen Mädchen so zu antworten? Wie? Ich fand kein Wort des Trostes für sie? Ich habe ihr die gräßliche Wahrheit schonungslos in’s Gesicht geschleudert! Ist denn in mir jedes menschliche Gefühl erloschen? André Letourneur und sein Vater, die mich hören konnten, sahen mich wiederholt erstaunt mit ihren großen, vom Hunger erweiterten Augen an. Sie schienen sich zu fragen, ob ich es war, der also sprach.

Einige Minuten später, als wir ziemlich allein waren, sagte mir Miß Herbey mit leiser Stimme:

»Mr. Kazallon, würden Sie mir wohl einen Dienst erweisen?

– Gern, Miß, habe ich erregt geantwortet; bereit, für das junge Mädchen Alles zu thun.

– Wenn ich vor Ihnen sterbe, fährt Miß Herbey fort, und das kann ja der Fall sein, trotzdem ich schwächlicher bin, – so versprechen Sie mir, meine Leiche in’s Meer zu werfen.

– Miß Herbey, ich that sehr unrecht …

– Nein, nein, fällt sie mir trübe lächelnd in’s Wort, Sie thaten ganz recht daran, mir Alles zu sagen, nur versprechen Sie mir die Erfüllung meiner Bitte. Es ist wohl eine Schwäche von mir. Lebend fürchte ich Nichts … aber todt … versprechen Sie mir, mich in’s Wasser zu werfen.«

Ich habe es ihr versprochen. Miß Herbey reicht mir die Hand zum Danke, und ich fühle, wie ihre mageren Finger leise die meinigen drücken.

Noch eine Nacht ist vorübergeschlichen. Zu Zeiten sind meine Qualen so arg, daß ich unwillkürlich aufschreie; dann mildern sie sich wohl auch wieder, und ich versinke in eine Art Stumpfsinn. Beim Wiedererwachen wundere ich mich, meine Leidensgefährten noch lebend zu finden.

Derjenige von uns, der am wenigsten zu leiden scheint, ist der Steward Hobbart, von dem bis jetzt nur wenig die Rede gewesen ist. Es ist ein kleiner Mann von zweideutigem Aussehen, mit schmeichlerischen Blicken und einem ewigen Lächeln, »das aber nur seine Lippen angeht«; seine Augen sind stets halb geschlossen, so als wollte er seine Gedanken verbergen, und seine ganze Erscheinung athmet Falschheit. Er ist ein Heuchler, ich schwöre darauf. Und wirklich, wenn ich sagte, daß ihm die Entbehrungen am wenigsten zuzusetzen schienen, so ist damit nicht etwa gesagt, daß er keine Klagen laut werden ließe. Im Gegentheil, er seufzt ohne Unterlaß, aber ich weiß nicht, warum mir sein Gewimmer nur affectirt vorkommt. Es wird sich das wohl zeigen. Ich werde diesen Menschen beobachten, denn ich habe einen Verdacht gegen ihn, über den ich mir gern klar würde.

Heute, am 6. Januar, nimmt mich Mr. Letourneur bei Seite, führt mich nach dem Hintertheile des Flosses, und das mit dem Aussehen, als habe er mir eine »geheime Mittheilung« zu machen. Er wünscht weder gesehen noch gehört zu werden.

Ich begebe mich mit ihm nach der hinteren Ecke des Backbord, und nachdem der Abend angebrochen, vermag uns Niemand mehr zu sehen.

»Mein Herr, beginnt Mr. Letourneur mit leiser Stimme, André ist sehr schwach! Mein Sohn stirbt mir vor Hunger! Ich kann das nicht lange mit ansehen! Nein, ich kann es nicht!«

Mr. Letourneur spricht in einem Tone, dem man den verhaltenen Zorn anmerkt, und sein Accent hat etwas Wildes an sich; doch begreife ich wohl, wie dieser Vater leiden mag!

»Lieber Herr, sage ich und ergreife seine Hand, verzweifeln wir noch nicht. Wenn ein Schiff …

– Ich verlange von Ihnen keine billigen Trostesworte, unterbricht mich der arme Vater. Es wird hier kein Schiff vorbei kommen, das wissen Sie recht gut. Nein, es handelt sich um etwas Anderes. Seit wann hat mein Sohn, haben Sie selbst und wir Alle nichts gegessen?«

Diese Frage läßt mich einigermaßen erstaunen, und ich antworte:

»Seit dem 2. Januar ist der Zwieback ausgegangen. Wir haben jetzt den 6., es sind demnach vier Tage, daß …

– Daß Sie nichts gegessen haben! Nun wohl, bei mir sind es schon acht!

– Acht Tage!

– Ja! Ich habe für meinen Sohn gespart!«

Bei diesen Worten brechen ihm Thränen aus den Augen. Ich fasse Mr. Letourneur’s Hand. Kaum bin ich im Stande zu reden. Ich sehe ihn bewundernd an … acht Tage!

»Herr! Mein Herr, sage ich endlich, was verlangen Sie von mir?

– Halt! Nicht so laut! Es darf uns Niemand hören!

– So sprechen Sie! …

– Ich möchte …, und seine Stimme wurde noch leiser, ich wünsche, daß Sie André von meinem Ersparten anbieten …

– Aber können Sie das nicht selbst? …

– Nein, nein! Er würde glauben, daß ich mich für ihn beraubt habe … er würde es nicht annehmen … nein, es muß von Ihnen kommen …

– Mr. Letourneur! …

– Aus Mitleiden, bittet mich der unglückliche Vater, aus Erbarmen leisten Sie mir diesen Liebesdienst, den größten, um den ich Sie angehe … übrigens … für Ihre Bemühung …« Mr. Letourneur ergreift meine Hand und streichelt sie zärtlich.

