Kapitel 21

 

21

 

Es war Dick unmöglich, im Augenblick etwas zu unternehmen. Der Zug fuhr schneller und schneller und hielt erst wieder in Dover. Vielleicht war es möglich, von dort aus mit Scotland Yard zu telefonieren. Aber dann erreichte er am Ende seinen Dampfer nicht mehr.

 

Als Dick in Dover ankam und durch die Paßkontrolle ging, erkannte er glücklicherweise einen Detektiv, der die Abreisenden beobachtete. Ihm erklärte er die Dringlichkeit der Situation.

 

»Moran hat Dover nicht passiert«, erwiderte der Beamte und schüttelte den Kopf. »Sie sind dem Anschlußzug von Boulogne-Folkestone begegnet. Aber ich werde mich sofort mit Mr. Smith in Verbindung setzen. Wir haben hier schon seit einiger Zeit eine genaue Personalbeschreibung von Mr. Moran, ebenso die Leute in Folkestone. Ich kann mir nicht erklären, daß man ihn nicht erkannt haben sollte.«

 

Chefinspektor Smith schickte sofort Beamte an den Bahnhof, als er die Nachricht hörte. Sie überwachten den Zug bei der Ankunft, fanden aber Moran nicht. Surefoot stellte später fest, daß der Zug auf der Station South Bromley gehalten hatte. Dort war ein Passagier, der sein Gepäck selbst trug, ausgestiegen und hatte seine Fahrkarte abgegeben. Er war mit einem Taxi weggefahren.

 

Der Reisende hatte offenbar einen plötzlichen Entschluß gefaßt, wie der Schaffner des Wagens aussagte. Spät am Abend wurde auch der Taxichauffeur ermittelt und verhört. Es stellte sich heraus, daß Moran zu einer anderen Station gefahren war, die ein paar Meilen von Bromley entfernt lag. Von dort aus hatte er einen Vorortzug nach London benutzt.

 

Ein Anruf in seiner Wohnung blieb ohne Ergebnis. Der Portier hatte ihn auch nicht gesehen.

 

Der Chefinspektor telefonierte Dick in dessen Pariser Hotel an. »Haben Sie nicht die Schlüssel zu Morans Wohnung?« fragte er ihn.

 

»Ja, das habe ich ganz vergessen. Sie liegen in meiner Werkstatt. Setzen Sie sich mit dem Hausmeister in Verbindung, Sie finden sie in der einen Tischschublade …«

 

Smith lag weniger daran, die Schlüssel zur Wohnung zu bekommen, als festzustellen, daß Leo Moran nicht zurückgekehrt war. Er würde doch sicher versuchen, seine Schlüssel aus Dicks Wohnung zu holen. Auf jeden Fall ließ der Chefinspektor Dick Allenbys Haus beobachten.

 

Aber Moran zeigte sich nicht. Entweder wußte er, daß man genau auf ihn aufpaßte, und zeigte sich deshalb nicht, oder aber er besaß irgendeine andere Wohnung in London, die der Polizei nicht bekannt war.

 

Die anderen Nachforschungen, die Smith in die Wege leitete, blieben gleichfalls erfolglos. Aber im Augenblick konzentrierte er seine Hauptaufmerksamkeit auf Moran. Die Fremdenlisten in allen Hotels wurden überwacht.

 

Mary Lane wußte nichts davon, daß Moran wieder in London war, und Surefoot Smith, der sie am Abend sprach, erwähnte auch nicht, daß Moran gesehen worden war. Er suchte sie gewöhnlich ein- oder zweimal am Tage auf, da er kein Risiko auf sich nehmen wollte.

 

Marys Hotel lag in einem alten Häuserblock mitten in West End. Es war in mancher Beziehung etwas altmodisch und primitiv eingerichtet, aber schließlich hatte der Eigentümer Gasöfen zur Heizung der Schlafzimmer aufstellen lassen und sich auch dazu bequemt, elektrisches Licht zu legen. Das Telefon betrachtete er dagegen als unliebsame Neuerung, die seinen Frieden störte. Es gab nur einen Apparat im ganzen Haus, und zwar in seinem Büro.

 

Mary war nicht unzufrieden darüber. Vor allem war das Hotel ruhig, und man konnte nachts schlafen. Sie fühlte sich in ihrem großen hellen Zimmer, das nach der Straße lag, sehr wohl. Es verkehrten fast nur Familien aus der Provinz hier.

 

Mary konnte auf einen Balkon hinaustreten, der die ganze Breite des Hauses einnahm. Allerdings passierte auf der Straße nicht viel, das man sich von oben hätte ansehen können.

 

Als Mr. Smith Mary am nächsten Abend wieder besuchte, hatte er Pech. Wäre er ein paar Minuten früher gekommen, so hätte er beobachten können, wie Leo Moran die breite Treppe in die Höhe stieg und dem Hotelportier in den Raum, folgte, der an Marys Zimmer stieß. Der Mann hatte sich nicht als Moran ins Hotelregister eingetragen, sondern als John More aus Birmingham. Er bestellte ein einfaches Abendbrot aufs Zimmer. Als das Geschirr wieder fortgeräumt war, schloß er die Tür, öffnete eine Mappe, nahm eine Anzahl Dokumente heraus und war eifrig tätig.

 

Der Chefinspektor blieb nicht lange, und Mary las noch eine Stunde. Sie hatte die Aufregungen jener furchtbaren Nacht allmählich überwunden und Surefoot gesagt, daß sie wieder in ihre Wohnung zurückkehren wollte.

 

»Sie bleiben besser noch eine Woche im Hotel«, hatte er ihr erwidert. »Es ist möglich, daß ich mich täusche, aber ich glaube, bis dahin habe ich den Fall vollkommen geklärt.«

 

»Aber da der Polizei jetzt sein Name und seine Personalbeschreibung bekannt sind, wird er mir doch nicht mehr nachstellen«, protestierte sie. »Ich bin auch vollkommen davon überzeugt, daß er nicht aus Rache, sondern aus Selbsterhaltungstrieb gehandelt hat –«

 

»Man kann nicht vorsichtig genug sein, wenn es sich um diesen Menschen handelt. Vor allem muß man annehmen, daß er bis zu einem gewissen Grade geistesgestört ist.«

 

Mary war unzufrieden, daß ihr noch immer Einschränkungen auferlegt wurden. Sie war auch nicht damit einverstanden, daß sie so früh zu Bett gehen sollte, wie der Arzt vorgeschrieben hatte, denn sie konnte nicht einschlafen.

 

Erst kurz vor Mitternacht fiel sie in einen leichten Schlaf, aber eine Stunde später schreckte sie plötzlich wieder auf. Zitternd zog sie die Decke über die Schultern.

 

Die Tür zum Balkon, die sie geschlossen hatte, stand weit offen; ein kalter Luftzug wehte durch den Raum, und die Zimmertür war auch halb geöffnet. Mary hatte sie von innen verschlossen, darauf konnte sie sich genau besinnen.

 

Als sie neben dem Bett stand, erschien die Gestalt eines Mannes in der Türöffnung. Deutlich war sie in dem trüben Licht des Korridors zu sehen. Mary war einen Augenblick wie gelähmt vor Furcht und Entsetzen. Dann erkannte sie den Mann plötzlich, und in wilder Todesangst schrie sie auf.

 

Er trat zurück und verschwand. Sie eilte zur Tür, warf sie zu und drehte den Schlüssel um. Hastig machte sie Licht, klingelte heftig, schloß auch, die Tür nach dem Balkon und saß dann verängstigt in einem Sessel, bis sie die Stimme des Nachtportiers hörte.

 

Schnell schlüpfte sie in einen Morgenrock, öffnete und berichtete, was sie erlebt hatte. Er sah sie ungläubig an. Zwar sagte er nichts, aber er schien davon überzeugt, daß sie geträumt hatte.

 

»Was, ein Mann war in Ihrem Zimmer? An mir ist aber niemand vorbeigekommen«, meinte er schließlich. »Und ich habe unten in der Halle seit zehn gewacht.«

 

»Gibt es nicht noch einen anderen Ausgang?«

 

Der Portier dachte einen Augenblick nach.

 

»Höchstens könnte er die Gesindetreppe hinuntergegangen sein. Ich werde einmal nachsehen. Ist Ihnen etwas gestohlen worden?«

 

Sie schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht«, erwiderte sie ungeduldig. »Bitte rufen Sie Chefinspektor Smith in Scotland Yard an. Sagen Sie ihm, er möchte sofort herkommen, es sei sehr, sehr wichtig.«

 

Sie ging in ihr Zimmer zurück, schloß die Tür und öffnete sie erst wieder, als sie nach einem Klopfen Surefoots Stimme hörte.

 

Noch bevor sie sprechen konnte, rief er den Portier zurück, der ihn nach oben gebracht hatte.

 

»Irgendwo im Haus steht ein Gashahn auf«, sagte er.

 

»Ich habe es auch schon bemerkt.«

 

Der Mann ging den Gang entlang und kehrte dann wieder um.

 

Kapitel 22

 

22

 

»Der Geruch kommt hier aus dem nächsten Zimmer.«

 

Surefoot kniete nieder und drückte das Gesicht auf den Fußboden. Der Gasgeruch war sehr stark. Die Tür ließ sich nicht öffnen, da sie von innen zugeschlossen war. Auf wiederholtes Klopfen erhielt Smith keine Antwort. Entschlossen trat er ein paar Schritte zurück und warf sich dann mit voller Wucht gegen die Tür. Krachend flog sie auf, und er fiel der Länge nach in das Zimmer. Es war so von Gas erfüllt, daß er nicht atmen konnte. Er taumelte zurück, lief in Marys Zimmer, feuchtete ein Handtuch an und preßte es auf den Mund. Dann eilte er in den nächsten Raum, und nachdem er das Fenster aufgerissen hatte, hob er den Mann auf, der auf dem Bett lag, und schleppte ihn in den Gang.

 

Einen Augenblick sah er in das gerötete Gesicht und erkannte zu seinem Erstaunen Leo Moran. Das ganze Hotel war jetzt auf den Beinen. Ein Arzt, der auf demselben Korridor wohnte, kam im Pyjama heraus und leistete die Erste Hilfe, während Surefoot in das Zimmer zurückging.

 

Er bemerkte, daß immer noch Gas aus dem Ofen strömte, drehte den Hahn ab und öffnete das Fenster noch weiter. Dabei entdeckte er, daß diese Tragödie sehr gut vorbereitet worden war. Alle Fensterritzen waren mit Isolierband zugeklebt, sogar das Schlüsselloch. Der Spalt in der Tür zum Badezimmer war mit einem Handtuch zugesteckt. In der Nähe des Bettes stand ein Glas auf dem Schreibtisch, das noch halb mit Whisky gefüllt war. Moran hatte vorher anscheinend geschrieben. Surefoot nahm den angefangenen Brief, der an den Generaldirektor von Morans Bank gerichtet war.

 

Sehr geehrter Herr,

 

ich teile Ihnen mit, daß ich wieder nach London zurückgekehrt bin. Aus Gründen, die ich Ihnen persönlich auseinandersetzen werde, wohne ich unter angenommenem Namen im Hotel. Ich hoffe, daß diese Erklärungen Ihnen genügen werden …

 

Hier endete der Brief mit einem merkwürdigen Strich, als ob Moran plötzlich von einem Unwohlsein befallen worden wäre.

 

Es lag auch ein großer, mit Maschine beschriebener Aktenbogen auf dem Tisch, aber Smith entdeckte ihn nicht gleich.

 

Der Chefinspektor schaute sich im Zimmer um. Zuerst fiel ihm auf, daß die Tür des großen Kleiderschranks weit offenstand. Er sah hinein – der Schrank war leer, auf dem Boden waren zwei schmutzige Fußspuren, unverkennbar Abdrücke von Gummischuhen. Hier hatte sich also jemand versteckt. Draußen regnete es stark, und die Fußabdrücke waren noch naß.

 

Smith trat in den Korridor hinaus und sah, daß Moran in ein anderes Zimmer getragen worden war. Der Arzt und der Portier bemühten sich, ihn wieder ins Leben zurückzurufen. Surefoot ging zurück, und nun bemerkte er den Aktenbogen, der oben auf dem Stapel anderer Papiere lag. Als er ihn aufgenommen und den Anfang gelesen hatte, setzte er sich schwer in einen Stuhl, denn dieses Schriftstück war ein Mordgeständnis.

 

Ich, Leopold Moran, stehe im Begriff, aus der Welt zu scheiden. Aber bevor ich gehe, möchte ich ein Geständnis ablegen über drei Morde. Das erste meiner Opfer war ein gewisser Tickler.

 

Er hatte entdeckt, daß ich die Bank schädigte und beraubte, und erpreßte mich infolgedessen seit vielen Monaten. Er wußte, daß ich unter dem Namen Washington Wirth Gesellschaften gab und daß ich mich in dem Zimmer über einer Garage umzukleiden pflegte. Dort überraschte er mich und verlangte von mir tausend Pfund. Ich gab ihm hundert einzelne Banknoten zu je einem Pfund und überredete ihn dann, mit mir nach West End zu fahren, und zwar in einem Taxi, das in einer Nebenstraße stand. Als er einstieg, erschoß ich ihn, schloß die Tür und fuhr nach Regent Street, wo ich den Wagen an einem Parkplatz stehenließ.

 

Am nächsten Tage hatte ich eine Unterredung mit Hervey Lyne, der argwöhnisch wurde. Ich hatte nämlich seinen Namen gefälscht, wodurch ich große Summen von seinem Konto abheben konnte.

 

Er ließ mich in seine Wohnung kommen, und ich wußte, daß er mein Spiel durchschaut hatte. Vergeblich versuchte ich, seinen Diener Binny zu bestechen. Er sollte mir helfen, den Alten zu beschwindeln. Aber der Mann war entweder zu ehrenhaft oder zu dumm, um auf meinen Plan einzugehen. Binny ist einer der ehrlichsten Menschen, die ich jemals getroffen habe. Meiner Meinung nach war es töricht von ihm, daß er mich nicht unterstützte.

 

Ich wußte, daß Hervey Lyne sich jeden Nachmittag in den Regent’s Park fahren ließ, und zwar immer an einen bestimmten Platz, den ich von meiner Wohnung aus sehen konnte. An dem betreffenden Nachmittag war ich so verzweifelt und in die Enge getrieben, daß ich ihn von meinem Fenster aus mit einem Gewehr erschoß. Ich hatte einen Schalldämpfer daran befestigt. Zufällig machte auch ein gerade vorüberfahrendes Auto großen Lärm. Später schickte ich unter meinem eigenen Namen einen Mann nach Deutschland, blieb aber selbst in London.

 

Ich fürchtete mich vor Hennessey, der mich auch erpreßte, und ich mußte ihn unter allen Umständen zum Schweigen bringen. Deshalb fuhr ich in einem Auto mit ihm nach Colnbrook und erschoß ihn im Wagen. Vorher erzählte er mir noch, daß Miss Lane im Besitz der falschen Bankabrechnung sei, die ich ihm übergeben hatte. Am Abend brach ich in ihre Wohnung ein und durchsuchte sie, fand aber nicht, was ich haben wollte.

 

Alles, was ich hier geschrieben habe, ist wahr. Ich bin lebensmüde, scheide aber ohne Reue.

 

Leo Moran

 

Surefoot las das Geständnis sorgfältig durch und suchte das Zimmer dann nach Gummischuhen ab, konnte aber keine entdecken. Er fand Mary Lane vollkommen angekleidet in ihrem Zimmer.

 

»Haben Sie nicht das Gesicht des Mannes gesehen, der bei Ihnen eindringen wollte?« fragte er.

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Haben Sie ihn sonstwie erkannt?«

 

Sie erzählte ihm von ihrer Vermutung.

 

Soweit er die Sache beurteilen konnte, war zwischen dem Auftauchen des geheimnisvollen Mannes und seiner eigenen Ankunft eine Viertelstunde vergangen. Diese Zeit genügte für Moran, sich im Zimmer einzuschließen. Smith dachte gerade darüber nach, als er etwas Glänzendes auf dem Boden sah. Er bückte sich und hob einen Schlüssel auf, der in der Nähe des offenen Fensters lag. Dann ging er in Morans Zimmer zurück, riß das Klebepflaster über dem Schlüsselloch ab, steckte den Schlüssel hinein und drehte ihn um. Nun hatte er keinen Zweifel mehr.

 

Moran war noch bewußtlos, aber der Arzt erklärte, daß er außer Gefahr sei. Surefoot hatte telefonisch zwei Detektive ins Hotel bestellt, ließ den Bankdirektor unter ihrer Bewachung zurück und ging zum Scotland Yard.

 

Mitten in der Nacht wurden drei der höchsten Polizeibeamten aus ihren Betten geholt und zu einer dringenden Konferenz nach Scotland Yard gerufen. Surefoot zeigte ihnen das Geständnis.

 

»Dann ist ja alles sonnenklar«, erklärte sein direkter Vorgesetzter. »Sobald er wieder zu Bewußtsein gekommen ist, lassen Sie ihn ins Gefängnis überführen und erheben Anklage gegen ihn.«

 

Surefoot schwieg einen Augenblick und warf einen prüfenden Blick auf das Schriftstück.

 

»Das Geständnis ist aber nicht im Hotelzimmer geschrieben worden«, sagte er. »Es müßte denn sein, daß eine unsichtbare Schreibmaschine dort untergebracht wäre. Ich habe jedenfalls keine gesehen. Die Tür war von innen verschlossen, und ich fand den Zimmerschlüssel in Miss Lanes Zimmer auf dem Boden. Weiterhin habe ich entdeckt, daß das Klebepflaster, das die Ritzen der Balkontür abdichtete, von außen angebracht war. Da hat der Täter einen Fehler begangen.«

 

Smith nahm eine Flasche mit einer hellgelben Flüssigkeit aus der Tasche.

 

»Hier ist der Whisky, den ich auf dem Schreibtisch fand. Er muß untersucht werden.«

 

»Wie war Moran denn gekleidet, als Sie ihn fanden?« fragte einer der Chefinspektoren.

 

»Er war vollkommen angekleidet und trug auch Schuhe. Aber merkwürdigerweise lag er mit den Füßen auf dem Kissen. In dieser Lage würde ich jedenfalls nicht Selbstmord begehen. Es ist alles sehr sonderbar!«

 

Sein Vorgesetzter richtete sich im Stuhl auf: »Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?«

 

Surefoot überlegte eine Weile.

 

»Moran war am Abend noch ausgegangen. Der Portier sah ihn dann zurückkommen, und zwar eine Stunde, bevor ich ihn in seinem Zimmer fand. Whisky und Soda waren ihm nach oben gebracht worden, der Whisky in einem Glas, die Sodaflasche war verschlossen. Er hatte das Getränk eine Stunde vorher bestellt. Ich habe die Schriftstücke durchgesehen, die auf dem Schreibtisch lagen, und aus allem die Überzeugung gewonnen, daß Moran nicht die Absicht hatte, Selbstmord zu begehen. Er war nach London zurückgekommen, um die Cassari-Aktien zu kaufen, die am Londoner Markt noch zu haben waren. Außerdem hatte er den festen Auftrag, in London ein Büro der Cassari-Petroleum-Gesellschaft zu eröffnen. Er wollte keinerlei Aufsehen erregen, da sonst vielleicht seine Absicht durchkreuzt worden wäre, die Petroleumaktien zu kaufen. Ich habe das alles aus einem Brief ersehen, den er einem Türken nach Konstantinopel geschrieben hat. Ich nahm mir die Freiheit, ihn zu öffnen.

 

Obendrein wollte Moran morgen den Generaldirektor seiner Bank aufsuchen – das sieht nicht nach Selbstmord aus.«

 

»Aber wie erklären Sie sich denn dann die ganze Sache?«

 

»In Morans Abwesenheit ist jemand in sein Zimmer eingedrungen. Das war verhältnismäßig leicht, denn auf der Etage liegen zwei unbewohnte Zimmer, die ebenfalls einen Ausgang auf den langen Balkon an der Vorderseite des Hauses haben. Der Eindringling hat ein Betäubungsmittel in den Whisky gegossen und sich dann im Kleiderschrank versteckt. Als Moran den Whisky getrunken und die Besinnung verloren hatte, trat der andere aus dem Versteck hervor, hob Moran auf und legte ihn aufs Bett. Er verklebte alle Ritzen an Tür und Fenstern und drehte den Gashahn auf. Dann verließ er das Zimmer durch die Glastür, ging auf den Balkon, verklebte auch die Glastür noch von außen und kam in Miss Lanes Zimmer. Wahrscheinlich hat er die Türen auf dem Balkon verwechselt. In ihrem Zimmer hat er dann auch Morans Schlüssel verloren. Auf dem Korridor bemerkte er wohl den Verlust und wollte in Miss Lanes Zimmer zurückkehren. Sie wachte aber auf, und ihr Schrei verscheuchte ihn.«

 

»Aber wie konnte der Mann das Hotel verlassen, ohne daß ihn der Nachtportier sah?«

 

Surefoot lächelte mitleidig. »Es gibt drei Ausgänge. Am leichtesten war es für ihn, die Gesindetreppe zu benutzen und das Hotel durch die Küche zu verlassen.«

 

Surefoot unterstrich mit einem Bleistift ein paar Zeilen des Geständnisses.

 

»Sehen Sie einmal, wie sehr er Binny herausstreicht und lobt. Das ist doch sehr verfänglich. Jedes Kind muß ja merken, daß Binny dieses Schriftstück verfaßt hat!«

 

»Was – der Butler des verstorbenen Mr. Lyne?«

 

Surefoot nickte.

