Kapitel 4

 

4

 

Ena Panton konnte nicht sofort einschlafen, als sie sich zu Bett gelegt hatte. Dazu war sie viel zu aufgeregt. Sie wunderte sich immer mehr über Ernies Verhalten. Natürlich hatte sie ihn gern, aber man konnte beim besten Willen nicht behaupten, daß sie sehr verliebt in ihn war.

 

Ernie wirkte nicht besonders männlich und machte eigentlich nur durch seine große Anhänglichkeit Eindruck auf sie. Sie wußte, daß er sie liebte, und das schmeichelte ihr.

 

Es war ihr angenehm, daß ein gutaussehender und vor allem reicher junger Mann sich um sie bemühte, und als er ihr dann die teuren Geschenke brachte, war sie gerührt und glücklich.

 

Aber sie hatte sich eben doch niemals richtig in diesen jungen Mann mit der gepflegten Frisur und dem kleinen Schnurrbart verliebt. Nun war es allerdings für sie plötzlich von allergrößter Bedeutung geworden, denn unter ihrem Kopfkissen lag ein Vermögen. Sie tastete mit der Hand danach und vergewisserte sich, daß der Briefumschlag mit den Banknoten tatsächlich noch vorhanden war und daß sie nicht geträumt hatte.

 

In Gedanken malte sie sich aus, was sie mit dem Geld anfangen wollte.

 

So verging die Zeit, und sie lag noch hellwach, als etwas gegen die Fensterscheibe klirrte. Schnell stand sie auf und zog den Vorhang zurück. Sie tat es vorsichtig, damit ihre Schwester nicht aufwachen sollte.

 

Als sie sich aus dem Fenster lehnte, und hinunterschaute, entdeckte sie ein Auto, das in einiger Entfernung hielt. Unten stand ein Mann mit hochgeschlagenem Mantelkragen.

 

»Sind Sie’s, Ena?« fragte er mit gedämpfter Stimme.

 

»Wer ist da?« erwiderte sie leise.

 

»Ich bin Jack – Ernies Bruder.«

 

Sie hörte das erste Mal, daß Ernie einen Bruder hatte.

 

»Was gibt es denn?«

 

»Ernie möchte Sie sprechen. Er wartet im Wagen. Können Sie einen Augenblick herunterkommen?«

 

Sie zögerte und sah sich nach ihrer Schwester um, aber Lizzie schlief fest.

 

»Ich möchte eigentlich nicht«, sagte sie. »Können Sie mir denn nicht sagen, was er will?«

 

»Es handelt sich um das Geld«, erwiderte der Mann drängend. »Bringen Sie es mit hinunter, ich werde Ihnen alles erklären. Die Polizei ist hinter Ernie her, und es ist möglich, daß auch Sie gesucht werden.«

 

Ena, die sich noch nie hatte etwas zuschulden kommen lassen, erschrak heftig. Sie hatte sich auch schon Gedanken gemacht, wie Ernie zu einer so großen Summe kam, und sich gefragt, ob er das Geld auf ehrliche Weise erworben hätte.

 

»Ich komme«, sagte sie ängstlich, schlüpfte in Morgenrock und Pantoffeln, zog den Umschlag mit den Banknoten unter dem Kopfkissen hervor und lief zur Tür.

 

Vorher hatte sie Licht gemacht, und Lizzie wachte auf.

 

»Ernie will mich sprechen, er ist draußen«, flüsterte sie und lief die Treppe hinunter.

 

Sie nahm die Sicherheitskette von der Haustür, schloß auf und öffnete.

 

Dicht vor ihr stand ein Mann, der sie in den Flur zurückdrängte, und bevor Ena noch wußte, was geschah, legte sich ein starker Arm um sie und eine Hand preßte ihr Mund und Nase zu.

 

»Wenn Sie schreien, bringe ich Sie um«, zischte ihr der Fremde ins Ohr.

 

Sie war vor Schreck wie gelähmt und konnte nicht den geringsten Widerstand leisten. Willenlos ließ sie sich auf die Straße hinausführen, und erst als sie mit dem nackten Fuß auf das feuchte Straßenpflaster trat und merkte, daß sie einen Pantoffel verloren hatte, kam sie wieder zu sich. Der Mann hielt ihr immer noch Mund und Nase zu, und mit einer verzweifelten Anstrengung suchte sie sich zu befreien. Es half ihr nichts; er hob sie einfach auf und lief mit ihr zu einem wartenden Wagen.