»Für Ihre Bemühung können Sie ja auch ein wenig davon essen!…«

Armer Vater! Bei seinen Worten zittere ich wie ein Kind! Mein ganzes Wesen ist in Aufregung und mein Herz arbeitet zum Zerspringen. Gleichzeitig fühle ich, wie Mr. Letourneur ein Stück Schiffszwieback in meine Hand gleiten läßt.

»Nehmen Sie sich in Acht, daß Niemand Sie gewahr wird, sagt er. Die Ungeheuer fielen über Sie her und tödteten Sie! Das ist nur für einen Tag, doch morgen werde ich Ihnen ebenso viel übergeben!«

Der Unglückliche traut mir nicht! Vielleicht hat er recht, denn so wie ich das Stück Zwieback in meinen Händen fühle, kann ich’s mir kaum verwehren, es zum Munde zu führen!

Doch, ich habe mich überwunden, und wer diese Zeilen liest, wird begreifen, was meine Feder jetzt nicht zu schildern vermag.

Mit der in diesen niedrigen Breiten eigenthümlichen Schnelligkeit ist die Nacht hereingebrochen. Ich schleiche mich vorsichtig zu André Letourneur und biete ihm das kleine Stückchen Zwieback an, »so als ob es von mir käme«!

Der junge Mann erfaßt es mit Begierde.

»Und mein Vater?« sind seine nächsten Worte.

Ich versichere ihm, daß sein Vater auch seinen Theil hat … ich den meinen, daß ich ihm morgen … die folgenden Tage auch noch so viel würde zukommen lassen können! … Er möge es nur nehmen … nur nehmen! …

André hat mich nicht gefragt, woher dieser Zwieback komme, und hat ihn schleunig zum Munde geführt.

Und diesen Abend habe ich trotz Mr. Letourneur’s Angebot nichts gegessen … gar nichts!

XXXIII.


XXXIII.

Vom 18. bis 20. December. – Heute hat das Wetter sich geändert und der Wind aufgefrischt. Wir klagen nicht darüber, denn er ist uns günstig. Nur wird der Mast aus Vorsorge noch mehr verstärkt, um in Folge des Segeldrucks ein Brechen desselben zu verhindern. Nachdem das geschehen, bewegt sich unsere schwerfällige Maschine mit größerer Schnelligkeit fort und läßt eine Art langen Kielwassers hinter sich.

Nachmittags haben einige Wolken den Himmel bedeckt, und ist die Hitze weniger stark gewesen. Der Seegang hat das Floß mehr umhergeworfen, und zwei- oder dreimal schlug eine Welle auf dasselbe hinauf. Zum Glück hat der Zimmermann aus früheren Schiffsplanken eine Art Schanzkleidung errichten können, die uns bei einer Höhe von zwei Fuß besser gegen das Meer schützt.

Auch die Fässer mit den Lebensmitteln und die Wassertonnen werden mit doppelten Tauen noch sicherer befestigt. Wenn eine Sturzsee diese uns entführte, würden wir in die ärgste Noth gerathen, und Niemand vermag an einen solchen Unfall ohne Schaudern zu denken!

Am 18. haben die Matrosen einige, auch mit dem Namen Sargasso bezeichnete Seepflanzen aufgefischt, welche denen auf unserer Fahrt von den Bermuden bis nach Ham-Rock angetroffenen sehr ähnlich sind. Sie bestehen aus langen Schlinggewächsen mit einem zuckerhaltigen Safte, und ich berede meine Gefährten zu einem Versuche, die Stengel zu kauen. Sie thun es und bekennen mir, das Gefühl von wohlthuender Erfrischung des Gaumens und der Lippen davon zu haben.

Sonst ereignet sich an diesem Tage nichts Neues; nur fällt es mir auf, daß einige Matrosen, vorzüglich Owen, Burke, Flaypol, Wilson und der Neger Jynxtrop, immer unter einander zu zischeln haben, ohne daß mir der Gegenstand, um den es sich handelt, klar wird. Ich bemerke auch, daß sie sofort schweigen, wenn sich ihnen einer der Officiere oder der Passagiere nähert. Robert Kurtis hat schon vor mir dieselbe Beobachtung gemacht. Diese heimlich geführten Gespräche mißfallen ihm, und nimmt er sich vor, auf jene Leute ein wachsames Auge zu haben. Der Neger Jynxtrop und der Matrose Owen sind bekanntermaßen zwei Spitzbuben, denen man nicht viel trauen darf, da sie die Anderen gern zu verführen suchen.

Am 19. wird die Hitze ganz unerträglich, und zeigt sich kein Wölkchen am Himmel. Der schwache Luftzug schwellt die Segel nicht mehr, das Floß bleibt auf einer Stelle. Einige Matrosen sind in’s Meer gegangen, und dieses Bad hat ihnen eine thatsächliche Erleichterung verschafft, indem es ihren Durst einigermaßen verminderte. Doch ist es nicht ungefährlich, sich in die von Haifischen unsicher gemachten Wellen zu wagen, und Keiner von uns hat Lust verspürt, es jenen Leichtsinnigen nachzuthun. Wer weiß, ob sich das in Zukunft nicht ändert? Wenn man das unbewegte Floß sieht, die langen ungefurchten Wellen des Oceans, das schlaffe Segel am Maste, liegt da nicht die Befürchtung nahe, daß diese Verhältnisse lange Zeit so fortdauern könnten?