 

»Ich kenne ihn noch unter verschiedenen anderen Namen. In London war er zum Beispiel als Mr. Washington Wirth bekannt. Er ist der gesuchte Mörder.«

 

Kapitel 23

 

23

 

Die hohen Beamten sahen Surefoot verblüfft an.

 

Smith nahm ein längliches Kuvert aus der Brusttasche, das die Übertragung eines langen Chiffre-Telegramms sowie eine etwas verschwommene Fotografie enthielt.

 

»Dieses Bild wurde uns telegrafisch übermittelt. Es ist ein Foto von Arthur Ryan. Das ist ein anderer Name dieses Verbrechers, der sowohl in Chikago als auch in New York von der Polizei gesucht wird. Er arbeitete mit drei verschiedenen Banden zusammen und hatte Glück, daß er mit dem Leben davonkam. Ich werde Ihnen einen Abschnitt aus dem Telegramm vorlesen:

 

Der Mann spricht ein sehr gewöhnliches Englisch und soll früher Kammerdiener gewesen sein. Seine Verbrechen begeht er in der Weise, daß er bei einer reichen Familie Stellung sucht und die Gelegenheit dann zu Räubereien großen Stils ausnutzt. In den Staaten hat er sich vielfach am Alkoholschmuggel beteiligt. Er ist verantwortlich für die Ermordung Eddie McGeans und steht im Verdacht, auch noch andere Morde begangen zu haben.«

 

Er gab das Foto aus der Hand, damit die anderen es betrachten konnten.

 

»Das Bild ist nicht gerade sehr gut. Es wurde im Polizeipräsidium von New York aufgenommen. Aber es zeigt deutlich, daß es Binny ist. Ich habe ihn auf den ersten Blick erkannt.«

 

»Ja, das stimmt«, erwiderte Chefinspektor Knowles, während er das Foto prüfte. »Ich sah ihn hier im Hause, als Sie ihn verhörten. Aber mir ist nicht klar, warum er den alten Lyne ermordet haben soll?«

 

»Weil er sein Geld unterschlagen hat. Miss Lane hat uns auf die Spur gebracht. Es tut mir leid, daß ich nicht selbst so schlau war, alles zu durchschauen. Sämtliche gefälschten Schecks waren am Siebzehnten des jeweiligen Monats ausgeschrieben. Da sie dem alten Mann längere Zeit die Wirtschaft geführt hatte, wußte sie, daß er an diesem Tag stets die Rechnungen der Geschäftsleute bezahlte. Er hatte dabei die üble Angewohnheit, Mitteilungen, meistens sogar recht beleidigende Äußerungen, auf die Rückseite der Schecks zu schreiben. Ich entdeckte eine solche Bemerkung, die lautet: ›Schicken Sie nicht mehr chinesische E …‹ Miss Lane wußte, daß Lyne ständig glaubte, er würde von den Kaufleuten betrogen. Er nahm an, daß sie ihm sogar alte chinesische oder andere importierte Eier schickten. Und um dem Händler ins Gewissen zu reden, schrieb er bei Bezahlung der Rechnung derartige Mahnungen auf die Rückseite der Schecks. Miss Lane hat das häufig gesehen. Es war ganz gleich, ob es sich um Schuster, Schneider oder Kolonialwarenhändler handelte. Sie hat in dieser Richtung Nachforschungen angestellt und die Kaufleute einzeln aufgesucht und ausgefragt.

 

Und nun kommt das Interessante. Die Leute erklärten, daß Lyne sie bereits seit zwei oder drei Jahren nicht mehr mit Schecks bezahlte. Entweder kam Binny persönlich und brachte bares Geld, oder er schickte die Beträge durch die Post. Wissen Sie, was das bedeutet?

 

Lyne war fast blind – die Schecks, die er für die Händler zeichnete, zahlte Binny auf sein eigenes Privatkonto ein. Der alte Mann wollte nicht zugeben, daß er kaum noch sehen konnte. In seiner Eitelkeit behauptete er, noch gut lesen zu können. Es war daher leicht für Binny, am Siebzehnten des Monats seinem Herrn Schecks vorzulegen, mit denen er angeblich die Rechnungen der Kaufleute bezahlen wollte. Zuerst füllte er sie mit Bleistift und mit den wirklichen Summen aus, die sie zu bekommen. hatten. Ich habe mehrere Schecks untersucht. Unter dem Mikroskop kann man noch die Bleistiftschrift erkennen. Natürlich war es nicht schwer, sie auszuradieren. Wenn er Lynes Unterschrift erhalten hatte, setzte er die großen Summen ein, die dann auf sein Konto eingezahlt wurden.

 

Binny muß nun Wind davon bekommen haben, daß Untersuchungen gegen ihn eingeleitet waren, denn er machte den Versuch, Miss Lane in ihrer Wohnung zu überfallen. Sie hat sich nur dadurch retten können, daß sie bei einem telefonischen Anruf an die Polizei vorgab, ihn für Moran zu halten. Er war zufrieden, als er das hörte, und ließ sie in Ruhe. Hätte er sich nur ein wenig mehr um die Sache gekümmert, so hätte er herausbekommen, daß alle ihre Nachforschungen nicht Moran, sondern ihm galten. Aber wenn die Verbrecher immer logisch dächten, könnte man sie ja niemals henken.«

 

»Wo wurde denn der Mord an Lyne begangen?« fragte der Vorgesetzte.

 

Surefoot schüttelte den Kopf.

 

»Die Frage bereitet mir viel Kopfzerbrechen. Es ist möglich, daß Binny den Schuß abfeuerte, als Dornfords Auto so geräuschvoll vorüberfuhr. Nach dem Geständnis, das Moran mit dem Mord belasten sollte, könnte man ja fast annehmen, daß es so vor sich gegangen ist. All die anderen Verbrechen, die darin erwähnt werden, wurden in der angegebenen Weise von Binny selbst begangen.«

 

Surefoot Smith ging ins Hotel zurück, um sich nach Morans Befinden zu erkundigen. Es waren noch manche Einzelheiten des Falles aufzuklären.

 

Die Ermordung Mike Hennesseys gab ihm zu denken. Wenn der Theaterdirektor Binny erpreßte, war allerdings ein Motiv vorhanden. Aber was konnte denn Mike Hennessey wissen? Selbstverständlich war ihm bekannt, daß Binny tagsüber Butler und Bedienter war, während er abends den großartigen Washington Wirth spielte. Warum sollte aber Mike den Mann erpressen, der ihm soviel Geld gab?

 

Binny mußte Mike aus einem anderen Grund ermordet haben, das stand für Surefoot fest.

 

Der Butler war nicht mehr gesehen worden, seitdem Mary ihn nach Newcastle geschickt hatte. Sie hatte diese Reise natürlich nur zum Vorwand genommen, um ungestört den Schlüssel an der Hintertür von Hervey Lynes Haus ausprobieren zu können.

 

Der mit Leuchtfarbe angestrichene Schlüssel war kein Geheimnis mehr. Manchmal kam »Mr. Washington Wirth« von seinen Gesellschaften in angeheiterter Stimmung zurück. Er mußte sich dann in dem Zimmer über der Garage umkleiden, und es war mehrmals vorgekommen, daß er den Schlüssel dort hatte liegenlassen. Wahrscheinlich hatte er die Gewohnheit, ihn auf den Tisch zu legen. Wenn der Schlüssel aber aufleuchtete, sobald das Licht ausgedreht war, wurde Binny an ihn erinnert.

 

An dem Abend, an dem Tickler ermordet wurde, hatte er den Schlüssel vollkommen vergessen und mußte ein Kellerfenster eindrücken, um seine Schlafkammer in Lynes Haus zu erreichen. Auf diese Erklärung war Mary gekommen. Sie hatte den Schlüssel gleich zu Anfang erkannt, denn als Kind hatte sie ihn alle Tage gesehen. Daraufhin schickte sie Binny nach Nordengland, um die Richtigkeit ihrer Annahme zu beweisen.

 

Bei diesem Versuch hätte sie aber beinahe ihr Leben eingebüßt, denn Binny war nicht dumm. Er ließ nicht mit sich spaßen und war natürlich nicht mit dem Zug abgefahren, sondern noch vor Mary in die Wohnung zurückgekehrt.

 

Als Surefoot ins Hotel kam, hatte Leo Moran das Bewußtsein wiedererlangt, aber es ging ihm durchaus nicht gut. Die Nachwirkungen der Gasvergiftung waren sehr unangenehm. Seine Erzählung bestätigte die Theorien des Chefinspektors.

 

Surefoot zeigte Moran darauf das Mordgeständnis und las ihm auch Teile daraus vor.

 

»Ich weiß nicht, was Binny von Morden schreibt. Das ist doch heller Wahnsinn. Wer ist denn ermordet worden?«

 

Smith erklärte es ihm kurz.

 

»Was, Hervey Lyne ist ermordet worden? Das ist ja entsetzlich! Wann ist das denn passiert?«

 

»An dem Tag Ihrer Abreise.«

 

Moran runzelte die Stirn.

 

»Aber ich sah ihn doch noch von meinem Fenster aus! Er saß in seinem Rollstuhl unter dem Baum im Park, wo er sich gewöhnlich auszuruhen pflegte. Ich habe ihn häufig dort beobachtet. Binny las ihm vor.«

 

»Wann war das?« fragte Surefoot schnell.

 

Moran dachte eine Weile nach, bevor er antwortete.

 

»Also zehn Minuten, bevor er tot aufgefunden wurde«, meinte Smith. »Die Entfernung war aber wohl zu groß – Sie konnten nicht erkennen, ob er sich mit Binny unterhielt?«

 

»Als ich ihn sah, las Binny ihm etwas vor.«

 

Surefoot hatte unerwartet einen Augenzeugen gefunden. Moran war vermutlich der einzige, der die beiden kurz vor Lynes Tod beobachtet hatte.

 

»Wo saß Binny?«

 

»An der gewöhnlichen Stelle. Er schaute Lyne ins Gesicht.«

 

»Haben Sie gesehen, daß Binny um den Stuhl herumging?«

 

Moran zögerte:

 

»Ja. Ich kann mich jetzt darauf besinnen. Er ging um den Stuhl herum. Ich mußte damals daran denken, daß Spieler manchmal von ihrem Stuhl aufstehen und ihn umkreisen, um mehr Glück im Spiel zu haben.«

 

»Sonst haben Sie nichts gesehen – oder gehört?«

 

Moran schaute ihn groß an.

 

»Haben Sie denn Binny im Verdacht?«

 

Surefoot nickte.

 

»Es ist kein Verdacht mehr. Wir wissen bereits genau, daß er der Täter ist.«

 

Moran überlegte noch einmal.

 

»Ja, er ging bestimmt um den Stuhl herum. Gehört habe ich nichts. Sie meinen doch einen Schuß? Ich habe auch nicht gesehen, daß sich Binny irgendwie verdächtig benommen hätte.«

 

Surefoot sah das gefälschte Geständnis noch einmal kurz durch.

 

»Kennen Sie Binny?«

 

»Ja, oberflächlich. Er war früher einmal mein Diener. Ich habe ihn entlassen, weil er gestohlen hat.«

 

Smith nahm das Zigarettenetui aus der Tasche, das unter dem Sitzkissen des Autos gefunden worden war.

 

Moran streckte sofort die Hand danach aus.

 

»Ach, großartig, daß Sie das gefunden haben! Das Etui gehörte zu den Dingen, die ich damals vermißte. Wie sind Sie denn dazu gekommen?«

 

Bei Morans Zustand hielt Surefoot es nicht für angezeigt, ihm die grausige Geschichte zu erzählen.

 

»Ich dachte, es gehörte vielleicht Ihnen. Aber vorläufig brauchen wir es noch.« Er steckte es wieder ein. »Es ist wahrscheinlich schon ziemlich alt und außerdem für die Gelegenheit wohl besonders gesäubert und geputzt worden.«

 

»Was für eine Gelegenheit meinen Sie denn?« erkundigte sich Moran neugierig, aber Smith überhörte die Frage.

 

Moran sprach dann offen von den Reisen, die er gemacht hatte.

 

»Ich hatte es eigentlich nicht nötig, so Hals über Kopf abzureisen, aber ich hatte mich über die Direktion sehr geärgert, die mir den Urlaub abgeschlagen hatte. Es war wichtig, daß ich nach Konstantinopel kam, während der Aufsichtsrat der Cassari-Petroleum-Gesellschaft neu gewählt wurde. Ich habe sehr großes Interesse an der Gesellschaft. Sie ist augenblicklich eine der größten ihrer Art. Übrigens ist Miss Lane auch eine reiche Frau geworden. Die Aktien, die ich von ihr gekauft hatte, können nach türkischem Recht nicht auf mich übertragen werden, da noch eine andere Unterschrift fehlt. Gesetzmäßig habe ich wohl ein Anrecht darauf, moralisch kaum. Ich werde ihr also das Aktienpaket für denselben Preis wieder zurückerstatten, den ich dafür gezahlt habe. Das bedeutet, daß sie mehr Geld besitzt, als sie überhaupt in ihrem ganzen Leben ausgeben kann.« Er lächelte schwach. »Mir ist es ähnlich gegangen.«

 

Mehr konnte Smith im Augenblick nicht von Moran erfahren, er war zu abgespannt und müde. Der Chefinspektor ließ ihn allein, damit er sich ausruhen konnte. Scotland Yard hatte die Nachricht durchgegeben, daß Dick Allenby im Flugzeug von Paris nach London unterwegs war. Er erreichte Croydon in aller Frühe und fand dort ein Polizeiauto vor, das ihn zum Regent’s Park brachte.

 

Als der Wagen in Naylors Crescent einbog, sah er Surefoot Smith und drei Polizeibeamte in Zivil, die ihn erwarteten.

 

»Es tut mir leid, daß ich Sie zurückholen mußte, aber es ist notwendig, daß ich das Haus noch einmal genau durchsuche. Und bei dieser Gelegenheit müssen Sie anwesend sein.«

 

»Haben Sie Moran gefunden?« fragte Dick ungeduldig. »Sie haben doch die telefonische Nachricht aus Dover erhalten –«

 

Surefoot nickte.

 

»Hat er Ihnen etwas über Binny gesagt?«

 

»Binny hat mir eine ganze Menge über sich selbst verraten«, erklärte der Chefinspektor grimmig. »Ich habe ihn zwar noch nicht persönlich verhört, aber er hat ein sehr interessantes schriftliches Dokument verfaßt.«

 

Dick öffnete die Haustür, und sie traten ein.

 

Obgleich die Räume erst seit kurzer Zeit unbewohnt waren, herrschte im Innern bereits ein muffiger Geruch. Hervey Lynes Arbeitszimmer war nach der Durchsuchung wieder in Ordnung gebracht worden. Die Polizeibeamten hatten alle Ecken durchsucht und sogar die Fußbodendielen aufreißen lassen. Es war wohl ausgeschlossen, daß man hier noch neue Anhaltspunkte finden konnte.

 

Sie gingen darauf in die Küche, wo Mary Lane das böse Abenteuer erlebt hatte. Smith hatte den Raum zwei Stunden nach ihrer Flucht selbst aufgesucht und war durch die Schranktür die Treppe zum Kohlenkeller hinuntergegangen. Das Feldbett, das er bei seinem ersten Besuch dort gesehen hatte, war entfernt worden.

 

»Merkwürdig, daß Binny sich mit der Frau herumschleppt«, meinte Surefoot. »Das kann ich nicht verstehen. Sie ist doch eine hoffnungslose Gewohnheitstrinkerin. Er muß sie in der Nacht, nachdem Miss Lane hier im Haus war, fortgeschmuggelt haben. Wo sie jetzt ist, möchte ich lieber nicht erfahren. Wahrscheinlich hat er sie auch kaltgemacht.«

 

Dick hatte bereits seine Meinung hierüber geäußert. Er glaubte, daß sie überhaupt nicht mit Binny verheiratet war. Hervey Lyne annoncierte immer nach einem Ehepaar, das seinen Haushalt führen sollte. Um die Stelle zu erhalten, hatte Binny wahrscheinlich eine Frau gemietet. Diese Tatsache wurde auch mehr oder weniger dadurch bestätigt, daß die beiden zwei getrennte Räume bewohnten. Es war kaum anzunehmen, daß sie dem Mörder einmal hätte gefährlich werden können. Nach Aussage der Geschäftsleute war sie stets mehr oder weniger betrunken gewesen, und Binny hatte den Haushalt allein geführt.

 

Kapitel 24

 

24

 

Der Rollstuhl, in dem der alte Lyne tot aufgefunden worden war, stand unter der Treppe. Zu Dicks Erstaunen gab Surefoot Anweisung, ihn in das Arbeitszimmer zu bringen.

 

Der Chefinspektor hatte dauernd das unangenehme Gefühl gehabt, daß er sich nicht genügend um den Stuhl gekümmert hatte. Die vielen Mitteilungen, die er in den letzten Tagen bekommen hatte, machten es notwendig, sich noch einmal eingehend mit diesem Möbelstück zu beschäftigen.

 

Direkt gegenüber der Tür des Arbeitszimmers war in der Wand eine Nische eingelassen, und Surefoot erkannte nun, daß sie einem besonderen Zweck diente. Lyne hatte anscheinend die Gewohnheit gehabt, sich in seinem Arbeitszimmer in den Rollstuhl zu setzen. An dem Türrahmen befanden sich verschiedene Kratzer in Höhe der Radnaben. Die Nische war so angeordnet, daß man den Stuhl an der Stelle leicht wenden konnte, und es machte keine Schwierigkeiten, ihn in das Arbeitszimmer hinein- oder herauszubringen.

 

Surefoot ließ einen der Polizeibeamten in dem Stuhl Platz nehmen und machte sich selbst die Mühe, ihn auf die Straße hinauszufahren. Der Gang war nicht sehr breit, und auch die Haustür ließ auf beiden Seiten nur einen verhältnismäßig schmalen Raum frei. Hier konnte man ebenfalls Kratzer und Spuren von den Radnaben erkennen.

 

Surefoot erfuhr nicht viel Neues durch dieses Experiment; er ließ den Stuhl wieder unter die Treppe bringen und setzte seine Nachforschungen im Hause weiter fort.

 

»Was wollen Sie denn finden?« fragte Dick.

 

»Binny«, entgegnete der Chefinspektor kurz. »Der Kerl ist kein Dummkopf. Er muß hier irgendwo ein Versteck haben. Wenn ich nur wüßte, wo!« Smith sah auf die Uhr. »Ist es möglich, daß Miss Lane hierherkommen könnte?«

 

Dick Allenby fuhr mit einem Taxi zu ihrem Hotel. Er wußte allerdings nicht, ob sie nach den Aufregungen der letzten Nacht imstande war, ihn in das Haus ihres Vormunds zu begleiten. Aber er fand sie frisch. Sie fragte ihn sofort nach Binny.

 

»Wir haben ihn nicht gefunden«, erwiderte er. »Ich habe große Sorge um dich, Mary. Dieser Verbrecher schreckt vor nichts zurück.«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ich glaube nicht, daß er mich noch einmal belästigen wird.«

 

»Wie erfuhr er denn überhaupt, daß du ihm nachspioniertest?«

 

»Das merkte er wohl, als ich ihn nach Nordengland schickte. Der Plan war vielleicht etwas ungeschickt. Ich habe seine Intelligenz unterschätzt. Ich glaube sogar, er ist mir gefolgt, als ich die einzelnen Kaufleute aufsuchte. Einmal kam es mir so vor, als ob ich ihn gesehen hätte. Das war an dem Tag, an dem ich in Maidstone war.«

 

Mary fuhr mit Dick zum Naylors Crescent. Surefoot befand sich gerade auf dem kleinen Hof auf der Rückseite des Hauses, und sie ging mit Dick in die Küche. Schaudernd dachte sie an ihren letzten mitternächtlichen Besuch. Selbst jetzt, bei hellem Tageslicht, hatte der Raum etwas Unangenehmes und Abstoßendes für sie. Die Tür des Schranks stand weit offen, ebenso die Tür, zu der der leuchtende Schlüssel gehörte. Die Küche und die danebenliegende Anrichte erschienen ihr erstaunlich klein. Aber sie erklärte sich das damit, daß ihr in ihrer frühen Jugend wohl unwillkürlich alle Dinge und Räume größer vorgekommen waren.

 

Surefoot trat gleichfalls in die Küche, als Mary sich dort umschaute, und begrüßte sie.

 

»Können Sie sich auf diesen Raum noch genau besinnen, Miss Lane?« fragte er.

 

»Ja.« Sie zeigte auf die weißen Kacheln. »Die sind allerdings erst nach meiner Zeit angebracht worden.«

 

Sie hatte den ungewissen Eindruck, daß sich auch sonst noch etwas verändert hatte, wußte aber nicht was. Und weil sie keine genauen Angaben über ihre Vermutung machen konnte, schwieg sie darüber.

 

»Wissen Sie, was das ist?« fragte Smith plötzlich. Er hatte in der Schublade des Küchentisches ein merkwürdiges Instrument gefunden. Es glich beinahe einer kleinen Gartenspritze, nur war das untere Ende ein Saugnapf aus Gummi.

 

»Eine Vakuumpumpe«, sagte Dick.

