Kapitel 11

 

11

 

Der Polizist war sprachlos vor Schrecken; er brachte den Chefinspektor nach Baynes Mews und zeigte ihm die Stelle, wo er mit Tickler gesprochen hatte. Surefoot drückte die Klinke der Haustür nieder, fand sie aber verschlossen. Er nahm einen Bund Dietriche aus seiner Tasche und versuchte damit die Tür zu öffnen. nach mehrmaligem Probieren schnappte das Schloß zurück. Zuerst leuchtete er mit der Taschenlampe die staubige Treppe hinauf und stieg dann nach oben. Auf dem Treppenabsatz sperrte ein Lattenverschlag die Wohnung ab. Auch diesen öffnete Smith mit einem Dietrich.

 

Ohne Durchsuchungsbefehl hatte er nicht das Recht, irgendein englisches Haus zu betreten, aber Surefoot kam es auf einen Rechtsbruch mehr oder weniger nicht an, wenn es sich um die Verfolgung eines Verbrechens oder manchmal auch nur um die Befriedigung seiner persönlichen Neugier handelte.

 

Endlich stand er oben in einem großen Raum, der außer einem eingebauten Kleiderschrank, einem Stuhl, einem Tisch, einem Ankleidespiegel und einem Waschtisch keine Möbelstücke enthielt. Ein viereckiger Teppich lag auf dem Boden, und an der Wand hing ein alter Öldruck, der die Hochzeit der Königin Viktoria darstellte. Er war billig eingerahmt und hing schief. Mr. Smith, der ein sehr ordentlicher Mann war, versuchte, das Bild geradezuhängen, und dabei stieß er gegen den Stuhl, und ein weißer Glacehandschuh fiel zu Boden. Smith nahm ihn auf und legte ihn auf den Tisch. Der weiße Handschuh hatte drei schwarze Streifen auf der Außenseite, und es steckte ein großer altmodischer Hausschlüssel darin.

 

Bemerkenswert war vor allem die Farbe des Fundes. Der Schlüssel war silbern angestrichen. Surefoot sah das unförmige Ding nachdenklich an. Ein Amateur hatte es bronziert, das sah er an der ungleich aufgetragenen Farbe. Am äußersten Ende war die Bronzierung wieder abgegangen, und das Eisen schimmerte durch. Der Schlüssel war viel benutzt worden.

 

Smith hielt ihn nahe an das elektrische Licht, konnte aber nichts Besonderes daran erkennen. Er verwahrte den Fund in der Tasche und setzte seine Nachforschungen fort. Die Tür zu dem Schrank war ein Teil der Holzverkleidung des Zimmers. Es fand sich kein Knopf und kein Handgriff daran, und das Schlüsselloch war so versteckt angebracht, daß man es erst suchen mußte. Selbst Surefoot, der in solchen Dingen Bescheid wußte, brauchte einige Zeit, bis er es fand.

 

Zuerst hielt er es für ein Yaleschloß, aber als er es dann mit seinem Taschenmesser untersuchte, stellte sich heraus, daß es ein ganz einfaches Schloß war. Im Schrank fand er einen Frack, einen Zylinder und einen Frackmantel. Auf dem Regal lagen Taschentücher, Wäschestücke, Socken, Krawatten und dergleichen mehr. Er durchsuchte die Taschen des Anzugs, konnte aber nichts finden, was auf die Persönlichkeit des Eigentümers schließen ließ. Ebensowenig entdeckte er ein Firmenschild auf der Innenseite des Rocks.

 

Sein weiteres Suchen förderte noch eine große Flasche teures Parfüm, ein Monokel an breitem, schwarzem Seidenband und einen verschlossenen Kasten zutage, aus dem er drei ausgezeichnet hergestellte Perücken nahm. Eine war in Silberpapier eingewickelt. Entweder war sie noch ganz neu oder eben erst aufgebessert worden.

 

Sorgfältig legte Smith die Gegenstände mit Ausnahme des Schlüssels und des Handschuhs wieder an ihren Platz zurück. Es war nicht gesagt, daß dies der Schlupfwinkel eines Verbrechers sein mußte. Wahrscheinlich fand alles eine harmlose Erklärung. Vielleicht gehörten die Sachen einem Schauspieler. Die Tatsache, daß Tickler auf den Treppenstufen saß und dem Gesang des Betrunkenen zuhörte, bedeutete zunächst nichts und würde vor Gericht auch keinen großen Eindruck machen.

 

Kapitel 12

 

12

 

Mary Lane atmete auf, als sie sich verabschieden konnte.

 

Sie wohnte in einem großen Häuserblock in der Marylebone Road und verfügte über drei kleine Zimmer und eine noch kleinere Küche. Aber hier fühlte sie sich zu Hause und unabhängig. Nur selten empfing sie Gäste und kaum Herrenbesuch, und auf keinen Fall lud sie für spät abends Besuch ein. Daher war sie etwas bestürzt, als ihr der Portier durch das Telefon sagte, daß eben ein Herr zu ihrer Wohnung hinaufgefahren wäre.

 

»Nein, ich habe ihn noch nicht gesehen«, erklärte der Mann auf ihre Frage. »Mr. Allenby war es nicht, aber er sagte, et kenne Sie.«

 

Zu ihrem Erstaunen klingelte gleich darauf Leo Moran an ihrer Tür.

 

»Es ist unverzeihlich von mir, daß ich Sie so spät noch störe, Miss Lane, aber es handelt sich für mich um eine äußerst wichtige und dringende Angelegenheit. Ich hoffe, Sie sind mir nicht böse. Ihr Mädchen schläft schon?«

 

Mary lächelte.

 

»Ich habe kein Mädchen.«

 

Die Situation war etwas unangenehm. Sie konnte ihn kaum in die Wohnung bitten, und noch weniger passend fand sie es, den Portier heraufzurufen. Schließlich ließ sie ihn eintreten, machte aber die Wohnungstür nicht zu.

 

Moran war nervös. Seine Stimme klang heiser, als er sprach, und die Hand, mit der er ein großes Kuvert aus der Tasche zog, zitterte.

 

»Ich hätte Sie nicht belästigt, wenn ich nicht bei meiner Rückkehr nach Hause einen sehr beunruhigenden Brief von meinem Vertreter vorgefunden hätte.«

 

Mary kannte Moran zwar, hatte ihn aber niemals als einen Freund betrachtet. Im Gegenteil, sie fühlte sich stets unangenehm berührt, wenn er uneingeladen in ihre Theatergarderobe trat. Da sie aber ihre Rente von dem alten Hervey Lyne bekam, war es selbstverständlich, daß Leo Moran als dessen Bankier ihr das Geld übergab.

 

»Ich will Ihnen gegenüber ganz offen sein, Miss Lane«, sagte er schnell und aufgeregt. »Es ist eine rein persönliche Angelegenheit, für die ich verantwortlich bin. Der einzige, der mich aus dieser peinlichen Lage befreien könnte, wäre Ihr Vormund, Mr. Hervey Lyne. Aber ich möchte im Augenblick nicht an ihn herantreten.«

 

Sie war aufs höchste erstaunt. Bisher hatte sie Mr. Moran nur als einen sehr ruhigen, beherrschten Mann gekannt, den nichts aus der Fassung bringen konnte. Nun stand er plötzlich vollständig unsicher vor ihr und stotterte wie ein Schuljunge.

 

»Wenn ich Ihnen helfen kann, will ich es gern tun«, erwiderte sie und wartete gespannt auf das, was er ihr zu sagen hatte.

 

»Es handelt sich um einige Aktien, die ich für einen Bankkunden kaufte. Mr. Lyne unterzeichnete die Oberweisung und die Ankaufsdokumente, aber der Käufer hat entdeckt, daß Sie auch noch Ihre Unterschrift geben müssen. Die Aktien machen nämlich einen Teil des Vermögens aus, das Mr. Lyne als Vormund für Sie verwaltet. Ich möchte noch hinzufügen«, erklärte er hastig, »daß der Preis, um den das Aktienpaket verkauft wurde, nahezu dem Einkaufspreis entspricht.«

 

»Ach, Sie wollen nur meine Unterschrift? Ich dachte, es wäre etwas viel Wichtigeres«, entgegnete sie erleichtert.

 

Er legte die Urkunde auf den Tisch, und sie sah, daß es sich so verhielt, wie er gesagt hatte. Sie hatte derartige Dokumente‘ schon öfters in der Hand gehabt. Er zeigte mit dem Finger auf die Stelle, wo sie unterschreiben mußte. Dicht darüber stand die Unterschrift des alten Lyne.

 

»So, das wäre erledigt.«

 

Er atmete auf.

 

»Sie werden mich für einen sehr ungezogenen Menschen halten, weil ich Sie zu dieser späten Stunde gestört habe. Aber ich kann Ihnen nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin, daß Sie mich noch empfangen haben. Ich habe nämlich Geld ausgezahlt und Werte aus der Hand gegeben, ohne die nötige Vollmacht zu besitzen. In dem Fall bin ich persönlich für die Summe haftbar. Wenn der alte Lyne zum Beispiel morgen sterben sollte, würde die Übertragung der Aktien einfach wertlos sein.«

 

Sie sah ihn merkwürdig an. »Aber der alte Lyne wird doch wahrscheinlich nicht morgen sterben?«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Ich weiß es nicht. Er ist ein alter Mann, und es ist vieles möglich.«

 

Plötzlich reichte er ihr die Hand.

 

»Gute Nacht – und nochmals herzlichen Dank.«

 

Sie schloß die Tür hinter ihm, ging in ihre kleine Küche und kochte sich eine Tasse Schokolade. Immer noch etwas verwirrt setzte sie sich auf den Küchentisch; während sie trank, überlegt? sie sich, was dieser mitternächtliche Besuch eigentlich bedeutete. Bei der Aufregung und Hast, die Moran gezeigt hatte, hätte man denken können, der alte Mann läge in den letzten Zügen. Aber Lyne war vollkommen frisch und munter gewesen, als Mary ihn das letzte Mal gesehen hatte.

 

*

 

Am nächsten Morgen rief Dick Allenby an und erzählte ihr von seinem Verlust. Sie konnte es zuerst nicht glauben und dachte, daß er einen Scherz mache. Erst als er von der Untersuchung des Chefinspektors Smith berichtete, kam ihr die volle Wahrheit zum Bewußtsein.

 

»Aber das ist ja schrecklich!«

 

»Surefoot hielt es für einen Akt der Vorsehung. Moran hat sich nicht darüber geäußert.«

 

»War er denn bei dir?« fragte sie schnell.

 

»Ja. Warum fragst du?«

 

Sie zögerte. Moran hatte offenbar gewünscht, daß sein Besuch bei ihr als eine Privatangelegenheit aufgefaßt werden sollte, und sie wollte ihn nicht verraten.

 

»Ach, nur so«, erwiderte sie. »Komm doch bitte zu mir und erzähle mir alles.«

 

Eine halbe Stunde später war er bei ihr, und sie wunderte sich, daß die Sache so wenig Eindruck auf ihn gemacht hatte und daß er in so guter Stimmung war.

 

»Es ist wirklich nicht so wichtig, wie es vielleicht aussieht. Wenn die Luftpistole gestohlen worden sein sollte, um mir das Patent zu entwenden, so wird der eventuelle Käufer schlau genug sein, sich zuerst bei den verschiedenen Patentämtern zu vergewissern, ob die Sache nicht bereits angemeldet ist. Und gerade heute morgen habe ich aus Deutschland die Mitteilung bekommen, daß meine Erfindung auch drüben eingetragen worden ist.«

 

Er wurde durch ein Klopfen an der äußeren Tür unterbrochen und öffnete einem zweiten Besucher. Mike Hennessey hatte bereits telefonisch um Erlaubnis gebeten, Mary schon so frühzeitig besuchen zu dürfen.

 

Mike wurde etwas verlegen, als er Dick Allenby vorfand. Er war im allgemeinen ein gutmütiger Charakter und großzügig, von Natur aus etwas träge und langsam in seinen Bewegungen. Besonders gesund sah er nie aus, aber an diesem Morgen war er auffallend blaß. Mary machte auch eine Bemerkung darüber.

 

Mike schüttelte den Kopf.

 

»Nein, krank bin ich nicht, ich habe nur schlecht geschlafen. Bitte, gehen Sie nicht, Mr. Allenby. Ich habe nichts Besonderes mit Miss Lane zu besprechen. Ich wollte nur wegen unserer Theateraufführung mit ihr reden. Das Stück muß abgesetzt werden.«

 

»Gott sei Dank!« rief Mary befriedigt. »Das ist die beste Nachricht, die ich seit Monaten gehört habe.«

 

»Für mich ist es aber ein schwerer Schlag«, entgegnete Mike bedrückt.

 

»Hat Mr. Wirth denn seine Unterstützung zurückgezogen?«

 

Mit dieser Frage kam sie der Wahrheit näher, als sie ahnte. Mr. Wirths wöchentlicher Scheck, der eigentlich am vergangenen Tag hätte kommen sollen, war ausgeblieben, und Mike nahm es nicht auf sich, unter diesen Umständen weiterzuspielen.

 

»Heute abend steht es schon in der Zeitung, daß wir am Sonnabend Schluß machen. Ich habe obendrein noch. Glück, daß ich das Theater weiterverpachten konnte. Ich wünschte nur, ich hätte mehr dabei herausgeschlagen. Vorige Woche habe ich ein besseres Angebot leider abgelehnt.«

 

Mike war noch viel nervöser und aufgeregter als Moran am Abend vorher. Er konnte die Hände nicht ruhig halten und nicht stillsitzen.

 

»Wer ist eigentlich dieser Mr. Wirth, und was macht er?« fragte Dick.

 

»Das weiß ich nicht. Er hat irgendein Geschäft in Coventry«, entgegnete Mike. »Ich überlege schon, ob ich nicht heute zu ihm fahren soll, um mit ihm zu sprechen. Aber das Wichtigste an der Sache ist folgendes. Morgen abend muß ich die Gagen zahlen, und ich habe nicht genug Geld auf der Bank. Vielleicht kommt der Scheck heute noch, dann ist alles in Ordnung. Nun ist Ihre Gage die größte, Mary. Würden Sie mir eine Woche Zahlungsaufschub geben, wenn ich das Geld von Mr. Wirth nicht bekomme?«

 

Sie war unangenehm überrascht. Bei der Aufführung anderer Stücke war die Zahlungsfähigkeit Mikes stets eine zweifelhafte Sache gewesen, aber bei dem Drama »Klippen des Schicksals« hatte er sich um die finanzielle Seite nicht zu kümmern brauchen. Was auch immer passieren mochte, das Geld für die Gagen war vorhanden gewesen.

 

»Natürlich stunde ich Ihnen die Bezahlung«, sagte sie. »Aber Mr. Wirth ist doch nicht etwa –«

 

»Sie meinen bankrott? Nein, das glaube ich nicht. Aber er ist ein merkwürdiger Mann«, meinte Mike unbestimmt.

 

Er sagte nichts weiter über diesen Punkt und war anscheinend zufrieden, daß er keine näheren Auskünfte zu geben brauchte. Etwas abrupt verabschiedete er sich.

 

»Der ist allerdings sehr stark im Druck«, sagte Dick. »Ich glaube, daß nicht allein der ausgebliebene Scheck von Mr. Wirth daran schuld ist. Es muß noch etwas anderes mitspielen.«

 

Er erhob sich.

 

»Komm doch mit zum Mittagessen«, lud er sie ein. Aber sie schüttelte den Kopf, sie wollte zu Hause bleiben.

 

Dick ging zum Scotland Yard und mußte eine halbe Stunde warten, bevor Surefoot Smith zurückkehrte. Der Chefinspektor konnte ihm nicht viel Neues erzählen. Eine Beschreibung des gestohlenen Modells war veröffentlicht worden.

 

»Aber das wird Ihnen nicht viel helfen«, meinte Smith. »Ich glaube nicht, daß der Dieb die Pistole in irgendein Pfandhaus trägt oder auf dem Markt verkauft. Kennen Sie eigentlich einen Mr. Washington Wirth?« fragte er plötzlich.