Die Gesundheit des Lieutenant Walter flößt uns von Tag zu Tag mehr Sorge ein. Der junge Mann wird von einem schleichenden Fieber verzehrt, das ihm in regellosen Anfällen zusetzt. Vielleicht vermöchte schwefelsaures Chinin dasselbe zu unterdrücken. Doch, ich wiederhole es, das Oberdeck ist so rasch verschlungen worden, daß der Arzneikasten dabei mit verloren ging. Uebrigens leidet der junge Mann offenbar an der Verzehrung, und hat diese unheilbare Krankheit seit einiger Zeit in ihm reißende Fortschritte gemacht. Schon die äußerlichen Symptome setzen das außer Zweifel. Walter quält sich jetzt mit einem trockenen Husten, sein Athem ist kurz, und vorzüglich gegen Morgen befällt ihn ein reichliches Schwitzen; er magert sichtlich ab, seine Nase wird spitzer, die hervorstehenden Backenknochen stechen durch ihre umschriebene Röthe von dem bleichen Gesicht auffallend ab; seine Wangen sind hohl, die Lippen etwas verzogen, die Bindehaut des Auges leuchtend und schwach bläulich gefärbt. Doch selbst wenn der Lieutenant jetzt noch in besseren Zuständen wäre, dürfte sich die Heilkunst ohnmächtig erweisen gegenüber einem Leiden, das kein Erbarmen kennt.

Am 20. – Derselbe Zustand der Atmosphäre, dieselbe Unbeweglichkeit des Flosses. Die Sonnenstrahlen durchdringen auch unser Zelt, und wir schmachten und seufzen bei der unbändigen Gluth. Mit welcher Ungeduld erwarten wir den Augenblick, in dem der Bootsmann die schmale Wasserration vertheilt, und mit welcher Gier verschlingen wir dann die wenigen Tropfen der lauwarmen Flüssigkeit! Wer niemals vor Durst am Verschmachten war, vermag sich diese Höllenqual gar nicht vorzustellen.

Der Lieutenant Walter ist sehr verdurstet und leidet schwerer von diesem Wassermangel, als irgend ein Anderer. Ich hab‘ es gesehen, daß Miß Herbey ihm fast die ganze empfangene Ration überließ. Das gefühlvolle und mitleidige junge Mädchen thut alles Mögliche, um die Leiden unseres unglücklichen Genossen wenn nicht zu stillen, so doch zu lindern.

Heute sprach mich Miß Herbey auch selbst an.

»Dieser Unglückliche wird tagtäglich schwächer, begann sie.

– Ja, Miß, habe ich ihr geantwortet, und wir können Nichts für ihn thun, gar Nichts!

– Vorsichtig, bittet Miß Herbey, er könnte uns hören!«

Dann setzt sie sich ganz an das Ende des Flosses und ergiebt sich, den Kopf in den Händen, ihren Gedanken.

Auch noch etwas recht Bedauerliches ist heute vorgekommen, was ich nicht übergehen darf.

Eine Stunde lang standen die Matrosen Owen, Flaypol, Burke und der Neger Jynxtrop in eifrigem, aber heimlich geführtem Gespräche zusammen, wobei sich ihre Erregtheit durch die lebhaftesten Gesticulationen verrieth. Nach Beendigung desselben begiebt sich Owen ganz ohne Umstände nach dem für die Passagiere reservirten Hintertheile des Flosses.

»Wohin willst Du, Owen? fragt ihn der Hochbootsmann.

– Dahin, wo ich etwas zu thun habe«, antwortet frech der Matrose.

Bei dieser unverschämten Antwort verläßt der Hochbootsmann seinen Platz, doch schon vor ihm steht Robert Kurtis Owen Auge in Auge gegenüber.

Der Matrose erträgt den zornflammenden Blick seines Vorgesetzten und beginnt mit frechem Tone:

»Kapitän, ich habe mit Ihnen im Namen meiner Kameraden zu sprechen.

– Rede, erwidert Robert Kurtis kurz und bündig.

– Es handelt sich um den Branntwein, fährt Owen fort. Sie wissen, das kleine Fäßchen … Wird das für die Meerschweine oder für die Officiere aufgehoben?

– Nun …? sagt Robert Kurtis.

– Wir verlangen jeden Morgen wie sonst gewöhnlich unseren Schluck.

– Nein, antwortet der Kapitän.

– Sie sagen …? ruft Owen.

– Nochmals: Nein!«

Der Matrose blickt Robert Kurtis scharf an und ein boshaftes Lächeln umspielt seine Lippen. Er zaudert einen Augenblick, ob er seine Forderung wiederholen soll, doch zieht er sich, ohne ein Wort hinzuzufügen, zurück und mischt sich unter seine Kameraden, mit denen er heimlich spricht.

Hat Robert Kurtis wohl recht daran gethan, jenes Verlangen so rundweg abzuschlagen? Das wird die Zukunft noch lehren.

Als ich ihn über die Sache sprach, antwortet er mir:

»Diesen Leuten noch Branntwein? Lieber werfe ich das Fäßchen in’s Meer!«

XXXIV.


XXXIV.

Am 21. December. – Jener Zwischenfall hat, wenigstens bis heute, weitere Folgen noch nicht gehabt.

Während einiger Stunden zeigen sich die Seebrassen wieder längs des Flosses, und wieder erlangt man eine große Anzahl derselben. Man schichtet sie in ein leeres Faß ein, und dieser Zuwachs an Nahrungsmitteln läßt uns hoffen, daß wir wenigstens vom Hunger verschont bleiben werden.

Der Abend ist gekommen, doch ohne die gewöhnliche Frische. Gewöhnlich sind nämlich die Nächte in den Tropen kühl, die heutige droht aber erstickend zu werden, und schwere Dunstmassen steigen langsam aus den Fluthen. Um ein Uhr dreißig Minuten früh wird Neumond sein. Tief dunkel bleibt es auch bis zu dem Augenblicke, da ein fernes Wetterleuchten anfängt, den Horizont zu erhellen.