 

Smith drückte den Saugnapf auf den Tisch, setzte die Pumpe in Bewegung und hob den Tisch mit dem Apparat an der einen Seite an. »Miss Lane, haben Sie das Ding schon früher gesehen? Wissen Sie, wozu es benutzt wurde?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

Surefoot hatte auch noch einen kleinen Topf mit dunkelgrüner Ölfarbe und ein Paket Fensterkitt entdeckt.

 

»Das sah ich schon das letzte Mal. Wissen Sie; wozu es benutzt wurde?«

 

Er winkte Mary, und sie folgte ihm in den dunklen Gang. Die elektrische Birne an der Decke gab nur wenig Licht, und Surefoot nahm seine Taschenlampe, ging zu der Tür und leuchtete das dicke Eichenpaneel ab.

 

»Sehen Sie einmal hierher«, sagte er dann zu ihr.

 

Sie bemerkte eine runde Vertiefung, die mit Kitt ausgefüllt und kürzlich mit Ölfarbe überstrichen worden war.

 

»Was ist das?« fragte sie erstaunt.

 

»Das ist die Stelle, an der das Geschoß einschlug, die Kugel, mit der Hervey Lyne getötet wurde. Er ist hier in diesem Gang ermordet worden.«

 

Kapitel 13

 

13

 

Der Krankenwagen war gekommen und wieder fortgefahren, und nun saßen vier Herren in dem Arbeitszimmer des Ermordeten: Surefoot Smith, Dick Allenby, Binny und der Polizeiinspektor des Bezirks.

 

Smith wandte sich an den Butler, der vollständig verstört mit aschgrauem Gesicht auf seinem Stuhl hockte.

 

»Erzählen Sie uns, was sich zugetragen hat.«

 

Binny schüttelte den Kopf.

 

»Ich weiß es nicht … es ist doch entsetzlich, daß er so ums Leben kommen mußte …«

 

»Hat Mr. Lyne heute Besuch empfangen?«

 

Binny schüttelte den Kopf.

 

»Es ist niemand im Haus gewesen, soviel ich weiß.«

 

»Wo war Mr. Lyne um ein Uhr?«

 

»Hier in seinem Zimmer. Er saß in dem Stuhl, in dem Sie jetzt sitzen, und schrieb etwas. Als ich näher trat, deckte er das Blatt mit der Hand zu, und ich konnte infolgedessen nicht sehen, was es war.«

 

»Wahrscheinlich war es der Brief an Miss Lame«, meinte der Detektiv. »Schrieb er öfter solche Mitteilungen?«

 

»Nein.«

 

»Brachten nicht Sie seine Briefe fort?«

 

»Nicht immer. Der arme Mr. Lyne war sehr mißtrauisch. Er konnte nur noch schlecht sehen und hatte immer die Vorstellung, daß Leute an der Tür lauschten oder seine Briefe lasen. Er rief gewöhnlich jemand von der Straße, um die Briefe zu bestellen, die er geschrieben hatte. Aber das kam nicht häufig vor.«

 

»Wer hat ihn in der letzten Zeit besucht?«

 

»Mr. Dornford war gestern abend hier, und sie hatten eine ziemlich scharfe Auseinandersetzung. Soweit ich es beurteilen kann, handelte es sich um Geld.«

 

»Gerieten sie ernstlich aneinander?« fragte Smith.

 

Binny nickte.

 

»Mr. Lyne hat mich aufgefordert, Mr. Dornford hinauszuwerfen. Aber er war in dieser Beziehung immer etwas heftig.«

 

Surefoot Smith machte sich eine Notiz.

 

»Wer war sonst noch hier?«

 

Binny machte ein ernstes Gesicht.

 

»Vor zwei Tagen war Mr. Moran hier. Er kam, um mit Mr. Lyne über Bankangelegenheiten zu sprechen. Außerdem war Miss Lane hier. Ich glaube, das waren alle. Wir hatten im allgemeinen nur wenig Besuch.«

 

Smith notierte sich alles Wichtige in einer eigentümlichen Stenographie.

 

»Nun erzählen Sie uns mal, was heute geschah. Fuhren Sie Mr. Lyne gewöhnlich am Nachmittag aus?«

 

»Ja. Aber gegen Mittag sagte er, daß er nicht ausfahren wollte, weil er um drei Uhr Besuch bekäme. Um zwei änderte er aber seine Absicht wieder. Ich fuhr ihn in den Park, setzte mich neben ihn und las ihm die Verhandlungen vor dem Polizeigericht vor.«

 

»Hat Mr. Lyne etwas gesagt, als er im Park war?«

 

»Nichts Besonderes. Als wir eine Viertelstunde dort waren, sagte er, ich solle seinen Rockkragen hochklappen, weil es ihm zog. Ich las dann weiter, bis ich glaubte, er wäre eingeschlafen.«

 

»Haben Sie kein auffallendes Geräusch gehört?«

 

Binny dachte einen Augenblick nach.

 

»Doch. Bin Auto fuhr vorüber.«

 

Smith und Dick hatten bis jetzt vergessen, daß Dornford an ihnen vorbeigefahren war, und warfen sich einen bedeutungsvollen Blick zu.

 

»Haben Sie denn keinen Schuß gehört?«

 

Binny schüttelte den Kopf.

 

»Nein. Außer dem Auto habe ich nichts gehört.«

 

»Hat Mr. Lyne irgendwann gesprochen, vielleicht gestöhnt oder sich bewegt?«

 

»Nein.«

 

Surefoot stützte die Ellbogen auf den Tisch.

 

»Nun noch eine Frage. Wann hat Mr. Lyne zum letzten Mal mit Ihnen geredet, bevor wir ihn tot auffanden?«

 

Binny dachte nach.

 

»Es muß ungefähr zehn Minuten vorher gewesen sein. Ein Parkwächter kam vorbei und sagte guten Tag zu ihm. Als er nicht antwortete, glaubte ich, er sei eingeschlafen, und hörte auf zu lesen.«

 

»Nun zeigen Sie mir einmal das Haus«, bat Smith und erhob sich.

 

Binny ging voraus und führte die anderen zuerst in die Küche, an die ein kleines Schlafzimmer stieß.

 

Seine Frau befand sich auf dem Land bei Verwandten, wie er Surefoot erzählte, aber davon merkte Mr. Lyne kaum etwas, da Binny fast den ganzen Haushalt allein versah.

 

»Sie trinkt, wenn ich die Wahrheit sagen soll, und ich bin froh, daß sie aus dem Hause ist.«

 

Die Küche war nicht gerade allzu sauber. Surefoot sah etwas auf dem Fußboden, bückte sich und nahm ein dreieckiges Stückchen Glas auf, das unter dam Tisch in der Nähe des Fensters lag. Dann betrachtete er das Fenster und befühlte den Kitt.

 

»Ist das Fenster eingedrückt worden?«

 

Binny zögerte.

 

»Mr. Lyne wollte nicht, daß etwas darüber bekannt wurde. An einem der letzten Abende hat jemand die Scheibe eingedrückt und das Fenster geöffnet.«

 

»Ein Einbrecher?«

 

»Mr. Lyne nahm es an. Er wollte aber durchaus nicht haben, daß ich die Polizei verständigte.«

 

Sie gingen dann in das obere Stockwerk und traten zuerst in das Zimmer, das nach vorn hinaus lag. Es befand sich in jedem Stockwerk nur ein sehr großer Raum, der durch Schiebetüren geteilt werden konnte.

 

Im obersten Geschoß war Lynes Schlafzimmer, aber auch dort konnten sie nichts feststellen. Der Polizeiinspektor und zwei seiner Beamten prüften oberflächlich die Papiere und die Sachen des Verstorbenen. Surefoot hatte die Schlüssel aus der Tasche des Toten genommen. Er selbst hatte vorher schon alles durchgesehen, besonders den Geldschrank, hatte aber nichts entdecken können.

 

Schließlich kamen sie ins Arbeitszimmer zurück. Smith stand lange am Fenster und starrte hinaus.

 

»Der amerikanische Detektiv, der morgen nach New York zurückfährt, könnte uns wahrscheinlich helfen. Es wäre vielleicht gut, wenn ich ihn um Rat fragte.«

 

»Wer ist denn das?« fragte Dick neugierig.

 

»John Kelly, Chef der Geheimpolizei in Chikago. Möglich, daß er uns einen Tip geben kann. Ich werde es jedenfalls versuchen.« Er sah nach der Uhr.

 

»Ich möchte nur wissen, ob noch Nachrichten über Moran eingelaufen sind. Ich will mich einmal in seiner Wohnung umsehen. Hoffentlich finde ich dort jemand vor?«

 

»Wenn nicht, dann kann ich Ihnen helfen«, erwiderte Dick. »Er sagte mir, daß er verreisen und mir den Schlüssel senden wollte, damit ich ihm seine Post nachschicken könnte. Wenn Sie nichts dagegen haben, begleite ich Sie sehr gerne.«

 

Als sie ankamen, machte ihnen der Hausmeister eine überraschende Mitteilung. Er sagte, daß Moran die Wohnung erst vor einer Stunde verlassen habe.

 

»Stimmt das auch?« fragte Dick aufs höchste erstaunt. »Ist er nicht schon heute morgen abgereist?«

 

»Nein, er ist den ganzen Morgen fortgewesen, kam aber zurück und hat die Wohnung erst um halb vier verlassen. Wenn ich nicht irre, sind Sie Mr. Allenby? Ich sollte einen Brief an Sie zur Post bringen.«

 

Der Mann ging in sein kleines Büro und überreichte Dick ein Kuvert, das nur zwei hastig hingeworfene Zeilen enthielt. Der Schlüssel lag bei.

 

Bin gerade im Begriff abzureisen. Die gemeinen Kerle haben mein Gesuch abgelehnt.

 

»Wer sind denn die gemeinen Kerle?« fragte Surefoot.

 

Dick lächelte.

 

»Wahrscheinlich meint er damit den Aufsichtsrat der Bank. Er sagte mir, er würde abreisen, ob sie ihm Urlaub bewilligten oder nicht.«

 

Als sie die Wohnung betraten, sahen sie, daß Moran in aller Eile aufgebrochen war. Sie fanden an einem Bettpfosten eine Weste, in der noch die goldene Uhr, das Zigarettenetui und etwa zehn Pfund in barem Geld steckten. Er hatte sich so schnell umgezogen, daß er vergessen hatte, die Taschen zu leeren.

 

Surefoot trat ans Fenster, und Dick folgte ihm dorthin. Von hier aus konnten sie den Park übersehen, besonders die Stelle, an der Hervey Lyne in seinem Rollstuhl gesessen hatte.

 

»Fällt Ihnen etwas auf?« fragte Surefoot.

 

Dick nickte, und ein Schauder überlief ihn. Von seinem Standpunkt aus konnte er durch das offene Fenster direkt auf den Platz sehen, an dem der alte Mann erschossen worden war.

 

Surefoot musterte den Fußboden in der Nähe des Fensters eingehend, aber er konnte nichts finden. Dann ging er in das elegante Schlafzimmer und durchsuchte es in aller Eile. Als er den Kleiderschrank aufmachte, fiel ein Militärgewehr heraus. Ein zweites lag auf dem Boden des Schrankes, und daneben lagen ein halbes Dutzend langer, schwarzer Metallhülsen.

 

Surefoot öffnete die Kammer, roch daran, trug die Waffe ans Fenster und sah durch den Lauf. Wenn kürzlich ein Schuß daraus abgegeben worden war, mußte das Gewehr sofort gereinigt worden sein, denn man konnte im Laufinnern keinen Pulverrückstand sehen. Er prüfte das andere Gewehr in derselben Weise und nahm dann einen Metallzylinder in die Hand.

 

»Was ist denn das?«

 

Dick betrachtete den Gagenstand genau.

 

»Ein Schalldämpfer«, erwiderte er. »Moran interessierte sich sehr für Gewehrschießen und besonders für jede neue Art von Schalldämpfern. Er hat mich selbst ein- oder zweimal um Rat gefragt und mir häufig gesagt, ich sollte mich mit der Konstruktion solcher Instrumente befassen. Sie dürfen nicht vergessen, Smith, daß Morans Lieblingsbeschäftigung und Erholung Gewehrschießen ist.«

 

»Eine nette Erholung!« entgegnete der Chefinspektor.

 

Er durchsuchte den Kleiderschrank und die Schubladen nach Patronen, konnte aber nichts finden. Die Kammern der beiden Gewehre waren leer. Auch konnte er keine abgeschossene Patronenhülse in der Wohnung entdecken.

 

Smith trat vom Fenster zurück und schätzte den Abstand bis zum Tatort.

 

»Nicht ganz zweihundert Meter«, meinte er.

 

Moran hatte seinen Diener nicht mitgenommen. Surefoot ließ sich vom Hausmeister die Adresse des Mannes geben und schickte einen Schutzmann zu ihm, der ihn in sein Büro bringen sollte.

 

»Sie gehen jetzt am besten zu der jungen Dame«, wandte er sich an Dick. »Sie ist sicherlich durch das traurige Ereignis sehr beunruhigt.«

 

»Das glaube ich kaum. Aber ich werde sie aufsuchen. Wohin gehen Sie denn?«

 

Surefoot lächelte nur geheimnisvoll.

 

Kapitel 14

 

14

 

Das vordere Portal der Bank war schon geschlossen, als der Chefinspektor dort ankam. Er klingelte deshalb an der Seitentür und wurde auch sofort eingelassen. Der Kassierer, der stellvertretende Direktor und mehrere Angestellte waren noch bei der Arbeit. Er sprach mit dem Kassierer in dessen Privatbüro und erhielt von ihm einige wertvolle Auskünfte.

 

»Ich weiß nur, daß Moran einen Urlaub beantragt hatte, der nicht bewilligt wurde. Das weiß ich, weil der Brief der Generaldirektion nicht an ihn persönlich, sondern an den ›Vorsteher‹ adressiert war. Deshalb habe ich ihn geöffnet. Ich telefonierte ihn in seiner Wohnung an und teilte ihm den Bescheid mit. Er sagte darauf nur, er komme heute nicht ins Büro.«

 

»Haben Sie das der Direktion mitgeteilt?«

 

Es war nicht gemeldet wenden, da das häufiger vorkam. Bankdirektoren können sich dergleichen manchmal gestatten.

 

»Es wird natürlich in dem täglichen Bericht später erwähnt«, sagte der Kassierer. »Ich hatte heute morgen den Eindruck, als sei Mr. Moran in die City gefahren, um mit den Generaldirektoren zu sprechen. Als ich hörte, er sei auf Urlaub gefahren, nahm ich an, es sei ihm gelungen, die Leute zu überreden. Ist ihm etwas zugestoßen?« fragte er ängstlich.

 

»Hoffentlich nicht. Hat er eigentlich bei dieser Bank sein eigenes Konto gehabt?«

 

»Er hatte wohl ein Konto, es stand aber nicht viel darauf. Vor ein paar Jahren hat man ihm große Schwierigkeiten gemacht, weil er spekulierte, und deshalb hat er wahrscheinlich sein Hauptkonto nicht mehr bei uns geführt. Sicher wollte er verhindern, daß der Aufsichtsrat seine Geschäfte kontrollierte. Ich kann Ihnen ja im Vertrauen sagen, daß er ein Konto auf der Southern Provincial Bank hat. Einmal war sein Guthaben bei uns nahezu aufgebraucht, und da zahlte er einen Scheck ein, den er auf diese Bank ausgestellt hatte. Darf ich vielleicht erfahren, Mr. Smith, warum Sie sich für Mr. Moran interessieren?«

 

Mit ein paar Worten erzählte ihm der Detektiv von dem Mord.

 

»Ja, wir führen Mr. Lynes Konto und verwalten sein Vermögen. Es ist ziemlich groß, allerdings nicht mehr so bedeutend wie früher. Er ist Geldverleiher und hat natürlich viele ausstehende Kapitalien.«

 

Smith sah auf die Uhr.

 

»Kann ich noch jemand von der Generaldirektion sprechen?«

 

Der Kassierer konnte die Frage nicht beantworten, telefonierte aber mit der Zentrale. Er erhielt den Bescheid, daß bereits alle Herren nach Hause gegangen seien.

 

»Wenn Mr. Moran morgen früh nicht kommen sollte –«

 

»Der kommt nicht«, erklärte Surefoot.

 

»In diesem Fall wäre es mir sehr lieb, wenn Sie die Generaldirektoren aufsuchen würden. Ich darf Ihnen nämlich eigentlich keine Informationen geben, weder über Mr. Moran noch über einen unserer Kunden. Warten Sie bitte noch einen Augenblick.«

 

Er stand auf und sprach mit einem anderen Angestellten. Nach einer Weile kam er zurück.

 

»Das eine möchte ich Ihnen noch mitteilen, ganz gleich, ob man mir nachher Vorwürfe macht oder nicht. Der verstorbene Mr. Lyne hat gestern sechzigtausend Pfund abgehoben – das heißt, der Scheck wurde uns gestern nachmittag eingereicht und von uns ausgezahlt. Es war ein Barscheck. Einzelheiten kann ich Ihnen nicht mitteilen, aber ich glaube, die Generaldirektion wird Ihnen alle weiteren Angaben machen.«

 

Als Surefoot nach Scotland Yard zurückkehrte, fand er mehrere Beamte in seinem Büro.

 

Sie verabschiedeten sich gerade von John Kelly, der um Mitternacht die Rückreise nach den Vereinigten Staaten antreten wollte.

 

»Es tut mir leid«, sagte er, als er Surefoots Bericht gehört hatte. Es wäre mir wirklich ein großes Vergnügen gewesen, wenn ich Ihnen in diesem Mordfall hätte helfen können. Ich habe die Sache in der Abendzeitung gelesen. Ist inzwischen noch etwas Neues passiert?«

 

Surefoot erzählte ihm, was er auf der Bank erfahren hatte.

 

Der Amerikaner nickte.

 

»Ich kannte einen Spezialisten für solche Verbrechen bei uns drüben. Es ist ein gewisser Arthur Ryan. Ich weiß, daß er jetzt in England ist. Sobald ich nach Chikago komme, schicke ich Ihnen Fotos und alle Unterlagen. Er hatte gewöhnlich mehrere Bankkonten und verschob fremdes Geld von einem auf das andere. Dabei lebte er sonst sehr unauffällig, so daß man ihm derartige Geschichten nicht zutraute.«

 

Surefoot mußte zu seinem Bedauern die Einladung zu dem offiziellen Abschiedsessen ablehnen. Sein Vorgesetzter wollte ihn noch sprechen, und die Sache duldete keinen Aufschub.

 

»Wir müssen eine Personalbeschreibung von Moran an alle Polizeistationen geben«, meinte der Polizeipräsident, nachdem er den Bericht des Chefinspektors gehört hatte. »Aber es darf nichts an die Öffentlichkeit dringen, sonst bekommen wir große Unannehmlichkeiten. Die Tatsache, daß er ein paar Gewehre in seiner Wohnung hat, besagt noch gar nichts. Ich selbst weiß, daß er ein sehr guter Gewehrschütze ist. Und soweit wir wissen, haben sich bis jetzt noch keine Unstimmigkeiten bei den Bankkonten gezeigt. Das einzige, was ihn verdächtig macht, ist der Brief, den Lyne kurz vor seiner Ermordung geschrieben hat. Daraus geht hervor, daß er Moran wiedersehen wollte. Hat er ihn denn vorher gesprochen?«

 

»Ja, vor zwei Tagen, wie mir Binny sagte. Moran behauptete allerdings, daß er ihn in den letzten beiden Jahren nicht gesehen habe. Allenby fragte ihn beiläufig am Abend vor der Tat, ob er Lyne in letzter Zeit besucht habe, und darauf gab Moran diese seltsame Antwort. Allenby ist absolut zuverlässig. Nun fragt sich, warum Moran die falsche Angabe gemacht hat. Es ist doch merkwürdig, daß Lyne in seinem Brief ausdrücklich die Anwesenheit eines Polizeibeamten verlangte. Meiner Meinung nach gibt es hier nur eine Erklärung. Lyne mußte etwas über Moran entdeckt haben und wollte ihn vermutlich zur Rechenschaft ziehen. Moran hat dringend um Urlaub nachgesucht, der ihm nicht bewilligt wird. Er kommt nicht zur Bank, und meiner Meinung nach werden wir noch herausfinden, daß die Direktion überhaupt nichts von seiner Abreise weiß. Er verwaltete noch das Vermögen des alten Lyne, und wenn da etwas nicht in Ordnung ist, kommt er ins Zuchthaus. Möglicherweise war der einzige, der Unstimmigkeiten feststellen konnte, Lyne selbst. Er wird ermordet, jemand erschießt ihn – und zwar genau eine halbe Stunde, bevor Moran London verläßt. Das ist zwar kein direkter, sondern nur ein Indizienbeweis, aber die meisten Leute, die zum Tode verurteilt werden, kommen auf Indizien hin an den Galgen.«

 

Smith setzte seine Nachforschungen noch am Abend fort, und eine Stunde, bevor der Vorhang im Sheridan-Theater zum letztenmal nach der Vorstellung niederging, machte er auch dort einen Besuch. Mike Hennessey war schon nach Hause gegangen als ein gebrochener Mann, wie der Regisseur dramatisch beschrieb.

 

Smith ging durch die Bühnentür hinter die Kulissen und kam durch einen langen Korridor zu Marys Garderobe. Wie er erwartet hatte, fand er Allenby bei ihr. Sie sah müde aus. Offenbar hatte der Tod des alten Mannes sie doch mehr mitgenommen, als Dick und Surefoot erwartet hatten.