 

Der Chauffeur hatte die Tür bereits geöffnet, und nachdem der Fremde sie unsanft hineingeschubst hatte, stieg er selbst ein und setzte sich an ihre Seite.

 

»Vergessen Sie nicht – wenn Sie Lärm machen, dann breche ich Ihnen das Genick. Das ist kein Scherz!«

 

Verstört und zitternd lehnte sie sich in eine Ecke zurück.

 

Er zog schwarze Vorhänge vor den Wagenfenstern vor, und gleich darauf setzte sich das Auto in Bewegung.

 

Sie hatte keine Ahnung, wohin die Fahrt ging, sie fühlte nur, daß sie bergaufwärts fuhren; möglicherweise in Richtung Lewisham.

 

Leise begann sie vor sich hin zu weinen, ohne daß ihr Begleiter Notiz davon genommen hätte. Dann fiel ihr plötzlich ein, daß er ihr den Briefumschlag mit den fünfundzwanzigtausend Dollar aus der Hand gerissen hatte.

 

»Was haben Sie mit dem Geld gemacht, Sie gemeiner Kerl! Sie sind ja gar nicht Ernies Bruder – er hat gar keine Geschwister!«

 

Der Mann lachte trocken.

 

»Was wissen Sie denn von Ernie und seinen Verwandten?« sagte er gleichgültig. »Und was das Geld betrifft – das ist in Sicherheit, ich habe es in der Tasche. Zuviel habe ich schon durch die Dummheit dieses Kerls verloren.«

 

»Wo ist Ernie?«

 

Darauf erhielt sie keine Antwort.

 

»Was wollen Sie denn mit mir anfangen?« fragte sie nach einem langen, bedrückenden Schweigen.

 

»Das hängt ganz von Ihnen ab. Wenn Sie das tun, was ich Ihnen sage, wird Ihnen nicht viel passieren: Sie werden einen Brief an Ihre Mutter oder an Ihre Schwester – vielleicht auch an Mr. Reeder schreiben. Darin teilen Sie mit, daß Sie mit Ernie ins Ausland gereist und sehr glücklich mit ihm sind. In einem Jahr werden Sie zurückkommen, und …«

 

»Ich denke nicht daran, ins Ausland zu fahren; weder mit Ihnen noch mit Ernie!« entgegnete sie heftig. »Man wird Sie festnehmen und einsperren. Was Sie gemacht haben, ist Entführung!«

 

»Sie sind so wenig intelligent«, erwiderte er ironisch, »daß Sie das durch ein hübsches Gesicht ausgleichen müssen. Sonst würde sich ein Mann wie Mr. Reeder bestimmt nicht mit Ihnen abgeben.«

 

Das brachte sie auf einen Gedanken.

 

»Mr. Reeder wird mich finden – er weiß alles, auch über Ernie. Ich habe ihm die Briefe gegeben, die Ernie mir geschrieben hat.«

 

»Was waren das für Briefe?« fragte der Mann schnell. Sie merkte, daß sie einen Fehler gemacht hatte.

 

»Ich meine den einen, den er von Birmingham aus schrieb.«

 

Sie hörte, daß er schnell atmete.

 

»Hat er Ihnen von Birmingham aus geschrieben? Stand ein Absender auf dem Brief?«

 

Als sie zögerte, war er sichtlich erleichtert.

 

»Es stand also keine Adresse darauf«, sagte er dann. »Und Reeder hat diesen Brief?«

 

Als sie nicht antwortete, packte er sie an den Schultern und schüttelte sie grob.

 

»Wenn ich Sie etwas frage, haben Sie zu antworten. So, und nun erzählen Sie mir genau, was Reeder weiß.«

 

Sie fürchtete sich vor ihrem Begleiter und begann wieder zu schluchzen.

 

»Lizzie hat die Briefe zu Mr. Reeder gebracht, und er hat sie über allerhand ausgefragt. Er wollte auch wissen, ob Ernie jedesmal mit der Feder Kringel in der Luft machte, bevor er anfing, etwas zu schreiben.«

 

»So, hat er das gefragt? Der alte schlaue Fuchs!«

 

Es war ihr klar, daß sie vorsichtiger sein mußte.