Es treten lang und breit hinschießende elektrische Entladungen auf, welche ungeheure Strecken in Flammen setzen. Von Donner ist aber keine Spur, und die ganze Luft erscheint vielmehr erschreckend ruhig.

Zwei Stunden lang, während der wir immer nach einem minder glühenden Lüftchen schmachten, betrachten Miß Herbey, André Letourneur und ich jene Vorläufer eines Ungewitters, gewissermaßen die Vorversuche der Natur, und vergessen ganz unsere augenblickliche Lage über der Bewunderung des großartigen Schauspiels eines Kampfes zwischen den mit Elektricität geschwängerten Wolken. Man hätte hohe, mit Feuer bekrönte Zinnen zu sehen vermeint. Auch der roheste Mensch ist für diese furchtbaren Scenen empfänglich, und so wie wir, sehe ich auch die Matrosen nach der unaufhörlichen Feuererscheinung in den Wolken aufschauen. Ohne Zweifel betrachten sie diese »Streiflichter«, wie sie wegen ihrer fortwährenden Ortsveränderung nicht selten genannt werden, als Vorboten eines elementaren Kampfes nicht ohne eine gewisse Unruhe. Was wird auch aus dem Flosse werden, mitten zwischen der Wuth des Himmels und des Wassers?

Bis Mitternacht bleiben wir so am Hintertheile sitzen. Die leuchtenden Ausströmungen, deren Helligkeit die dunkle Nacht verdoppelt, übergießen uns mit einem lividen Scheine, ähnlich der Farbe, welche die Gegenstände annehmen, wenn die Flamme von Alkohol, in dem Kochsalz gelöst war, sie beleuchtet.

»Fürchten Sie sich vor dem Gewitter, Miß Herbey? fragt André Letourneur das junge Mädchen.

– Nein, mein Herr, antwortet Miß Herbey, das Gefühl in meinem Inneren möchte ich lieber das der Ehrfurcht nennen. Ist jenes nicht eine der prachtvollsten Erscheinungen, die wir nur je bewundern können?

– Nichts wahrer als das, Miß Herbey, antwortet ihr André, und vorzüglich, wenn der Donner grollt. Kann das Ohr ein majestätischeres Geräusch hören, und was ist dagegen die trockene, kurze Stimme unserer Geschütze? Der Donner ergreift die ganze Seele; er ist weniger ein Geräusch, als ein Ton, der an- und abschwillt, wie die getragene Note eines Sängers, und wenn ich offen sein soll, Miß, so hat mich niemals eines Künstlers Stimme so ergriffen, als diese große, unvergleichliche Stimme der Natur.

– Ja, ein tiefer Baß! sage ich lächelnd.

– Wirklich, antwortet André, möchten wir ihn bald zu hören bekommen, denn diese stummen Blitze sind effectloser.

– Meinen Sie das, mein lieber André? Hab‘ ich ihm erwidert. Ertragen Sie das Unwetter muthig, wenn es da ist, doch wünschen Sie es nicht herbei.

– Nun, aber das Gewitter ist uns gleichbedeutend mit Wind!

– Und mit Wasser, fügt Miß Herbey hinzu, mit Wasser, an dem es uns gebricht!«

Den jungen Leuten wäre wohl noch Manches zu erwidern gewesen, ich mag aber meine nüchterne Prosa nicht in die Poesie ihrer Stimmung hineinmischen. Sie betrachten das Gewitter von einem ganz eigenen Gesichtspunkte, und eine volle Stunde höre ich sie davon schwärmen und es herbei wünschen.

Inzwischen hat sich das Firmament allmälig hinter schweren Wolken versteckt, und die Sterne im Zenith erlöschen einer nach dem anderen, kurze Zeit nachdem die Sternbilder des Thierkreises verschwunden sind. Die dichten schwarzen Dunstmassen ballen sich über unserem Haupte, und verschleiern auch die letzten Lichter des Himmels. Jeden Augenblick erglänzt die Masse droben in fahlem Lichtscheine, von dem sich kleine graue Wolken abheben.

Bis jetzt hat sich die ganze in den Lüften angesammelte Elektricität geräuschlos entladen. Da die Luft aber sehr trocken, und in Folge dessen ein sehr schlechter Leiter ist, so kann sie zuletzt doch nur in furchtbaren Schlägen zur Ausgleichung kommen, und es scheint mir unmöglich, daß das Gewitter nicht in kürzester Zeit mit voller Wuth ausbrechen sollte.

Robert Kurtis und der Hochbootsmann sind der nämlichen Ansicht. Letzteren leitet nur sein unfehlbarer seemännischer Instinct; der Kapitän dagegen verbindet mit diesem Instincte des »weather-wise« auch noch die Kenntnisse des gebildeten Meteorologen. Es scheint mir, als bilde sich über uns eine dicke Wolkenschicht, die die Wetterkundigen »cloud-ring« nennen, und welche sich fast allein in der heißen Zone bildet, die mit all‘ dem Wasserdampfe überladen ist, den die Passatwinde ihr von allen Theilen des Oceans aus zuführen.

»Ja, Herr Kazallon, sagt Robert Kurtis zu mir, wir befinden uns in der Region der Gewitterstürme, denn der Wind hat unser Floß bis nach der Zone verschlagen, in der ein sehr feinhöriger Beobachter eigentlich unausgesetzt ein Rollen des Donners hören müßte.

– Mir scheint, antworte ich aufmerksam lauschend, als hörte ich jenes fortwährende Rollen, von dem Sie sprechen.