 

»Ja, das Stück ist vom Spielplan abgesetzt«, sagte sie. »Aber die Umstände haben sich nicht so schlecht entwickelt, wie Mike fürchtete. Der Scheck ist noch gekommen, und Mike kann die Gagen an die Schauspieler auszahlen. Für ihn selbst bleibt auch noch etwas übrig.«

 

Über Hervey Lyne konnte sie Smith weiter nichts erzählen. Aber sie berichtete ihm viel über Moran, als er sie nach ihm fragte. Zum erstenmal sprach sie auch über den mitternächtlichen Besuch des Bankdirektors.

 

»Aber Liebling«, warf Dick ein, »ich verstehe nicht recht. Er wollte, daß du ein Dokument unterzeichnest…«

 

»Wissen Sie, um welche Aktien es sich handelte?« unterbrach ihn Surefoot.

 

Sie konnte ihm jedoch keine Auskunft darüber geben. Smith nahm an, daß es ausländische Aktien waren, denn nur bei manchen ausländischen Börsen besteht die Vorschrift, daß Aktien von einem Vormund nicht ohne Zustimmung und Unterschrift des Mündels verkauft werden können.

 

»Das ist an und für sich noch nicht verdächtig. Selbst wenn er der Käufer gewesen wäre, hätte sich der alte Lyne nicht übers Ohr hauen lassen.«

 

Surefoot konnte an diesem Abend nicht mehr viel unternehmen. Lynes Papiere wurden sorgfältig durchsucht und registriert. Die Stelle, wo der Mord geschehen war, wurde durch ein Seil abgesperrt und bewacht, eine Vorsichtsmaßregel, die sich als sehr berechtigt herausstellte, als die Ärzte ihren Bericht über den Mord machten.

 

Hervey Lyne war durch ein Geschoß getötet worden, das von hinten durch das Herz gedrungen war. Im Körper fand man es nicht, und Surefoot gab den Auftrag, bei Tageslicht den Rasenplatz eingehend nach der Kugel abzusuchen.

 

Um neun morgens war er in der City und wartete auf die Ankunft der Generaldirektoren. Wie er vermutet hatte, wußten sie nichts von einer Abreise Morans. Aber er erfuhr, daß der Mann keinen guten Ruf bei der Bank genoß.

 

»Er war ein sehr fähiger Bankdirektor und bei unseren Kunden besonders beliebt. Wir hätten ihn sonst nicht behalten, nachdem sich herausstellte, daß er spekulierte. Wir können ihm nichts Schlechtes vorwerfen, natürlich mit Ausnahme dieser letzten Disziplinlosigkeit, die allerdings ziemlich schwer ins Gewicht fällt. Wie wir annehmen, ist er nach Devonshire gereist. Wenigstens sagte er, daß er dorthin gehen würde.«

 

Surefoot lächelte.

 

»Der ist nicht in Devonshire, darauf können Sie sich verlassen. Er ist mit einer bestellten Maschine gestern nachmittag um vier Uhr zwanzig von Croydon nach Köln geflogen. Dort erwartete ihn ein anderes Flugzeug, das ihn nach Berlin brachte. Dort ist er noch nicht gefunden worden.« Der Generaldirektor schaute ihn bestürzt an.

 

»Er ist in Berlin?« fragte er betroffen.

 

Leo Moran verwaltete große Konten, und ein Bankdirektor, der unter verdächtigen Umständen plötzlich verschwindet, nimmt gewöhnlich Bankgelder mit.

 

»Ich nehme ja nicht an, daß etwas nicht stimmt«, sagte er entsetzt. »Er hat zwar früher spekuliert, und man weiß nie, was ein Spieler sich alles zuschulden kommen läßt. Aber sonst war er wirklich zuverlässig und ehrenhaft. Trotzdem will ich sofort alle Bücher kontrollieren lassen.«

 

Surefoot hatte eine sehr genaue Personalbeschreibung von Mr. Moran erhalten, aber er konnte keine Fotografie von ihm finden. Der Mann war jedoch nicht schwer wiederzuerkennen, da er fast vollkommen kahl war. Er konnte allerdings mit Hilfe einer Perücke seinem Kopf ein ganz anderes Aussehen geben.

 

Surefoot runzelte die Stirn. Eine Perücke! Er erinnerte sich plötzlich an die drei Perücken, die er in dem Zimmer über der Garage in Baynes Mews entdeckt hatte, und er dachte auch an Washington Wirth, der in Mittelengland leben sollte … Sechzigtausend Pfund waren vor kurzem von Mr. Lynes Konto durch eine Bank in Mittelengland abgehoben worden.

 

Er ließ sich eine Vollmacht geben, alle Konten auf Morans Bank zu untersuchen. Mit dieser Ermächtigung fuhr er zur Bank und sprach mit dem Hauptkassierer.

 

»Ich kenne zufällig den Stand von Mr. Lynes Konto bis vor ein paar Tagen«, sagte er. »Irrtümlicherweise schrieb er nämlich eine Mitteilung an sein Mündel auf die Rückseite der Abrechnung.«

 

Er nahm das Schreiben aus der Tasche, und der Kassierer prüfte es.

 

»Ich will die Sache sofort prüfen. Hier sind natürlich nicht die sechzigtausend Pfund berücksichtigt, die auf den letzten Scheck hin abgehoben wurden.«

 

Der Kassierer kam erst nach einer längeren Weile zurück und legte die Abrechnung auf den Tisch.

 

»Die Aufstellung, die Mr. Moran dem verstorbenen Mr. Lyne gegeben hat, ist vollständig falsch. Sie ist vor drei Tagen aufgestellt. Aber hier steht zum Beispiel, daß Mr. Lyne ein Guthaben von zweihunderttausend Pfund haben soll. In Wirklichkeit beträgt sein Konto aber nicht ganz fünfzigtausend – achtundvierzigtausendsiebenhundert, um genau zu sein. Als ich die Aufstellung sah, wußte ich gleich, daß sie nicht stimmte. Ich habe das Konto Mr. Lynes genau beobachtet und Mr. Moran schon zweimal gedrängt, ihm zu schreiben und ihn auf den niedrigen Stand seines Kontos aufmerksam zu machen. Aber weil Mr. Lyne Geldverleiher ist, haben wir uns nicht zu sehr darum gekümmert. Die Leute verleihen ja häufig größere Summen.«

 

»Wie verhält es sich mit dem Depot an Wertpapieren?«

 

»Die sind alle noch vorhanden, nur haben wir vor vier Monaten auf besonderen Auftrag Mr. Lynes für dreißigtausend Pfund Aktien verkauft.«

 

»Hat Mr. Moran am vergangenen Dienstag, etwa um zehn Uhr morgens, Mr. Lyne besucht?«

 

»Wenn er es getan hat, bin ich jedenfalls nicht davon unterrichtet worden.« Er dachte kurz nach. »Ja, am vorigen Dienstag kam er erst gegen Mittag ins Büro und sagte, daß er eine Besprechung gehabt habe. Aber ich weiß nicht, mit wem. Es handelt sich hier doch um ein schweres Verbrechen, an dem Mr. Moran beteiligt ist? Ich will Ihnen und der Bank helfen, soviel ich kann. Aber wie ich Ihnen schon sagte, weiß ich nichts von diesen Transaktionen. Wollen Sie einmal das Konto Mr. Lynes durchsehen? Es sind in den letzten achtzehn Monaten große Summen ausgezahlt worden, gewöhnlich auf Barschecks hin, und das ist eigentlich nicht die Art, wie Geldverleiher über ihr Konto verfügen. Im allgemeinen sind solche Leute sehr vorsichtig und stellen die Schecks auf die Namen bestimmter Personen aus, so daß man auch durch die Bankbücher feststellen kann, wo ihr Geld geblieben ist. Aber Mr. Lyne hat das niemals getan.«

 

Der Kassierer brachte ein besonderes Aktenstück, und Smith prüfte es. Es waren Beträge von zehn-, fünfzehn- und zwanzigtausend Pfund abgehoben worden, und zwar stets durch eine Bank in Birmingham.

 

»Nur ein einziger dieser großen Schecks wurde persönlich ausgestellt«, erklärte der Kassierer, wandte ein Blatt um und zeigte auf einen Namen. »Und zwar, während Mr. Moran auf Urlaub war –«

 

Smith sah erstaunt auf die Zeile. Klar und deutlich konnte er lesen: Washington Wirth.

 

Kapitel 15

 

15

 

Lange Zeit starrte Smith nachdenklich auf den Namen.

 

»Würden Sie so liebenswürdig sein und mich einmal mit dei Bank in Birmingham verbinden?«

 

Schon kurze Zeit darauf sprach er mit dem Direktor. Dieser bestätigte alles, was Smith schon wußte. Er kannte Mr. Washington Wirth nicht persönlich, obwohl er ihn einmal im Hotel gesehen hatte. Als Mr. Wirth sein Konto eröffnete, war er offenbar leidend und lag zu Bett. Sein Zustand machte es notwendig, daß die Vorhänge im Hotelzimmer vorgezogen sein mußten. Einer der Bankbeamten hatte sich damals seine Unterschrift geben lassen. Sonst wußte man nichts von ihm. Er hatte ein besonderes Abkommen mit der Bank getroffen, daß er Barschecks an drei verschiedenen Filialen einlösen konnte, und zwar in London, Bristol und Sheffield. Stets kündigte er vierundzwanzig Stunden vor Vorzeigung des Schecks der Bank in Birmingham telegrafisch an, daß er Geld abheben werde. Obwohl große Summen auf sein Konto gebucht und wieder ausgezahlt wurden, war der augenblickliche Stand des Kontos doch sehr gering.

 

Surefoot Smith schickte einen Detektiv mit einer Anzahl von Unterschriften nach Birmingham; der Mann sollte die Originalunterschrift mitbringen, die Wirth bei Eröffnung seines Kontos geleistet hatte.

 

Wer auch immer der Veranstalter der mitternächtlichen Gesellschaften im Kellner-Hotel gewesen sein mochte, jedenfalls war er es, an den die großen Summen von Lynes Konto ausgezahlt wurden. Und wahrscheinlich war er auch der Mörder.

 

Surefoot suchte Dick auf und erstattete ihm Bericht.

 

»Sie sind der nächste Verwandte des Ermordeten, und infolgedessen ist es nur natürlich, daß ich Ihnen das mitteile«, meinte er.

 

Dick hörte bestürzt, welche Geldsummen fehlten.

 

»Haben Sie die Möglichkeit bedacht, daß Mr. Wirth mit Hervey Lyne identisch sein könnte?«

 

»Ja, der Gedanke ist mir auch schon gekommen. Daß sich der alte Mann immer herumfahren ließ, bedeutet nichts. Das ist einer der ältesten Tricks. Die Schecks wurden zweifellos von ihm persönlich unterzeichnet; ich habe sie selbst gesehen, und den letzten habe ich sogar noch bei mir.«

 

Er nahm das Formular aus der Tasche. Als er es umdrehte, entdeckte er zu seinem größten Erstaunen auf der Rückseite eine mit Bleistift gekritzelte Bemerkung, die er vorher übersehen hatte. Die Schrift war nur schwach; auch schien ein Versuch gemacht worden zu sein, sie auszuradieren. Mit Hilfe eines Vergrößerungsglases gelang es Surefoot, die Worte zu entziffern.

 

»Schicken Sie nicht mehr chinesische E…« Offenbar war der Bleistift hier auf der Schreibunterlage abgeglitten, ohne daß es Lyne bemerkt hatte.

 

»Zum Teufel, was hat das zu bedeuten?« fragte Smith nervös. »Zweifellos ist das die Handschrift des alten Lyne. Was wollte er denn mit ›chinesisch‹ sagen? Und wer hat sich die Mühe gemacht, das auszuradieren?«

 

Er schüttelte verzweifelt den Kopf.

 

»Ich hätte den Kassierer fragen sollen, ob der alte Lyne irgendwelche chinesischen Papiere bei der Bank deponiert hatte.«

 

*

 

Dick speiste mit Mary Lane zu Mittag und erzählte ihr alles, was ihm der Detektiv mitgeteilt hatte. Er sprach auch von der rätselhaften Bleistiftschrift auf der Rückseite des Schecks. Sie stieß plötzlich einen leisen Ausruf aus und sah ihn erstaunt an.

 

»Ach!« sagte sie dann.

 

Dick lächelte.

 

»Weißt du etwas von chinesischen Papieren?«

 

»Nein. Aber erzähle mir noch einmal alles recht langsam.«

 

Dick erfüllte ihren Wunsch. Wenn sie die banktechnischen Ausdrücke nicht verstehen konnte, bat sie ihn um Erklärungen. Als er geendet hatte, seufzte sie und lehnte sich in ihren Stuhl zurück. Aber ihre Augen glänzten.

 

»Du siehst entsetzlich geheimnisvoll aus.«

 

Sie nickte.

 

»Ja, ich bin es auch.«

 

»Weißt du am Ende gar, wer den unglücklichen alten Lyne ermordet hat?«

 

Sie nickte wieder.

 

»Ja; ich wage es noch nicht, seinen Namen zu nennen, aber ich glaube, daß ich einen Anhaltspunkt habe … Ich lebte als kleines Mädchen in Mr. Lynes Haus, und verschiedene Dinge habe ich nicht vergessen.«

 

»Ich werde Surefoot sagen –«, begann er.

 

»Nein, nein«, erwiderte sie schnell. »Das darfst du nicht tun. Wenn du mich lächerlich machst, werde ich dir das nie verzeihen. Meine Theorie ist vielleicht töricht. Ich muß sie erst beweisen können, bevor ich darüber spreche.«

 

»Willst du auch unter die Detektive gehen, Liebling?« fragte er scherzend. »Übrigens ist das Testament gefunden worden. Ich bin wirklich Universalerbe. Es ist allerdings mit allen möglichen einschränkenden Bedingungen versehen. Wenn ich zum Beispiel eine Frau heirate, die nicht Engländerin ist oder nicht der englischen Hofkirche angehört, verliere ich einen Teil der Erbschaft; ebenso, wenn ich meinen Wohnsitz außerhalb Englands verlege und wenn ich seinen Hund nicht pflege. Nun ist der Hund allerdings schon seit sechzehn Jahren tot. In gewisser Weise war der Alte aber großzügig, Mary. Er hat dir vierzigtausend Pfund hinterlassen, frei von jeder Erbschaftssteuer.«

 

»Wirklich?« Sie war fast bestürzt über die Freigebigkeit ihres Vormunds. Und sie freute sich, daß er nicht in einer ärgerlichen Laune seinen Neffen enterbt hatte.

 

Surefoot erfuhr erst bei seiner Rückkehr ins Büro, daß das Testament gefunden worden war. Er läutete Dick an, gratulierte ihm und hörte zu seiner Enttäuschung, daß dieser die Neuigkeit schon wußte.

 

»Da. Sie ja großes Interesse an dem Fall haben, wäre es gut, wenn Sie sofort zum Scotland Yard kämen. Ich habe den Hauptkassierer von der Bank hier, und er hat etwas zu berichten, das auch Sie angeht.«

 

Dick kam der Aufforderung sofort nach. Auf Surefoots Schreibtisch lag eine Anzahl beschriebener Blätter.

 

»Also hierum dreht es sich«, erklärte Smith mit Nachdruck, als er ihm die Papiere zuschob, damit er sie lesen konnte. »Unser Freund hier« – er wies auf den Bankbeamten –, »sagt, daß die Aufstellung, die an Miss Lane gesandt wurde, nicht mit einer Schreibmaschine der Bank geschrieben wurde. Er hat mir das auch bewiesen, indem er mir Schriftproben sämtlicher Schreibmaschinen der Bank vorlegte. Das ist eine brauchbare Feststellung, aber vorläufig bringt sie uns noch nicht weiter. Wenn Moran Gelder beiseite schaffte, hat er. sicher alle diesbezügliche Korrespondenz zu Hause erledigt. Die Formulare konnte er sich leicht von der Bank mitnehmen. Konnte sich eigentlich jemand außerhalb der Bank diese Formulare auch besorgen?«

 

Der Kassierer hielt das für möglich.

 

Surefoot konnte sich nicht besinnen, eine Schreibmaschine in Morans Wohnung gesehen zu haben. Er begleitete Dick, nachdem der Bankbeamte gegangen war, nach Parkview Terrace und durchsuchte dort alles noch einmal sorgfältig. Sie fanden diesmal eine Reiseschreibmaschine, aber sie war defekt, so daß man sie nicht benutzen konnte. Surefoot dachte an die kleine Wohnung über der Garage in Baynes Mews. Wenn Moran deren Eigentümer war, besaß er sicher auch noch andere Unterkunftsmöglichkeiten und Schlupfwinkel in London. Er konnte ja leicht genug unter anderem Namen Wohnungen mieten. Smith hatte festgestellt, daß die Wohnung in Baynes Mews auf den Namen Whiteley gemietet worden war.

 

»Haben Sie denn noch Zweifel?« fragte Dick.

 

»Ja, ich bin noch keineswegs überzeugt. Vielleicht klärt sich manches auf, wenn ich Jerry Dornford finde. Sie besinnen sich doch noch, daß er mit einem Höllenspektakel ziemlich langsam an der Stelle vorbeifuhr, wo der alte Lyne saß?«

 

»Ja, gewiß – aber …«

 

»Hat er nicht Ihre Luftpistole gestohlen?« Der Chefinspektor ärgerte sich über Dicks Schwerfälligkeit.

 

»Großer Gott, Sie halten doch nicht Dornford für den Mörder?«

 

»Warum denn nicht?« entgegnete Smith vorwurfsvoll. »Er schuldete Lyne Geld – Lyne hatte gedroht, ihn gerichtlich verfolgen zu lassen, wenn er nicht am selben Tag noch zahlen würde. Wenn Sie Dornfords Charakter nur einigermaßen kennen, wissen Sie, daß er unter allen Umständen einen finanziellen Skandal vermeiden wollte. Er ist stolz darauf, daß man ihn für wohlhabend hält, obgleich sein Vater Pferdehändler war und seine Mutter – nun, darüber wollen wir nicht reden. Wenn das Gericht ihn für bankrott erklärt, muß er aus allen Klubs austreten, in denen er Mitglied ist. Und ein Mann wie er wird natürlich von sich aus alles daransetzen, das zu verhindern.«

 

»Wo ist er denn jetzt?«

 

»Das möchte ich auch gern wissen. Er ist nicht wieder aufgetaucht, seitdem wir ihn in Naylors Crescent im Auto sahen!«

 

Kapitel 16

 

16

 

Surefoot Smith grübelte in seiner Privatwohnung in der Panton Street über die Probleme nach, die er lösen sollte. Im Augenblick schrieb er der Reihenfolge nach in seiner einzigartigen Stenographie auf, wo Leo Moran nach den bisherigen Feststellungen überall in der Welt aufgetaucht war.

 

Der Bankdirektor hatte im Rundfunk einen Vortrag gehalten. Nach dem Vortrag hatte sich Moran ins Sheridan-Theater begeben, von dort zur Wohnung Dick Allenbys. Dann mußte er nach Hause zurückgekehrt sein, wo er einen Brief vorfand – Surefoot wollte ihm das ruhig glauben. Dieser Brief veranlaßte ihn, Mary Lane noch einen Besuch zu machen.

 

Was hatte Moran nun aber am Mordtag selbst gemacht?

 

Eins war jedenfalls sicher: Das Flugzeug, das er benutzt hatte, war erst im letzten Augenblick gemietet worden. Er hatte also zuerst andere Absichten gehabt.

 

Um welche Aktien mochte es sich übrigens gehandelt haben, für deren Übertragung er Mary Lanes Unterschrift brauchte? Diese Frage konnte wohl erst nach langen, mühsamen Nachforschungen beantwortet werden.

 

Das Verschwinden Jerry Dornfords war ein Problem für sich. Sein Diener in der Half Moon Street sagte, daß er sich darüber keine Sorge mache. Sein Herr sei schon öfter tagelang weggeblieben, ohne anzugeben, wo er sich aufhielte. Mr. Dornford war anscheinend keine mitteilsame Natur, außerdem ein Mann ohne Geld und mit nur wenigen Freunden. Der eine oder andere von ihnen hatte Besitzungen auf dem Land, aber die Nachforschungen dort blieben ohne Erfolg. Der Diener erinnerte sich wohl an die Namen einiger Damen, mit denen Dornford verkehrte, aber das brachte auch keine Aufklärung.

 

Dornford selbst besaß ein kleines Gut in Berkshire; ein Teil der Besitzung war Ackerland und brachte genug Pacht ein, um die Hypothekenzinsen zu zahlen. Auf dem Besitztum stand ein Haus, das jedoch schon vor vielen Jahren an einen Golfklub vermietet worden war.

 

Auf keinen Fall besaß Dornford genügend Mittel, um Wohnungen an zwei oder drei Stellen zu unterhalten.

 

Das Geschoß, mit dem der alte Lyne getötet worden war, hatte man noch nicht gefunden, obwohl der Rasen zum größten Bedauern der Parkdirektion abgehoben wurde. Immerhin konnte es in einem solchen Winkel abgefeuert worden sein, daß es in den Kanal oder auf das jenseitige Ufer fiel.

 

Wenn Surefoots erste Theorie stimmte, daß Lyne von dem Obergeschoß des Hauses in Parkview Terrace aus erschossen wurde, mußte die Kugel ein paar Schritte von der Stelle entfernt gefunden werden, wo der Rollstuhl gestanden hatte. Und wenn der tödliche Schuß aus Dornfords Auto abgegeben worden war, konnte das Geschoß kaum durch Lynes Körper gegangen und bis zum Kanal geflogen sein.