 

»Es ist gemein von Ihnen, mich fortzuschleppen. Sie werden deshalb ins Gefängnis kommen …«

 

»Darüber brauchen Sie sich nicht den Kopf zu zerbrechen«, entgegnete er kurz. »Berichten Sie mir lieber, was Mr. Reeder sonst noch gesagt hat.«

 

Er merkte aber bald, daß aus ihr nicht mehr viel herauszuholen war.

 

»Weiß er auch von dem Geld, das Sie gestern morgen erhielten?«

 

»Nein. Aber Lizzie wird ihm das schon erzählen, darauf können Sie sich verlassen.«

 

»Ist sie aufgewacht, als Sie fortgingen?« fragte er hastig.

 

»Ja, sie war wach, und ich glaube bestimmt, daß sie aus dem Fenster sah. Sicher hat sie sich die Nummer Ihres Wagens aufgeschrieben. Seien Sie doch vernünftig, sagen Sie, daß alles nur ein Scherz war und bringen Sie mich wieder nach Hause.«

 

»Ich mache keine Scherze – Sie täuschen sich, wenn Sie das annehmen.«

 

Lange Zeit sprachen sie daraufhin nicht mehr miteinander.

 

Der Wagen fuhr jetzt mit höchster Geschwindigkeit, und Ena fragte wieder, wohin die Fahrt ginge.

 

»Ich bringe Sie zu einem hübschen, ruhigen Haus auf dem Land. Dort bekommen Sie ein komfortables Zimmer, und wenn Sie klug sind, regen Sie sich dann nicht weiter auf, sondern vertreiben sich die Zeit mit Handarbeiten. Morgen besorge ich Ihnen Kleider, und falls Sie keinen Fluchtversuch machen, werden Sie in jeder Hinsicht anständig behandelt. Sollten Sie aber doch wagen, sich zu entfernen …«

 

Er beendete den Satz nicht, aber seine Worte klangen auch so drohend genug.

 

Für Ena war die Aufregung zuviel gewesen. Eine lähmende Müdigkeit überkam sie, und sie sank während der letzten halben Stunde der Fahrt in einen ohnmachtähnlichen Schlummer.

 

Erst als der Wagen plötzlich hielt, wachte sie auf. Ihr Begleiter band ihr einen Schal um die Augen, zog sie aus dem Wagen und führte sie in ein Gebäude.

 

Die Luft im Innern roch dumpf und muffig, als ob das Haus lange nicht bewohnt gewesen wäre.

 

Er schob sie eine Treppe hinauf, die sehr breit sein mußte, denn als sie tastend die Hand ausstreckte, fand sie weder an einem Geländer noch einer Wand Halt.

 

In einem kleinen Raum nahm er ihr den Schal von den Augen und ließ sie allein. Zitternd vor Kälte setzte sie sich auf den einzigen Stuhl, den sie sah.

 

Gleich darauf kam er zurück und brachte sie in ein größeres Zimmer, in dem ein Bett stand. Vor den Fenstern waren feste Holzläden angebracht. Die Wände waren offensichtlich erst kürzlich tapeziert worden. Durch eine offene Tür sah sie in ein kleines Bad, das überhaupt keine Fenster zu haben schien.

 

»Ich bringe Ihnen jetzt noch etwas zu essen. Morgen können Sie dann Bücher bekommen, damit es Ihnen nicht zu langweilig wird und auch was Sie sonst noch so brauchen.«

 

Sie sah ihn jetzt im Schein der grellen Deckenbeleuchtung zum erstenmal genauer an. Er war groß und schlank und machte eigentlich einen ganz sympathischen Eindruck.

 

Jetzt hatte auch Hymie Higson Gelegenheit, Ena eingehender zu betrachten – er war erstaunt über Ernies guten Geschmack.

 

»Wirklich, Sie sehen gar nicht so übel aus. Sehr intelligent sind Sie deswegen natürlich trotzdem nicht«, erklärte er um einige Schattierungen freundlicher.