– Ich auch, sagt Robert Kurtis, jetzt ist das aber das erste Grollen des Gewitters, das binnen zwei Stunden in größter Heftigkeit wüthen wird. Nun, wir sind bereit, es zu empfangen.«

Keiner von uns denkt nur entfernt daran, zu schlafen; Niemand würde es auch im Stande sein, denn die schwüle Luft ist zum Ersticken. Die Blitze werden deutlicher, durchzucken den Horizont in einer Ausdehnung von hundert bis hundertundfünfzig Graden und setzen den ganzen Umkreis des Himmels in Flammen, während eine Art phosphorescirende Helligkeit sich in der Atmosphäre entwickelt.

Endlich wird das Rollen des Donners deutlicher und stärker; doch besteht es, wenn man so sagen darf, noch aus einem abgerundeten Tone, ohne scharfe Accente, aus einem Grollen, das noch kein Echo weckt. Das Himmelsgewölbe erscheint wie gepolstert mit diesen Wolken, deren Elasticität den Schall der elektrischen Entladungen erstickt.

Noch ist das Meer ruhig, schwer, fast stagnirend geblieben. Bei den langen Wellenbergen, welche sich zu erheben anfangen, können sich die Seeleute aber nicht mehr täuschen. Für sie ist das Meer »dabei, sich zu machen«, und in der Ferne wird jetzt schon ein Sturm ausgebrochen sein, dessen Rückwirkung es empfindet. Der entsetzliche Wind kann nicht mehr fern sein, und ein Schiff würde man aus Vorsicht schon jetzt ihm gerade entgegenstellen; aber mit dem Flosse ist nicht zu manoeuvriren, ihm bleibt nichts übrig, als vor dem Unwetter her zu fliehen.

Um ein Uhr Morgens zeigt uns ein greller Blitz, dem nach wenigen Secunden ein prasselnder Donnerschlag folgt, daß das Gewitter nun über uns ist. Der Horizont verschwindet plötzlich vor einem dichten Dunste, der sich massenhaft auf das Floß niederzusenken scheint.

Da läßt sich die Stimme eines Matrosen vernehmen:

»Da wälzt er sich heran! Der Sturm! Der Sturm!«

XXXV.


XXXV.

Die Nacht vom 21. zum 22. December. – Der Bootsmann stürzt nach dem Jöllseile, welches das Segel hält, und sofort wird die Stenge herabgelassen. Es war hohe Zeit, denn der Sturmwind braust furchtbar über uns hin. Ohne den warnenden Zuruf des Matrosen wären wir wohl halb umgeworfen worden. Das Zelt am Hintertheile reißt ein Windstoß weg.

Wenn das Floß nun auch vom Winde nicht mehr viel zu fürchten hat, da es zu flach ist, um ihm viel Angriffsfläche zu bieten, so ist das desto mehr bezüglich der ungeheuren Wellen der Fall, die der Orkan aufthürmt. Wenige Minuten hindurch schienen die Wogen wie niedergehalten und abgeplattet durch den Druck der Luftschichten; desto wüthender aber schwellen sie jetzt mehr als vorher in die Höhe.

Das Floß folgt den regellosen Bewegungen des empörten Wassers, und wenn es auch ebenso wenig von seiner Stelle weicht, so erzittert es doch unter einem fortwährenden Hin- und Herschwanken.

»Anbinden! Anbinden!« ruft der Hochbootsmann und wirft uns Seile zu.

Robert Kurtis ist uns zu Hilfe gesprungen, und bald sind die Herren Letourneur, Falsten und ich fest an das Gestell des Flosses geknüpft und können so lange bestimmt nicht fortgerissen werden, als jenes noch selbst zusammenhält. Miß Herbey hat sich an einen jener starken Pfähle gebunden, die ehedem unser Zeltdach trugen, und beim Scheine der Blitze sehe ich ihr immer heiteres Antlitz.

Ununterbrochen blendet jetzt das Feuer des Himmels und krachen die Donnerschläge. Dabei steht das ganze Dunstgewölbe um und über uns in Flammen. Auch vom Oceane möchte man wohl dasselbe sagen, und ich habe mehrere von den Wellen aufschlagende Blitze gesehen, welche gabelartig gespalten nach dem Firmamente züngelten. In der ganzen Atmosphäre verbreitet sich ein widerwärtiger Geruch nach Schwefel, bis jetzt ist aber das Floß von den Blitzstrahlen, welche nur die Wogen trafen, verschont geblieben.

Um zwei Uhr Morgens rast das Unwetter in voller Wuth. Der Wind ist zum Orkan geworden, und der entsetzliche Seegang droht unser Floß zu zerreißen. Der Zimmermann Daoulas, Robert Kurtis und mehrere Matrosen sind bemüht, es durch Taue noch mehr zu sichern. Ungeheure Sturzseen ergießen sich über das flache Bauwerk, und ein lauwarmer Wasserschwall durchnäßt uns bis auf die Knochen. Mr. Letourneur bietet dem wüthenden Anprall die Brust, als könne er seinen Sohn dadurch schützen.

Miß Herbey bleibt unbeweglich; man könnte sie für eine Bildsäule der Ergebenheit ansehen.

Bei dem nie verlöschenden Scheine der Blitze bemerke ich da sehr große und wahrscheinlich tiefgehende Wolken, die eine auffallend röthliche Farbe zeigen, und ein Knattern, wie von Kleingewehrfeuer, erfüllt die Lüfte. Es rührt das von dem eigenthümlichen Geräusche elektrischer Entladungen her, zu denen Hagelkörner als Mittelglieder zwischen einander eingesetzt geladenen Wolken dienen. Wirklich hat sich durch Aufeinandertreffen von Gewitterwolken und einem kalten Luftstrome Hagel gebildet, der jetzt mit unerhörter Gewalt niederfällt. Wir werden von den nußgroßen Körnern kartätscht, deren Aufschlagen auf die Plateform fast einen metallischen Ton erzeugt.