 

Surefoot Smith blieb in steter Verbindung mit dem Butler Binny, aber dieser konnte ihm auch keine weiteren Aufklärungen geben, er hatte weder Schuß noch Einschlag gehört. Das war auch verständlich, denn Dornfords Auto hatte einen solchen Spektakel gemacht, daß alle anderen Geräusche darin untergingen.

 

Es war Sonnabendnachmittag vier Uhr, und Surefoot Smith, der in der vergangenen Nacht kaum geschlafen hatte, war in seinem Sessel eingenickt. Ärgerlich über sich selbst fuhr er nach einer Weile in die Höhe, erhob sich sofort, wusch sich und ging dann nach Haymarket.

 

Er wußte noch nicht, wie und in welcher Richtung er weiterarbeiten sollte.

 

Schließlich wanderte er über Piccadilly Circus, blieb unentschlossen an einer Straßenecke stehen und beobachtete die haltenden Wagen. Plötzlich stieß ihn jemand an.

 

Der Mann, der ihn angerempelt hatte, ohne es zu wollen, entschuldigte sich und wollte weitergehen. Aber Surefoot erkannte ihn und faßte ihn am Ärmel.

 

»Was ist denn mit Ihnen los, Mike?«

 

Surefoot war mit Recht erstaunt.

 

In vierundzwanzig Stunden hatte sich Mike Hennesseys Aussehen auffallend verändert. Sein dickes, unrasiertes Gesicht war aufgedunsen und zeigte eine häßliche graue Farbe. Seine Augen waren blutunterlaufen. Bildete es sich Surefoot nur ein, oder wurde der Mann tatsächlich bleich, als er ihn ansah?

 

»Hallo!« stammelte Mike. »Ach – ist es nicht sonderbar, daß wir uns hier treffen?«

 

»Was ist denn mit Ihnen los, Mike?« wiederholte Surefoot.

 

Der Chefinspektor hatte sich angewöhnt, auch in den unschuldigsten Menschen verbrecherische Absichten zu wittern, und seine Frage klang deshalb vorwurfsvoll und mißtrauisch.

 

»Nichts – ich laufe heute herum wie im Traum. Das Stück ist vom Spielplan abgesetzt, und ich weiß nicht, was ich machen soll.«

 

»Ich habe den ganzen Morgen versucht, Sie anzutelefonieren. Wo haben Sie denn gesteckt?«

 

Mike fuhr zusammen.

 

»Sie haben … Warum denn, Surefoot, alter Knabe? Ich war nicht in der Stadt. Was wollten Sie von mir?«

 

»Sie waren nicht in Ihrer Wohnung und Sie waren auch nicht im Theater. Warum sind Sie mir aus dem Weg gegangen?«

 

Mike versuchte zu sprechen, schluckte und sagte dann heiser:

 

»Wir wollen irgendwo ein Glas zusammen trinken. Ich habe schwere Sorgen.«

 

In einer Seitenstraße lag eine Kneipe, wo man Bier eigentlich erst von sechs Uhr abends an bekommen konnte. Trotzdem gingen die beiden dahin, und der Oberkellner empfing sie mit einem Lächeln.

 

»Wollen Sie sich mit dem Herrn ein wenig privat unterhalten, Mr. Smith? Sicher wollen Sie nicht hier draußen im großen Lokal sitzen, das ist nicht angenehm. Kommen Sie in das Zimmer des Geschäftsführers.«

 

Er führte die beiden in einen kleinen Privatraum, der durchaus nicht das Büro des Geschäftsführers war, höflicherweise aber so genannt wurde.

 

»Ich werde Ihnen eine Portion Tee bringen, Mr. Smith. Mr. Hennessey, Sie nehmen doch Kaffee?«

 

Mike hatte die Augen geschlossen und nickte.

 

»Nun, was für Sorgen haben Sie?« fragte Smith geradezu. »Handelt es sich um Washington Wirth?«

 

Mike öffnete sofort die Augen und starrte ihn an.

 

»Ja«, erwiderte er und blinzelte den Chefinspektor an. »Ich meine … ja … er wird sich wohl nicht mehr ums Theater kümmern, und das macht mir große Sorge. Er war ein guter Freund von mir.«

 

Es fiel Mike nicht nur schwer zu reden, sondern auch zu atmen. Er keuchte förmlich.

 

»Wollten Sie seinetwegen mit mir sprechen?« fragte er nervös.

 

»Ja. Er war also ein Freund von Ihnen?«

 

»Freund kann man eigentlich nicht sagen. Er war der Mäzen meines Theaters«, verbesserte Hennessey schnell. »Ich sorgte für ihn, wenn er in der Stadt war. Viel wußte ich nicht von ihm, aber er war sehr reich.«

 

»Haben Sie ihn nie gefragt, woher er das Geld hatte?«

 

»Nein, das habe ich natürlich nicht getan.« Hennessey konnte dem Chefinspektor nicht in die Augen sehen.

 

Der Oberkellner kam mit einem Tablett zurück, auf dem zwei große Bierflaschen, eine Flasche Whisky, zerstoßenes Eis und ein Siphon mit Sodawasser standen.

 

»Hier ist Ihr Tee«, sagte er in aller Form, stellte die Getränke nieder und ging wieder hinaus.

 

Surefoot Smith nahm an dieser Übertretung des Gesetzes keinen Anstoß.

 

»Also, Mike, nun sagen Sie doch schon, was Sie wissen«, begann er freundlich. »Ich möchte von Ihnen erfahren, wer dieser Wirth eigentlich ist.«

 

Hennessey feuchtete die trockenen Lippen an.

 

»Zuerst würde ich gern hören, was eigentlich los ist«, erwiderte er verbissen. »Nicht, daß ich Ihnen etwas Bestimmtes sagen könnte, aber nehmen wir einmal an, ich wüßte etwas – wo bleibe ich? Stellen Sie sich einmal vor, ich hielte ihn für einen anderen und würde zu ihm sagen; ›Entweder helfen Sie mir, oder ich fange an zu erzählen.‹«

 

»Ja, angenommen, Sie wollten ihn erpressen«, unterbrach ihn Smith brutal.

 

Mike stöhnte.

 

»Nein, ich habe ihn nicht erpreßt. Ich war ja meiner Sache gar nicht sicher, ich habe doch nur einen Bluff versucht, um zu sehen, wie weit er gehen würde …« Plötzlich brach Mike zusammen, bedeckte das Gesicht mit den Händen und begann zu schluchzen. »Ach, es ist schrecklich!« stöhnte er.

 

Andere Leute wären in Verwirrung geraten, Surefoot Smith war nur interessiert. Er legte die Hand auf Mikes Arm.

 

»Sind Sie auch an dem Mord beteiligt? Darum handelt es sich jetzt.«

 

Mikes Hände fielen plötzlich auf den Marmortisch. Sein tränenbedecktes Gesicht zeigte einen bestürzten Ausdruck, aber er weinte nicht mehr.

 

»Mord …? Sie meinen, ich soll in einen Mord verwickelt sein?« fragte er mit schriller, erregter Stimme.

 

»Ja, an dem Mord an Hervey Lyne. Wußten Sie nicht, daß er erschossen worden ist?«

 

Mike sah ihn starr vor Schrecken an.

 

»Was, Lyne … ist erschossen?« stieß er mühsam hervor.

 

Es war kaum zu glauben, daß er der einzige Mann in London sein sollte, der nichts von dem geheimnisvollen Mord in Regent’s Park erfahren hatte, denn die Zeitungen waren voll davon. Aber Surefoot fühlte, daß Mike ihm nichts vormachte.

 

»Sie wollen mich doch nicht etwa aufs Glatteis führen, Surefoot?«

 

»Nein. Wie kommen Sie denn auf eine solche Idee?«

 

Mike schwieg und sah den Beamten mit großen Augen an. Aber seine Züge waren vollkommen ausdruckslos. Als er nach einer Weile wieder sprach, hatte er sich gesammelt.

 

»Das ist entsetzlich! Ich habe die Zeitungen heute morgen noch nicht gelesen.«

 

»Es stand gestern abend drin«, erklärte Smith.

 

Mike schüttelte den Kopf.

 

»Seit Donnerstag morgen habe ich keine Zeitung mehr gesehen. Der alte Lyne ist also tot! Er war doch der Vormund von Miss Lane.« Surefoot wußte, daß Mike Zeit gewinnen wollte, um sich wieder vollständig zu fassen. »Ich habe wirklich nichts davon gelesen. Es ist merkwürdig, wie man Dinge übersehen kann, die in der Zeitung stehen. Ich war so mit dem Zusammenbruch meines Theaters beschäftigt, daß ich mich für nichts anderes interessierte.«

 

»Was haben Sie denn eigentlich für Washington Wirth getan?«

 

Surefoot sprach eisig. Er hatte sein freundliches Wesen abgelegt und interessierte sich im Augenblick nicht einmal für das Bier, das neben ihm stand.

 

»Haben Sie Geld für ihn von der Bank abgehoben?«

 

Mike nickte. »Ja. Große Summen. Ich bin zur Bank gegangen und habe mich dann später mit ihm getroffen.«

 

»Wo sind Sie mit ihm zusammengekommen?« fragte Smith.

 

»An den verschiedensten Stellen, zum Beispiel auf Bahnhöfen, meistens aber im Kellner-Hotel. Er hob gewöhnlich einen großen Betrag ab, wenn er eine Gesellschaft gab, und ich brachte ihm das Geld, bevor die Gäste kamen. Er sagte, er sei Fabrikbesitzer in Mittelengland, aber um Ihnen die Wahrheit zu sagen, Mr. Smith, ich habe immer daran gezweifelt. Den Eindruck eines Verbrechers hat er aber nicht auf mich gemacht. Man begegnet ja den merkwürdigsten Leuten, die in guten Verhältnissen leben und Geld wie Heu haben. Warum sollte er nicht dazu gehören? Er ist nicht der erste, der sein Geld in Theater steckt, und hoffentlich ist er auch nicht der letzte.«

 

»Von welcher Bank haben Sie Geld für ihn geholt?«

 

Mikes Antwort stimmte mit dem überein, was Surefoot bereits wußte.

 

»Das wäre in Ordnung.« Smith lehnte sich über den Tisch. »Nun möchte ich noch wissen, wer dieser … Washington Wirth war.«

 

Mike schüttelte den Kopf.

 

»Offengestanden – das weiß ich. selber nicht. Wenn ich in dieser Minute sterben sollte, könnte ich es Ihnen nicht sagen. Ich kam durch meinen letzten Bankrott mit ihm in Verbindung. Er schrieb mir damals einen sehr liebenswürdigen Brief und drückte darin sein Bedauern aus, daß ein so tüchtiger Mann wie ich mit derartigen Schwierigkeiten zu kämpfen habe. Zum Schluß bot er mir seine finanzielle Hilfe an.«

 

»War der Brief mit der Hand geschrieben?«

 

»Nein, mit der Maschine. Ich habe das Schreiben noch irgendwo in meinen Akten. Dann traf ich im Kellner-Hotel mit ihm zusammen. Damals hatte er nur ein Zimmer. Ich wußte, daß er eine Perücke trug und daß er in Wirklichkeit ein anderer war, aber ich habe mir niemals die Mühe gemacht, hinter sein Geheimnis zu kommen –«

 

»Das ist eine ganz dicke Lüge«, sagte Surefoot ruhig. »Sie haben doch zugegeben, daß Sie ihn erpreßten.«

 

»Nein, das habe ich nicht getan. Ich habe nur einen Bluff versucht. Ich wußte, daß er ein anderer war, und vermutete die Wahrheit.«

 

»Sind Sie sich auch klar darüber, daß Sie in einer bösen Patsche sitzen, wenn dieser Washington Wirth verhaftet werden sollte? Ich kann als sicher annehmen, daß er Geld von Hervey Lyne unterschlagen hat. Jedenfalls habe ich manche Anhaltspunkte dafür, daß er den alten Finanzmann erschossen hat. Mike, Sie wollen doch nicht in einen Mord verwickelt werden?«

 

Hennesseys Gesicht war verzerrt, und er konnte kaum noch zusammenhängend sprechen.

 

»Ich würde Ihnen gern helfen, wenn ich könnte, Mr. Smith. Aber ich weiß doch gar nicht, wer er in Wirklichkeit ist – ich schwöre Ihnen, daß ich es nicht weiß.«

 

Der Chefinspektor sah ihn scharf an.

 

»Wissen Sie etwas von Moran?«

 

»Sie meinen doch nicht den Bankdirektor?« stammelte Mike bestürzt.

 

»Wissen Sie etwas von der falschen Bankbilanz, die Lyne zufällig an Miss Lane schickte?«

 

Einen Augenblick glaubte Smith Mike würde ohnmächtig zusammenbrechen.

 

»Nein – nichts – ich kenne Moran – und ich kenne auch Wirth. Nehmen wir einmal an, daß ich ihn – Washington Wirth – fände – was würde das für mich bedeuten?«

 

Surefoot Smith erhob sich.

 

»Das macht für Sie gar nichts aus, ob Sie ihn finden oder ob die Polizei ihn findet«, erwiderte er barsch. »Sie scheinen immer noch nicht zu wissen, Mike, in welche Lage Sie sich gebracht haben. Zwei Leute sind ermordet worden, wahrscheinlich von derselben Person. Tickler wurde umgebracht, weil er zuviel wußte. Es ist vielleicht sicherer für Sie, wenn ich Sie in Schutzhaft nehme.«

 

Mike lächelte. »Bin ich denn ein Kind?« fragte er. Anscheinend hatte er seine Fassung jetzt wiedergewonnen. »Ich kümmere mich nicht um Drohungen. Machen Sie sich meinetwegen keine Mühe, Surefoot.«

 

»Ich habe Ihnen noch eine ganze Menge zu sagen«, unterbrach ihn Smith. »Aber warten Sie, bis ich telefoniert habe.«

 

Mike sah ihn argwöhnisch und etwas furchtsam an.

 

»Haben Sie keine Angst, ich verhafte Sie nicht.«

 

In dem großen Gastzimmer nebenan befand sich eine Telefonzelle, und Surefoot rief Scotland Yard an.

 

»Hier Chefinspektor Smith. Schicken Sie sofort zwei der besten Detektive zu Bellinis Restaurant. Ich bin mit Mike Hennessey, dem Theatermann, dort. Er steht von diesem Augenblick an Tag und Nacht unter Beobachtung. Die Sache ist sehr wichtig, es dürfen keine Fehler gemacht werden. Verstanden?«

 

Der Befehl wurde pünktlich ausgeführt. Als Smith und Mike eine Viertelstunde später auf die Straße traten und nach Piccadilly Circus gingen, folgten ihnen zwei junge Detektivbeamte, und als Mike in einem Taxi fortfuhr, stiegen die beiden ebenfalls in ein Auto und blieben ihm auf der Spur. –

 

Mike Hennessey war nicht im Theater, als der Vorhang das letztemal nach dem Stück »Klippen des Schicksals« fiel. Obwohl die Absetzung des Stückes nun bedeutete, daß sich die Schauspieler nach neuer Arbeit umsehen mußten, atmeten sie doch alle erleichtert auf, als sie die Bühne verließen.

 

Dick war mit der Lektüre der Abendzeitung beschäftigt, als Mary in ihren Ankleideraum trat. Das Blatt brachte einen großen Artikel über die Ermordung des Finanzmannes Lyne.

 

Dick legte es beiseite, als Mary hereinkam, und wollte die Garderobe verlassen, während sie sich umkleidete.

 

»Bleib sitzen«, sagte sie. »Ich will noch ein wenig warten, ich fühle mich so müde.«

 

»Nun, wie ist es? Hast du den Mörder gefunden? Du wolltest doch selbst Detektiv spielen?« fragte er leichthin.

 

Sie ging nicht auf seinen scherzenden Ton ein.

 

»Ich glaube, ich weiß, wer es ist.«

 

»Hast du die Berichte in der Zeitung gelesen?«

 

»Ja, ich habe jede Zeile studiert.«

 

»Binny hat übrigens eine eigene Theorie. Ich habe heute mit ihm gesprochen. Er hält Jerry Dornford für den Mörder. Vermutlich deshalb, weil er Jerry nicht leiden kann.«

 

»Hat Mr. Smith dir alle Anhaltspunkte genannt, die er bisher herausbekommen hat?« fragte sie. Was Binny über den Fall dachte, schien sie nicht zu interessieren.

 

»Nein. Er ist meistens sehr zugeknöpft, wenn es sich um seinen Beruf handelt.«

 

»Meinst du, er würde sie mir mitteilen?«

 

»Wenn er der Ansicht ist, daß du ihm helfen kannst – vielleicht. Er hat versprochen, heute abend ins Theater zu kommen und mir die letzten Neuigkeiten zu berichten. Bei der Gelegenheit könntest du ihn ja einmal fragen.«

 

Surefoot kam verhältnismäßig spät und war nicht in der besten Laune. Er hatte auch Grund, verstimmt zu sein, denn um halb acht hatte ihn einer der Detektive angerufen und gemeldet, daß sie Mikes Spur verloren hatten.

 

»Was, er ist Ihnen entkommen?« hatte Smith durch das Telefon gerufen. »Was ist denn eigentlich mit euch los?«

 

»Es tut mir furchtbar leid, aber er muß bemerkt haben, daß wir ihm folgten. Ich habe mich nur einmal umgedreht, und schon war er fort.«

 

»Man dreht sich eben nicht um! Suchen Sie ganz London ab und gabeln Sie ihn wieder auf! Kennen Sie seine Adresse? Dann warten Sie vor seiner Wohnung. Der Mann muß unter allen Umständen gefunden werden.«

 

Im Sheridan-Theater schimpfte Smith noch eine Weile auf diese Grünschnäbel, die sich Detektive nannten.

 

»Beruhigen Sie sich. Hier ist ein neuer Detektiv für Sie.«

 

Dick zeigte bei diesen Worten auf Mary. Zu seinem größten Erstaunen wurde Smith nicht ungeduldig.

 

»Ich möchte fast sagen, daß die junge Dame mehr Verstand in ihrem kleinen Finger hat als die beiden in ihren großen Schädeln«, meinte er und sah sie nachdenklich an.

 

»Und ich möchte eine Frage an Sie richten, Mr. Smith«, begann sie. »Würden Sie mir alles sagen, was Sie über den Fall wissen? Ich glaube, ich kann Ihnen dann helfen.«

 

Dick war wieder erstaunt, daß der Chefinspektor die Sache sofort ernst nahm und nicht darüber scherzte.

 

»Warum sollten Sie mir nicht helfen können?« erwiderte Smith. »Soll er es auch erfahren?« Er zeigte mit dem Kopf auf Dick.

 

Sie zögerte.

 

»Ja, wenn Sie nichts dagegen haben. Sonst können wir ihn auch solange fortschicken.«

 

Als der Chefinspektor kam, war sie bereits umgezogen gewesen, und sie schlug jetzt vor, in ihre Wohnung zu gehen.

 

Marys Wohnung lag am Ende eines langen Korridors. Die junge Schauspielerin ging voraus, blieb aber plötzlich bestürzt stehen. Die Tür stand weit offen!

 

Der Chefinspektor zeigte auf das Schloß, das aufgebrochen worden war und nur noch an einer Schraube hing. Er betrat als erster die Wohnung und wollte das Licht andrehen, hatte aber keinen Erfolg.

 

»Die Sicherung ist herausgeschraubt – wo ist denn das Schaltbrett?«

 

Sie zeigte es ihm, und nachdem er einige Zeit daran herumhantiert hatte, ging das Licht wieder an.

 

Er trat hinaus in den Korridor, der an der Außenwand endete. Dort war ein Notausgang, der zur Feuerleiter führte. Die Tür war nicht verschlossen; eine Eisenleiter führte dicht daran vorbei und verschwand im Dunkeln.

 

Smith klingelte dem Fahrstuhlführer, aber der konnte keine Auskunft geben. Es war Sonnabend, und die meisten Leute im Haus waren aufs Land hinausgefahren, um das Wochenende dort zu verbringen. Soviel er wußte, waren keine Fremden hereingekommen.

 

Surefoot ging in die Wohnung zurück. In Marys Schlafzimmer herrschte große Unordnung. Alle Schubladen waren herausgezogen, und der Inhalt lag auf dem Fußboden und dem Bett verstreut. Im Wohnzimmer sah es ähnlich aus. Der kleine Schreibtisch, der dort stand, war aufgebrochen.

 

Mary schaute ärgerlich auf das Durcheinander, atmete aber erleichtert auf, als sie das Etui mit ihren Schmucksachen unversehrt in einem Schreibtischfach vorfand. Sie hatten einen Wert von über vierhundert Pfund.

 

Smith hatte seine Untersuchung auch auf die Küche ausgedehnt. Selbst der Abfalleimer und der Kohlenkasten waren durchstöbert worden. Und hier fand er einen wertvollen Anhaltspunkt. Die kleine Küchenuhr war von der Anrichte heruntergefallen und um elf Uhr fünfzehn stehengeblieben.

 

»Der Einbrecher ist also vor nicht ganz einer Stunde hier gewesen. Und er scheint es sehr eilig gehabt zu haben. Nun sagen Sie mir einmal, Miss Lane, wer kennt Ihre Wohnung? Ich meine, wer ist schon hier gewesen? Ihre Freundinnen wollen wir ausschalten, aber nennen Sie mir die Herren.«

 

Sie hatte die wenigen Leute schnell aufgezählt.