 

»Ich habe von ihm gehört.«

 

»Haben Sie ihn jemals getroffen? Er ist ein Mann, der gern große Gesellschaften gibt.«

 

Dick lächelte.

 

»Mich hat er noch nie eingeladen. Aber ich weiß, daß das seine Marotte ist.«

 

Surefoot nickte.

 

»Ich komme gerade aus dem Kellner-Hotel. Die Leute dort wissen auch nichts Genaues über ihn. Er hat immer bar bezahlt. Seit drei Jahren gibt er seine Einladungen im Hotel. Er mietet dazu eine Reihe von Gesellschaftsräumen, überläßt aber die Zusammenstellung des Menüs und das Engagement der Kapelle dem Oberkellner. Weiter konnte ich nichts erfahren.«

 

»Interessieren Sie sich für ihn?« fragte Dick und erzählte Smith dann, wie aufgeregt Mike Hennessey gewesen war.

 

Surefoot hörte gespannt zu.

 

»Hat er eigentlich eine Bank? Nun, er kann ja einer von diesen Geschäftsleuten aus Mittelengland sein. Ich habe nie verstanden, warum sich diese Getreide- und Kohlenhändler immer so sehr für das Theater interessieren. Das ist auch so eine Verrücktheit, die sich nach dem Krieg unheimlich verbreitet hat.«

 

»Mike kann Ihnen jedenfalls viel von ihm erzählen«, erwiderte Allenby.

 

Mr. Smith zog die Lippen zusammen.

 

»Ach, Mike erzählt uns nichts Vernünftiges«, sagte er sarkastisch. »Der scheut sich, Ihnen zu sagen, daß er nur vier Finget an der rechten Hand hat, weil er fürchtet, man könnte das irgendwie gegen ihn ausnützen. Ich kenne Mike zu gut!«

 

»Auf jeden Fall weiß er etwas von Wirth, denn der Mann hat sein letztes Stück finanziert.«

 

Da Dick niemand fand, mit dem er essen konnte, entschloß er sich, in den Snells-Club zu gehen, wo man sehr gut bedient wurde. Nur zwei Mitglieder waren ihm unsympathisch, und ausgerechnet die beiden ersten, die er sah, waren Jerry Dornford und Jules, die an einem der Fenster saßen. Jules grüßte durch ein Kopfnicken, während Jerry starr nach der anderen Seite blickte, als Dick vorüberging.

 

Die beiden waren auch eben erst gekommen und hatten gerade Platz genommen, als Allenby in den Saal trat. Jules hatte bis jetzt das Thema vermieden, das Jerry vor allem mit ihm besprechen wollte. Er machte Bemerkungen über die Leute und die Autos auf der Straße, erzählte von der Militärkonferenz, die zur Zeit in London tagte, und von der Gesellschaft, zu der er am vergangenen Abend eingeladen war.

 

»Und wie steht es mit der Luftpistole?« fragte Jerry schließlich.

 

»Luftpistole?« Jules sah ihn zuerst verständnislos an, dann lehnte er sich zurück und lachte. »Ach, das ist aber gut, daß wir uns heute treffen! Ich wollte Sie sowieso deswegen sprechen. Den kleinen Plan, den ich ausgeheckt hatte, müssen wir nämlich fallenlassen.«

 

»Wie meinen Sie das?« fragte Jerry aufgeregt. Sein Gesicht verlor die Farbe.

 

»Ich meine, daß meine Auftraggeber, oder vielmehr die Vorgesetzten meiner Auftraggeber, entschieden haben, in der Sache nicht weiterzugehen. Sie haben nämlich herausgebracht, daß alle wichtigen Details der Pistole durch Patente geschützt sind, besonders in den Ländern, wo die Erfindung am aussichtsreichsten zu verwerten wäre.«

 

Jerry starrte ihn fassungslos an.

 

»Meinen Sie damit, daß Sie das Modell nicht mehr haben wollen?«

 

Jules nickte.

 

»Es ist tatsächlich nicht notwendig, daß Sie sich irgendwelchen unnötigen Gefahren aussetzen. Wir wollen einmal darüber sprechen, wie wir das Geld, das Sie brauchen, auf andere Weise beschaffen können –«

 

»Verdammt noch einmal, was fällt Ihnen ein!« sagte Jerry wild. »Ich habe doch die Pistole schon gestern abend aus der Werkstatt geholt!«

 

Jules strich sich über das glatte Kinn und sah seinen Begleiter nachdenklich an.

 

»Das ist allerdings sehr unangenehm. Sie haben tatsächlich das Modell schon an sich genommen? Nun, zurückbringen können Sie es allerdings nicht. Ich kann Ihnen nur den einen guten Rat geben, von London wegzufahren und es irgendwo in einen tiefen Sumpf zu werfen. Noch besser in die Themse zwischen Temple Lock und Hambleden.«

 

»Wollen Sie damit wirklich sagen, daß ich das Risiko ganz umsonst auf mich genommen habe?« fragte Jerry heiser.

 

Jules zuckte die Schultern.

 

»Es tut mir furchtbar leid – meine Auftraggeber –«

 

»Ihre verdammten Auftraggeber! Sie haben mir ganz bestimmt versprochen, mir ein paar tausend Pfund zu beschaffen, wenn ich Ihnen das Ding besorgen würde!«

 

Jules lächelte.

 

»Und nun, mein lieber Junge, versichere ich Ihnen in aller Form, daß ich keine tausend Shilling für die Pistole bekommen kann. Es ist natürlich ein großes Pech für Sie. Hätten Sie mir das Ding damals gleich besorgt, als ich mit Ihnen zuerst davon sprach, dann wäre die Sache längst in Ordnung und bezahlt. Jetzt ist es zu spät.« Er beugte sich vor und klopfte Jerry freundlich auf den Arm. »Es hat keinen Zweck, daß Sie deshalb den Kopf hängen lassen oder wütend werden. Wir wollen überlegen, wie wir das Geld auf andere Weise beschaffen können.«

 

Jerry Dornford war völlig niedergeschlagen. Er kannte Hervey Lyne zur Genüge. Der Alte hätte die zweitausend Pfund genommen, wenn er sie ihm gebracht hätte, und ihm für den Rest Aufschub gegeben. Hervey Lyne hatte noch nie bares Geld ausgeschlagen. Am liebsten hätte Jerry diesen verdammten Jules, der ihn so unverschämt anlächelte, am Kragen gepackt und aus dem Fenster geworfen. Aber er vergaß nicht, daß er ein Gentleman war, und da man von einem solchen verlangt, daß er sich in der Hand hat und sich nie zu Tätlichkeiten hinreißen läßt, verhielt er sich ruhig.

 

»Nun, dann läßt sich nichts daran ändern«, sagte er schließlich. »Bestellen Sie mir etwas zu trinken.«

 

Jules spielte mit den Fingern auf der Tischplatte.

 

»Unser Freund Allenby sitzt am dritten Tisch rechts – wäre es nicht ein vorzüglicher Witz, wenn Sie zu ihm gingen und ihm sagten: ›Ich habe Ihnen einen kleinen Streich gespielt und Ihre Pistole stibitzt?‹«

 

»Hören Sie mit dem Unsinn auf«, unterbrach ihn Jerry grob. »Er hat mich gestern abend angerufen und mich gefragt, ob ich sein Modell hätte. Außerdem hat er die Sache der Polizei angezeigt. Heute morgen war Chefinspektor Smith schon bei mir.«

 

»So? Das ist allerdings schade. Hier kommt Ihr Whisky.«

 

Die beiden saßen noch lange beisammen und beobachteten auch, daß Allenby den Klub verließ und auf die andere Seite der St. James Street hinüberging.

 

Dick hatte sich kaum entfernt, als er am Telefon verlangt wurde. Mary Lane wollte ihn sprechen, denn sie brauchte dringend seinen Rat. Sie rief seine Wohnung an, aber dorthin war er noch nicht zurückgekehrt. Ebenso erfolglos versuchte sie es bei einem Klub, in dem er sich manchmal nachmittags aufhielt.

 

Sie hatte zu Hause gegessen und gerade die kleinen Schecks, mit denen sie die Lebensmittelhändler bezahlte, ausgeschrieben, als die merkwürdige Nachricht kam. Ein kleiner schmutziger Junge brachte ihr den Brief.

 

»Ein alter Herr hat mir gesagt, ich soll Ihnen das bringen«, meldete er im Londoner Jargon.

 

»Ein alter Herr?«

 

Sie sah auf die Adresse und erkannte Hervey Lynes Handschrift.

 

Der kleine Bote erzählte ihr auf ihre Frage, daß er ein Paket in Nr. 19 abgegeben habe. Als er zurückkam, sah er den alten Herrn, der, auf einen Stock gestützt, in der Haustür stand, einen Schlafrock trug und den Brief in der Hand hielt. Der Alte hatte den Jungen zu sich gerufen, ihm ein Zweieinhalbshillingstück gegeben (das mußte ihm beinahe das Herz gebrochen haben) und ihn beauftragt, den Brief sofort an die Adresse zu bringen.

 

Sie riß den Umschlag auf. Die Mitteilung war mit Bleistift auf die Rückseite eines Bogens geschrieben, der mit Schreibmaschinenzeilen bedeckt war.

 

Bringe Moran heute nachmittag um drei Uhr bestimmt in mein Haus. Vor zwei Tagen habe ich mit ihm gesprochen, aber ich bin durch seine Erklärungen nicht befriedigt. Nimm einen Polizeibeamten mit.

 

(Hier war über die Zeile ein Wort gekritzelt, das sie als Smith entzifferte.)

 

Sage aber weder Moran noch sonst jemand etwas von dem Polizeibeamten.

 

Die Sache ist sehr dringend.                  H. L.

 

Der Junge konnte ihr keine weiteren Angaben machen. Sie konnte auch ihren Vormund nicht anrufen, da er in seinem Haus kein Telefon duldete. Sie sah auf die Uhr. Es war kurz nach zwei. Dann bemühte sie sich vergeblich, Dick anzurufen.

 

Surefoot Smith kannte sie kaum gut genug, um sich persönlich an ihn wenden zu können, und außerdem hatte sie, wie viele Frauen, eine Abneigung, direkt mit der Polizei zu verhandeln. Sie rief schließlich Morans Bank an und erfuhr, daß er heute nicht im Büro erschienen sei. Dann klingelte sie in seinem Klub und in seiner Privatwohnung an, hatte aber ebensowenig Erfolg. Moran hatte seine Wohnung am Morgen verlassen und gesagt, daß er in den nächsten zwei bis drei Wochen nicht zurückkehren werde, da er seinen Urlaub angetreten habe. Merkwürdigerweise hatte man ihr in der Bank davon nichts gesagt.

 

Verwirrt saß sie am Fenster und überlegte, was sie noch unternehmen konnte, als plötzlich zu ihrer Freude das Telefon läutete. Dick meldete sich. Er war in den Klub zurückgekehrt, um einige Briefe abzuholen, die er vergessen hatte, und man hatte ihm von ihrem Anruf berichtet.

 

»Das ist aber merkwürdig«, meinte er, als er von Lynes Mitteilung hörte. »Ich werde versuchen, mit Smith in Verbindung zu kommen. Am besten erwartest du mich vor der Untergrundstation in der Baker Street, sagen wir, in einer Viertelstunde.«

 

Mary mußte zehn Minuten an der verabredeten Stelle warten. Kurz vor drei kamen Dick und Smith in einem Auto an, und sie stieg zu ihnen ein. Dick nannte dem Chauffeur das Ziel, und der Wagen fuhr weiter.

 

»Das klingt alles so geheimnisvoll«, meinte Dick. »Zeig mir doch mal den Brief.« Sie reichte ihm das Schreiben. Er betrachtete es genau und drehte dann das Blatt um.

 

»Hallo, das ist eine Bankabrechnung«, sägte er. »Donnerwetter, was für hohe Zahlen!«

 

Mary hatte sich nicht um die Schreibmaschinenzeilen auf der Rückseite gekümmert.

 

»Über zweihunderttausend in bar und mehrere hunderttausend in Papieren! Was hat das nur zu bedeuten, daß er dir den Brief geschrieben hat?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

Auch Smith betrachtete das Schreiben sorgfältig.

 

»Ist er blind?« fragte er dann plötzlich.

 

»Ja, beinahe«, entgegnete Dick. »Er gibt es selbst nicht zu, aber er kann kaum noch sehen. Hast du eigentlich Moran angerufen?«

 

Mary schüttelte den Kopf.

 

»Niemand weiß, wo er ist. Er war heute nicht auf der Bank, und in seiner Wohnung ist er auch nicht.«

 

Surefoot reichte ihr das Blatt zurück.

 

»Es sieht so aus, als ob er mich zunächst nicht sehen will, wenigstens, wenn wir Moran nicht mitbringen.«

 

Das Taxi bog in Naylors Crescent ein, und sie besprachen, daß Surefoot Smith im Wagen warten sollte, während Dick und Mary den alten Lyne aufsuchten.

 

Als sie aber an der Haustür klopften, erhielten sie keine Antwort. Die Häuser in Naylors Crescent standen ziemlich weit von der Straße zurück. Plötzlich öffnete sich ein Fenster im Nebengebäude, und ein Dienstmädchen schaute heraus.

 

»Es ist niemand zu Hause. Mr. Lyne ist vor etwa einer Stunde in seinem Rollstuhl ausgefahren worden.«

 

»Wohin denn?« fragte Dick.

 

Das Mädchen konnte darüber keine Auskunft geben, aber Mary wußte Bescheid.

 

»Sie fahren immer zur selben Stelle in die Privatgärten des Parks. In ein paar Minuten ist man dort.«

 

Das Taxi wurde nicht länger benötigt, und Dick zahlte den Chauffeur. Sie waren gerade im Begriff, über die Straße zu gehen, als ein großer offener Wagen an ihnen vorüberratterte. Dick konnte einen kurzen Augenblick lang den Mann am Steuer sehen. Es war Jerry Dornford. Der Wagen machte viel Geräusch und mußte schon ziemlich alt sein.

 

»Wenn die Polizisten aufpaßten, müßten sie Jerry wegen unnötigen Lärmens aufschreiben«, sagte Smith.

 

Kurze Zeit später entdeckten sie Mr. Lynes Rollstuhl. Binny saß auf einem kleinen Klappstuhl daneben, hatte eine Zeitung auf den Knien und eine Goldbrille auf der großen Nase.

 

Das Tor zum Park war verschlossen, und es dauerte einige Zeit, bevor Dick die Aufmerksamkeit des Butlers auf sich gelenkt hatte. Gleich darauf kam Binny, schloß auf und ließ sie in den Park.

 

»Ich glaube, er schläft«, meinte er, »und ich bin deshalb in einiger Verlegenheit. Wenn ich ihn jetzt heimfahre und er wacht währenddessen auf, schimpft er entsetzlich! Und um drei muß er zu Hause sein!«

 

Hervey Lynes Kopf war auf die Brust gesunken. Die blaue Brille saß fest; die Hände hatte er auf die Decke gelegt. Binny faltete die Zeitung zusammen, steckte sie in die Tasche und nahm seinen Stuhl.

 

»Wollen Sie ihn nicht lieber aufwecken?« fragte Mary und kam einen Schritt näher.

 

»Mr. Lyne!« sagte sie und wiederholte dann seinen Namen, noch lauter, aber der Alte rührte sich nicht.

 

Surefoot Smith, der in einiger Entfernung stehengeblieben war, kam nun zu ihr. Er ging um den Rollistuhl herum, beugte sich über den alten Mann, öffnete dessen Rock und knöpfte ihn wieder zu. Dann nahm er Mary freundlich am Arm und führte sie fort.

 

»Gehen Sie nach Hause«, sagte er. »Ich besuche Sie später in Ihrer Wohnung.«

 

Sie sah ihn an und wurde bleich.

 

»Ist er tot?« fragte sie entsetzt.