 

»Was fällt Ihnen ein …«

 

»Na, vielleicht lernen Sie ein wenig dazu, wenn Sie sich längere Zeit hier aufhalten. Inzwischen verspreche ich Ihnen, daß Ihnen nichts passiert, wenn Sie vernünftig sind. Sie werden bewacht, denken Sie bitte daran – vor ihrem Fenster und im Haus hält sich immer jemand auf, der auf Sie aufpaßt. Versuchen Sie es also erst gar nicht, hier herauszukommen.«

 

Damit verließ er das Zimmer, kam aber schon nach zehn Minuten mit einem Tablett wieder, auf dem eine Kanne mit heißem Tee und belegte Brote aufgebaut waren.

 

»Noch etwas«, sagte er ernst und stellte das Tablett vor sie hin. »Vielleicht wissen Sie, daß auf Entführung eine Mindeststrafe von zehn Jahren Zuchthaus steht. Das sollte ihnen klarmachen, daß wir vor nichts zurückschrecken. Ich habe Ihnen schon zu Beginn unserer – hm – Bekanntschaft erklärt, wie rücksichtslos ich mich im Notfall gegen Sie benehmen müßte. Vielleicht würde es mir jetzt, nachdem ich gesehen habe, wie hübsch Sie sind, ein wenig schwerer fallen, Ihnen den Hals zuzudrücken – aber bilden Sie sich bloß nicht ein, daß ich deswegen davon Abstand nehmen würde!«

 

Seine gepflegte Redeweise stand in einem schroffen Gegensatz zu diesen groben Andeutungen.

 

Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen – das war ja der Mann mit dem falschen Schnurrbart, der sie in ihrer Wohnung aufgesucht hatte! Sie sagte ihm ihre Vermutung auf den Kopf zu.

 

Er nickte lächelnd.

 

»Stimmt. Sie haben sich mein Gesicht besser gemerkt, als ich mir das Ihrige. Es war so dunkel in Ihrem Hausflur! Damals wollte ich Ihnen helfen, Sie wußten es nur nicht. Wenn Ihre Schwester nicht zu diesem verdammten Kerl, diesem Reeder gelaufen wäre und alles ausposaunt hätte, wären Sie jetzt nicht in einer so unangenehmen Lage. Ich hätte nicht einmal etwas dagegen gehabt, daß Ihnen Ernie das Geld schickte. Schließlich haben Sie ja ein gewisses Recht auf einen Anteil.«

 

Sie verstand den Sinn seiner Worte nicht, war vorsichtig und schwieg.

 

Er ging fort und ließ sie allein. Erst wartete sie noch ein wenig, aber nach einigem Zögern trank sie den Tee und aß die Brote.

 

Sie sah durch die Ritzen der Fensterläden, daß es hell wurde; dann legte sie sich auf das Bett, zog die Decke über sich und schlief ein.

 

Sie mußte sehr erschöpft gewesen sein, denn als sie wieder aufwachte, war es bereits wieder dunkel geworden. Sie drehte das Licht an und drückte auf einen Klingelknopf, den Hymie ihr gezeigt hatte.

 

Es verging einige Zeit, bis sich jemand meldete, und als sich die Tür öffnete, erschien Hymie selbst mit einem Tablett.

 

»Es tut mir leid, daß Sie so lange warten mußten«, sagte er freundlich und ein wenig ironisch. »Aber ich bin hier Koch und Gefangenenwärter in einer Person. Wir haben auch kein Zimmermädchen, das Sie bedienen könnte, aber ich bringe Ihnen jedenfalls das Beste, was uns hier zur Verfügung steht.«

 

Auf dem Tablett sah sie gekochte Eier, frisches Brot und Butter. Ena war jung und gesund und entwickelte einen guten Appetit.

 

Er verließ das Zimmer wieder und kam gleich darauf mit einigen Kleidungsstücken zurück, die er auf das Bett warf.

 

»Sie sind alle neu. Es hat uns einige Mühe gemacht, das Zeug in verschiedenen Läden Londons zu besorgen. Ich nehme nämlich an, daß dieser verdammte Reeder alle Geschäfte gewarnt hat. Wenn wir so dumm gewesen wären, alles in einem Geschäft zu kaufen, so hätten sie uns bestimmt gefaßt. Also, nun schauen Sie, wie Sie damit zurechtkommen«, meinte er gutgelaunt.

 

»Sind Sie Amerikaner?« fragte sie.

 

Er lächelte und zeigte dabei eine Reihe guterhaltener Zähne.