Eine halbe Stunde hält dieses Meteor an, welches den Wind einstweilen zu mäßigen scheint; nachdem dieser aber durch alle Compaßrichtungen gegangen, erhebt er sich wieder mit einer Gewalt ohne Gleichen. Der Mast des Flosses, dessen Strickleitern gerissen sind, wird quer gebogen, und man beeilt sich, ihn aus der Oeffnung zu heben, um das Abbrechen desselben zu verhüten. Unser Steuerruder wird durch einen Wellenschlag zerstört, und der Bootsriemen treibt fort, ohne daß es möglich wurde, ihn wieder zu erlangen. Gleichzeitig werden auch die Schutzwände des Backbords eingedrückt, und wüthend drängen sich die Wellen durch diese Bresche.

Der Zimmermann und die Matrosen wollen versuchen, dem Schaden beizukommen; bei den fortwährenden Stößen ist das aber unmöglich, und sie rollen fallend Einer über den Andern, als das Floß, durch eine ungeheure Woge emporgehoben, sich um einen Winkel von mehr als fünfundvierzig Graden neigt. Sind die Männer nicht mit weggerissen worden? Müssen die Stricke, welche uns halten, nicht zerreißen? Welches Wunder hat uns Alle bewahrt, daß wir nicht in’s Meer geschleudert wurden? … Ich weiß es nicht zu erklären. Mir scheint es fast unglaublich, daß das Floß bei den ungeordneten wilden Bewegungen nicht vollkommen umgestürzt wurde und wir, an seine Planken festgebunden, einem schrecklichen Tode entgingen!

In der That kommt das Floß gegen drei Uhr Morgens, als das Unwetter zügelloser als je vorher tobte, von dem Rücken einer bergeshohen Woge empor gehoben, fast auf die schmale Seite zu stehen. Ein Aufschrei des Schreckens erschallt! … Wir kentern! … Nein! … Das Floß hat sich auf dem Wogenkamme in unbestimmbarer Höhe erhalten, und wir vermochten bei dem intensiven Lichte der Blitze, die sich nach allen Richtungen hin kreuzen, vor Entsetzen erstarrt, das Meer zu überblicken, welches ringsum aufschäumt, als brandete es über Klippen hinweg.

Das Floß nimmt sofort seine horizontale Lage wieder an, aber in dem Augenblicke, da es schief stand, sind die Taue der Wassertonnen gerissen. Eine derselben habe ich über Bord gehen sehen, während der Inhalt der anderen zum Theil ausfloß.

Einige Matrosen springen hinzu, um das Faß, welches das conservirte Fleisch enthält, zu erhalten. Da klemmt sich der Fuß des Einen zwischen die etwas auseinander gewichenen Planken der Plateform und stößt der Unglückliche ein herzzerreißendes Geschrei aus.

Ich will ihm zu Hilfe eilen, und es gelingt mir auch, die Stricke um meinen Leib zu lösen … Zu spät! Bei einem blendenden Blitze erkenne ich noch, wie der Unglückliche, dessen Fuß wieder frei geworden ist, durch einen Wogenschwall, der sich donnernd über uns stürzt, hinweggerissen wird. Sein Kamerad ist mit ihm verschwunden, ohne daß es möglich wurde, Beiden zu Hilfe zu kommen.

Mich hat die Sturzsee auf die Plateform niedergeworfen, und ich habe durch Anschlagen des Kopfes auf einen vorspringenden Balken eine Zeit lang das Bewußtsein verloren.

XXXVI.


XXXVI.

Am 22. December. – Endlich ist der Tag angebrochen, und die Sonne kommt zwischen den letzten übrig gebliebenen Gewitterwolken wieder zum Vorschein. Dieser Kampf der Elemente hat nur wenige Stunden gewährt, doch er war entsetzlich, und Luft und Wasser wütheten mit einer unvergleichlichen Erbitterung.

Ich habe hier nur die Hauptvorgänge beschrieben, denn ich war in Folge der Bewußtlosigkeit nach meinem Sturze nicht im Stande, das Ende der Empörung der Natur zu beobachten. Ich weiß nur allein, daß der Orkan, kurze Zeit nach jener Sturzsee, sich durch Gegenwinde ermäßigt und die elektrische Spannung der Atmosphäre nachgelassen hat. Der Sturm hielt also über die Nacht hinaus nicht an. Doch welchen Schaden hat er auch in dieser kurzen Zeit uns verursacht, welche unersetzliche Verluste, und welches Elend droht nun über uns hereinzubrechen! Von dem Wasser, das er in Strömen herabgoß, haben wir nicht einen Tropfen auffangen können!

In Folge der Bemühungen der Herren Letourneur und der Miß Herbey bin ich bald wieder zu mir gekommen, aber Robert Kurtis‘ heldenmüthiger Hilfe verdanke ich es, daß ich durch eine zweite Sturzsee nicht mit hinweggespült wurde.

Der eine von den beiden durch das Unwetter umgekommenen Matrosen ist Austin, ein junger, gutmüthiger, thätiger und beherzter Mann von achtundzwanzig Jahren. Der andere ist der alte Ire O’Ready, der Ueberlebende so vieler Schiffbrüche!

Jetzt sind wir nur noch sechzehn Personen auf dem Floß, d. h. fast die Hälfte derer, welche sich an Bord des Chancellor eingeschifft haben, ist schon umgekommen.

Und nun, was verbleibt uns noch an Lebensmitteln?

Robert Kurtis suchte sich bald darüber Aufklärung zu schaffen. Worin bestehen jene, und wie lange Zeit werden sie reichen? Noch wird uns das Wasser nicht ganz fehlen, denn auf dem Boden der einen Tonne finden sich etwa noch vierzehn Gallonen, und die andere ist unversehrt. Aber das Faß mit dem conservirten Fleisch, und das, in welchem wir die gefangenen Fische aufbewahrten, sind uns Beide entführt worden, und von diesen Vorräthen besitzen wir nun absolut nichts mehr. Von dem Schiffszwieback sind nach Robert Kurtis‘ Abschätzung nicht mehr als sechzig Pfund gerettet worden.