 

Surefoot nickte und drängte sie zum Parktor.

 

»Er ist durch die Rücklehne erschossen worden«, sagte er, als sie außer Hörweite war. »Ich sah den Einschlag, als ich um den Rollstuhl herumkam. Sehen Sie her!« Er öffnete den Rock des Toten.

 

Es war kein erfreulicher Anblick.

 

Kapitel 1

 

1

 

Mr. Washington Wirth wählte zu seinen exklusiven Gesellschaften die Gäste sorgfältig aus. Trotzdem hatte Mary Lane die Einladung nur angenommen, weil Mike Hennessey sie darum gebeten hatte. Sie mochte diesen etwas untersetzten, melancholischen Mann gern. Die Leute nannten ihn immer nur den »armen, alten Mike«, weil er schon öfter Bankrott gemacht hatte. Im Augenblick brauchte man jedoch kein Mitleid mit ihm zu haben, denn er war mit Mr. Washington Wirth befreundet, der sich allen Theaterleuten gegenüber sehr freigebig und hilfsbereit zeigte. Mr. Washington Wirth war ein reicher, etwas geheimnisvoller Mann. Man nahm an, daß er in Mittelengland wohnte und aus der Industrie stammte. Seine Londoner Gesellschaften gab er im Kellner-Hotel, wo alle Leute den etwas korpulenten Herrn mit den hellblonden Haaren und der Hornbrille gut kannten.

 

Er trug stets tadellose, elegante Anzüge und weiße Wildlederhandschuhe. Seine Stimme war merkwürdig hoch; er sprach im Falsett. Außerdem hatte er die Angewohnheit, die Hacken zusammenzuschlagen und den Damen, die er einlud, die Hand zu küssen, wie es auf dem Festland Sitte ist.

 

Er oder vielmehr Mike luden öfters weniger bekannte Schauspieler und Schauspielerinnen, hübsche Statistinnen und Sängerinnen, die am Anfang ihrer Laufbahn standen, zu kleinen Festen ein. Mike hatte früher einmal vorgeschlagen, bekanntere Schauspieler einzuladen, aber Mr. Wirth war ganz empört darüber gewesen.

 

»Solche Leute kann ich nicht brauchen«, hatte er geantwortet. Denn er liebte es, wenn die Menschen ihm Angenehmes sagten und ihm schmeichelten. Dafür zeigte er sich erkenntlich und machte großzügige und freigebige Geschenke.

 

Es war unmöglich, sich ungebeten zu einem solchen Essen einzuschleichen. Den Einladungen waren nämlich Erkennungszeichen beigefügt, die die Gäste am Abend tragen mußten, wenn sie das Hotel betraten.

 

»Ich nehme an, daß mich unser Mäzen nicht eingeladen hätte, wenn ich wirklich eine bedeutende Rolle spielte«, sagte Mary Lane zu Mike.

 

Er lächelte gutmütig. »Ärgern Sie sich nicht darüber. Sie sind eine gute Schauspielerin und heute abend die wichtigste Persönlichkeit in diesem Kreis. Der alte Knabe wollte Sie unter allen Umständen kennenlernen.«

 

»Wer ist denn eigentlich dieser Mr. Wirth?«

 

Mike schüttelte den Kopf.

 

»Er hat so viel Geld, wie er braucht«, erwiderte er diplomatisch.

 

Lachend schaute sie ihn an, und Mary Lane sah sehr gut aus, wenn sie lachte. Sie wußte, daß Washington Wirth sie von der Seite beobachtete, obwohl er im Augenblick von zwei hübschen Blondinen festgehalten wurde, die ihm eine Menge Schmeicheleien sagten.

 

»Er gibt sehr viele Gesellschaften«, meinte sie. »Mr. Allenby sagte mir, daß er monatlich mindestens zweimal Gäste empfängt. Wirth muß wirklich sehr reich sein, sonst könnte er nicht unser Theater unterstützen, so daß wir das gegenwärtige Stück weiterspielen können. Unter uns, Mike, wir müssen ein ganzes Vermögen bei dieser Aufführung zusetzen.«

 

Er nahm die Zigarre aus dem Mund und betrachtete nachdenklich die Asche.

 

»Ich verliere jedenfalls mein Geld nicht.« Plötzlich wandte er sich mit einer unerwarteten Frage an sie. »Ist der alte Hervey Lyne nicht ein Freund von Ihnen?«

 

»Nein«, entgegnete sie heftig. »Er ist mein Vormund. Warum fragen Sie danach?«

 

Mike rauchte ruhig weiter.

 

»Ich dachte nur, Sie würden ihn vielleicht genauer kennen. War er nicht früher Bankier oder Geldverleiher? Auf die Art hat er doch sein großes Vermögen zusammengekratzt. Ist Mr. Allenby mit ihm verwandt?«

 

Mary errötete leicht.

 

»Er ist sein Neffe, aber warum wollen Sie das alles wissen?«

 

Mike sah auf die tanzenden Paare.

 

»Die Leute scheinen sich alle gut zu amüsieren, oder sie tun wenigstens so. Die Damen bekommen heute abend wunderbare Ledertaschen mit echt goldenen Bügeln. Sie kriegen auch eine.«

 

»Und warum haben Sie sich nach Mr. Lyne erkundigt?« fragte sie hartnäckig.

 

»Ich wollte nur wissen, ob Sie den Alten etwas besser kennen. Mir hat er niemals Geld geliehen, darüber können Sie beruhigt sein. Er will immer solche Sicherheiten haben, die ich ihm nicht geben kann. Moran ist sein Bankier.«

 

Wenn Mike von sich aus nichts sagen wollte, blieb jeder Versuch, ihn zum Reden zu bringen, vergeblich. Mary sah auf ihre kleine Armbanduhr.

 

»Wird Mr. Wirth sehr ärgerlich sein, wenn ich etwas früher gehe? Ich habe nämlich versprochen, noch in den Gesandtschafts-Klub zu kommen.«

 

Er schüttelte den Kopf, nahm sie freundlich am Arm und führte sie zu dem Gastgeber.

 

»Meine kleine Freundin muß sich leider verabschieden, Mr. Wirth. Sie hat morgen eine wichtige Probe und möchte sich noch darauf vorbereiten.«

 

»Ich verstehe vollkommen«, erwiderte Mr. Wirth mit ausgesuchter Höflichkeit. »Ich hoffe auch bei meiner nächsten Einladung das Vergnügen zu haben, Sie bei mir zu sehen, Miss Lane. In drei Wochen bin ich aus dem Ausland zurück.«

 

Mike begleitete sie zum Ausgang und half ihr in den Mantel.

 

»Ich bleibe noch eine Stunde hier, dann drücke ich mich auch. Um ein Uhr ist gewöhnlich Schluß, länger bleibt Mr. Wirth auch nicht. Die Handtasche mit dem Goldbügel bringe ich Ihnen ins Theater mit.«

 

Mary hatte Mike gern – alle Leute hatten Mike gern. Fast alle Schauspieler und Schauspielerinnen in London waren bereit, um halbe Gage für ihn zu spielen. Wenn er in einer Geldklemme oder nahezu ruiniert war, konnte er virtuos mit schmerzlichem Blick zum Himmel schauen und bittere Tränen über seine Wangen rinnen lassen. Und er war immer ruiniert, wenn hartherzige Gläubiger ihn mahnten, seine Schulden zu bezahlen. Ein angenehmer, liebenswürdiger Mensch, aber wenig zuverlässig, Niemand wußte, was er mit all dem Geld machte, das andere Leute ihm auf Nimmerwiedersehen liehen.

 

»Ich weiß nicht, was mit unserem letzten Stück los ist«, meinte er, als er mit Mary den Gang entlangging. »Vielleicht ist es der Titel ›Klippen des Schicksals‹. Darunter kann sich doch kein Mensch etwas vorstellen. Ich habe das Stück vierzigmal über mich ergehen lassen und weiß immer noch nicht recht, was der Autor eigentlich damit sagen will.«

 

Sie sah ihn verblüfft an. »Aber Sie haben es doch ausgesucht!«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Nein, das hat er getan.« Er zeigte mit der Hand zurück auf den Gastgeber. »Er hat mir sogar gesagt, er fühle sich in seinem Gewissen beruhigt, wenn er das Stück lese. Auf mich macht es nicht den geringsten Eindruck.«

 

Er wartete vor dem Hoteleingang, bis Mary mit einem Taxi abgefahren war. Als er sie das erste Mal zum Abendessen ausführte, gab er ihr ein paar gute Ratschläge, wie eine hübsche Schauspielerin Karriere machen könne. Sie hatte ihm darauf sehr vernünftig und taktvoll geantwortet, so daß er sich nicht verletzt fühlen konnte. Seitdem hatte er sie wirklich gern, während seine zahlreichen Liebesabenteuer ihn wenig berührten.

 

Langsam ging er in den Festsaal zurück, wo Mr. Wirth gerade die Geschenke für die Damen verteilte.

 

Er war in ungewöhnlich heiterer Stimmung. Im allgemeinen trank er nur wenig, aber an diesem Abend hatte er versprochen, eine ganze Flasche Sekt auszutrinken, wenn jemand sein Alter raten würde. Zufällig hatte eine der Damen die Zahl zweiunddreißig genannt und damit die Wette gewonnen.

 

»Großer Gott!« sagte Mike, als er die Geschichte hörte.

 

Sobald es ihm möglich war, nahm er Mr. Wirth beiseite.

 

»Es ist wohl Zeit, daß wir Schluß machen«, meinte er.

 

Mr. Wirth lächelte nicht gerade sehr intelligent, und seine etwas sonderbare Erwiderung verriet, daß er dem Wein reichlich zugesprochen hatte.

 

»Mein lieber – lieber Junge! Ich stehe immer noch ganz fest auf den Beinen – um mich brauchen Sie keine Angst zu haben – ich komme noch sehr gut in meine Wohnung.«

 

Das war ja ein ganz neuer Mr. Wirth! Mike runzelte die Stirn, denn er fürchtete, diesen unschätzbaren Protektor zu verlieren. Es war, als ob der Besitzer einer verborgenen Goldmine plötzlich eine Fahne hißte, um die Lage der Mine öffentlich bekanntzumachen.

 

»Sie müssen etwas Kaltes trinken, Mr. Wirth, das die Hitze niederschlägt. Warten Sie einen Augenblick, ich werde etwas bringen.«

 

Mike eilte hinaus, traf den Oberkellner und kam gleich darauf mit einer kleinen blauen Flasche zurück. Er schüttete eine Anzahl weißer Körner in ein Weinglas und goß Wasser hinzu, dann reichte er den schäumenden Trank dem Gastgeber.

 

»Nehmen Sie das.«

 

Mr. Wirth gehorchte und trank zwei kleine Schlucke. Zwischendurch atmete er schwer.

 

Die letzten Gäste waren gegangen.

 

»Nun, wie fühlen Sie sich?« fragte Mike ängstlich.

 

»Vollkommen in Ordnung«, erklärte Mr. Wirth.

 

Er schien plötzlich wieder nüchtern geworden zu sein. Auf jeden Fall ließ sich Mike täuschen. Er brachte seinen Freund nicht zum Auto, weil er das sonst auch nicht tat. Mr. Wirth schlug den Kragen seines schweren Mantels hoch und setzte den Zylinder nach vorn, als er zur Garage des Hotels ging und den Wagen vorfahren ließ. Er stieg gerade ein, als ein Mann an ihn herantrat.

 

»Kann ich Sie einen Augenblick sprechen?« fragte der Fremde.

 

Mr. Wirth sah ihn mit verglastem Blick an, kletterte dann auf den Führersitz und ließ den Wagen anspringen.

 

»Kann ich Sie einen Augenblick –«

 

Im nächsten Moment schoß das Auto vorwärts, und der Mann, der einen Fuß auf das Trittbrett gesetzt hatte, wurde zu Boden geschleudert. Rasch erhob er sich wieder und lief zur Belustigung des Garagenpersonals hinter Wirth her. Gleich darauf wurden Wagen und Mann von der Dunkelheit verschluckt.

 

Kapitel 73

 

73

 

Als Jim in den »Blauen Bären« kam, fand er dort seinen treuen Diener Angus, der hier auf die Befreiung seines Herrn wartete. Vorsorglich hatte er neue Kleider mitgebracht, und Captain Featherstone war ihm dankbar dafür. Sobald er sich umgezogen und rasiert hatte, ging er zu dem Hause Mr. Howetts hinüber. Er nahm an, daß Valerie sich zur Ruhe gelegt hätte. Zu seinem Erstaunen fand er sie im Wohnzimmer. John Wood war bei ihr.

 

Sie kam mit ausgestreckten Händen auf ihn zu, und er nahm sie in die Arme.

 

»Ich wollte eigentlich bei dir bleiben, als wir aus der Burg herauskamen, aber Vater bestand darauf, daß ich erst hierherginge,« sagte sie.

 

Mr. Wood lächelte Jim an und betrachtete ihn unentwegt.

 

»Ich habe eine große Überraschung für dich, Jim,« sagte Valerie. »Es hat sich etwas ganz Wunderbares ereignet. Rate mal, wen ich hier fand, als ich zurückkehrte?«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

sternchenland.com »Denke dir – meine – meine Mutter!«

 

Während sie noch sprach, öffnete sich die Tür. Mr. Howett trat herein und führte an seinem Arm eine schlanke, schöne Frau. Er erkannte sie sofort an der Ähnlichkeit mit ihrer Tochter.

 

»Liebe Mutter, dies ist Jim.« Sie sprach das Wort Mutter noch sehr scheu aus. »Du kannst dich doch auf Jim Featherstone besinnen?«

 

Mrs. Held nahm beide Hände Jims in die ihren.

 

»Ich bin Ihnen zu größtem Dank verpflichtet, Captain Featherstone, aber ich hoffe, daß Sie jetzt auch belohnt werden.«

 

Sie schaute von Jim nach dem Sofa und lächelte Wood an.

 

»Ich will Ihnen nun auch meinen Sohn vorstellen, Captain Featherstone,« sagte sie dann.

 

»Ihren Sohn!«

 

»Dies ist John Wilfred Bellamy,« sagte sie schnell.

 

Jim, der nun schon so viel in dieser Angelegenheit herausgebracht und erfahren hatte, war über diese neue Enthüllung doch vollständig überrascht.

 

Später ging er wieder zu dem »Blauen Bären« zurück. Auf der Dorfstraße standen die Leute in dichten Gruppen, obgleich es schon spät in der Nacht war. Jetzt brannten auch wieder alle Laternen und Lampen im Ort. Als er in das Gasthaus trat, sah er Spike, der inmitten einer großen Schar von Kollegen das Wort führte. Er strahlte und war restlos glücklich.

 

Jim mußte über ihn lächeln. Spike war nun eben einmal zuerst und vor allem Zeitungsreporter, und was er auch persönlich fühlen mochte, berufsmäßig machte es ihm wenig aus, ob Bellamy Erfolg hatte, seine Feinde zu töten oder ob sie gerettet wurden. Für ihn war es nur die große Geschichte.

 

»Wo ist Julius?« fragte Jim.

 

»Kommen Sie mit zu ihm,« rief Spike, und seine Stimme sternchenland.com überschlug sich vor Aufregung und Freude. »Er sitzt vor dem Kamin und trocknet Zehnpfundnoten. Fay hat ein Bügeleisen von der Wirtin geborgt und plättet die Scheine.«

 

Jim ging mit ihm die Treppe hinauf zu dem großen Wohnzimmer, das Spike gemietet hatte. Er fand Julius Savini bei einer merkwürdigen Beschäftigung. Er trug einen Schlafanzug Spikes, saß mit untergeschlagenen Beinen auf dem Teppich vor dem Kamin und hielt mit Hilfe eines Toaströsters in vorsichtiger Entfernung von dem offenen Feuer einen Schein.

 

»Ich glaube, jetzt sind wir fertig, Fay,« sagte Julius und sah zufrieden auf den getrockneten Geldschein.