 

»Ich bin in England geboren, aber in Amerika erzogen worden. Meinen achtzehnten Geburtstag habe ich in einer amerikanischen Anstalt namens Sing-Sing gefeiert. Vielleicht haben Sie schon davon gehört?«

 

»Meinen Sie das berühmte Gefängnis?«

 

Er lachte schallend.

 

»Es wundert mich, daß Sie das wissen. Wahrscheinlich kennen Sie den Ort vom Kino her. Ja, mein Kind, ich saß in Sing-Sing und war zum Tode verurteilt. Aber rechtzeitig kam dann eine allgemeine Amnestie heraus. So war ich gerettet. Im Krieg habe ich mich dann freiwillig gemeldet und bin mit Auszeichnungen heimgekehrt.«

 

Er deutete mit der Hand auf die Kleider.

 

»Ich habe Ihnen alles gebracht, was eine Dame braucht. Hoffentlich habe ich nichts vergessen! Wenn Ihnen etwas fehlen sollte, dann sagen Sie es mir ruhig. Ich werde dann versuchen, es Ihnen noch zu beschaffen.«

 

Als er hinausgegangen war, schob sie den Riegel vor und zog sich an. Das Kleid paßte ausgezeichnet, und wenn auch die Schuhe ein wenig zu groß waren, fühlte sie sich jetzt doch wohler und sicherer.

 

Hymie kam nach einiger Zeit zurück und rüttelte an der Tür.

 

»Das habe ich ja ganz übersehen«, sagte er, als sie ihn hereingelassen hatte.

 

Er ging hinaus und rief nach jemand.

 

Gleich darauf tauchte ein Mann auf, der den Riegel losschraubte, ohne sich viel um Ena zu kümmern.

 

»Durchaus unnötig, daß Sie sich einschließen«, erklärte Hymie. »Ich habe es Ihnen ja schon ein paarmal gesagt – wenn Sie vernünftig sind, passiert Ihnen nicht das geringste. Und sollten Sie irgend etwas im Schilde führen, dann wird Ihnen auch der Riegel nichts helfen.«

 

Kapitel 5

 

5

 

Mr. Reeder behauptete zwar immer, daß er sich ohne weiteres in die Gedankengänge eines Verbrechers versetzen könne, aber selten wurde es so deutlich, daß er damit recht hatte, wie in den zwölf Stunden, die dem Verschwinden Ena Pantons folgten.

 

Er hatte einen Verdacht, ja, er war sich seiner Sache sogar ganz sicher – aber Scotland Yard ist nun einmal sehr vorsichtig. Bevor sich die ein wenig schwerfällige Maschinerie dieser Behörde allmählich in Gang setzt, darf auch nicht mehr der geringste Zweifel bestehen. So machen es sich die Kriminalbeamten, die verdächtige Personen beschatten müssen; zur Regel, für den Verdächtigen wirklich völlig unsichtbar zu bleiben. Das hemmt natürlich in gewisser Weise die Nachforschungen.

 

Aber Mr. Reeder war ja kein Beamter von Scotland Yard, wenn er auch in vielen Fällen mit dieser Behörde eng zusammenarbeitete.

 

Er hatte eine längere Unterredung mit seinem unmittelbaren Vorgesetzten, dem stellvertretenden Staatsanwalt, und der sagte natürlich genau das, was Mr. Reeder erwartet hatte: Man solle alle feststehenden Tatsachen Scotland Yard melden.

 

Leider gähnte zwischen den Vermutungen Mr. Reeders und feststehenden Tatsachen eine tiefe Kluft. Letzten Endes hätte er nur eine Tatsache melden können, die unbedingt feststand: daß eine kleine Stenotypistin nur mit Schlafanzug und Morgenrock bekleidet mitten in der Nacht ihre Wohnung verlassen hatte und seitdem verschwunden war.

 

Er konnte noch nicht einmal mit Sicherheit sagen, daß die Gesuchte im Besitz von fünfundzwanzigtausend Dollar gewesen war. Nichts konnte er als Beweis dafür angeben, nur die Aussage ihrer Schwester. Und Lizzie hatte selbst zugegeben, daß sie nicht viel von ausländischen Banknoten verstand!