 

»So, Mike Hennessey war auch hier? Hat er Sie oft besucht? Ich habe doch alle Räume gesehen?«

 

»Nein, im Badezimmer waren Sie noch nicht.«

 

Er öffnete die Tür des kleinen Raumes und drehte das Licht an. Der Einbrecher war auch hier gewesen; das Waschbecken war noch halb mit Wasser gefüllt.

 

»Hallo, was ist denn das?«

 

Smith kniff die Augen zusammen.

 

Etwas rechts von dem Waschbecken sah er auf den weißen Wandkacheln einen roten Flecken, der sich noch feucht anfühlte. Auf dem Fußboden war nichts zu entdecken, aber an der Ecke der weißen Badewanne bemerkte er wieder eine rote Spur.

 

Hinter der Tür befand sich ein Kleiderhaken, und auch hier fand er rote Flecken.

 

»Der Einbrecher ist zuerst hier hineingegangen«, sagte Smith langsam. »Er mußte die Hände waschen, und als er den Hahn aufdrehte, beruhte er mit dem Ärmel die Wand. Es war Blut an seinen Kleidern. Er zog den Rock aus und legte ihn zuerst über die Badewanne, dann änderte er seine Absicht und hängte ihn an den Türhaken.«

 

»Blut?« fragte Mary und starrte auf die roten Flecken. »Hat er sich vielleicht verletzt, als er einbrach?«

 

»Nein, dann hätten wir die Blutspuren schon in der Diele oder draußen auf dem Korridor gesehen. Übrigens ist die Glastür auf dem Korridor nicht aufgebrochen – ich möchte nur wissen, wie er mit dem Blut in Berührung gekommen ist.«

 

Er dachte eine Weile nach.

 

»Ich kann es nicht herausfinden«, sagte er dann.

 

Er ging in die Küche und betrachtete wieder die Uhr. Schon oft hatte er derartige Uhren gesehen, die plötzlich stehengeblieben waren; gewöhnlich war das jedoch von Leuten gemacht worden, um die Polizeibeamten irrezuführen. Aber als er die Uhr in der Hand hielt und sie untersuchte, wurden alle seine Zweifel beseitigt. Sie war nicht stehengeblieben, sie tickte noch; nur die Verbindung der Zeiger war zerstört, und das konnte kaum anders als durch einen Fall geschehen sein.

 

Mary war ihm gefolgt und beobachtete ihn, während er seine Nachforschungen anstellte.

 

»Wollen Sie mir nun alles sagen?« fragte sie ihn.

 

Surefoot Smith sah sie erstaunt an.

 

»Worüber?«

 

»Sie wollten mir doch alles mitteilen, was Sie über die Ermordung Mr. Lynes herausgebracht haben.«

 

Er setzte sich auf die Ecke des Küchentisches und erzählte ihr in kurzen Worten, was er wußte.

 

Dick war inzwischen auch eingetreten und hörte erstaunt zu. Bis dahin hatte er alle Beamten von Scotland Yard, besonders Smith, für unzugänglich und schweigsam gehalten, und nun sprach dieser Mann rückhaltlos zu Mary, die sich auf einen Stuhl gesetzt und die Hände gefaltet hatte.

 

»Sind Sie mitgekommen?« fragte Surefoot zum Schluß. Im gleichen Augenblick sah er das verblüffte Gesicht Dick Allenbys und schaute ihn unliebenswürdig an.

 

»Sie halten es wohl nicht für richtig, daß ich der jungen Dame das alles sage? Aber beruhigen Sie sich. Jede Frau hat ein feines Gefühl, das eigentlich die Detektive besitzen müßten. Es hängt weniger mit Vernunft und Wissenschaft als mit einem sicheren Instinkt zusammen.« Er wandte sich wieder an Mary. »Haben Sie irgendeine Vermutung über diesen Einbruch?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ich kann mir den Zusammenhang noch nicht vollkommen erklären, wenn ich auch weiß, warum meine Wohnung durchsucht wurde.«

 

Surefoot nickte.

 

»Sie können sich nicht vorstellen, wie die Leute auf den Gedanken kamen, sie könnten hier etwas finden?«

 

Dick unterbrach ihn.

 

»Entschuldigen Sie, aber ich verstehe nicht ganz, worüber Sie sprechen. Was soll denn hier zu finden gewesen sein?«

 

»Die Bankabrechnung«, erwiderte Mary, ohne aufzusehen.

 

Smith nickte, und ein breites Grinsen ging über sein Gesicht.

 

»Ja, deshalb wurde eingebrochen, aber ich weiß noch nicht recht, wie die Leute das wissen konnten«, fuhr Mary fort.

 

Surefoot lachte.

 

»Ich bin der schlaue Mann, der es ausposaunt hat«, erklärte er. »Ich habe heute nachmittag Mike Hennessey gegenüber erwähnt, daß Ihnen eine Bankabrechnung geschickt wurde. Ich verschwieg aber, daß ich das Papier in meiner Tasche hatte. Dadurch hätte ich ihm eine Menge Zeit und Mühe ersparen können. Es tut mir wirklich leid.«

 

Er fuhr sich nervös mit der Hand durchs Haar und rutschte dann vom Tisch herunter.

 

»Die Blutflecken machen mir zu schaffen, die sehen übel aus.«

 

Er ging aus dem Zimmer, und die beiden folgten ihm wieder ins Bad.

 

»Das war sein Ärmel, der an der Wand entlangstreifte. Man kann es deutlich sehen. Der Blutflecken hier kommt von seiner Hand, aber er ist zu sehr verwischt, als daß man noch einen Fingerabdruck davon nehmen könnte. Der Mann, der hier hereinkam, war nicht verletzt, und wahrscheinlich hatte er auch keine Ahnung, daß sein Rock blutig war.«

 

Surefoot nahm seine Taschenlampe heraus und untersuchte den Korridor. Aber dort konnte er nichts finden.

 

Erst bei dem Notausgang entdeckte er zwei neue Blutspuren, eine am Eisengeländer, die andere direkt unter dem Türfenster.

 

»Ich möchte einmal telefonieren«, sagte Smith.

 

Bald darauf war er mit Scotland Yard verbunden und gab Anordnung, alle Eisenbahnstationen zu überwachen und besonders scharfe Kontrollen in Dover, Harwich, Folkestone und Southampton durchzuführen.

 

»Ich glaube nicht, daß er versuchen wird, das Land zu verlassen. Es ist überhaupt merkwürdig, wie selten Verbrecher diesen Fluchtweg wählen.«

 

Der Chefinspektor bot Mary an, einen Beamten herzuschicken, der ihre Wohnungstür bewachen sollte. Sie lehnte es zunächst ab, aber er bestand darauf, und sie wußte, daß es keinen Zweck hatte, sich ihm zu widersetzen.

 

Auf dem Rückweg ging Smith zum Haus des alten Lyne, um noch einmal mit Binny zu sprechen. Der Butler lag schon längst im Bett, als der Detektiv läutete, und wollte zuerst nicht öffnen. Im Haus waren keine Polizeibeamten zurückgeblieben. Surefoot hatte alle Schriftstücke und Dokumente zum Scotland Yard bringen lassen, damit sie dort durchgesehen werden konnten. Das Schlaf- und das Arbeitszimmer des Ermordeten waren verriegelt worden.

 

Binny führte ihn in die Küche hinunter und legte einige neue Holzstücke auf das glimmende Feuer.

 

»Ich wußte zuerst nicht, wer so spät noch klingelte. Die letzten Erlebnisse haben mich nervös gemacht, und ich bekam sofort Herzklopfen«, entschuldigte er sich, als er den Chefinspektor in den kleinen Raum führte.

 

»Mr. Smith«, fragte er dann ängstlich, »hat mir der alte Lyne in seinem Testament etwas vermacht? Ich habe gehört, daß Sie es gefunden haben, und ich wäre nicht sehr überrascht; wenn er es nicht getan hätte. Er sorgte sich wenig um seine Dienstboten. Mir hat er nicht viel Angenehmes gesagt, im Gegenteil, aber man kann nicht wissen –«

 

»Ich habe das Schriftstück noch nicht ganz durchgelesen«, entgegnete Smith, »aber ich kann mich nicht besinnen, Ihren Namen gesehen zu haben.«

 

Binny seufzte.

 

»Es war der Traum meines Lebens, daß mir jemand mal ein kleines Vermögen vermachen würde«, erklärte er dramatisch. »Ich bin stets ein guter Diener gewesen und habe mich in jeder Weise um ihn gekümmert – ich habe ihm sein Essen gekocht, habe das Bett gemacht, habe alles für ihn getan…«

 

Smith nahm eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche und schob sie über den Tisch. Binny seufzte, nahm sich eine und steckte sie an.

 

»Ich glaube, in einer Weise können Sie mir helfen«, meinte der Detektiv. »Erinnern Sie sich noch an Mr. Morans Besuch?«

 

Binny nickte.

 

»Wissen Sie, warum er den alten Lyne besuchte?«

 

Der Butler zögerte einen Augenblick.

 

»Genau weiß ich das nicht, aber vermutlich hatte sein Besuch mit der Bankabrechnung zu tun. Mr. Lyne war ein merkwürdiger alter Mann. Er wollte eigentlich nie jemanden empfangen, und wenn es trotzdem geschah, war er unhöflich und grob zu den Leuten.«

 

»Verhielt er sich gegen Mr. Moran auch so?«

 

»Ich möchte nicht gern aus der Schule plaudern, Mr. Smith, aber ich glaube, er hat ihn ziemlich angefaucht.«

 

»Ach, haben Sie an der Tür gelauscht?«

 

Binny lächelte und schüttelte den Kopf.

 

»In dem Fall brauchte ich nicht zu lauschen.« Er zeigte auf die Decke. »Das Arbeitszimmer liegt hier drüber. Wenn sich Leute dort in gewöhnlicher Weise unterhalten, kann man hier nichts hören, aber Mr. Lyne hat ziemlich laut gesprochen, ja sogar gebrüllt. Und das war natürlich sehr gut zu verstehen.«

 

»Kennen Sie Moran?«

 

Binny nickte.

 

»Kennen Sie ihn sehr gut?«

 

»Ja, ich war doch sein Diener.«

 

»Ach ja, ich besinne mich darauf.«

 

Der Chefinspektor biß nachdenklich auf seine Unterlippe.

 

»Hat er mit Ihnen gesprochen, nachdem er aus dem Zimmer des alten Lyne kam?«

 

»Ich möchte nicht gern jemand in Ungelegenheiten bringen –«, erwiderte Binny zögernd.

 

»Es ist wirklich schrecklich mit Ihnen, daß Sie nicht anständig antworten können! Sagen Sie doch ja oder nein. Haben Sie ihn nachher gesehen?«

 

»Ja. Ich ging gerade zur Haustür und nahm einen Brief in Empfang, als Moran die Treppe herunterkam. Mr. Smith, ich will Ihnen alles erzählen. Mr. Moran hat mir etwas Sonderbares gesagt. Er bat mich, darüber zu schweigen, daß er hier im Hause war, und gab mir zwanzig Schilling. So, nun wissen Sie alles, was ich weiß. Ich wunderte mich damals darüber, aber Sie können mir glauben, er war nicht der erste, der mich darum ersucht hat.«

 

»Das kann ich verstehen.«

 

Auf dem kleinen Tisch in der Nähe der Wand lag ein Päckchen. Surefoot hatte einen guten Geruchssinn und wußte sofort, daß es Fensterkitt enthielt. Er zeigte darauf.

 

»Wozu haben Sie das gebraucht?«

 

Binny sah ihn verwundert an.

 

»Meinen Sie den Fensterkitt?«

 

»Haben Sie denn eine Scheibe eingesetzt?«

 

»Nein, das hat der Glaser getan, aber ich habe heute morgen das Kellerfenster zerbrochen und wollte nicht gern jemand rufen. Deshalb habe ich es selbst repariert.«

 

»Merkwürdig, daß in diesem Haus immer Fenster zerbrochen werden! Warum haben Sie der Polizei nicht gemeldet, daß Leute versuchten, in das Haus einzubrechen? Ach so, ich weiß schon, Mr. Lyne wollte es nicht haben.«

 

Als der Chefinspektor wieder ins Freie trat, untersuchte er das Grundstück genauer, als er es jemals bei Tageslicht getan hatte. Er ging zur Rückseite des Hauses und dann die kleine hintere Straße entlang. Dabei entdeckte er, wie leicht es für einen Einbrecher war, in das Gebäude zu kommen. Die hintere Front war nicht wie bei den meisten Nachbarhäusern durch einen Garagenbau geschützt, sondern ohne weiteres für jedermann zugänglich, der über die Mauer stieg oder die Tür zum Hof mit einem Nachschlüssel öffnete.

 

Surefoot Smith runzelte die Stirn. Der Einbruch mußte in derselben Nacht verübt worden sein, in der Tickler ermordet wurde. Bestand irgendein Zusammenhang zwischen diesen beiden Ereignissen?

 

Er ging zurück zum Scotland Yard, um die eingelaufenen Berichte entgegenzunehmen, und fand zu seiner Enttäuschung, daß alle Nachforschungen ergebnislos verlaufen waren. Das Polizeipräsidium in Berlin konnte keine Nachrichten über Moran geben, und es waren auch keinerlei Nachrichten über Dornford eingelaufen.

 

Smith öffnete den Safe, der in der Ecke seines Büros stand, nahm den Glacehandschuh mit dem Schlüssel heraus und legte beides auf den Tisch. Der Schlüssel war ihm ein Rätsel. Warum mochte man ihn nur so mühsam und doch so nachlässig mit Silberbronze angepinselt haben?

 

Surefoot zog einen großen, frischen Bogen Löschpapier aus einer Schublade seines Schreibtisches, um sich in gewohnter Weise Klarheit über den Stand der Untersuchungen zu verschaffen.

 

Tickler war ermordet worden, ebenso der alte Lyne, beide vermutlich von demselben Täter. Obwohl Smith keinen Anhaltspunkt dafür hatte, verband er die beiden Morde miteinander. Leo Moran war allem Anschein nach geflohen, weil er ein schlechtes Gewissen hatte. Der Chefinspektor konnte ohne weiteres Anklage wegen Betrugs und Unterschlagung gegen ihn erheben. Das Verschwinden des Bankdirektors traf zeitlich zusammen erstens mit dem Tod Lynes, zweitens mit der Entdeckung, daß Lynes Bankkonto schwer geschädigt worden war.

 

War Moran überhaupt in Berlin? Irgend jemand hatte doch hier in London versucht, die gefälschte Bankabrechnung zurückzubekommen. Der Betreffende hatte sich zu diesem Zweck die Mühe gemacht, in Mary Lanes Wohnung einzubrechen. Wer mochte es nur gewesen sein? Einer wußte jedenfalls, oder er glaubte zu wissen, daß sich diese Bankabrechnung in Marys Wohnung befand – Mike Hennessey.

 

Das Betragen dieses Mannes am vergangenen Nachmittag war sehr auffällig gewesen. Bestimmt wußte er, wer Washington Wirth in Wirklichkeit war, und dieser Washington Wirth war ein Mörder, wahrscheinlich sogar ein Doppelmörder.

 

Der Chefinspektor schrieb alle diese Schlußfolgerungen auf, strich etwas aus, wenn er eine Verbesserung fand, notierte in seiner merkwürdigen Stenographie, was er darüber dachte, strich dann alles wieder aus und begann von neuem. Er machte einen kleinen Kreis und schrieb »Mary« hinein; drei weitere Kreise bezeichneten Dick Allenby, Dornford und Moran. An den unteren Rand der Seite malte er einen fünften für Lyne. Wie waren diese Personen nun miteinander verbunden, und welche Beziehungen bestanden zwischen den vier oberen und dem unteren?

 

Schließlich zeichnete er dazwischen noch einen großen Kreis, der Mike Hennessey darstellen sollte. Mike stand in Verbindung mit Washington Wirth, mit Mary Lane und wahrscheinlich auch mit Moran. Die letzte Schlußfolgerung strich er aus und fing wieder von vorne an.

 

Nach einer Weile wurde er müde, legte den Bleistift nieder und lehnte sich mit einem Seufzer in seinen Sessel zurück. Er wollte gerade den Schlüssel nehmen, als plötzlich das elektrische Licht ausging.

 

Smith war nicht überrascht, er hatte das erwartet. Die Birne hatte in den letzten Tagen schon trübe gebrannt und mußte ersetzt werden.

 

Er erhob sich, um zu klingeln, blieb aber plötzlich wie gebannt stehen. In der Dunkelheit leuchtete der Schlüssel in grün phosphoreszierendem Licht auf. Griff und Bart waren genau zu unterscheiden. Nun verstand Smith. Der Schlüssel war nicht mit Bronze, sondern mit Leuchtfarbe angestrichen.

 

Surefoot ließ eine neue Birne einschrauben und betrachtete nun den Schlüssel mit großem Interesse. Dann machte er wieder Notizen auf dem schon reichlich vollgeschriebenen Löschblatt. Die Sache klärte sich jetzt ein wenig.

 

Nach einer Weile klingelte das Telefon. Smith nahm den Hörer ab, ging dann zur Tür und rief den diensttuenden Beamten. »Schicken Sie Mr. Allenby in mein Büro.«

 

Er sah auf die Uhr, die zwanzig Minuten nach zwölf zeigte, und wunderte sich, warum Dick zu dieser Zeit noch nach Scotland Yard kam. Vielleicht war seine Luftpistole wiedergefunden worden.

 

»Ich war gespannt, ob ich Sie hier treffen würde«, sagte Dick, als er eintrat und die Tür hinter sich schloß. »Ich hätte telefoniert, aber ich fürchtete, die Zentrale würde mich nicht mit Ihnen verbinden.«

 

»Was gibt es denn?« fragte Smith neugierig.

 

Dick lächelte.

 

»Nichts Besonderes, nur bin ich – nein, Mary ist von Hennesseys Haushälterin angerufen worden.«

 

»Ist er nicht heimgekommen?«

 

»Sie erwartete ihn nicht zu Hause. Sie hat vom Waterloo-Bahnhof aus angeläutet, wo sie seit neun Uhr mit Mikes Koffern steht. Er hatte die Absicht, nach Le Havre zu fahren, und sie sollte ihm das Gepäck an den Zug bringen. Bis Mitternacht hat sie gewartet, dann wurde es ihr zu lange, und sie rief verschiedene Bekannte Mikes an, darunter auch Mary. Glücklicherweise war ich noch bei ihr, als der Anruf kam.«

 

»Sind Sie zu Mikes Wohnung gegangen?«

 

»Nein, das war nicht notwendig. Er hatte ein möbliertes Zimmer in der Doughty Street, bezahlte die Miete und gab die Wohnung heute abend auf. Allem Anschein nach wollte er in größter Eile abreisen, er hat erst am Nachmittag angefangen zu packen.«

 

»Nachdem er mit mir gesprochen hat.« Surefoot strich über sein Kinn. »Das ist allerdings merkwürdig. Ich kann wohl verstehen, daß er fort wollte – aber er wäre nicht weiter als bis Southampton gekommen. Ich hatte die Häfen bereits verständigt.«

 

»Wollten Sie ihn verhaften?« fragte Dick erstaunt.

 

»Das ist gar nicht notwendig«, erwiderte Surefoot müde. »Man braucht nicht alle Leute gleich zu verhaften, die man nicht aus England hinauslassen will. Ihre Pässe sind eben nicht in Ordnung – entweder steht das Visum auf der falschen Seite, oder die Stempelmarke ist verkehrt aufgeklebt und so weiter. Es gibt die verschiedensten Wege, Leute, die man nicht außer Land lassen will, an der Grenze anzuhalten.«

 

Es klopfte an der Tür, und ein Inspektor trat ein.

 

»Die Polizei von Buckinghamshire meldet eben einen Fall, der nach Ihrem Herzen sein wird, Surefoot. Sieht ganz nach Mord aus, wie ihn die amerikanischen Banden verüben.«

 

Surefoot sprang sofort auf.

 

»Was, ein amerikanischer Bandenmord? Wissen Sie etwas von den näheren Umständen?«

 

»Jemand hat den armen Teufel auf eine Autofahrt mitgenommen, ihm aus nächster Nähe eine Kugel durch den Kopf gejagt und ihn dann während der Fahrt auf den Gehsteig geworfen.«

 

»Wo hat sich das abgespielt?«

 

»In Colnbrook, auf dieser Seite von Slough. Ein großes Auto kam vorüber. Die Insassen sahen im Licht der Scheinwerfer den Mann auf dem Gehsteig liegen und meldeten es der Polizei. Der Mann konnte kaum eine halbe Stunde tot sein, als die Beamten an Ort und Stelle kamen.«

 

»Wie sieht er denn aus?«

 

»Ein ziemlich großer Mann von etwa fünfundvierzig Jahren, trägt eine grüne Krawatte –«

 

»Donnerwetter, Mike Hennessey hat heute nachmittag auch eine grüne Krawatte getragen –«

 

Kapitel 17

 

17

 

Mike Hennessey sah ruhig und würdevoll aus, als er auf der Bahre lag. Surefoot Smith trat aus dem kleinen, düsteren Gebäude und wartete, bis der Polizeisergeant die Tür abgeschlossen hatte. Dick war auf der Wache geblieben. Er hatte genug Schrecken für eine Nacht erlebt und Smith deshalb nicht zum Leichenschauhaus begleitet.