 

Fay nahm die Banknote behutsam, legte sie auf ein Tuch und plättete sie mit dem Bügeleisen. Sie sah Jim und lächelte ihn an. Sie trug den Morgenrock der Wirtin, die klein und stark war, und ihre schlanke, schmächtige Gestalt sah ganz merkwürdig in dieser Kleidung aus.

 

»Treten Sie bitte näher, Featherstone. Julius hat das Geld getrocknet, das der alte Bellamy ihm gab, als er uns in den Käfig sperrte. Es gehört alles uns,« sagte er dann mit einem gewissen Stolz. »Und wenn dieser verrückte Lacy behauptet, daß wir ihn bestohlen haben, so möchte ich Sie bitten, ihn ins Loch zu stecken.«

 

»Wieviel habt ihr denn, Fay?« fragte Jim interessiert.

 

»Ungefähr zehntausend. Wir haben es noch nicht ganz durchgezählt, aber wir vermuten, daß es so viel ist. Wir wollen jetzt aufs Land ziehen und eine Geflügelfarm aufmachen. Ich habe mich schon immer dafür interessiert. Wo ist Lacy?«

 

»Ich habe ihn zum nächsten Hospital geschickt, Sie brauchen sich über ihn keine Sorge zu machen. Als wir seine Taschen durchsuchten, fand Sergeant Jackson eine große Summe bei ihm.«

 

»Lacys Geld interessiert uns durchaus nicht,« sagte Fay leichthin.

 

sternchenland.com Auch Julius schüttelte den Kopf, aber er sah Featherstone nicht ins Gesicht.

 

»Ich beneide keinen Menschen – das ist mein Wahlspruch. Wenn der arme Teufel Geld hat, dann freue ich mich. Wo hat er es denn gehabt?«

 

»Das habe ich vergessen. Ich glaube aber, es war in einer inneren Tasche seines Anzugs unter der grünen Maskerade, wo er das andere Geld verwahrt hatte.«

 

»Was meinen Sie denn mit dem anderen Geld?« fragte Fay ganz unschuldig. »War es viel – ich meine, was Sie fanden?«

 

»Ungefähr zweitausend.«

 

»Hörst du, Julius?« fragte sie scharf. »Er hatte zweitausend Pfund in der Tasche.« Aber sofort hatte sie sich wieder in der Gewalt. »Ich freue mich, daß er auch etwas hat,« sagte sie ziemlich kühl, »aber trotzdem ist das Geld zum Fenster hinausgeworfen, denn ein Mensch wie Lacy weiß nicht damit umzugehen. Geld auszugeben ist eine große Kunst, Featherstone, daran muß man sich erst lange gewöhnen. Ich vermute, daß er das Geld in der linken Hosentasche hatte?« fragte sie gleichgültig.

 

»Ich weiß es nicht genau, Fay,« sagte Jim, »aber vermutlich stimmt das.«

 

»Ich sagte dir ja, Julius –«

 

Julius räusperte sich.

 

»Ich sagte dir,« begann Fay wieder, »daß du ihm nur die Pistole nehmen und ihm das Geld lassen solltest. Sie sehen, wie genau Julius sich an meinen Rat gehalten hat, Featherstone.«

 

»Ehrlich bis zur Selbstlosigkeit, Fay! Also eine Geflügelfarm wollen Sie jetzt aufmachen?«

 

Sie nickte.

 

»Mr. Howett wird auch dabei helfen,« sagte sie. »Und sternchenland.com bedenken Sie, trotzdem wir ja schon Kapital haben, Geld, das Julius viele Jahre lang durch harte Arbeit sparte –«

 

Jim mußte lachen.

 

»Ich will nicht fragen, wo Julius das Geld her hat,« sagte er, »und ich glaube auch vollkommen die Geschichte, die Sie mir eben erzählten, daß der alte Bellamy Ihnen das Geld gegeben hat. Aber zerbrechen Sie sich jetzt nicht den Kopf, um mir noch weitere Erklärungen abzugeben.«

 

Er nahm sie an den Schultern, und vor Savinis Augen küßte er sie leicht auf die Backe.

 

»Sie haben ein zu gutes Herz, um schlecht zu sein, und Sie sind zu hübsch und im Grunde zu aufrichtig, um wieder auf schlechte Wege zu kommen,« sagte er dann ruhig. »Und wenn Julius Sie dazu zwingen sollte, so würde ich es ihm niemals vergeben.«

 

Sie erwiderte nichts. Aber als Jim gegangen war, wandte sie sich an ihren Mann.

 

»Hast du es gesehen, Julius?« fragte sie ein wenig unsicher. »Er ist doch ein hübscher Kerl! Ich mag ihn zu gerne!«

 

»Er dich scheinbar auch! Der Mensch ist zu gut für einen Polizeibeamten.«

 

Es hat eben jeder seine eigenen Ansichten.

 

Kapitel 74

 

74

 

Für den nächsten Morgen hatte sich Jim mit Mr. Howett verabredet und begab sich nach Lady’s Manor.

 

Valerie war mit ihrer Mutter in die Stadt gefahren, und Jim war mit Howett allein, der nun wieder ganz der alte war. Seine freundlichen Augen, die hinter der großen Brille glänzten, verrieten die gewohnte Sicherheit, und er war in der besten Stimmung.

 

»Ich muß Ihnen die ganze Geschichte von Anfang bis zu sternchenland.com Ende erzählen, Captain Featherstone. Ich glaube zwar, Valerie hat Ihnen schon manches mitgeteilt, aber ich will ganz von vorne anfangen.«

 

»Abel Bellamy hatte einen Bruder Michael. Abel war der ältere, Michael war sechs Jahre jünger. Ihre Eltern lebten zuerst in etwa denselben Vermögensverhältnissen wie ich, das heißt, sie waren arm und konnten Abel nicht die Erziehung geben, die später Michael erhielt. Von Anfang an haßte deshalb Abel seinen Bruder, und als sie heranwuchsen, wurde die Kluft immer größer, da Michael eine ganz andere gesellschaftliche Stellung einnahm, obgleich Abel sofort viel Geld verdiente. Er führte eine ganze Reihe erfolgreicher Spekulationsbauten auf, und das Geld strömte ihm in Mengen zu. Aber trotzdem vergab er seinem Bruder nicht, daß er eine bessere Erziehung genossen hatte als er. Er hatte ihn immer beneidet, und nach dem Tode der Eltern war sein ganzes Denken darauf konzentriert, seinen Bruder zu ruinieren.

 

Es wäre vielleicht möglich gewesen, daß Abel sich mit der Zeit beruhigt hatte, aber glücklicher- oder unglücklicherweise verliebte sich Michael in eine Frau, und ausgerechnet dieselbe Frau war die einzige in der Welt, die jemals Eindruck auf Abel machte und ein Gefühl in ihm wachrief, das man mit Liebe hätte vergleichen können. Sie hieß Held – Elaine Held und stammte aus guter Familie. Aber sie war leider unvorsichtig genug, Abel zu zeigen, wie sehr sie ihn wegen seiner Häßlichkeit verabscheute. Abel ging zu ihrem Vater und bot ihm eine große Summe, wenn er die Verlobung zwischen Michael und Elaine lösen würde und ihm das Mädchen gäbe. Der Vater war furchtbar empört über dieses Ansinnen, wies ihn entrüstet zurück, und Michael heiratete Elaine.

 

Das war der erste, ernste Mißerfolg, den Abel Bellamy erfuhr. Er nahm sich die Sache so zu Herzen, daß er von da ab jahrelang darüber nachdachte, wie er seinen Bruder zugrunderichten könnte. Er machte noch mehrere Versuche sternchenland.com Elaine zu bewegen, sich aus dem einen oder anderen Grunde von Michael scheiden zu lassen und ihn selbst zu heiraten. Elaine war verschwiegen, wollte keinen Unfrieden zwischen den beiden Brüdern stiften und sagte ihrem Mann nichts davon. Bis zu seinem Tod hat der arme Michael Bellamy nichts über die letzten Ursachen seines Unglücks gewußt.

 

Ein Junge wurde ihnen geboren, und eine Zeitlang kümmerte sich Abel nicht um sie. Aber als er nach der Geburt eines zweiten Kindes Elaine eines Tages zufällig wieder in New York traf, erwachte der alte Wunsch, sie zu besitzen, wieder in ihm, und er begann das alte Spiel aufs neue. Sie wies seine Anträge auf das entschiedenste zurück, und diesmal sah Bellamy ein, daß er keine Aussichten mehr hätte, und er schwur ihr bittere Rache. Einen Monat später wurde ihr zweites Kind, ein kleines Mädchen, gestohlen. Man lenkte die Aufmerksamkeit der Amme, die mit dem Kinde ausgefahren war, ab und nahm das Kind heimlich weg.

 

Abel besuchte die verzweifelten Eltern, als ob nichts geschehen sei und bot ihnen große Geldunterstützungen an, das Mädchen wieder zu bekommen. Heimlich aber ließ er Elaine wissen, daß sie das Mädchen nur wiedererhalten würde, wenn sie sich von ihrem Manne scheiden ließe und ihn heiratete. Sie wagte es nicht, Michael etwas davon zu sagen, obwohl sie gleich den Verdacht gehabt hatte, daß Abel für die Entführung verantwortlich sei.

 

Als Michael schließlich Detektive anstellte, um die Spur seiner Tochter zu verfolgen, machte sich Bellamy das River-Bend-Unglück zunutze und sandte einen Mann dorthin, der einen Kinderschuh auf die Unglücksstätte zu all den persönlichen Überresten warf, die man sammelte, um die Verunglückten zu identifizieren. Das Übrige fiel Bellamy nicht schwer. Falsche Zeugen sagten aus, daß sie eine Frau mit dem Kinde in dem Zuge gesehen hätten, und Michael ließ keine weiteren Nachforschungen mehr anstellen.«

 

sternchenland.com »Aber das ist doch vor zwanzig Jahren passiert, und Valerie ist vor dreiundzwanzig Jahren zu Ihnen gekommen.«

 

»Es sind zwei Unglücksfälle dort vorgekommen. Hier liegt ein Irrtum John Bellamys vor. Der erste ereignete sich vor dreiundzwanzig Jahren und drei Jahre später der zweite an fast derselben Stelle. Wood oder Bellamy, wie ich ihn von jetzt ab nennen werde, hatte nur wenige Anhaltspunkte für seine Nachforschungen. Von seiner Mutter erfuhr er die Geschichte von der Entführung seiner Schwester und machte auch keinen Versuch, das genaue Jahr des River-Bend-Unglücks festzulegen, bis seine Mutter verschwand.

 

Bald nach diesem Schicksalsschlag starb Michael Bellamy. Abel zweifelte nicht, daß Elaine ihn nun heiraten würde, da sie Witwe geworden war. Er kam zu ihr, sie war noch ziemlich jung, und verfolgte sie aufs neue mit seinen Anträgen. Aber er wurde ebenso entschieden zurückgewiesen wie früher. Er schmiedete viele Rachepläne. Elaine dachte an das Los ihrer Tochter, für deren Tod sie Bellamy verantwortlich machte, verkaufte alles Eigentum, das sie von ihrem Manne geerbt hatte, und ging nach England. Jahrelang hatte Bellamy ihre Spur verloren. Sie lebte unter ihrem Mädchennamen, und es ging ihr nicht schlecht. Ihr Sohn besuchte eine technische Schule in Guildford und wollte später Ingenieur werden. Da tauchte eines Tages Bellamy wieder auf. Er gab sich den Anschein, als ob er seine frühere Haltung ihr gegenüber bereute und veranlaßte sie, ihr Vermögen, das gut angelegt war, zu kündigen, und es in ein gefährliches Unternehmen zu stecken. Sie verlor denn auch das ganze Geld bis auf den letzten Pfennig. Aber ihr Mut war bewunderungswürdig. Mit den letzten Resten ihrer Mittel zog sie mit ihrem Sohn nach London und wohnte dort in einem kleinen Haus in der Nähe der Schule, in der er seine Ausbildung erhielt.

 

Bellamy hatte schon einmal Elaine dadurch getroffen, daß er ihrem Kind ein Leid zufügte. Nun beabsichtigte er, dieses sternchenland.com Manöver zu wiederholen. Der Junge erhielt von mehreren Seiten Angebote für freie Wohnung und Unterkunft. Sie argwöhnte nichts, und er zog nach einem Hause in Westend, wo reiche, wenig erfahrene Leute von allerhand Verbrechern und Galgenvögeln umlauert werden. Der junge Bellamy war aber weder reich noch unachtsam; er war noch nicht lange in diesem goldenen Käfig, als er genau merkte, welcher Art er sei. Bevor er sich aber wieder aus dieser Umgebung freimachen konnte, wurde ihm ein böser Streich gespielt. Eine Dame in dem Haus behauptete plötzlich, daß ihre Diamantbrosche gestohlen sei. Die Polizei wurde gerufen und fand das Schmuckstück in der Tasche des jungen Bellamy. Er hatte seinen Rock abgelegt, um eine Partie Billard zu spielen. Er wurde vor den Richter gebracht und zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Diesmal ließ Bellamy die Maske fallen und sagte Elaine, daß er für alles verantwortlich sei. Er machte kein Geheimnis daraus, daß er alles so eingerichtet hatte, und drohte ihr mit noch schwereren Strafen. Um diese Zeit kaufte er Garre Castle. Die uneinnehmbare Lage und die Stärke des Baues beeinflußten ihn, und er kam auf den Gedanken, hier Leute gefangenzusetzen, die er haßte.

 

Ein Helfershelfer brachte Bellamy in Verbindung mit Creager, einem verbrecherischen Gefängniswärter, der schon lange in dem Verdacht stand, mit den Gefangenen unter einer Decke zu stecken und bei einer früheren Gelegenheit beinahe seine Stelle verloren hätte. Wahrscheinlich war es auch Creager, der den Plan zu dem furchtbaren Verbrechen entwarf. Abel Bellamy kannte das englische Gesetz und die Gefängnisvorschriften sicher nicht gut genug, um ihn ersinnen zu können.

 

Eines Morgens hörte man einen Schrei aus der Zelle, in der der junge Bellamy saß, und Creager taumelte mit blutendem Kopf heraus. Sie erinnern sich daran, daß Sie einen Brief fanden, in dem Creager sagte, daß er sicher etwas sternchenland.com abbekommen würde. Aber die Wunde hatte er sich selbst mit einem Spaten beigebracht, der unter keinen Umständen in der Zelle hatte sein dürfen. Creager schwur später, daß der junge Bellamy ihn unter seinen Kleidern hineingeschmuggelt hätte. So wurde John, der damals noch sehr jung war, zu der Strafzelle gebracht und vor den Richter gestellt.

 

Nun existiert in Gefängnissen, wie Sie wissen, nur eine Strafe für Leute, die ihre Wärter anfallen, und zwar die Peitsche. Es ist eine schreckliche Strafe, obgleich ich damit nicht behaupten will, daß man gewisse Verbrecher auf andere Weise zur Ruhe bringen könnte. John wurde zu fünfundzwanzig Schlägen verurteilt, die Narben sind noch heute auf seinen Schultern zu sehen. Als er aus dem Gefängnis kam, wollte er seine Mutter aufsuchen, fand aber, daß sie verschwunden war. Mit dem Schandmal der Gefängnisstrafe belastet, änderte er seinen Namen in John Wood. Er arbeitete Tag und Nacht abwechselnd an seiner Drehbank und an seinen Nachforschungen nach der Spur seiner Mutter. In seinem Beruf hatte er großen Erfolg, er erfand einen wertvollen Apparat, der auch patentiert wurde und ihm ein kleines Vermögen einbrachte.

 

Er hörte nicht auf, nach Elaine Held zu suchen. Bei Kriegsausbruch meldete er sich freiwillig. Damals mußte er seinen alten Namen angeben, weil er sein Geburtszeugnis vorlegen mußte. Als er später einen Erkundungsflug über Deutschland ausführte, wurde er als gefallen gemeldet. Man entdeckte aber den Fehler nach einiger Zeit, und es kam eine Berichtigung in die Zeitungen. Merkwürdigerweise hat Abel Bellamy niemals davon erfahren.