 

Scotland Yard würde ihn wahrscheinlich höflich darauf aufmerksam machen, daß es durchaus kein aufsehenerregendes Ereignis wäre, wenn ein hübsches junges Mädchen mangelhaft bekleidet das Haus ihrer Eltern verläßt, um mit irgendeinem Galan das Weite zu suchen. Die Sache würde sich vermutlich als eine ganz harmlose Angelegenheit entpuppen.

 

Inspektor Grayson von Scotland Yard beriet mit Mr. Reeder.

 

»Es besteht immerhin die Möglichkeit«, meinte er, »daß mehr dahintersteckt, als wir im Augenblick beurteilen können. Andererseits wissen Sie aber auch, wie verrückt sich diese jungen Mädchen manchmal benehmen. Es könnte doch sein, daß Ena Panton sich heimlich angezogen und nur auf ihren Freund gewartet hat. Die Tatsache, daß ihre Kleider im Schlafzimmer gefunden wurden, besagt noch nicht viel, denn sie könnte sich ja für dieses Abenteuer neu ausgestattet haben. Sie ist in der Vermißtenliste dieses Jahres unter der Nummer 673 aufgeführt, und von diesen Vermißten sind schon mindestens fünfhundert wieder aufgetaucht, die alle reumütig zurückkehrten. Die Sache mit den fünfundzwanzigtausend Dollar ist mir allerdings auch ein Rätsel, aber ich glaube, daß ich die Lösung bereits gefunden habe.«

 

Er holte einen Zeitungsausschnitt aus der Tasche, der die Banknotenfunde in der Nähe von Farnham behandelte.

 

»Sehen Sie, daher kommt das Gerede von dem Geld. Wahrscheinlich hat sie den Artikel in der Zeitung gelesen und die Geschichte dann einfach erfunden. Sie wissen ja selbst, was für unglaubliche Dinge die Leute manchmal erzählen. Dazu kommt dann meist noch eine krankhafte Geltungssucht, die sie dazu treibt, sich auf irgendeine Weise interessant zu machen.«

 

Mr. Reeder seufzte. Er hatte Hymie Higson eigentlich nur bluffen wollen, als er ihn mit den Dollarnoten auf dem Heuschober in Verbindung brachte. Seine lebhafte Phantasie schien ihm wieder einmal einen Streich gespielt zu haben. Am liebsten hätte er noch einmal mit Higson gesprochen, denn er konnte auch jetzt noch nicht glauben, daß der Mann mit der Sache nichts zu tun hatte … Ob Higson wohl das junge Mädchen entführt hatte? Reeder fragte sich nach den Gründen für eine solche Tat, fand aber keine befriedigende Antwort.

 

Er setzte sich an seinen Schreibtisch und begann aufs neue, sich phantastische Geschichten auszudenken, worin er jedem der Beteiligten das Schlechteste zutraute. Er suchte bei allen, die seiner Meinung nach mit dem Fall in Verbindung standen, nach Motiven.

 

Immerhin war es nicht ausgeschlossen, daß Ena wieder auftauchte und durch ihr Erscheinen alle seine Theorien widerlegte. Er hatte ja nur die Aussagen Lizzies zur Verfügung, die noch dazu halb im Schlaf gewesen war. Wahrscheinlich konnte man sich nicht alllzusehr auf ihre Angaben verlassen, denn auch Lizzie besaß eine außerordentlich lebhafte Phantasie.

 

Eines jedoch stand für ihn fest: Der Schlag, den er erwartete, würde wie ein Blitz aus heiterem Himmel kommen und mehreren großen Banken einen gewaltigen Schrecken einjagen.

 

*

 

Als Reeder am nächsten Morgen sein Büro betrat, wurde er sofort zu seinem Vorgesetzten gerufen.

 

»Ich möchte, daß Sie gleich in die Stadt gehen und Sir Wilfred Heinhell aufsuchen. Die Sache eilt und ist sehr wichtig. Fahren Sie also nicht mit dem Bus, sondern nehmen Sie ein Taxi.«

 

»Sie können sich darauf verlassen, daß ich den schnellsten Weg wähle«, erwiderte Mr. Reeder.

 

Und dann fuhr er mit der U-Bahn.

 

In dem großen, luxuriös ausgestatteten Vorzimmer zu dem Büro Sir Wilfreds erwartete man ihn bereits. Zwei Geschäftsführer und ein Prokurist geleiteten ihn in den fürstlich eingerichteten Arbeitsraum des Bankgewaltigen.