 

»Ja, es ist tatsächlich Mike«, sagte Surefoot. »Der Mord wurde ungefähr um zehn Uhr fünfzehn begangen. Die Zeit wird durch die Insassen des großen Wagens bestätigt, die Hennessey liegen sahen. Ein Motorradfahrer, der in dem nahen Dorf wohnt, berichtete der Polizei, er habe kurz vorher eine kleine Limousine an der Stelle warten sehen, wo Mike später gefunden wurde. Der große Wagen hat später kein anderes Auto auf der Landstraße überholt. Ich nehme daher an, daß die Limousine umgekehrt ist, nachdem der Tote auf die Straße geworfen war. Der Mörder war auch der Mann, der in Miss Lanes Wohnung eingebrochen ist«, fuhr Smith ernst fort. »Sein Rock muß mit Blut befleckt gewesen sein, ohne daß er es wußte. Er hat es erst entdeckt, als er das Bad durchsuchte. Dabei kam er mit dem Ärmel an die Wand, zog dann den Rock aus und wusch sich die Hände.«

 

»Aber irgendein Garagenbesitzer muß doch wissen, in welchem Auto die Tat verübt wurde, wenn wirklich Blut geflossen ist. Das Innere ist sicher vollständig beschmutzt«, meinte Dick.

 

Surefoot nickte.

 

»O ja, den Wagen werden wir schon bekommen. Es wurden in der Nacht drei Autos gestohlen, auf die die Beschreibung ungefähr paßt. Ich habe mich mit Scotland Yard verbinden lassen und erfahren, daß man ein leeres Auto in Sussex Gardens gefunden hat.«

 

Ein schneller Polizeiwagen brachte die beiden nach Paddington, und die Vermutung des Chefinspektors bestätigte sich. Es war das Auto, das der Täter benutzt hatte. Man sah deutlich, daß jemand darin ermordet worden war. Aber weitere Anhaltspunkte ergaben sich nicht.

 

»Wir wollen das Steuer nach Fingerabdrücken absuchen, aber Mr. Washington Wirth hat sicher Handschuhe getragen.«

 

»Dadurch ist Moran doch nun außer Verdacht?«

 

Surefoot lächelte.

 

»Wo ist Moran eigentlich? In Deutschland – ebensogut mag er auch in London sein. Man kann ja heutzutage Deutschland mit dem Flugzeug in wenigen Stunden erreichen und noch schneller wieder zurückkehren. Außerdem steht noch gar nicht sicher fest, daß Moran tatsächlich mit jener Maschine abgeflogen ist.«

 

Dick Allenby war bestürzt und um Mary Lanes Sicherheit besorgt. Er deutete das an, und Surefoot Smith gab ihm recht.

 

»Ich halte es auch nicht für gut, daß sie in ihrer Wohnung bleibt. Vielleicht besitzt sie noch andere Dinge, die mit dem Verbrechen in Zusammenhang stehen, und da sie sich jetzt mit der Aufklärung beschäftigt, wird sie unserem Freund am Ende gefährlich.«

 

Dick begleitete Smith zu der Polizeiwache, wohin der Wagen gebracht worden war. Sie fanden dort die Beamten bereits an der Arbeit. Die üblichen Untersuchungen wurden angestellt; Fotografen machten ihre Aufnahmen, und Automechaniker untersuchten den Kilometerzähler. Der Eigentümer, den man sofort aufgefunden und zur Polizei gebracht hatte, war ein gewissenhafter Mann. Er wußte, wieviel Kilometer gefahren waren, bevor man ihm den Wagen stahl, und diese Angabe bedeutete eine große Hilfe.

 

Dick Allenby trat näher heran, als einer der Leute gerade ein Kissen vom Führersitz nahm.

 

»Hallo!« sagte er und sah über die Schulter des Mannes. Er hatte ein silbernes Zigarettenetui entdeckt, das gleich darauf Surefoot überreicht wurde.

 

Es war leer, trug im Innern aber eine Inschrift, die gut zu lesen war:

 

»Mr. Leo Moran von seinen Kollegen, Mai 1920.«

 

Surefoot betrachtete den kleinen Behälter von allen Seiten. An manchen Stellen war das Etui verbeult und blankgescheuert. Entweder war es häufig benutzt oder kürzlich gereinigt worden.

 

Surefoot hatte ein Stück Papier genommen und hielt es damit fest, um keine Fingerabdrücke zu machen. Schließlich wickelte er es vorsichtig darin ein.

 

»Vielleicht können wir einen Fingerabdruck darauf finden«, meinte er. »Aber ich glaube es kaum. Merkwürdig, daß wir das Ding unter dem Sitzkissen fanden.«

 

»Es ist ja möglich, daß er es unter das Kissen gesteckt und später vergessen hat.«

 

Surefoot schüttelte den Kopf.

 

»Es ist nicht sein Wagen. Das Auto wurde doch gestohlen. Mike Hennessey hat vermutlich während der Fahrt oder kurz vorher dem Mörder von der Bankabrechnung erzählt, die sich bei Miss Lane befinden sollte. Der Mann hat Hennessey dann zu sich in den Wagen genommen und ihn erledigt. Übrigens glaubte Mike, sein Begleiter würde nach Southampton fahren, um seinen Dampfer zu erreichen. Das Auto hat an einer Tankstation am Ende der Great West Road gehalten. Hennessey stieg aus und telefonierte von dort aus mit seiner Wohnung, wahrscheinlich mit seiner Haushälterin, daß sie ihm das Gepäck auf den Bahnhof bringen sollte. Der Mörder hat sich dann Hennesseys so schnell wie möglich entledigt, ist in die Stadt zurückgefahren und hat Mary Lanes Wohnung durchsucht. Allem Anschein nach ist er früher schon dort gewesen –«

 

»Dann könnte es tatsächlich Moran gewesen sein«, meinte Dick.

 

Surefoot zögerte.

 

»Das ist nicht vollkommen bewiesen. Auf jeden Fall hat er aber nach der Bankabrechnung gesucht. Außerdem hat er früher in Amerika gelebt. Sind Sie mit meinen Schlußfolgerungen zufrieden?«

 

»Woher wissen Sie das nun schon wieder?«

 

»Es ist ein typischer Bandenmord, wie sie in Amerika zu Dutzenden vorkommen.«

 

Smith fuhr mit Dick zurück und war auffallend gesprächig.

 

»Hennessey war von Anfang an in die Sache verwickelt. Er wußte genau, wer Washington Wirth war; er wußte, daß Wirth Schecks fälschte, und er zog seinen Vorteil daraus, indem er den Mann erpreßte. Ich werde übrigens Miss Lane den Schlüssel und den Scheck zeigen.«

 

Dick hörte zum erstenmal etwas von dem Schlüssel.

 

Als Surefoot Smith zum Scotland Yard kam, lagen alle Sachen, die der Ermordete bei sich gehabt hatte, auf einem Tisch: ein Notizbuch, einige Papiere, ungefähr zwanzig Pfund in bar, eine Uhr mit Kette, ein Schlüsselring. Mike hatte aber sicher nicht die Absicht gehabt, mit einer so geringen Barschaft auf eine weite Reise zu gehen. Surefoot vermutete deshalb, daß der Mörder sich den größeren Teil des Geldes angeeignet hatte.

 

Unter den Papieren befand sich eine aus einem Kursbuch gerissene Seite, auf der mit Bleistift verschiedene Züge angestrichen waren. Daraus ergab sich, daß Hennessey nach Wien hatte fahren wollen.

 

Das nächste Blatt, das der Chefinspektor in die Hand nahm, war interessanter. Es standen viele Zahlen darauf. Surefoot hatte ein gutes Gedächtnis und erkannte sofort die Zahlen, die in der Bankaufstellung eine Rolle gespielt hatten. Das Papier war sehr abgegriffen und mußte häufig benutzt worden sein.

 

Smith war erstaunt. Warum hatte sich Mike die Mühe genommen, die Summen der Schecks zu notieren und aufzuheben? Offenbar wußte er etwas von der Bankabrechnung; vielleicht hatte er sie selbst aufgestellt. Wenn sie aber eine Fälschung war, brauchte er doch dieses Stück Papier mit den Zahlen nicht aufzubewahren. Entweder hatte er die Angaben im Moment erfunden, oder er hatte irgendein Buch, in dem er die Fälschung und die wirkliche Summe, die Lynes Bankguthaben ausmachen mußte, eintrug.

 

In der Frühe des nächsten Morgens telefonierte er mit Mary Lane, die eine unruhige Nacht verbracht hatte.

 

Die Nachricht, daß ein Polizeibeamter auf dem Korridor vor ihrer Wohnung, ein anderer unten an der Feuerleiter wachte und ein dritter vor dem Haus auf- und abpatroullierte, munterte sie auch nicht auf.

 

»Kommen Sie bitte zu mir«, sagte sie und atmete erleichtert auf, als sie hörte, daß er sie sofort aufsuchen wollte. Sie brauchte dringend seinen Rat.

 

Surefoot hatte am Morgen keine weiteren Neuigkeiten erfahren. Eine Durchsuchung von Hennesseys Wohnung war ohne Ergebnis geblieben. Papiere und Dokumente hatte man nicht gefunden, und ein altes Bankbuch sagte ihm auch nicht mehr, als daß Hennessey seit drei Jahren von der Hand in den Mund gelebt hatte.

 

Er war nicht gerade in der besten Stimmung, als er Marys Wohnung betrat.

 

»Es sieht tatsächlich so aus, als ob wir moderne wissenschaftliche Methoden anwenden müßten, um weiterzukommen«, meinte er düster, als er ein Päckchen aus der Tasche zog und auf den Tisch legte. »Vielleicht können Sie etwas daraus machen?«

 

Er öffnete den kleinen Lederbeutel und nahm den Schlüssel heraus, dann zog er den Scheck aus seiner Brieftasche und legte ihn auf den Tisch.

 

Sie prüfte die Bleistiftnotiz auf der Rückseite und nickte.

 

»Das ist Mr. Lynes Handschrift. Ich sagte Ihnen schon, daß ich als junges Mädchen in seinem Haus lebte. Ich habe sogar eine Zeitlang seinen Haushalt geführt. Aber das Zusammenleben mit ihm war wirklich nicht angenehm.«

 

»Warum?«

 

Sie zögerte.

 

»Er hatte zum Beispiel seit vierzig Jahren dieselben Kaufleute, bei denen er seine Waren bezog. Er wechselte sie nicht, und trotzdem hatte er dauernd mit ihnen Auseinandersetzungen wegen der Rechnungen.«

 

Sie nahm den Schlüssel in die Hand und betrachtete ihn.

 

»Halten Sie es für Selbstüberhebung, wenn ich Ihnen sage, daß ich meiner Meinung nach den Mörder von Mr. Lyne finden kann?«

 

»Ich würde es für sehr unklug halten, wenn Sie es auf eigene Faust versuchen wollten«, erklärte Smith offen. »Der Mörder ist ein Mensch, mit dem man nicht spaßen kann.«

 

»Das weiß ich wohl. Aber lassen Sie mir eine Woche Zeit für meine Nachforschungen.«

 

»Ist es nicht besser, Sie sagen mir jetzt gleich, wen Sie verdächtigen?«

 

»Nein, dann mache ich mich vielleicht lächerlich, und das möchte ich nicht.«

 

Smith biß sich auf die Unterlippe.

 

»Sie können die Sachen nicht behalten –«, begann er.

 

»Ich brauche sie auch nicht«, entgegnete sie schnell und entschlossen. »Sie meinen doch den Scheck und den Schlüssel? Wäre es aber zuviel verlangt, wenn ich Sie um ein Duplikat des Schlüssels bäte? Sobald ich das dazu passende Schlüsselloch finde, gebe ich Ihnen Bescheid.«

 

Er sah sie erstaunt an.

 

»Glauben Sie denn, Sie finden das Schloß?«

 

Sie nickte.

 

Surefoot seufzte:

 

»Solche romantischen Geschichten machen mich krank. Aber ich will Ihren Wunsch gern erfüllen.«

 

Zwei Tage später erhielt Mary Lane einen nagelneuen Schlüssel und begann ihre Nachforschungen. Sie ahnte nicht, daß sie auf Surefoots Anordnung hin Tag und Nacht von drei Detektiven bewacht wurde.

 

Am dritten Tag nach der Ermordung Mike Hennesseys stiegen plötzlich die Aktien von Cassari-Petroleum, die in den letzten fünf Jahren zwischen dreiundzwanzig und siebenundzwanzig Schilling geschwankt hatten. Der Nennwert betrug vierzig Pfund pro Aktie. Das Ölfeld lag in Kleinasien, und man hatte immer genug Petroleum gefunden, so daß die Gesellschaft nicht zusammenbrach; aber es war nicht genug, um den vollen Wert der Aktien zu garantieren.

 

Mary las die große Überschrift »Sensationelle Hausse in Cassari-Petroleum« im Handelsteil der Zeitung und rief Mr. Smith an.

 

»Also Ihrer Meinung nach waren das die Aktien, die Sie damals auf Moran übertrugen?« fragte er interessiert. »Wie hoch wurden sie gestern notiert? Ich habe die Zeitung nicht gelesen.«

 

Sie waren über Nacht von fünfundzwanzig auf fünfundneunzig Schilling gestiegen, und als Surefoot Smith einen Geschäftsmann in der City anrief, hörte er zu seinem Erstaunen, daß sie bereits auf dreißig Pfund standen und jede Minute höher kletterten. Um den Grund für diese plötzliche Hausse zu erfahren, suchte er einen Bekannten in der Old Broad Street auf, der ihm gewöhnlich über finanzielle Angelegenheiten Informationen gab.

 

Etwa vor drei Monaten hatte die Gesellschaft eine neue Petroleumquelle angebohrt, und es wurden dauernd neue Bohrtürme errichtet. Allem Anschein nach hatte man unerwartet große Ölmengen gefunden, diese Nachricht aber zunächst unterdrückt, bis die Gesellschaft heimlich alle im freien Handel befindlichen Aktien aufgekauft hatte.

 

»Sie werden wahrscheinlich auf hundert Pfund steigen, und wenn es Ihnen möglich ist, gebe ich Ihnen nur den Rat, auch Cassari zu kaufen. Sie machen Geld damit.«

 

»Wer steht denn hinter dieser Hausse?« fragte der Chefinspektor.

 

Der Börsenmann schüttelte den Kopf.

 

»Wenn ich versuchen wollte, die Namen auszusprechen, würde ich mir die Zunge abbrechen. Es sind meistens Türken – Effendis, Paschas und so weiter. Sie können die Namen finden, wenn Sie im Börsenjahrbuch nachschlagen. Es sind solide, zuverlässige Geschäftsleute. Fast alle Millionäre, so sicher wie die Bank von England. Diese Hausse ist kein Scheinmanöver. Die Gesellschaft hat in London kein besonderes Büro. Jolman & Joyce sind ihre Agenten.«

 

Surefoot sprach bei dieser Firma vor. Das Haus war von vielen Leuten belagert, aber er sandte seine Karte hinein und wurde auch sofort von Joyce empfangen.

 

»Ich kann Ihnen kaum mehr berichten, als auch schon in der Zeitung steht, Mr. Smith. Es sind wenig Aktien auf dem Markt. Der einzige, der in London eine große Menge davon besitzt, ist ein gewisser – Leo Moran.«

 

Kapitel 12

 

12

 

Mary Lane atmete auf, als sie sich verabschieden konnte.

 

Sie wohnte in einem großen Häuserblock in der Marylebone Road und verfügte über drei kleine Zimmer und eine noch kleinere Küche. Aber hier fühlte sie sich zu Hause und unabhängig. Nur selten empfing sie Gäste und kaum Herrenbesuch, und auf keinen Fall lud sie für spät abends Besuch ein. Daher war sie etwas bestürzt, als ihr der Portier durch das Telefon sagte, daß eben ein Herr zu ihrer Wohnung hinaufgefahren wäre.

 

»Nein, ich habe ihn noch nicht gesehen«, erklärte der Mann auf ihre Frage. »Mr. Allenby war es nicht, aber er sagte, et kenne Sie.«

 

Zu ihrem Erstaunen klingelte gleich darauf Leo Moran an ihrer Tür.

 

»Es ist unverzeihlich von mir, daß ich Sie so spät noch störe, Miss Lane, aber es handelt sich für mich um eine äußerst wichtige und dringende Angelegenheit. Ich hoffe, Sie sind mir nicht böse. Ihr Mädchen schläft schon?«

 

Mary lächelte.

 

»Ich habe kein Mädchen.«

 

Die Situation war etwas unangenehm. Sie konnte ihn kaum in die Wohnung bitten, und noch weniger passend fand sie es, den Portier heraufzurufen. Schließlich ließ sie ihn eintreten, machte aber die Wohnungstür nicht zu.

 

Moran war nervös. Seine Stimme klang heiser, als er sprach, und die Hand, mit der er ein großes Kuvert aus der Tasche zog, zitterte.

 

»Ich hätte Sie nicht belästigt, wenn ich nicht bei meiner Rückkehr nach Hause einen sehr beunruhigenden Brief von meinem Vertreter vorgefunden hätte.«

 

Mary kannte Moran zwar, hatte ihn aber niemals als einen Freund betrachtet. Im Gegenteil, sie fühlte sich stets unangenehm berührt, wenn er uneingeladen in ihre Theatergarderobe trat. Da sie aber ihre Rente von dem alten Hervey Lyne bekam, war es selbstverständlich, daß Leo Moran als dessen Bankier ihr das Geld übergab.

 

»Ich will Ihnen gegenüber ganz offen sein, Miss Lane«, sagte er schnell und aufgeregt. »Es ist eine rein persönliche Angelegenheit, für die ich verantwortlich bin. Der einzige, der mich aus dieser peinlichen Lage befreien könnte, wäre Ihr Vormund, Mr. Hervey Lyne. Aber ich möchte im Augenblick nicht an ihn herantreten.«

 

Sie war aufs höchste erstaunt. Bisher hatte sie Mr. Moran nur als einen sehr ruhigen, beherrschten Mann gekannt, den nichts aus der Fassung bringen konnte. Nun stand er plötzlich vollständig unsicher vor ihr und stotterte wie ein Schuljunge.

 

»Wenn ich Ihnen helfen kann, will ich es gern tun«, erwiderte sie und wartete gespannt auf das, was er ihr zu sagen hatte.

 

»Es handelt sich um einige Aktien, die ich für einen Bankkunden kaufte. Mr. Lyne unterzeichnete die Oberweisung und die Ankaufsdokumente, aber der Käufer hat entdeckt, daß Sie auch noch Ihre Unterschrift geben müssen. Die Aktien machen nämlich einen Teil des Vermögens aus, das Mr. Lyne als Vormund für Sie verwaltet. Ich möchte noch hinzufügen«, erklärte er hastig, »daß der Preis, um den das Aktienpaket verkauft wurde, nahezu dem Einkaufspreis entspricht.«

 

»Ach, Sie wollen nur meine Unterschrift? Ich dachte, es wäre etwas viel Wichtigeres«, entgegnete sie erleichtert.

 

Er legte die Urkunde auf den Tisch, und sie sah, daß es sich so verhielt, wie er gesagt hatte. Sie hatte derartige Dokumente‘ schon öfters in der Hand gehabt. Er zeigte mit dem Finger auf die Stelle, wo sie unterschreiben mußte. Dicht darüber stand die Unterschrift des alten Lyne.

 

»So, das wäre erledigt.«

 

Er atmete auf.

 

»Sie werden mich für einen sehr ungezogenen Menschen halten, weil ich Sie zu dieser späten Stunde gestört habe. Aber ich kann Ihnen nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin, daß Sie mich noch empfangen haben. Ich habe nämlich Geld ausgezahlt und Werte aus der Hand gegeben, ohne die nötige Vollmacht zu besitzen. In dem Fall bin ich persönlich für die Summe haftbar. Wenn der alte Lyne zum Beispiel morgen sterben sollte, würde die Übertragung der Aktien einfach wertlos sein.«

 

Sie sah ihn merkwürdig an. »Aber der alte Lyne wird doch wahrscheinlich nicht morgen sterben?«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Ich weiß es nicht. Er ist ein alter Mann, und es ist vieles möglich.«

 

Plötzlich reichte er ihr die Hand.

 

»Gute Nacht – und nochmals herzlichen Dank.«

 

Sie schloß die Tür hinter ihm, ging in ihre kleine Küche und kochte sich eine Tasse Schokolade. Immer noch etwas verwirrt setzte sie sich auf den Küchentisch; während sie trank, überlegt? sie sich, was dieser mitternächtliche Besuch eigentlich bedeutete. Bei der Aufregung und Hast, die Moran gezeigt hatte, hätte man denken können, der alte Mann läge in den letzten Zügen. Aber Lyne war vollkommen frisch und munter gewesen, als Mary ihn das letzte Mal gesehen hatte.

 

*

 

Am nächsten Morgen rief Dick Allenby an und erzählte ihr von seinem Verlust. Sie konnte es zuerst nicht glauben und dachte, daß er einen Scherz mache. Erst als er von der Untersuchung des Chefinspektors Smith berichtete, kam ihr die volle Wahrheit zum Bewußtsein.

 

»Aber das ist ja schrecklich!«

 

»Surefoot hielt es für einen Akt der Vorsehung. Moran hat sich nicht darüber geäußert.«

 

»War er denn bei dir?« fragte sie schnell.

 

»Ja. Warum fragst du?«

 

Sie zögerte. Moran hatte offenbar gewünscht, daß sein Besuch bei ihr als eine Privatangelegenheit aufgefaßt werden sollte, und sie wollte ihn nicht verraten.