 

Die Vorliebe des jungen John für Kinder entwickelte sich immer mehr, je größer sein Vermögen wurde. Zunächst gründete er ein Kinderheim in Belgien und wie ich vermute, will er nun seinen Plan zur Kindererziehung auf England und Amerika ausdehnen. Er hatte damals sein Testament zugunsten sternchenland.com von John Wood gemacht, denn er hatte als Soldat eine Anzahl von Instrumenten und Dingen erworben, die er gerne selbst wieder haben wollte. Als er nun seine Todesnachricht in der Zeitung fand, meldete er sich als Erbe John Bellamys. Die Behörden stellten keine weiteren Nachforschungen an, und er kam als John Wood in den Besitz des Erbes, das er sich selbst vermacht hatte!«

 

Jim wartete auf eine Fortsetzung der Erzählung, aber Mr. Howett schien zu Ende zu sein.

 

»Nun wissen Sie alles, Captain Featherstone,« sagte er nur noch ernst.

 

Jim schaute zur Decke empor und blies den Rauch seiner Zigarre nach oben.

 

»Im Klosterwald liegt ein Haus – es ist genau fünf Meilen vom Addley-Flugplatz entfernt. Von da aus besteht eine dauernde Verbindung mit Belgien, Sommer und Winter.«

 

»Das stimmt.«

 

»Ich habe Informationen bekommen,« fuhr Jim fort, der noch immer zur Decke hinaufsah, »daß Mr. Wood ein häufiger Fahrgast dieser Flugzeuge war.«

 

»Das ist leicht möglich.«

 

»Er kam gewöhnlich spät am Nachmittag und flog früh am Morgen wieder ab. Er war immer in Belgien, wenn man ihn antelegraphierte, wie es häufig geschah, nachdem Creager ermordet worden war.«

 

»Das wird wohl richtig sein,« gab Mr. Howett zu.

 

»Es ist eine merkwürdige Tatsache, daß John Wood Bellamy sehr gut mit Bogen und Pfeil umgehen kann, aber das mag wie in Ihrem Fall ein zufälliges Zusammentreffen sein.«

 

»Woher wissen Sie das?« fragte Mr. Howett schnell.

 

»Ich habe in Belgien Nachforschungen anstellen lassen – es ist schon einige Zeit her – gleich nach dem Tode von Coldharbour sternchenland.com Smith. Damals erfuhr ich, daß Wood zu jener Zeit in London war. Ich stellte fest, daß sich in der Nähe von Wenduyne weit ausgedehnte Sanddünen befinden, wo ein etwas exzentrischer Engländer, wie man berichtete, obwohl er doch in Wirklichkeit Amerikaner ist, sich täglich mehrere Stunden im Bogenschießen übte, schon seit Jahren, schon vor dem Kriege. Sie geben doch zu, daß das sehr sonderbar ist?«

 

Mr. Howett sah Jim Featherstone scharf an.

 

»Ich möchte Sie etwas fragen, Featherstone. Sie sind ein Polizeibeamter, und sicher haben Sie gewisse Pflichten. Aber meiner Überzeugung nach gibt es auch Dinge, die die Polizei übersehen müßte, selbst wenn es sich um schwere Verbrechen handelt. Sie nennen das doch so schön: im öffentlichen Interesse die Nachforschungen nach etwas einstellen. Dieses öffentliche Interesse ist ein Fetisch, ein Götze für gewisse Leute, aber ich weiß nicht, ob wirklich hochstehende Menschen sich auch davor beugen sollten. Sagen Sie mir, wer ist der Grüne Bogenschütze?«

 

»Stellen Sie mir diese Frage in allem Ernst?«

 

Mr. Howett nickte.

 

»Dann will ich sie Ihnen beantworten.« Jim vermied es immer noch, Mr. Howett anzusehen. »Es ist derselbe, der Elaine Held aus dem unterirdischen Kerker befreite, in dem sie der alte Bellamy gefangenhielt. Er holte sie mitten in der Nacht heraus und brachte sie nach Lady’s Manor. Sie entdeckten ihn, hielten ihn fest und bedrohten ihn mit der Pistole, bis Sie die Wahrheit erfuhren. Dann halfen Sie ihm sogar zur Flucht.«

 

»Ich wußte nicht, wer es war,« sagte Howett schnell. »Sein Gesicht war damals durch eine Maske verdeckt. Später habe ich den unterirdischen Gang zufällig gefunden. Ich bin sogar in Garre Castle gewesen – zufällig sah mich Julius Savini damals.«

 

sternchenland.com »Abel Bellamy muß die gleiche Entdeckung gemacht haben, als er einmal in den Vorratsraum ging, um nach Milch zu suchen. Lacy hat es mir erst heute morgen berichtet,« sagte Jim. »Er erzählte mir auch, daß Bellamy ein Taschentuch fand – Valerie ließ es fallen, als sie Lady’s Manor besichtigte, und der Grüne Bogenschütze muß es gefunden haben.

 

Die Frau, die Valerie damals weinen hörte, war Elaine Held, die auf Umwegen in das Haus im Walde gebracht wurde. Der Grüne Bogenschütze ist der Mann, dessen Boot Sie in der Nacht fanden, als Smith getötet wurde. Er stand im Carlton-Hotel nahe genug bei Spike Holland, um Creager zu hören, den er erkannte. Creager dagegen erkannte ihn ebensowenig wieder als später Bellamy, als John die Burg kaufen wollte. Er hörte Creager zu Holland sagen, daß er eine gute Geschichte für ihn wüßte, und entschloß sich, ihn zu töten, ehe diese Geschichte erzählt werden konnte. Denn fälschlich vermutete er, daß es der Bericht über seine Züchtigung mit der Peitsche wäre und er verraten werden sollte, wodurch alle seine mitternächtlichen Nachforschungen in Garre Castle vergeblich geworden wären.

 

Der Grüne Bogenschütze ist der Mann, der Valerie über die Mauer nach Garre Castle kommen sah. Im Gegensatz zu seinen sonstigen Gewohnheiten folgte er ihr und rettete sie durch einen Schuß vor den fürchterlichen Bluthunden. Er war auch einer der ersten, die Valerie begrüßten, als sie aus der Burg herauskam, und er holte das Tagebuch von Mrs. Held aus dem Gefängnis, das ihre Identität bewies.«

 

»Was werden Sie nun tun? Werden Sie ihn anzeigen?« fragte Mr. Howett.

 

»Es liegt nicht im öffentlichen Interesse, meinen zukünftigen Schwager anzuklagen,« erklärte Jim, »selbst wenn er einen Mord begangen hat –« sein Ton war fest und entschieden – »selbst wenn er ein Henker ist.«

 

Mr. Howett streckte ihm die Hand entgegen.

 

sternchenland.com »Wenn ich Sie recht verstehe, Jim Featherstone, so wollen Sie einen guten Posten aufgeben – es ist möglich, daß Sie rechthaben. Ich habe auch erfahren, daß Sie eigenes Vermögen besitzen, sonst würde ich Ihnen die beste Stellung anbieten, die ich Ihnen geben kann.«

 

»Ich mochte Ihr Schwiegersohn werden,« sagte Jim.

 

Einen Augenblick lang verdüsterte sich das Gesicht Mr. Howetts.

 

»Vielleicht können Sie auch das werden,« erwiderte er dann in Gedanken. »Das hängt ganz davon ab, welche Antwort mir Elaine Bellamy auf eine Frage gibt, die ich erst später an sie richten kann, wenn sie sich wohl genug fühlt, einen Heiratsantrag anzunehmen.«

 

Ende

Kapitel 8

 

8

 

Valerie Howett war vollständig verzweifelt.

 

»Aber meine liebe Val,« sagte ihr Vater, nachdem er ihre Vorwürfe über sich hatte ergehen lassen, »ich mußte doch so handeln. Du bist mir mehr wert als sonst irgend etwas auf der Welt, und ich konnte nicht die Verantwortung auf mich nehmen, dich ohne Schutz zu lassen.«

 

»Aber warum hast du mir denn nicht gesagt, daß er ein Detektiv ist?«

 

Das düstere Gesicht Walter Howetts erheiterte sich zu einem Lächeln.

 

»Er hat mich die ganze Zeit beobachtet und ist mir überallhin gefolgt, wenn ich dachte, ich sei allein. Ich glaubte sicher, es sei einer von diesen nutzlosen jungen Leuten, denen man überall begegnet.«

 

»Er ist schon dreißig Jahre alt,« sagte Howett, »und er ist wirklich ein guter Mensch. Ich kannte seinen Vater, er war Attaché bei unserer Gesandtschaft in Washington. Du solltest dich nicht darüber kränken, Val, denn er hat seinen zweimonatigen Urlaub geopfert, um mir zu helfen. Ich dachte, du wärest nach dieser Zeit deiner Nachforschungen vielleicht müde und würdest froh sein, nach Hause zu kommen.«

 

Sie erwiderte nichts, obwohl er auf eine Antwort wartete.

 

»Wie hast du denn herausgebracht, daß er zur Polizeidirektion gehört?«

 

»Er hat es mir selbst gesagt,« entgegnete sie kurz, und er fragte nicht weiter.

 

»Hoffentlich bedeutet das nicht, daß er nicht mehr zu uns kommt. Ich bin beruhigter, wenn er in der Nähe ist.«

 

»Er will morgen abend zum Essen kommen,« sagte sie vorwurfsvoll. »Aber es ist ein unausstehliches Gefühl, wenn man weiß, daß man dauernd beobachtet wird.«

 

Aber ihre Abneigung gegen jede Überwachung hielt sie doch sternchenland.com nicht davon ab, daß sie Jim Featherstone bei seinem Versprechen hielt. An dem Tage, als ihr Vater nach Schottland fuhr, machte er ihr seinen Besuch und holte sie ab. Aber er begleitete sie nur fünf Minuten lang. Bei dem großen Marmorbogen im Hyde Park ließ sie den Wagen halten und öffnete die Tür in nicht mißzuverstehender Weise.

 

»Hier soll ich also wohl aussteigen?« fragte er lächelnd.

 

Sie fand, daß er außerordentlich vorteilhaft aussah und konnte kaum glauben, daß er bereits die Dreißig erreicht habe.

 

»Ich will Sie auch gar nicht fragen, wohin Sie gehen oder welche wilden Abenteuer Sie vorhaben,« sagte er, als er neben ihrem Wagen stand. Seine Hand lag noch auf dem Türgriff.

 

Valerie lächelte.

 

»Ist es denn überhaupt notwendig zu fragen, wenn Sie aller Wahrscheinlichkeit nach zwei Polizeibeamte mit Motorrädern hinter mir herfahren lassen?«

 

»Nein – auf mein Ehrenwort, ich vertraue Ihnen, daß Sie heute nichts tun werden, was mich in Verlegenheit bringen könnte. Als Ihr offizieller Schutzengel habe ich natürlich ein großes Interesse an Ihrem Schicksal. Ich werde um acht Uhr im Carlton-Hotel vorsprechen, und wenn Sie bis dahin nicht zurückgekommen sind, werde ich eine dringende Anfrage an alle Polizeistationen Englands senden.«

 

Sie drehte sich noch einmal um, nachdem der Wagen abgefahren war, und sah, daß er ihr nachschaute.

 

Er wartete, bis das Auto außer Sicht gekommen war, dann wandte er sich um und ging durch den Park zurück. Trotz der späten Jahreszeit war es ein warmer Tag, und auf den breiten Wegen bewegte sich eine bunte Menschenmenge.

 

Seine Gedanken waren mehr mit dem Problem von Valerie Howett als mit der Aufklärung des Mordes beschäftigt, der an diesem Tag das Hauptgesprächthema Londons war. Trotzdem er alle Zusammenhänge zu verstehen glaubte, war sternchenland.com ihm doch die Anwesenheit Valeries in Creagers Pflanzung äußerst unangenehm.

 

In Wirklichkeit hatte er sie überhaupt nicht dort gesehen, er hatte sie nur bemerkt, als sie hineinging, und als sie wieder herauskam. Alles, was sie in der Zeit zwischen drei Uhr nachmittags und acht Uhr abends getan hatte, als sie aus ihrem Versteck wieder herauskam, wußte er nicht. Er hoffte, daß sie ihm alles erzählen würde, wenn er sie mit der Mitteilung überraschte, daß er sie beobachtet hatte. Auch glaubte er, daß seine amtliche Stellung, die er ihr verriet, Eindruck auf sie machen würde. Aber statt dessen war sie nur noch verschlossener geworden.

 

Er wußte von Howett, daß sie jemand suchte. Wer diese Persönlichkeit war und unter welchen Umständen sie verschwand, war ihm noch ebenso unklar wie früher. Er hatte zwei Monate fieberhafter Tätigkeit hinter sich, wahrend der er diese schöne junge Dame beobachtet hatte. Ihr rastloser Forschungstrieb hatte sie manchen Weg geführt, dessen Gefahren sie nicht ahnte. Wer war diese Mrs. Held und weshalb suchte Valerie sie?

 

Er kannte Mr. Howett genau und war ihm sowohl diesseits wie jenseits des Atlantischen Ozeans begegnet. Er war Witwer und aus seiner Ehe war nur ein Kind hervorgegangen. Hätte Valerie eine Schwester gehabt, dann wären diese Nachforschungen etwas Selbstverständliches gewesen. Aber wer konnte denn Valerie Howett so wichtig sein, daß sie das Geld mit offenen Händen ausgab und diese gefährlichen Streifzüge wagte, die selbst ihm einen Schauder einjagten, wenn er daran dachte. Es konnte keine gewöhnliche Freundin sein, und es wäre alles verständlicher gewesen, wenn es sich um einen Mann gehandelt hätte.

 

Er überlegte sich dieses Problem immer wieder, aber er kam keinen Schritt weiter. Unerwartet sah er plötzlich eine alte Freundin, und sofort waren alle Gedanken an Valerie sternchenland.com verschwunden. Er ging mit schnellen Schritten quer über den Nasen und trat auf eine elegant gekleidete Dame zu, die langsam spazieren ging und einen kleinen Hund an der Leine führte. In ihrer äußeren Erscheinung glich sie vollkommen den vornehmen Damen, die in einer Straße in der Nähe des Parks wohnten.

 

»Ich dachte schon, ich hätte mich geirrt,« sagte Jim liebenswürdig. »Wie geht es Ihnen, Fay?«

 

Sie schaute ihn verständnislos an und hob ihre sorgfältig nachgezogenen Augenbrauen.

 

»Ich fürchte, daß ich nicht den Vorzug Ihrer Bekanntschaft habe,« sagte sie kühl und sah sich um, als ob sie einen Polizisten suchte.

 

Jim Featherstone amüsierte sich so sehr über sie, daß er zuerst nicht sprechen konnte, weil er sonst laut hätte lachen müssen.

 

»Fay, Fay,« sagte er vorwurfsvoll. »Steigen Sie doch von Ihrem hohen Postament herunter und seien Sie menschlich. Wie geht es denn all den guten Leuten Ihrer vornehmen Bekanntschaft? Jerry ist, soviel ich weiß, noch im Gefängnis, und die übrigen verbergen sich in Paris, nicht wahr?«

 

Sie schüttelte ungeduldig den Kopf.

 

»Mein Gott, Featherstone! Es ist wirklich schlimm, daß eine Dame nicht einmal mit ihrem Hündchen ein wenig spazieren gehen kann, ohne von einem Oberspitzel angepöbelt zu werden!«

 

»Ihre vulgäre Ausdrucksweise ist wirklich schlimm,« erwiderte Featherstone in guter Laune. »Ich hörte jüngst eine Neuigkeit von Ihnen, die mich sehr in Erstaunen setzte.«

 

Sie schaute ihn an. Argwohn und Mißfallen sprachen aus ihrem Blick.