Sechzig Pfund Schiffszwieback für Sechzehn, das ergiebt für eine Woche Nahrung, auf die Person täglich ein halbes Pfund gerechnet.

Robert Kurtis hat uns Alles bekannt gegeben. Schweigend haben wir ihm zugehört. Still ist auch der ganze Tag, der 22. December, vorübergegangen; Jeder war mit sich selbst beschäftigt, doch offenbar wurden Alle von demselben Gedanken bewegt. Mir scheint es, als betrachte man sich gegenseitig mit ganz eigenthümlichen Augen, und zeige sich das Gespenst des Hungers schon von Weitem. Bis hierher hatte uns Speise und Trank noch nicht ganz und gar gefehlt. Jetzt indeß muß die Wasserration noch weiter verringert werden und noch mehr die an Zwieback!

Einmal näherte ich mich einer Gruppe auf dem Vordertheil lang hingestreckter Matrosen und hörte aus Flaypol’s Munde in ironischem Tone noch die Worte:

»Was einmal sterben soll, das thut schnell ab!«

– Ja, antwortet ihm Owen, sie lassen dann wenigstens ihren Theil den Anderen übrig!«

Der Tag schlich unter allgemeiner Niedergeschlagenheit dahin. Jeder empfing sein vorschriftsmäßiges halbes Pfund Schiffszwieback. Die Einen haben es voller Gier sofort verschlungen, Andere theilten es sorglich ein. Der Ingenieur Falsten scheint mir seine Ration in so viele Theile zerlegt zu haben, als er Mahlzeiten zu machen gewöhnt ist.

Wenn nur Einer uns überlebt, – Falsten wird dieser Eine sein!

XXXVII.


XXXVII.

Vom 23. bis zum 31. December. – Nach dem Sturm hat der Wind sich nach Nordosten gewendet und zur günstigen Brise umgestaltet. Wir müssen ihn benutzen, da er uns nach dem Lande zu treiben verspricht.

Den Mast hat Daoulas jetzt sorgfältig wieder hergestellt, das Segel wird gehißt und das Floß treibt mit einer Schnelligkeit von zwei bis zwei und ein halb Meilen in der Stunde weiter.

Man hat auch versucht, mittels eines Pfahles und eines längs desselben aufgenagelten Brettes eine Art Steuer wieder herzustellen, das wohl oder übel seine Schuldigkeit thut. Bei der geringen Geschwindigkeit, die der Wind dem Flosse nur mittheilt, wird ihm eine größere Kraftäußerung auch nicht zugemuthet.

Die Plattform ist mit Keilen und Stricken so gut als möglich wieder in Stand gesetzt worden. Die auseinander gewichenen Planken sind auf’s Neue befestigt. Die Backbordschutzwände, welche der Sturm eingedrückt hatte, sind wieder hergestellt und leisten dem Eindringen der Wellen Widerstand. Mit einem Worte, alles nur irgend Mögliche, was diesem Bauwerke aus Maststücken und Segelstangen Festigkeit verleihen kann, ist geschehen; doch droht uns von dieser Seite die ärgste Gefahr ja nicht.

Mit dem reinen Himmel hat sich auch jene tropische Hitze wieder eingestellt, von der wir schon während der vorhergehenden Tage so unsäglich zu leiden hatten. Gerade heute ist sie übrigens durch die Brise einigermaßen gemildert, und da auch das Zeltdach auf dem Hintertheile wieder in Ordnung gebracht ist, suchen und finden wir unter demselben noch weiteren Schutz.

Inzwischen macht sich die Unzulänglichkeit unserer Nahrung ernsthafter fühlbar. Alle leiden sichtlich an Hunger, die Wangen sind hohl, die Gesichter klein geworden. Bei den Meisten scheint auch das Central-Nervensystem direct ergriffen, und erzeugt die Zusammenziehung des Magens eine schmerzhafte Empfindung. Hätten wir, um diesen Hunger zu täuschen oder einzuschläfern, ein Narcoticum, Opium oder nur Tabak, gewiß wäre er erträglicher, – aber uns fehlt ja Alles!

Ein Einziger fühlt dieses gebieterische Bedürfniß weniger: es ist der Lieutenant Walter, der eine Beute des heftigsten Fiebers ist, das keinen Hunger in ihm aufkommen läßt, während ihn fortwährend ein brennender Durst quält. Miß Herbey, die sich von ihrer eigenen schmalen Wasserration etwas für den Kranken abdarbt, hat von dem Kapitän eine kleine Zugabe erwirkt, und jede Viertelstunde träufelt sie ein wenig davon auf die Lippen des Lieutenants. Walter vermag kaum ein Wort zu sprechen und lohnt dem barmherzigen jungen Mädchen nur mit einem dankbaren Blicke. Der Aermste! Sein Urtheil ist gesprochen, und auch die zärtlichste Sorgfalt könnte ihn nicht retten, er wird wenigstens nicht allzulange zu leiden haben!

Uebrigens scheint er sich über seinen Zustand keiner Selbsttäuschung hinzugeben, denn er ruft mich durch ein Zeichen zu sich, und ich setze mich dicht neben ihn. Er rafft seine letzte Kraft zusammen, um zu sprechen, und haucht mir in unterbrochener Rede zu:

»Herr Kazallon, wird es mit mir noch lange dauern?«

So wenig ich auch nur mit der Antwort zögere, Walter bemerkt es doch.