 

»Ach, nur so«, erwiderte sie. »Komm doch bitte zu mir und erzähle mir alles.«

 

Eine halbe Stunde später war er bei ihr, und sie wunderte sich, daß die Sache so wenig Eindruck auf ihn gemacht hatte und daß er in so guter Stimmung war.

 

»Es ist wirklich nicht so wichtig, wie es vielleicht aussieht. Wenn die Luftpistole gestohlen worden sein sollte, um mir das Patent zu entwenden, so wird der eventuelle Käufer schlau genug sein, sich zuerst bei den verschiedenen Patentämtern zu vergewissern, ob die Sache nicht bereits angemeldet ist. Und gerade heute morgen habe ich aus Deutschland die Mitteilung bekommen, daß meine Erfindung auch drüben eingetragen worden ist.«

 

Er wurde durch ein Klopfen an der äußeren Tür unterbrochen und öffnete einem zweiten Besucher. Mike Hennessey hatte bereits telefonisch um Erlaubnis gebeten, Mary schon so frühzeitig besuchen zu dürfen.

 

Mike wurde etwas verlegen, als er Dick Allenby vorfand. Er war im allgemeinen ein gutmütiger Charakter und großzügig, von Natur aus etwas träge und langsam in seinen Bewegungen. Besonders gesund sah er nie aus, aber an diesem Morgen war er auffallend blaß. Mary machte auch eine Bemerkung darüber.

 

Mike schüttelte den Kopf.

 

»Nein, krank bin ich nicht, ich habe nur schlecht geschlafen. Bitte, gehen Sie nicht, Mr. Allenby. Ich habe nichts Besonderes mit Miss Lane zu besprechen. Ich wollte nur wegen unserer Theateraufführung mit ihr reden. Das Stück muß abgesetzt werden.«

 

»Gott sei Dank!« rief Mary befriedigt. »Das ist die beste Nachricht, die ich seit Monaten gehört habe.«

 

»Für mich ist es aber ein schwerer Schlag«, entgegnete Mike bedrückt.

 

»Hat Mr. Wirth denn seine Unterstützung zurückgezogen?«

 

Mit dieser Frage kam sie der Wahrheit näher, als sie ahnte. Mr. Wirths wöchentlicher Scheck, der eigentlich am vergangenen Tag hätte kommen sollen, war ausgeblieben, und Mike nahm es nicht auf sich, unter diesen Umständen weiterzuspielen.

 

»Heute abend steht es schon in der Zeitung, daß wir am Sonnabend Schluß machen. Ich habe obendrein noch. Glück, daß ich das Theater weiterverpachten konnte. Ich wünschte nur, ich hätte mehr dabei herausgeschlagen. Vorige Woche habe ich ein besseres Angebot leider abgelehnt.«

 

Mike war noch viel nervöser und aufgeregter als Moran am Abend vorher. Er konnte die Hände nicht ruhig halten und nicht stillsitzen.

 

»Wer ist eigentlich dieser Mr. Wirth, und was macht er?« fragte Dick.

 

»Das weiß ich nicht. Er hat irgendein Geschäft in Coventry«, entgegnete Mike. »Ich überlege schon, ob ich nicht heute zu ihm fahren soll, um mit ihm zu sprechen. Aber das Wichtigste an der Sache ist folgendes. Morgen abend muß ich die Gagen zahlen, und ich habe nicht genug Geld auf der Bank. Vielleicht kommt der Scheck heute noch, dann ist alles in Ordnung. Nun ist Ihre Gage die größte, Mary. Würden Sie mir eine Woche Zahlungsaufschub geben, wenn ich das Geld von Mr. Wirth nicht bekomme?«

 

Sie war unangenehm überrascht. Bei der Aufführung anderer Stücke war die Zahlungsfähigkeit Mikes stets eine zweifelhafte Sache gewesen, aber bei dem Drama »Klippen des Schicksals« hatte er sich um die finanzielle Seite nicht zu kümmern brauchen. Was auch immer passieren mochte, das Geld für die Gagen war vorhanden gewesen.

 

»Natürlich stunde ich Ihnen die Bezahlung«, sagte sie. »Aber Mr. Wirth ist doch nicht etwa –«

 

»Sie meinen bankrott? Nein, das glaube ich nicht. Aber er ist ein merkwürdiger Mann«, meinte Mike unbestimmt.

 

Er sagte nichts weiter über diesen Punkt und war anscheinend zufrieden, daß er keine näheren Auskünfte zu geben brauchte. Etwas abrupt verabschiedete er sich.

 

»Der ist allerdings sehr stark im Druck«, sagte Dick. »Ich glaube, daß nicht allein der ausgebliebene Scheck von Mr. Wirth daran schuld ist. Es muß noch etwas anderes mitspielen.«

 

Er erhob sich.

 

»Komm doch mit zum Mittagessen«, lud er sie ein. Aber sie schüttelte den Kopf, sie wollte zu Hause bleiben.

 

Dick ging zum Scotland Yard und mußte eine halbe Stunde warten, bevor Surefoot Smith zurückkehrte. Der Chefinspektor konnte ihm nicht viel Neues erzählen. Eine Beschreibung des gestohlenen Modells war veröffentlicht worden.

 

»Aber das wird Ihnen nicht viel helfen«, meinte Smith. »Ich glaube nicht, daß der Dieb die Pistole in irgendein Pfandhaus trägt oder auf dem Markt verkauft. Kennen Sie eigentlich einen Mr. Washington Wirth?« fragte er plötzlich.

 

»Ich habe von ihm gehört.«

 

»Haben Sie ihn jemals getroffen? Er ist ein Mann, der gern große Gesellschaften gibt.«

 

Dick lächelte.

 

»Mich hat er noch nie eingeladen. Aber ich weiß, daß das seine Marotte ist.«

 

Surefoot nickte.

 

»Ich komme gerade aus dem Kellner-Hotel. Die Leute dort wissen auch nichts Genaues über ihn. Er hat immer bar bezahlt. Seit drei Jahren gibt er seine Einladungen im Hotel. Er mietet dazu eine Reihe von Gesellschaftsräumen, überläßt aber die Zusammenstellung des Menüs und das Engagement der Kapelle dem Oberkellner. Weiter konnte ich nichts erfahren.«

 

»Interessieren Sie sich für ihn?« fragte Dick und erzählte Smith dann, wie aufgeregt Mike Hennessey gewesen war.

 

Surefoot hörte gespannt zu.

 

»Hat er eigentlich eine Bank? Nun, er kann ja einer von diesen Geschäftsleuten aus Mittelengland sein. Ich habe nie verstanden, warum sich diese Getreide- und Kohlenhändler immer so sehr für das Theater interessieren. Das ist auch so eine Verrücktheit, die sich nach dem Krieg unheimlich verbreitet hat.«

 

»Mike kann Ihnen jedenfalls viel von ihm erzählen«, erwiderte Allenby.

 

Mr. Smith zog die Lippen zusammen.

 

»Ach, Mike erzählt uns nichts Vernünftiges«, sagte er sarkastisch. »Der scheut sich, Ihnen zu sagen, daß er nur vier Finget an der rechten Hand hat, weil er fürchtet, man könnte das irgendwie gegen ihn ausnützen. Ich kenne Mike zu gut!«

 

»Auf jeden Fall weiß er etwas von Wirth, denn der Mann hat sein letztes Stück finanziert.«

 

Da Dick niemand fand, mit dem er essen konnte, entschloß er sich, in den Snells-Club zu gehen, wo man sehr gut bedient wurde. Nur zwei Mitglieder waren ihm unsympathisch, und ausgerechnet die beiden ersten, die er sah, waren Jerry Dornford und Jules, die an einem der Fenster saßen. Jules grüßte durch ein Kopfnicken, während Jerry starr nach der anderen Seite blickte, als Dick vorüberging.

 

Die beiden waren auch eben erst gekommen und hatten gerade Platz genommen, als Allenby in den Saal trat. Jules hatte bis jetzt das Thema vermieden, das Jerry vor allem mit ihm besprechen wollte. Er machte Bemerkungen über die Leute und die Autos auf der Straße, erzählte von der Militärkonferenz, die zur Zeit in London tagte, und von der Gesellschaft, zu der er am vergangenen Abend eingeladen war.

 

»Und wie steht es mit der Luftpistole?« fragte Jerry schließlich.

 

»Luftpistole?« Jules sah ihn zuerst verständnislos an, dann lehnte er sich zurück und lachte. »Ach, das ist aber gut, daß wir uns heute treffen! Ich wollte Sie sowieso deswegen sprechen. Den kleinen Plan, den ich ausgeheckt hatte, müssen wir nämlich fallenlassen.«

 

»Wie meinen Sie das?« fragte Jerry aufgeregt. Sein Gesicht verlor die Farbe.

 

»Ich meine, daß meine Auftraggeber, oder vielmehr die Vorgesetzten meiner Auftraggeber, entschieden haben, in der Sache nicht weiterzugehen. Sie haben nämlich herausgebracht, daß alle wichtigen Details der Pistole durch Patente geschützt sind, besonders in den Ländern, wo die Erfindung am aussichtsreichsten zu verwerten wäre.«

 

Jerry starrte ihn fassungslos an.

 

»Meinen Sie damit, daß Sie das Modell nicht mehr haben wollen?«

 

Jules nickte.

 

»Es ist tatsächlich nicht notwendig, daß Sie sich irgendwelchen unnötigen Gefahren aussetzen. Wir wollen einmal darüber sprechen, wie wir das Geld, das Sie brauchen, auf andere Weise beschaffen können –«

 

»Verdammt noch einmal, was fällt Ihnen ein!« sagte Jerry wild. »Ich habe doch die Pistole schon gestern abend aus der Werkstatt geholt!«

 

Jules strich sich über das glatte Kinn und sah seinen Begleiter nachdenklich an.

 

»Das ist allerdings sehr unangenehm. Sie haben tatsächlich das Modell schon an sich genommen? Nun, zurückbringen können Sie es allerdings nicht. Ich kann Ihnen nur den einen guten Rat geben, von London wegzufahren und es irgendwo in einen tiefen Sumpf zu werfen. Noch besser in die Themse zwischen Temple Lock und Hambleden.«

 

»Wollen Sie damit wirklich sagen, daß ich das Risiko ganz umsonst auf mich genommen habe?« fragte Jerry heiser.

 

Jules zuckte die Schultern.

 

»Es tut mir furchtbar leid – meine Auftraggeber –«

 

»Ihre verdammten Auftraggeber! Sie haben mir ganz bestimmt versprochen, mir ein paar tausend Pfund zu beschaffen, wenn ich Ihnen das Ding besorgen würde!«

 

Jules lächelte.

 

»Und nun, mein lieber Junge, versichere ich Ihnen in aller Form, daß ich keine tausend Shilling für die Pistole bekommen kann. Es ist natürlich ein großes Pech für Sie. Hätten Sie mir das Ding damals gleich besorgt, als ich mit Ihnen zuerst davon sprach, dann wäre die Sache längst in Ordnung und bezahlt. Jetzt ist es zu spät.« Er beugte sich vor und klopfte Jerry freundlich auf den Arm. »Es hat keinen Zweck, daß Sie deshalb den Kopf hängen lassen oder wütend werden. Wir wollen überlegen, wie wir das Geld auf andere Weise beschaffen können.«

 

Jerry Dornford war völlig niedergeschlagen. Er kannte Hervey Lyne zur Genüge. Der Alte hätte die zweitausend Pfund genommen, wenn er sie ihm gebracht hätte, und ihm für den Rest Aufschub gegeben. Hervey Lyne hatte noch nie bares Geld ausgeschlagen. Am liebsten hätte Jerry diesen verdammten Jules, der ihn so unverschämt anlächelte, am Kragen gepackt und aus dem Fenster geworfen. Aber er vergaß nicht, daß er ein Gentleman war, und da man von einem solchen verlangt, daß er sich in der Hand hat und sich nie zu Tätlichkeiten hinreißen läßt, verhielt er sich ruhig.

 

»Nun, dann läßt sich nichts daran ändern«, sagte er schließlich. »Bestellen Sie mir etwas zu trinken.«

 

Jules spielte mit den Fingern auf der Tischplatte.

 

»Unser Freund Allenby sitzt am dritten Tisch rechts – wäre es nicht ein vorzüglicher Witz, wenn Sie zu ihm gingen und ihm sagten: ›Ich habe Ihnen einen kleinen Streich gespielt und Ihre Pistole stibitzt?‹«

 

»Hören Sie mit dem Unsinn auf«, unterbrach ihn Jerry grob. »Er hat mich gestern abend angerufen und mich gefragt, ob ich sein Modell hätte. Außerdem hat er die Sache der Polizei angezeigt. Heute morgen war Chefinspektor Smith schon bei mir.«

 

»So? Das ist allerdings schade. Hier kommt Ihr Whisky.«

 

Die beiden saßen noch lange beisammen und beobachteten auch, daß Allenby den Klub verließ und auf die andere Seite der St. James Street hinüberging.

 

Dick hatte sich kaum entfernt, als er am Telefon verlangt wurde. Mary Lane wollte ihn sprechen, denn sie brauchte dringend seinen Rat. Sie rief seine Wohnung an, aber dorthin war er noch nicht zurückgekehrt. Ebenso erfolglos versuchte sie es bei einem Klub, in dem er sich manchmal nachmittags aufhielt.

 

Sie hatte zu Hause gegessen und gerade die kleinen Schecks, mit denen sie die Lebensmittelhändler bezahlte, ausgeschrieben, als die merkwürdige Nachricht kam. Ein kleiner schmutziger Junge brachte ihr den Brief.

 

»Ein alter Herr hat mir gesagt, ich soll Ihnen das bringen«, meldete er im Londoner Jargon.

 

»Ein alter Herr?«

 

Sie sah auf die Adresse und erkannte Hervey Lynes Handschrift.

 

Der kleine Bote erzählte ihr auf ihre Frage, daß er ein Paket in Nr. 19 abgegeben habe. Als er zurückkam, sah er den alten Herrn, der, auf einen Stock gestützt, in der Haustür stand, einen Schlafrock trug und den Brief in der Hand hielt. Der Alte hatte den Jungen zu sich gerufen, ihm ein Zweieinhalbshillingstück gegeben (das mußte ihm beinahe das Herz gebrochen haben) und ihn beauftragt, den Brief sofort an die Adresse zu bringen.

 

Sie riß den Umschlag auf. Die Mitteilung war mit Bleistift auf die Rückseite eines Bogens geschrieben, der mit Schreibmaschinenzeilen bedeckt war.

 

Bringe Moran heute nachmittag um drei Uhr bestimmt in mein Haus. Vor zwei Tagen habe ich mit ihm gesprochen, aber ich bin durch seine Erklärungen nicht befriedigt. Nimm einen Polizeibeamten mit.

 

(Hier war über die Zeile ein Wort gekritzelt, das sie als Smith entzifferte.)

 

Sage aber weder Moran noch sonst jemand etwas von dem Polizeibeamten.

 

Die Sache ist sehr dringend.                  H. L.

 

Der Junge konnte ihr keine weiteren Angaben machen. Sie konnte auch ihren Vormund nicht anrufen, da er in seinem Haus kein Telefon duldete. Sie sah auf die Uhr. Es war kurz nach zwei. Dann bemühte sie sich vergeblich, Dick anzurufen.

 

Surefoot Smith kannte sie kaum gut genug, um sich persönlich an ihn wenden zu können, und außerdem hatte sie, wie viele Frauen, eine Abneigung, direkt mit der Polizei zu verhandeln. Sie rief schließlich Morans Bank an und erfuhr, daß er heute nicht im Büro erschienen sei. Dann klingelte sie in seinem Klub und in seiner Privatwohnung an, hatte aber ebensowenig Erfolg. Moran hatte seine Wohnung am Morgen verlassen und gesagt, daß er in den nächsten zwei bis drei Wochen nicht zurückkehren werde, da er seinen Urlaub angetreten habe. Merkwürdigerweise hatte man ihr in der Bank davon nichts gesagt.

 

Verwirrt saß sie am Fenster und überlegte, was sie noch unternehmen konnte, als plötzlich zu ihrer Freude das Telefon läutete. Dick meldete sich. Er war in den Klub zurückgekehrt, um einige Briefe abzuholen, die er vergessen hatte, und man hatte ihm von ihrem Anruf berichtet.

 

»Das ist aber merkwürdig«, meinte er, als er von Lynes Mitteilung hörte. »Ich werde versuchen, mit Smith in Verbindung zu kommen. Am besten erwartest du mich vor der Untergrundstation in der Baker Street, sagen wir, in einer Viertelstunde.«

 

Mary mußte zehn Minuten an der verabredeten Stelle warten. Kurz vor drei kamen Dick und Smith in einem Auto an, und sie stieg zu ihnen ein. Dick nannte dem Chauffeur das Ziel, und der Wagen fuhr weiter.

 

»Das klingt alles so geheimnisvoll«, meinte Dick. »Zeig mir doch mal den Brief.« Sie reichte ihm das Schreiben. Er betrachtete es genau und drehte dann das Blatt um.

 

»Hallo, das ist eine Bankabrechnung«, sägte er. »Donnerwetter, was für hohe Zahlen!«

 

Mary hatte sich nicht um die Schreibmaschinenzeilen auf der Rückseite gekümmert.

 

»Über zweihunderttausend in bar und mehrere hunderttausend in Papieren! Was hat das nur zu bedeuten, daß er dir den Brief geschrieben hat?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

Auch Smith betrachtete das Schreiben sorgfältig.

 

»Ist er blind?« fragte er dann plötzlich.

 

»Ja, beinahe«, entgegnete Dick. »Er gibt es selbst nicht zu, aber er kann kaum noch sehen. Hast du eigentlich Moran angerufen?«

 

Mary schüttelte den Kopf.

 

»Niemand weiß, wo er ist. Er war heute nicht auf der Bank, und in seiner Wohnung ist er auch nicht.«

 

Surefoot reichte ihr das Blatt zurück.

 

»Es sieht so aus, als ob er mich zunächst nicht sehen will, wenigstens, wenn wir Moran nicht mitbringen.«

 

Das Taxi bog in Naylors Crescent ein, und sie besprachen, daß Surefoot Smith im Wagen warten sollte, während Dick und Mary den alten Lyne aufsuchten.

 

Als sie aber an der Haustür klopften, erhielten sie keine Antwort. Die Häuser in Naylors Crescent standen ziemlich weit von der Straße zurück. Plötzlich öffnete sich ein Fenster im Nebengebäude, und ein Dienstmädchen schaute heraus.

 

»Es ist niemand zu Hause. Mr. Lyne ist vor etwa einer Stunde in seinem Rollstuhl ausgefahren worden.«

 

»Wohin denn?« fragte Dick.

 

Das Mädchen konnte darüber keine Auskunft geben, aber Mary wußte Bescheid.

 

»Sie fahren immer zur selben Stelle in die Privatgärten des Parks. In ein paar Minuten ist man dort.«

 

Das Taxi wurde nicht länger benötigt, und Dick zahlte den Chauffeur. Sie waren gerade im Begriff, über die Straße zu gehen, als ein großer offener Wagen an ihnen vorüberratterte. Dick konnte einen kurzen Augenblick lang den Mann am Steuer sehen. Es war Jerry Dornford. Der Wagen machte viel Geräusch und mußte schon ziemlich alt sein.

 

»Wenn die Polizisten aufpaßten, müßten sie Jerry wegen unnötigen Lärmens aufschreiben«, sagte Smith.

 

Kurze Zeit später entdeckten sie Mr. Lynes Rollstuhl. Binny saß auf einem kleinen Klappstuhl daneben, hatte eine Zeitung auf den Knien und eine Goldbrille auf der großen Nase.

 

Das Tor zum Park war verschlossen, und es dauerte einige Zeit, bevor Dick die Aufmerksamkeit des Butlers auf sich gelenkt hatte. Gleich darauf kam Binny, schloß auf und ließ sie in den Park.

 

»Ich glaube, er schläft«, meinte er, »und ich bin deshalb in einiger Verlegenheit. Wenn ich ihn jetzt heimfahre und er wacht währenddessen auf, schimpft er entsetzlich! Und um drei muß er zu Hause sein!«

 

Hervey Lynes Kopf war auf die Brust gesunken. Die blaue Brille saß fest; die Hände hatte er auf die Decke gelegt. Binny faltete die Zeitung zusammen, steckte sie in die Tasche und nahm seinen Stuhl.

 

»Wollen Sie ihn nicht lieber aufwecken?« fragte Mary und kam einen Schritt näher.

 

»Mr. Lyne!« sagte sie und wiederholte dann seinen Namen, noch lauter, aber der Alte rührte sich nicht.

 

Surefoot Smith, der in einiger Entfernung stehengeblieben war, kam nun zu ihr. Er ging um den Rollistuhl herum, beugte sich über den alten Mann, öffnete dessen Rock und knöpfte ihn wieder zu. Dann nahm er Mary freundlich am Arm und führte sie fort.

 

»Gehen Sie nach Hause«, sagte er. »Ich besuche Sie später in Ihrer Wohnung.«

 

Sie sah ihn an und wurde bleich.

 

»Ist er tot?« fragte sie entsetzt.

 

Surefoot nickte und drängte sie zum Parktor.

 

»Er ist durch die Rücklehne erschossen worden«, sagte er, als sie außer Hörweite war. »Ich sah den Einschlag, als ich um den Rollstuhl herumkam. Sehen Sie her!« Er öffnete den Rock des Toten.

 

Es war kein erfreulicher Anblick.