 

»Was haben Sie denn gehört?«

 

»Man erzählte mir, Sie hatten sich verheiratet und sich sternchenland.com kirchlich und zivil trauen lassen. Wer ist denn der glückliche Mann?«

 

»Sie träumen,« sagte sie verächtlich. »Die Beamten von Scotland Yard glauben nur zu gern alles Böse von anderen Leuten. Nein, ich bin nicht verheiratet, Featherstone, obgleich ich nicht weiß, was passieren würde, wenn Sie mich so sehr in die Enge treiben. Ich habe immer eine Schwäche für Ihren Typ gehabt. Ich liebe diese Leute besonders, sie sind nicht so schlau wie die häßlichen.«

 

Sie schaute ihn unter dunklen Augenlidern verheißungsvoll an.

 

»Was sagen Sie dazu, Featherstone?« meinte sie halb spöttisch.

 

»Ich möchte Sie nicht gern enttäuschen, Fay, aber ich müßte doch erst meine Familie um Rat fragen. Aber im Ernst, wer ist denn der glückliche Mann?«

 

»Es gibt wirklich niemand auf der Welt, der gut genug für mich ist. Ich bin schon seit langem zu diesem Schluß gekommen.«

 

Sie gingen langsam zusammen weiter. Für alle Leute war er ein eleganter Herr und sie eine Dame aus den besten Ständen, die sich angenehm miteinander unterhielten.

 

»Wie geht es denn diesem Mischling, dem Sekretär des alten Bellamy?« fragte er obenhin. Sie wurde rot.

 

»Woher haben Sie denn den Ausdruck ›Mischling‹?« fragte sie scharf und aggressiv. »Wenn Sie damit Mr. Savini meinen, der zufällig mein Freund ist, so möchte ich Ihnen doch sagen, daß er aus einer sehr guten ›alten‹, portugiesischen Familie stammt. Vergessen Sie das nicht, Featherstone! Ich weiß eigentlich gar nicht, wie ich dazu komme, mich mit einem Polizeibeamten in der Öffentlichkeit zu zeigen.«

 

»Tut mir leid,« murmelte Featherstone. »Ich hätte mich natürlich auch daran erinnern sollen; daß man einen Eurasier niemals einen Mischling nennt. Nebenbei bemerkt, fängt er an, sich jetzt ganz ehrenhaft zu benehmen, wie ich gehört habe?« sternchenland.com Die gereizte junge Dame wandte sich jetzt plötzlich zu ihm. Ihre Augen blitzten wütend auf.

 

»Mr. Featherstone,« sagte sie hitzig, »ich habe keine Lust, weiter zuzuhören, wie Sie über meinen Freund sprechen. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie jetzt Ihrer Wege gingen.«

 

Jim Featherstone sah sie nachdenklich an.

 

»Man sollte doch wirklich glauben, daß Sie mit dem netten Julius verheiratet wären. Wenn das tatsächlich der Fall ist, so darf ich wohl meinen herzlichen Glückwunsch aussprechen.«

 

Aber sie hatte sich schon umgedreht, bevor er den Satz beendet hatte. Sie ging zornig fort und schleifte das widerstrebende Pekinghündchen hinter sich her.

 

Zum zweitenmal in den letzten zehn Minuten wandte sich Jim Featherstone um und sah gedankenvoll hinter einer Frau her.

 

Später ging er ins Carlton-Hotel, um die Bekanntschaft mit dem Freund Fay Claytons zu erneuern, aber Julius hatte das Hotel bereits mit seinem Herrn verlassen und sich nach Garre Castle begeben.

 

Kapitel 9

 

9

 

Man konnte dem alten Turm und den zinnbekrönten Mauern von Garre Castle von außen nicht ansehen, daß es innen so luxuriös und prachtvoll eingerichtet war. Äußerlich sah es düster und abschreckend aus und nie fiel ein Lichtschein durch die Schießscharten der Mauern und Türme. Die Doppelfenster von Mr. Bellamys Bibliothek führten auf die grüne Rasenfläche des inneren Hofes, und über diesen Fenstern erhob sich die Wand der Burgkapelle. Stark, unzerstörbar ragte sie schier endlos zum Himmel empor.

 

sternchenland.com Viele Leute wunderten sich, warum Bellamy, der niemals ein Buch las und auf den geschichtliche Tradition keinen Eindruck machte, für eine so hohe Summe diese Burg gekauft hatte, die einst das Heim mächtiger Ritter gewesen war. Hätte man ihn aber genauer gekannt, so wäre es verständlich gewesen. Denn es war die Stärke der Mauern, die diesem alten Bauunternehmer Bewunderung abnötigte.

 

Es lebte etwas in diesen starken, trotzigen Steinmauern, das mit der grausamen Wildheit seiner Natur übereinstimmte. Die düsteren Kerkerzellen mit ihren fußdicken Türen, die abgenützten Kettenringe, die an Steinpfeilern befestigt und von den Schultern gefolterter Menschen glattgerieben waren, die ganze Macht und Majestät von Garre Castle sprachen zu diesem primitiven Menschen und weckten in seiner Seele atavistische, teuflische Vorstellungen. Er weidete sich daran, wenn er sich diese längst vergessenen Folterqualen vorstellte. Schon vor zwanzig Jahren hatte die Burg bei seinem ersten Besuch in England einen starken Eindruck auf ihn gemacht. Später spielte Garre Castle in seinen Plänen eine Rolle und schließlich brauchte er den Platz notwendig. Er kaufte die Burg für eine ungeheure Summe, aber er bereute diesen Kauf niemals.

 

Er liebte die Burg über alles. Hier war er weniger starrsinnig und konnte bei Gelegenheit sogar menschliche Seiten zeigen. Niemals blieb er eine Nacht außerhalb und selbst wenn er in der Stadt war, so schlief er doch nicht dort. Nur die Dienstboten des Hotels und Julius wußten darum. Wie wichtig das Geschäft auch sein mochte, das ihn nach London gebracht hatte, er kehrte stets abends zur Burg zurück, selbst wenn er deshalb beim nächsten Morgengrauen wieder zurückfahren mußte. Der Aufenthalt in der Burg war seine einzige Erholung. Er konnte ganze Tage damit zubringen, um die starken Mauern herumzugehen, und stundenlang konnte er einen Baustein betrachten. Wer mochte ihn hierher gesetzt haben? Wie war wohl der Name dieses Gesellen? Was sternchenland.com mochte er für ein Leben gelebt haben, und was war wohl sein Lohn hierfür? Immer wieder kamen ihm solche Fragen. In jener Zeit kannte man wohl keine Gewerkschaften oder Verbandsorganisationen. Wenn ein Arbeiter frech wurde, setzte man ihn einfach gefangen und hängte ihn auf. Hoch oben von den Mauern der Burgkapelle ragte ein starker, eichener Balken in die Luft. Weiter unten war eine kleine Tür, die sich nach außen öffnete. Durch dieses Loch wurden viele Menschen hinausgestoßen, einen Hanfstrick um den Hals, der oben an dem Galgenbalken befestigt war. So ging man damals mit Arbeitern um, die sich auflehnten. Auch der Grüne Bogenschütze, der das gute Wildbret seines Herrn gestohlen hatte, war an diesem Galgen gestorben. Es geschah ihm ganz recht, dachte Abel Bellamy. Leute, die sich unterstehen zu stehlen, müssen gehängt werden. Das sollte auch heute noch Gesetz sein.

 

Er saß am Abend vor dem großen Steinkamin in der Bibliothek und schaute nachdenklich in das Holzfeuer, das lebhaft knisterte und sprühte. Es war ein schöner Raum, der mit vielen Kosten ausgestattet war. Holzpaneele zogen sich vom Fußboden bis zur getäfelten Decke über die Wände. Blaue Sammetvorhänge hingen vor den tiefen Irischen der Fenster. Von dem Feuer wanderten Bellamys Blicke zu dem steinernen Wappen mit den springenden Leoparden, das über dem Kamin eingemeißelt war. Im Lauf der Zeit war es verwittert und undeutlich geworden. Aber man konnte noch gut den darunter in Stein eingehauenen Wahlspruch der de Currys lesen:

 

Recht ist Recht! Es war doch töricht, so etwas zu sagen. Ebensogut konnte man auch behaupten: »Schwarz ist Schwarz« oder »Wasser ist naß«.

 

Es war schon spät, und er war mit seiner Abendbeschäftigung fertig, aber er konnte sich noch nicht von seinem tiefen sternchenland.com Armsessel trennen, in dem er sich niedergelassen hatte. Schließlich stand er doch auf, zog den Vorhang zurück, der die Tür bedeckte, und schloß auf. Dann kehrte er zum Kamin zurück und klingelte. Julius Savini erschien auf diesen Ruf.

 

»Nehmen Sie all diese Briefe vom Tisch, setzen Sie die Antworten auf und legen Sie sie mir morgen vor,« brummte er. »Ich werde den ganzen nächsten Monat hier sein – wenn Sie einmal Urlaub haben wollen, dann sagen Sie es mir besser jetzt.«

 

»Ich habe am Mittwoch eine Verabredung,« sagte Julius sofort. Der Alte murrte irgend etwas.

 

»Nun gut, Sie können am Mittwoch gehen.«

 

Als Savini schon wieder an der Tür war, rief ihn Bellamy noch einmal zurück.

 

»Savini, Sie fragten mich neulich, ob ich ein Testament gemacht hätte. Damals hatte ich die Vorstellung, daß Sie Ihre Pflicht als mein Privatsekretär täten. Ich habe mir die Sache aber überlegt und bin nun zu der Überzeugung gekommen, daß Sie nicht der Mann sind, der eine solche Frage nicht mit einer bestimmten Absicht verbindet.«

 

»Ich dachte mir wirklich nichts dabei,« sagte Savini obenhin. »Da ich nun einmal Ihr Privatsekretär bin, muß ich doch etwas von Ihren Angelegenheiten wissen – weiter hatte meine Frage nichts zu bedeuten.«

 

Der alte Mann sah ihn unter seinen buschigen Augenbrauen an.

 

»Dann ist es gut,« sagte er grob.

 

Als Savini sich entfernt hatte, ging er aufgeregt in dem Raum auf und ab. Es war eine Unruhe in ihm, die er nicht begriff und für die er keinen Grund wußte. Er trat zu dem Schreibtisch, nahm einen Schlüssel aus einer inneren Tasche und schloß eine der Schubladen auf. Er tat dies ganz mechanisch, nahm eine Ledermappe heraus und legte sie auf den Tisch.

 

sternchenland.com »Du bist eine Närrin!« sagte Mr. Bellamy ruhig. »Du bist hübsch, aber – verrückt. Du hast nicht den geringsten Verstand.«

 

Er öffnete die Mappe, nahm die Photographie einer Frau heraus und betrachtete sie. Ihre Kleider sahen altmodisch und sonderbar aus, sie mochten vor etwa zwanzig Jahren modern gewesen sein. Aber ihr Gesicht sah jung und schön aus, und die ruhigen Augen, die ihn anzuschauen schienen, waren von fast überirdischer Schönheit. Abel Bellamy preßte die Lippen aufeinander und schaute mit zusammengekniffenen Augen auf das Bild. Dann legte er es weg und nahm die zweite Photographie, die einen Mann zwischen dreißig und vierzig darstellte.

 

»Auch ein Narr, aber du warst ja immer so, Mike.«

 

Die dritte Photographie war die eines kleinen Kindes. Auf die Rückseite des Blattes war ein Zeitungsausschnitt geklebt.

»Leutnant J. D. Bellamy, Angehöriger der Armee der Vereinigten Staaten. Der oben genannte Offizier wurde bei einem Luftkampf ungefähr am 14. Mai 1918 getötet.«

Er sah sich die Photographie noch einmal an und legte sie wieder in die Ledermappe zurück, als plötzlich etwas seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Er beugte sich näher über den Tisch. Asche – Zigarettenasche! Mr. Bellamy rauchte keine Zigaretten, aber Julius Savini tat es. Bellamy wollte klingeln, aber unterließ es dann doch. Schließlich war es ja sein eigener Fehler. Er kannte den Charakter des Mannes, und wenn er seine Privaturkunden und Dokumente nicht einmal vor den neugierigen Augen eines Schuftes bewahren konnte, so war dies seine eigene Schuld. Bevor er die Bibliothek an diesem Abend verließ, legte er die Ledermappe in den Wandschrank, der hinter dem Eichenpaneel verborgen war, und schloß die Tür. Das tat er jeden Abend. Für den Zeitraum von zwei Stunden konnte dann niemand die Bibliothek betreten.

 

sternchenland.com Julius, der in einem Zimmer auf der anderen Seite der Eingangshalle arbeitete, hatte seine Tür weit offen stehen lassen. Er sah, wie sein Herr herauskam und die Lichtschalter der Bibliothek ausdrehte.

 

»Sie können zu Bett gehen,« sagte Bellamy mit rauher Stimme.

 

Das bedeutete in seiner Sprache soviel wie »Gute Nacht«.

 

Bellamys Schlafzimmer war der einzige Raum, dessen Fenster nach außen gingen. Es war ein großer Raum mit dunklen Paneelen und wenig Möbelstücken. Der einzige Zugang war doppelt gesichert mit einer äußeren starken Eichentür und einer inneren, die nur aus einem leichten, mit altem Leder überzogenen Holzrahmen bestand. Diese war mit einer schmiedeeisernen Klinke versehen, welche Bellamy von seinem Bett mit Hilfe einer seidenen Schnur öffnen konnte. So war es ihm möglich, die Tür während der Nacht geschlossen zu halten und sie am Morgen für den Diener zu öffnen, ohne aus dem Bett zu gehen. Er schloß die äußere Tür sorgfältig mit dem Schlüssel ab, schob den Riegel vor, dann klinkte er auch die Ledertür ein und entkleidete sich beim Licht einer Kerze. Bevor er sich aber zur Ruhe legte, nahm er aus seiner inneren Tasche einen langen, schmalen Schlüssel, den er unter sein Kissen legte. Seit acht Jahren tat er das jeden Abend.

 

Er war ein Mann von gesundem, aber leichtem Schlaf, und auch an diesem Abend schlief er sofort ein. Drei Stunden später wachte er plötzlich auf. Er zog seine Vorhänge nachts niemals zu. Es war eine mondhelle Nacht mit wolkenlosem Himmel, und obgleich die Strahlen nicht direkt in die Fenster hereinfielen, war das Zimmer doch genügend hell, so daß er alles erkennen konnte. Die Ledertür bewegte sich langsam … Zoll für Zoll, geräuschlos, sie öffnete sich immer weiter.

 

Er wartete, bewegte sich lautlos und griff nach der Pistole, die für solche Zwischenfälle stets unter seinem Kopfkissen bereitlag.

 

sternchenland.com Die Tür stand jetzt ganz weit auf – der Eindringling mußte jeden Augenblick in den Raum treten. Bellamy erhob sich langsam und leise im Bett, stützte den Ellenbogen aufs Knie und zielte nach der Türkante.

 

So verging eine Minute, aber er konnte weder etwas hören noch sehen. Er schlug die Decke zurück, sprang auf den Boden und eilte mit der Pistole in der Hand durch die Tür.

 

Der Mond schien durch die Fenster des Ganges und die ganze Halle war hell erleuchtet.

 

Zuerst sah er nichts, dann schien sich etwas aus dem Schatten in das helle Licht zu bewegen.

 

Eine große, schlanke, grüne Gestalt mit todblassem Gesicht, stand hochaufgerichtet vor ihm und blickte ihn an, einen Bogen in der Hand, mit Ausnahme des bleichen Gesichtes grün von Kopf bis zu Fuß. Eine Sinnestäuschung war ausgeschlossen.

 

Einen Augenblick starrte der alte Bellamy wie durch einen Zauber festgebannt auf die Erscheinung, aber dann hob er die Pistole und feuerte zweimal.