»Die Wahrheit! fährt er fort. Bitte, die volle Wahrheit!

– Ich bin ja kein Arzt, ich kann nicht wissen …

– Das thut Nichts! Geben Sie mir Antwort, ich bitte Sie! …«

Ich fasse den Kranken aufmerksam in’s Auge, und lege mein Ohr auf seine Brust. Seit einigen Tagen hat die Phthisis furchtbare Fortschritte in ihm gemacht. Offenbar functionirt der eine Lungenflügel gar nicht mehr und vermag der andere dem Athembedürfnisse nur noch mit genauer Noth zu entsprechen. Gleichzeitig leidet Walter an einem sehr heftigen Fieber, das bei tuberculösen Erkrankungen ein Symptom des nahen Endes zu sein pflegt.

Was kann ich auf die Frage des Lieutenants antworten?

Forschend ruht sein Blick auf mir, so daß ich mir kaum zu helfen weiß, und ich suche nach einer ausweichenden Erwiderung.

»Mein lieber Freund, sage ich, bei der Lage, in der wir uns befinden, kann überhaupt Niemand von sich sagen, ob er noch lange zu leben habe. Wer weiß, ob nicht vor Ablauf einer Woche Alle, die das Floß jetzt trägt …

– Vor Ablauf einer Woche!« murmelt der Lieutenant, dessen brennender Blick auf mir haftet.

Dann wendet er den Kopf und scheint einzuschlummern.

Am 24., 25. und 26. December hat sich in unserer Situation nicht das Geringste geändert. So unglaublich es erscheinen mag, so haben wir uns doch an das Hungern allmälig gewöhnt. Die Berichte von Schiffbrüchigen haben nicht selten Thatsachen, welche mit den hier beobachteten übereinstimmen, angeführt. Wenn ich jene las, war ich geneigt, sie für Uebertreibungen anzusehen. Darin täuschte ich mich, und ich sehe jetzt wohl ein, daß ein Mangel an Nahrung weit länger ertragen werden kann, als ich je geglaubt hätte. Ueberdies hat der Kapitän unserem halben Pfunde Schiffszwieback jetzt einige Tropfen Branntwein hinzugefügt, und erhält dieses Régime unsere Kräfte mehr, als man annehmen sollte. O, wenn wir dieser Rationen für zwei Monate, ach, nur für einen, sicher wären! Doch unser Vorrath geht zu Ende, und Jeder kann den Augenblick voraussehen, in dem auch diese magere Nahrung uns völlig fehlen muß.

Um jeden Preis müssen wir also aus dem Meere eine Vermehrung unserer Nahrungsmittel zu erlangen suchen, was jetzt immerhin ziemlich schwierig ist. Indessen fertigen der Hochbootsmann und der Zimmermann aus aufgelösten Seilen neue Angelschnuren an und versehen diese mit aus den Planken gezogenen, krumm gebogenen Nägeln.

Der Hochbootsmann scheint mit dem Ergebnisse der Arbeit ganz zufrieden gestellt zu sein.

»Das sind zwar keine tadellosen Angelhaken, diese Nägel, sagt er zu mir, indeß ein Fisch könnte an ihnen ebenso gut hängen bleiben, wenn wir nur einen Köder daran hätten. Nun haben wir als solchen aber blos Schiffszwieback, der daran nicht lange halten kann. Wenn es erst gelungen ist, einen zu fangen, würde ich die Angeln mit seinem Fleische als Lockspeise versehen. Aber den ersten Fisch zu erlangen, darin liegt die große Schwierigkeit!«

Der Hochbootsmann hat recht, und voraussichtlich ist unser Angeln erfolglos. Indeß, man probirt es auf gut Glück, und die Schnüre werden ausgelegt. Wie zu erwarten stand, »beißt« indessen kein Fisch »an«, und offenbar ist das Meer hier auch nicht gerade fischreich.

Während des 28. und 29. December setzen wir unsere vergeblichen Versuche fort. Die Zweimarkstücken, welche an die Nägel gesteckt werden, erweichen sich natürlich im Wasser, fallen ab und bedürfen einer wiederholten Erneuerung. Damit verschwenden wir aber einen Theil der Substanz, welche unsere einzige Nahrung darstellt, und sind doch schon an dem Punkte angelangt, die letzten Brocken zu zählen.

Der Hochbootsmann, der die gewöhnlichen Mittel erschöpft hat, kommt auf den Einfall, ein Stückchen Stoffgewebe an die Nägel zu befestigen. Miß Herbey opfert deshalb eine Ecke des rothen Shawltuches, das sie trägt, und vielleicht lockt der rothe, unter dem Wasser lebhaft leuchtende Stoff einen gefräßigen Meeresbewohner an.

Im Laufe des 30. December schreitet man zu diesem neuen Versuche. Mehrere Stunden lang läßt man die Schnüre dem Flosse in beträchtlicher Tiefe nachschwimmen, doch wenn sie heraufgezogen werden, zeigt sich das rothe Wollenstückchen immer vollkommen unversehrt.

Dem Hochbootsmann sinkt aller Muth. Hier versiegt uns noch eine Quelle, auf die wir unsere Hoffnung setzten. Was würde man nicht für den ersten Fisch bieten, mit dem man dann andere zu fangen im Stande wäre!

»Ein einziges Mittel gäbe es noch, unsere Angeln mit einem Köder zu versehen! sagt der Bootsmann halblaut zu mir.

– Und welches? fragte ich ihn.

– Das werden Sie später erfahren!« antwortet mir der Seemann und wirft mir einen unverständlichen Blick zu.

Was sollen diese Worte eines Mannes bedeuten, den ich immer als sehr zurückhaltend gekannt habe? Die ganze Nacht hindurch kommen sie mir nicht aus dem Sinn.