 

Kapitel 69

 

69

 

sternchenland.com Von dem Kamin des kleinen Hauses im Klosterwald stieg Rauch auf. Ein kleines Feuer brannte im Küchenofen, und ein Mann, der eine Gabel in der Hand hielt, beobachtete sorgsam, wie ein Kotelett in der Pfanne briet. Die Fensterläden waren zugemacht und die Haustüren von innen dicht verschlossen. Wenn ein Neugieriger draußen angeklopft hätte, würde er keine Antwort erhalten haben.

 

Es war schon spät am Nachmittag, und der Abend kam heran. Der Mann war auf einem Richtsteig hierhergekommen, der das Dorf Garre nicht berührte. Nach einer Weile war das Kotelett zubereitet. Er nahm es aus der Pfanne und legte es auf einen Teller, der auf der Herdplatte gewärmt worden war. Aus seiner Rocktasche zog er einen kleinen Papiersack hervor und nahm zwei Brötchen heraus, die er auf den tadellos gedeckten Tisch legte. Nachdem sein einfaches Mahl beendet war, füllte er bedachtsam seine Pfeife und entzündete sie. Dann lehnte er sich in seinen bequemen Stuhl zurück und schaute in Gedanken vor sich hin.

 

Er nahm ein Telegramm aus der Tasche und las es nun schon zum drittenmal. Seine Beschäftigung schien ihm viel Freude zu machen, denn er lächelte. So saß er fast eine Stunde lang, dann erhob er sich und ging in den Raum, den zuerst Spike und später Bellamy durchsucht hatten. Das zusammengelegte Kleid lag noch auf dem Bett, aber es war anders gefaltet als er es zurückgelassen hatte. Die breiten Schmutzspuren von Bellamys Schuhen waren deutlich auf dem Fußboden zu erkennen.

 

Er ging wieder zur Küche, nahm ein Buch und setzte sich nieder, um zu lesen. Einige Male hob er den Kopf und horchte. Er hatte schon vorher zuweilen ein sonderbares Geräusch gehört und wurde nun aufmerksam, weil es in immer kürzeren Zwischenräumen kam. Er ging durch die Hintertüre sternchenland.com in den verwilderten Garten, der hinter dem Hause lag, legte die Hand ans Ohr und lauschte. Plötzlich schien er zu wissen, woher es kam. Sofort eilte er wieder ins Haus, schloß die Hintertür ab, setzte den Hut auf und ging dann durch die Vordertür ins Freie. Er glaubte, jemand gehört zu haben, der die Straße entlang kam, trat in den Schatten und wartete, bis der Fußgänger vorüber war. Als der andere weit genug entfernt war, kam er wieder hervor und ging die Straße schnell entlang quer über das Feld, erreichte einen anderen Richtsteig und begegnete dort einem Mann, den er anhielt und fragte.

 

»Es klingt so, als ob dort geschossen wird?«

 

Der Mann grinste.

 

»Da haben Sie recht, mein Herr, dort wird kräftig geschossen. Der alte Bellamy in Garre Castle wird von Soldaten angegriffen. Ich weiß nicht, warum und wieso, aber man hat schon seit heute morgen die Schießerei gehört.«

 

Der Fremde beschleunigte seine Schritte und kam ins Dorf. Sein Weg führte ihn gerade nach Lady’s Manor. Er konnte jetzt die einzelnen Schüsse ganz deutlich unterscheiden und sah die vielen Menschen, die neugierig in der Dorfstraße standen. Ganz in der Nähe war ein Polizist, der den Verkehr auf einen Nebenweg umleitete. Zu diesem ging er hin.

 

»Ja, mein Herr, der alte Bellamy schießt auf die Polizei,« sagte der Beamte mit unverkennbarem Stolz auf seine Abteilung, der eine so wichtige Aufgabe anvertraut war. »Es kommen noch mehr Soldaten – zwei Kompagnien sind bereits hier. Sind Sie hier fremd?«

 

»Ja.«

 

»Fast das ganze Dorf schaut zu. Ich sagte gerade zu einem von Mr. Howetts Dienstmädchen, es wäre besser, wenn sie nach Hause ginge und das Essen kochte.«

 

»Ist Mr. Howett hier?«

 

»Nach allem, was man hört, ist er nicht da. Die junge Dame ist aber im Hause. Wollen Sie sie aufsuchen?«

 

sternchenland.com »Ja, das werde ich tun.« Der Fremde zögerte aber. In diesem Augenblick hob der Polizist seine Hand und hielt einen Lastwagen an, der sich näherte.

 

Als er sich wieder umschaute, stand der Fremde nicht mehr bei ihm und er sah, wie er den Weg nach Lady’s Manor entlangschritt.

 

Die Tür zu dem Hause stand weit offen, er klopfte trotzdem an, ging dann aber doch kühn in die mit Fliesen belegte Vorhalle, machte die Tür zum Wohnzimmer auf und schaute hinein. Ein offenes Buch lag auf Valerie Howetts Schreibtisch und eine angefangene Strickarbeit auf dem Sofa.

 

Er ging leise zur Küche und schaute sich auch dort um. Er kannte das Haus, denn er war schon oft hier gewesen. Die Tür zu dem Garten stand halb offen, und er trat hinaus. An der Mauer lehnte eine Leiter, aber er konnte weder Miß Howett noch jemand von der Dienerschaft finden.

 

Es war schon ganz dunkel, als er Stimmen vor dem Hause hörte. Er öffnete die Tür, die zu dem Keller führte, ging hindurch und schloß sie hinter sich ab. Dann eilte er die Treppe hinunter. Der Keller lag in vollständiger Dunkelheit. Aber er ging trotzdem sicher zu einer der Türen, schloß sie auf und trat in einen anderen Raum. Er bückte sich, machte einen großen Kasten auf und nahm eine kleine elektrische Lampe heraus. Ein Druck seines Fingers genügte, und der Raum war erhellt. Wieder wandte er sich dem großen Kasten zu und holte einen kurzen, grünen Bogen und zwei Pfeile heraus. Er balancierte sie auf seinen Fingern. Der eine schien ihm nicht zu genügen, denn er legte ihn in den Kasten zurück und zog dafür einen anderen heraus. Dann drehte er das Licht ab und wartete. Er hörte, wie die obere Kellertür aufgemacht wurde. Ein Dienstmädchen kam mit einem Licht die Treppe herunter und füllte einen Eimer mit Kohlen. Dann hörte er ein Gespräch zwischen jemand, der oben in der Spülküche stand und dem Mädchen, das unten Kohlen holte.

 

sternchenland.com »Was mag mit Miß Valerie geschehen sein?«

 

»Ich habe sie nicht gesehen. Ist sie nicht in ihrem Zimmer?«

 

»Nein,« kam die Antwort von oben. »Ich bin gerade dort gewesen. Sie ist auch nicht im Garten.«

 

»Bei den Leuten, die von der Straße aus zuschauten, stand sie auch nicht – sie kann doch nicht fortgegangen sein? Die Polizei hat doch niemand über die Dorfstraße gehen lassen?«

 

Der Mann, der im Dunkeln auf der Kiste saß, hörte müßig zu, bis das Dienstmädchen mit den Kohlen wieder die Treppe hinaufging und die Tür oben schloß.

 

Stundenlang wartete er, bis er oben eine Bewegung hörte. Erregte Stimmen fragten durcheinander. Vorsichtig trat er aus dem Raum heraus, schlich die Treppe hoch und lauschte. Was er aber hörte, veranlaßte ihn, sofort wieder nach unten zu gehen. Und als einige Augenblicke später Mr. Howett die Tür öffnete und in den Raum eintrat, in dem der Fremde sich aufgehalten hatte, war der kleine Keller leer.

 

Draußen hatte das Gewehrfeuer allmählich nachgelassen, nur hin und wieder fiel noch ein Schuß. Die Regierung hatte ihre Einwilligung gegeben, Militär war in Garre angekommen und nahm seine Stellung um die Burg ein. Gegen Mitternacht kamen schwere Fuhrwerke heran. Artillerie fuhr die Dorfstraße entlang, hielt in der Nähe der Burg, brachte die Geschütze in Stellung und richtete die Mündungen auf den Eingang von Garre Castle.

 

Spike erschien sofort auf dem Platz und erkundigte sich.

 

»Vor morgen früh werden wir nichts unternehmen,« sagte der Offizier, der die Abteilung befehligte. »Es hängt auch noch ganz davon ab, was Bellamy tut. Wenn er gegen morgen noch fortfährt zu schießen, werden wir das Tor mit Artilleriefeuer niederlegen.«

 

»Warum legen Sie denn nicht einfach Dynamit an die Tür – noch heute nacht?« drängte Spike. »Haben Sie nicht gehört, daß auch Miß Valerie Howett verschwunden ist? sternchenland.com Mr. Howett telephonierte schon die ganze Zeit nach allen Richtungen.«

 

»Wir müssen uns an unsere Befehle halten,« sagte der Offizier kurz. Spike wandte sich an den Polizeibeamten, aber der konnte ihm auch keine zufriedenstellende Antwort geben.

 

»Ich glaube nicht, daß es etwas ausmacht, ob wir heute nacht oder morgen früh angreifen,« sagte er. »Der Augenblick der Gefahr für die unglücklichen Leute, die drinnen gefangen sind, wird der Beginn unseres Angriffs sein. Das ist meine Überzeugung, und das glaubt auch der Staatssekretär. Wir werden wirklich nichts erreichen, wenn wir heute noch das Tor der Burg einschießen. Vielleicht überlegt sich Bellamy die Sache über Nacht und ist morgen vernünftig.«

 

»Da kennen Sie Bellamy aber schlecht!« sagte Spike grimmig.

 

Mit jedem neuen Zug kamen Zeitungsberichterstatter und neugierige Leute an. Die Nachricht von der Belagerung Garres stand in allen Abendzeitungen. Spike, der stolze Besitzer eines Hotelzimmers, bewirtete ein Dutzend Kollegen, die sich die ganze Nacht unterhielten und keinen Schlaf fanden. Aber da sie jung waren, machte es ihnen nichts aus. Spike war gerade dabei, eine hastige Abendmahlzeit einzunehmen, als Mr. Howett eintrat.

 

»Ich werde einem der Polizisten den Weg in die Burg zeigen,« sagte er. »Wollen Sie mitkommen?«

 

Spike ließ sein Essen sofort stehen.

 

»Ich weiß den geheimen Weg – ich habe ihn vor kurzer Zeit entdeckt,« erklärte Mr. Howett. Er sah sehr alt aus, sein Gesicht war fahl, und seine Stimme zitterte. Spike war bestürzt. Er fragte ihn nicht, wie er den geheimen Weg entdeckt hatte, sondern stieg rasch in den Wagen Mr. Howetts, in dem schon einige Detektive saßen.

 

In Lady’s Manor folgten sie Mr. Howett durch das Erdgeschoß in den Keller.

 

sternchenland.com »Hier unten befindet sich ein unterirdischer Gang – er verbindet Lady’s Manor mit der Burg.« Er zeigte auf die mittlere der drei Kellertüren, nahm einen Schlüssel aus seiner Tasche, schloß auf und ging durch.

 

Der Keller war sehr klein und enthielt nichts als einen großen Kasten, der in dem hinteren Ende des Raums stand. Diesen zog Mr. Howett nach vorn, und sie entdeckten an dieser Stelle eine viereckige Öffnung im Fußboden und eine gleiche in der Wand. Eine Anzahl Stufen führten zu dem Gang hinunter. Sie waren noch nicht weit gekommen, als plötzlich ein dumpfer Schlag ertönte. Mr. Howett, der sie führte, stieß einen entsetzten Ruf aus. Die anderen leuchteten mit ihren Taschenlampen – der Weg war durch eine geschlossene Tür versperrt, der geheime Pfad nach Garre Castle war unzugänglich geworden!

 

»Früher stand die Tür immer auf,« sagte Mr. Howett aufgeregt. »Ich kann mich besinnen, daß ich sie früher schon gesehen habe, aber sie war immer mit einem Haken an der Wand befestigt. Zwischen hier und der Burg sind noch vier andere Türen in dem Gang, und wir müssen sie nun erst alle einschlagen, bevor wir durchkommen können. Sie sind aus schweren Eichenbohlen, mit Eisen beschlagen und so stark, daß wir ohne besondere Hilfsmittel nicht dazu imstande sind.«

 

»Sind sie verschlossen?«

 

»Nein, verriegelt. Auf der Rückseite hat jede schwere, eiserne Vorlegestangen. Es ist auch unmöglich, die Tür aus den Angeln zu heben oder die Angeln zu zerstören.« Er überlegte. »Es tut mir leid, meine Herren,« sagte er dann leise. »Ich hoffte, Ihnen einen leichten Weg in die Burg zeigen zu können. Aber dieser Zugang scheint nur schwerer zu sein, als wenn die Burgtore eingeschossen werden.«

 

Sie wandten sich wieder zum Geben. Spike war am meisten enttäuscht.

 

sternchenland.com »Glauben Sie, daß Miß Howett auf diesem Wege fortgebracht wurde?« fragte er plötzlich.

 

»Ich fürchte es. Die Dienstboten waren alle fort, und man hat sie von der Straße aus ins Haus gehen sehen. Es ist mein eigener Fehler. Ich hätte mehr männliche Dienstboten anstellen sollen.«

 

Er sprach immer leiser und leiser, und dann fing ihn Spike auf. Man rief schnell einen Arzt herbei, der aber nur eine leichte Ohnmacht konstatieren konnte. Spike ließ Mr. Howett in der Pflege seiner Leute zurück. Er selbst ging wieder zu dem Burgeingang und erfuhr, daß von London neue Befehle eingetroffen waren, und man den Angriff auf ein Uhr nachts festgesetzt hatte. Er schaute auf die Uhr – es war zehn. Wie mochte es bloß den Gefangenen in den fürchterlichen Kerkern von Garre zumute sein?

 

Kapitel 7

 

7

 

Spike Holland war gerade dabei, den zweiten Artikel über den Mord durch den Bogenschützen auszuarbeiten, als er ans Telephon gerufen wurde. Er berichtete dem Redakteur den Inhalt seines Gesprächs.

 

»Man ruft mich nach Scotland Yard – sehen Sie mal an, ich werde noch eine bedeutende Persönlichkeit!«

 

»Sind Sie gewiß, daß eine Frau in die Geschichte verwickelt ist?« fragte der Redakteur und schaute von Spikes Manuskript auf, das er eben prüfte.

 

»Sicherlich. Zwei Leute haben sie gesehen. Ich habe den Chauffeur gefunden, den sie in der Stadt nahm und dem sie den Auftrag gab, Creagers Wagen zu folgen. Außerdem hat eine Frau, die in der Field Road wohnt, eine Dame beobachtet, die über die Landstraße nach der Rückseite von Creagers Haus zu ging.«

 

»Und glauben Sie, daß man ihre Persönlichkeit feststellen kann?«

 

»Nichts ist sicherer in der Welt,« sagte Spike optimistisch. »Es ist nur die Frage, ob man dem Chauffeur die Gelegenheit geben kann, sie wiederzusehen.«

 

Zehn Minuten später war er in Scotland Yard.

 

»Der Chef des Bureaus H wünscht Sie zu sprechen,« sagte der Sergeant, der an dem Eingangstor Wache hielt.

 

»Ich kenne das Bureau H noch nicht,« erwiderte Spike, »aber führen Sie mich nur hin.«

 

Ein Polizist brachte ihn in ein Zimmer, das nach Größe und Ausstattung scheinbar einem sehr hohen Beamten gehörte. Ein jüngerer Mann schrieb eifrig an seinem Pult, schaute aber auf, als der Besucher eintrat.

 

»Alle Wetter,« rief Spike erstaunt, »ich habe Sie doch irgendwo schon mal vorher gesehen!«

 

»Ich glaube nicht, daß wir uns schon einmal getroffen haben,« sternchenland.com sagte der Beamte lächelnd, erhob sich und schob Holland einen Sessel hin. »Bitte nehmen Sie Platz, Mr. Holland. Ich bin Polizeidirektor Featherstone. Im allgemeinen bin ich für das Publikum nicht zu sprechen, aber in Ihrem Fall mache ich eine Ausnahme, weil mir Ihr Gesicht sympathisch ist. Darf ich Ihnen eine Zigarre anbieten?«

 

»Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir noch ein anderes Kompliment machten, etwas über meine schönen roten Haare.«

 

Jim Featherstone lachte.

 

»Also nun im Ernst. Ich will Ihnen sagen, warum ich Sie herbemüht habe. Ich weiß, daß Sie einen Chauffeur ausfindig machten, der eine Dame bis zum Ende der Field Read brachte, die man später nach Creagers Haus gehen sah.« Er lächelte, als der andere höchst erstaunt war. »Es ist kein Geheimnis dabei, denn die Polizei kontrolliert an sich alle Chauffeure. Der Mann fühlte sich nicht recht wohl, weil Sie ihn so scharf ausgefragt haben, und berichtete der Polizei, daß er die Dame dorthin gebracht hätte.«

 

»Haben die anderen Zeitungen das auch erfahren?« fragte Spike, unangenehm berührt.

 

»Keins der anderen Blätter hat die Nachricht bekommen oder wird sie bekommen,« sagte Featherstone ruhig, »nicht einmal Ihre Zeitung, der ›Daily Globe‹.«

 

»Aber wir haben die Sache doch herausgebracht,« sagte Spike.

 

»Aber ich möchte Sie gerade deswegen ersuchen, keinen Gebrauch davon zu machen. Deshalb habe ich Sie kommen lassen. Es ist wirklich nichts daran. Ich kenne die Dame persönlich, und all ihre Schritte sind zur Genüge aufgeklärt. Ich sehe wohl, daß Sie sehr enttäuscht hierüber sind, weil eine gute Mordgeschichte ohne eine verschleierte und geheimnisvolle Dame vom Standpunkt des Zeitungsberichterstatters aus keine richtige Mordgeschichte ist.«

 

sternchenland.com Spike grinste.

 

»Es ist alles in Ordnung, wenn Sie mich nur deswegen gerufen haben,« sagte er. »Die Geschichte muß aber in unserer Zeitung herauskommen.«

 

»Ich will Ihnen ein oder zwei Tatsachen mitteilen, aus denen Sie weitere Schlüsse ziehen und die Sie dafür einsetzen können,« entgegnete Mr. Featherstone und spielte mit einem silbernen Brieföffner. »Der Mann, der Creager ermordete, hat rote Narben quer über die Schultern.«

 

»Ist das eine Ihrer Vermutungen?« fragte Spike erstaunt.

 

»Nein, das ist eine Tatsache. Ich werde Ihnen noch eine andere Angabe machen. Der Mörder hat entweder einen sehr starken Spazierstock oder ein Bündel Golfstöcke getragen. Ich persönlich neige mehr zu der Ansicht, daß es Golfstöcke waren, weil keine Viertelmeile von dem Tatort entfernt ein freier Platz liegt. Ich gebe ja zu, daß ich noch nicht genau weiß, ob diese Mitteilungen für Sie von irgendwelchem Wert sind, aber vielleicht sparen Sie diese Hinweise für sich persönlich auf, bis der Mörder gefangen ist und Sie darüber berichten.«

 

»Gibt es denn irgendwelche definitiven Anhaltspunkte, durch die das Verbrechen aufgeklärt werden könnte?«

 

Jim Featherstone schüttelte den Kopf.

 

»Keine – das heißt keine, die reif sind für die Veröffentlichung, weil sie nämlich wahr sind. Ich will nicht ironisch sein, Holland, aber Sie wissen vielleicht, daß wir nur dann Indizien öffentlich bekanntgeben, wenn wir einen Verbrecher erschüttern und ihn dazu bringen wollen, zu fliehen. Es ist das letzte Hilfsmittel, das die Polizei anwendet, um einen Übeltäter dahin zu bringen, sich selbst dadurch zu verraten, daß er seine gewöhnliche Umgebung verlaßt und sich versteckt. Es sind mehr Leute durch ihr verdächtiges Fernsein als durch hinterlassene Fingerabdrucke gefangen worden. Aber der sternchenland.com Mann, hinter dem wir jetzt her sind, ist kein gewöhnlicher Verbrecher.«

 

»Was hat das eigentlich mit der Narbe auf dem Rücken zu bedeuten?« fragte Spike neugierig. Er erwartete keine Antwort auf seine Frage, aber zu seinem größten Erstaunen gab ihm Featherstone eine Erklärung.

 

»Ich weiß nicht, wie lange Sie schon in diesem Lande sind oder wieweit Ihre Kenntnisse der Gerichtsstrafen in England reichen. Für gewisse Verbrechen wird bei uns die Prügelstrafe angewandt. Manche Menschen denken, das sei brutal – und das mag ja vom rein menschlichen Standpunkt aus auch stimmen. So ist das Aufhängen sicherlich nicht sehr human. Wir haben aber erreicht, daß gewisse Arten von Verbrechen vollständig verschwunden sind. Wenn ein paar Straßendiebe einen Bürger auf der Straße überfallen und ihn berauben, kann sie der Richter zu je fünfunddreißig Schlägen verurteilen. Infolge dieser Maßnahme sind Raubüberfälle überhaupt nicht mehr vorgekommen. Oder wenn einem Menschen nachgewiesen wird, daß er gewohnheitsmäßig von der Erpressung von Straßendirnen lebt, dann wird er zur Prügelstrafe verurteilt, und dadurch ist das Zuhältertum sehr stark eingeschränkt worden. Die Prügelstrafe steht auch noch auf andere Vergehen, zum Beispiel auf tätlichen Angriff auf Gefangenenwärter. Wir nennen die Peitsche die ›neunschwänzige Katze‹. Creager brachte im Pentonville-Gefängnis sieben Jahre lang die Prügelstrafe zur Anwendung. Das ist ein sehr unangenehmes Amt, das außerordentlich starke Nerven und viel Geschicklichkeit erfordert, denn dem Gesetz nach darf die Peitsche nicht über oder unterhalb der Schultern den Körper treffen, weil die Schläge leicht den Tod zur Folge haben, wenn sie über den Hals gehen. Die meisten Verbrecher nehmen ihre Strafe hin und fühlen keine Rachegedanken gegen den Beamten, der diese Strafe vollzieht. Aber es gibt andere, die das niemals vergeben, und ich habe mir selbst die Theorie sternchenland.com gebildet, daß der Mörder ein Mann war, den Creager einst geschlagen hat, und der nur eine Gelegenheit zur Rache abwartete.«

 

»Und was wollten Sie mit dem dicken Spazierstock oder dem Bündel Golfstöcke sagen?« fragte Spike.

 

»Creager wurde von einem Pfeil getötet, der von einem sehr starken Bogen abgeschossen wurde. Dieser Bogen war wahrscheinlich aus allerfeinstem Stahl hergestellt. Sie können aber nicht mit Bogen und Pfeil in der Hand durch London gehen, ohne nicht die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Deshalb meine ich, daß die Waffe vielleicht in einem hohlen Spazierstock oder in einem Bündel Golfstöcke verborgen war.«

 

Spike kehrte zu seinem Bureau zurück und hatte das Gefühl, daß seiner Geschichte die Pointe genommen war.

 

»Wir müssen die Frau aus der Geschichte lassen, Mr. Syme,« sagte er. »Die Polizei hat alles über sie aufgeklärt, die ganze Sache hat nichts auf sich.«

 

»Ich mißtraue immer solchen geheimnisvollen Frauen,« beklagte sich der phantasielose Redakteur. »Aber hier ist ein Telegramm für Sie angekommen.« Er wandte sich um, nahm ein versiegeltes Formular aus dem Regal und reichte es seinem Angestellten hinüber. Spike öffnete es und las.

»Glauben Sie, daß Bellamy meinen Plan durch eine Schenkung unterstützen würde? Halten Sie ihn für einen Kinderfreund?«

Spike ließ sich auf einen Stuhl fallen und lachte, bis ihm die Tränen in die Augen kamen.

 

»Was hat denn nun schon wieder dieser hysterische Anfall zu bedeuten?« fragte Mr. Syme vorwurfsvoll. sternchenland.com

 

Kapitel 70

 

70

 

Lacy hatte schon beinahe einen Krampf bekommen, als er plötzlich Schritte im Gang hörte und sich zurücklehnte, obgleich es so dunkel war, daß der alte Bellamy ihn unmöglich sehen konnte. Eine Laterne blitzte auf und der Alte trat über die Holzbalken

 

»Mr. Bellamy!« flüsterte Lacy erregt.

 

Bellamy wandte sich schnell um.

 

»Hallo, wie sind Sie denn hierhergekommen?«

 

»Um Gotteswillen, seien Sie ruhig,« sagte Lacy. Das Geräusch der Hammerschläge von unten übertönte die Stimmen der beiden.

 

»Was wollen Sie?« fragte Bellamy leise.

 

»Lassen Sie mich heraus,« bat Lacy. »Sie haben mich hier auf Posten gestellt. Sie haben eine Pistole unten und wollen Sie sofort niederschießen, wenn Sie sich sehen lassen.«

 

sternchenland.com Der Alte stellte seine Laterne auf den Fußboden, ging zu einer Gaslampe und steckte sie an.

 

»Mr. Bellamy, lassen Sie mich doch heraus, ich habe Ihnen doch gesagt –«

 

Jim hatte das Gespräch gehört, eilte die Treppe hinauf und kam gerade an, als Bellamy die Tür öffnen wollte. Jim feuerte zweimal, aber die Schüsse gingen zu hoch. Plötzlich sah er ein blendendweißes Licht.

 

»Hinlegen!« schrie er, sprang die Treppe hinunter und fiel auf seine Knie, als die erste Explosion ertönte.

 

Der Schall machte ihn beinahe taub. Eine zweite Detonation folgte. Ein Loch war in das Gewölbe geschlagen, Steine splitterten von allen Richtungen.

 

»Was ist los?« rief Julius erschreckt.

 

»Bleiben Sie dort bei der Öffnung,« sagte Jim kurz. »Lacy, kommen Sie hierher. Warum haben Sie mich nicht gerufen, als der Alte kam?«

 

»Ich habe ihn nicht gesehen –«

 

»Sie haben ihn gesehen und gehört! Sie versuchten ihn sogar zu bestimmen, daß er Sie herausließ und uns wie die Ratten tötete.«

 

»Was ist das für ein Geräusch?« fragte Julius furchtsam.

 

»Es ist so, wie ich erwartet hatte,« sagte Jim düster.

 

Die Gasflamme am Ende des Gummischlauchs war wieder angesteckt und erhellte den unteren Raum notdürftig.

 

»Wir haben eine Möglichkeit,« sagte Jim, als sein Blick auf die eiserne Gittertür fiel. Er schlug den Hammer mit aller Kraft gegen die Steine, in denen die Angeln befestigt waren.

 

Von oben her kam ein andauerndes unheimliches Geräusch.

 

»Was ist das nur?« rief Lacy. »Was macht der alte Teufel?«

 

»Das werden Sie gleich sehen,« sagte Jim.

 

sternchenland.com Im nächsten Augenblick strömte ein ganzer Wasserfall mit solcher Gewalt und Heftigkeit die Treppe herunter, daß in kurzer Zeit der ganze Fußboden überflutet war. Jim stand schon bis zu den Knien im Wasser, das jeden Augenblick höher stieg.

 

»Es ist unmöglich!« sagte er dann. Trotzdem schlug er wie wild mit dem Hammer auf die Steine. Unter seiner fürchterlichen Anstrengung entstand ein Riß in dem einen Stein. Aber es wurde immer schwerer, denn er mußte jetzt durch das Wasser schlagen und die Wucht der Hiebe wurde dadurch fast vollständig aufgehoben. Schließlich gab er es auf.

 

Julius hatte sich schon hinter die Barrikade in den großen Raum zurückgezogen, auch Lacy war hineingekrochen und hatte sich zu den Frauen begeben. Jetzt sprang noch Jim über die Bettstellen, Sofas und Tische. Die beiden Männer arbeiteten heftig, um das Loch zu verstopfen. Sie suchten vor allen Dingen Betten zu befestigen, um den Andrang des Wassers aufzuhalten.

 

»Ich glaube nicht, daß wir etwas damit erreichen,« sagte Jim und trat einen Schritt zurück. Er war von Kopf bis zu Fuß naß. »Der Alte hat die Hauptrohre der Wasserleitung gesprengt.«

 

Das Wasser drang bereits in den inneren Raum vor, aber dank der Barrikade sickerte nur wenig durch.

 

Jim wußte, daß der Druck um so stärker wurde, je höher das Wasser im Innern des anderen Raums stieg. Und damit wurde natürlich auch die Gefahr immer größer.

 

Wie lange mochte das Wasser noch steigen? Er machte eine schnelle Schätzung nach den Wassermengen, die bis jetzt zugeströmt waren. Er glaubte, daß es höchstens noch zwei Stunden dauern könnte, bis das Wasser die Decke erreichen würde.

 

»Es ist vielleicht besser, wenn wir hinausgehen und auf die Treppe unter der Bibliothek steigen,« sagte er. »Valerie sternchenland.com und Fay gehen ganz nach oben, dann kommen Sie und Lacy, und ich werde eine Stufe unter Ihnen stehen. Es ist das nichts Besonderes von mir, denn Sie sind kleiner, und wir werden auf diese Weise alle ziemlich gleich hoch stehen.«

 

Seine Vorsichtsmaßregeln waren gerechtfertigt. Er drehte noch alle Gasflammen aus, bevor er zu ihnen kam. Kaum hatte er den großen Raum verlassen, als mit einem furchtbaren Krachen die Barrikade einstürzte, mit der die Öffnung verstopft war. Das Wasser reichte ihm schon bis zu den Knien, bevor er die Treppe erreichte.

 

»Warum haben Sie denn das Licht ausgemacht?« fragte Lacy ärgerlich. »Nun müssen wir im Dunkeln sterben!«

 

»Wenn Sie die Lichter anlassen, müssen Sie erst recht im Dunkeln sterben, mein alter Freund,« sagte Jim. »Wir brauchen doch die übrigbleibende Luft notwendig genug für uns. Das steigende Wasser würde die brennenden Lampen auslöschen, und wir könnten in ein paar Minuten Gas atmen.«

 

Er stand auf der fünften Stufe von unten, aber er fühlte schon, wie das Wasser seine Füße erreichte. Fünf Minuten später waren sie schon vollkommen bedeckt. Er wartete, bis die Flut an seine Knie reichte, bevor er die nächsthöhere Stufe emporstieg.

 

»Valerie, komm zu mir!«

 

Sie tastete sich in der Dunkelheit zu ihm, und er legte seinen Arm um sie. Er war jetzt auf der höchsten Stufe, auf die er steigen konnte. Das Wasser hatte ihn noch nicht erreicht, aber er brauchte nicht lange zu warten. Er hatte so nasse Füße, daß er nicht mehr erkennen konnte, wie hoch das Wasser stand, bis er mit seiner Hand nach unten faßte und fühlte, daß es bereits über seine Knie ging. Die Flut schien plötzlich schneller zu steigen.

 

»Savini, geben Sie mir den Hammer, ich werde versuchen, gegen die Steintür zu schlagen, die über uns ist.«

 

sternchenland.com »Ich habe ihn nicht mitgenommen, er ist unten geblieben.«

 

Eine schreckliche Stille trat ein.

 

»Ich glaube nicht, daß wir viel hätten erreichen können – das Schloß wird nicht leicht aufzubrechen sein.«

 

Das Wasser reichte nun schon bis zu seiner Brust, aber die Luft war noch rein, und man fühlte noch keinen Druck. Aber was würde geschehen, wenn das Wasser die Luftschächte erreichte. Jim wagte nicht daran zu denken.

 

Die Flut stieg höher und höher. Jim küßte Valerie.

 

»Das ist ein sonderbarer Tod,« sagte er leise, als er fühlte, daß das Wasser sein Kinn berührte.