 

»Mr. Reeder, Sir«, stellten sie den Detektiv vor und zogen sich dann auf einen Wink ihres Chefs hin diskret zurück.

 

Sir Wilfred, der Mr. Reeder ja bereits kannte, ging nervös auf dem kostbaren Perserteppich hin und her. Immer wieder fuhr er sich mit der Hand durchs Haar, das bereits dementsprechend zerzaust war. Außerdem sah er aus, als ob er schon eine Woche lang nicht mehr geschlafen hätte.

 

»Nehmen Sie bitte Platz, Mr. Reeder«, begann er schließlich mit Grabesstimme. »Es ist etwas Furchtbares geschehen. Wie recht hatten Sie mit Ihrer Warnung! Sie erwähnten doch bei unserer letzten Unterhaltung, daß meine Geschäftsmethoden veraltet seien. Natürlich widersprach ich Ihnen – aber leider haben sich Ihre Worte nur zu sehr bewahrheitet!«

 

Er machte eine Bewegung mit den Händen, die seine ganze Verzweiflung ausdrücken sollte.

 

Mr. Reeder setzte sich vorsichtig auf die Kante eines Sessels und klemmte seinen zusammengerollten Schirm zwischen die Beine. Die Hände auf den Griff gelegt und das Kinn darauf gestützt, wartete er ab, was Sir Wilfred ihm sonst noch anvertrauen würde.

 

»Ich wiederhole – als Sie mir damals sagten, daß die Geschäftsmethoden einer der Bankfirmen, die ich kontrolliere, veraltet und überholt seien, habe ich Ihnen nicht geglaubt, vielleicht war ich sogar ein wenig unhöflich zu Ihnen …«

 

»Ich kann Ihnen nicht widersprechen«, unterbrach ihn Mr. Reeder.

 

»Das tut mir außerordentlich leid – bitte nehmen Sie meine Entschuldigung an. Es ist etwas ganz Schreckliches geschehen – noch niemals hat sich in einer Bank ein derartiger Fall ereignet. Ein Riesenvermögen ist uns gestohlen worden – nicht hier in London, Mr. Reeder, sondern …«

 

Er machte eine Pause, um Luft zu schöpfen.

 

»Doch nicht etwa in Birmingham?« erkundigte sich Mr. Reeder bedächtig.

 

Sir Wilfred sah ihn völlig entgeistert an.

 

»Wie kommen Sie denn auf Birmingham? Ich habe doch noch keiner Menschenseele mitgeteilt, wo sich das Unglück zugetragen hat – weder der Staatsanwaltschaft noch meinen Direktoren. Aber Sie haben recht, es ist in Birmingham passiert!«

 

Mr. Reeder nickte gewichtig.

 

»Einer Ihrer Angestellten hat Sie betrogen, nicht wahr? Wie sein Nachname lautet, kann ich nicht sagen, aber mit Vornamen heißt er höchstwahrscheinlich Ernest.«

 

Sir Wilfred sank in den nächsten Stuhl.

 

»Was, Sie wußten das?« fragte er fassungslos. »Sie wußten, daß man uns berauben wollte? Der Mann heißt tatsächlich Ernest – Ernest Graddle. Ein entsetzlicher Name! Ich kann ihn nicht mehr hören! Wenn mein Geschäftsführer in Birmingham auch nur einen Funken Verstand gehabt hätte, wäre der Kerl schon seines Namens wegen nicht eingestellt worden!

 

Dieser Ernest Graddle war nur ein kleiner Angestellter, der in der Woche ein paar Pfund verdiente. Er hat die Bank in den letzten zwölf Monaten systematisch betrogen. Im Anfang schaffte er nur kleine Summen beiseite, aber mit der Zeit wurde er frecher, bis er schließlich einen Betrag von fünfundachtzigtausend Pfund entwendete – stellen Sie sich das einmal vor, fünfundachtzigtausend Pfund!«

 

Auf Mr. Reeder machte das alles keinen besonderen Eindruck.

 

»Ich dachte mir gleich, daß es sich um eine ähnliche Summe handeln würde. Wie groß ist denn der Gesamtschaden, den Sie durch Graddle haben?«

 

»Dreihundertundzehntausend Pfund«, entgegnete Sir Wilfred heiser. »Es ist einfach unglaublich! Und der Mann hat das mit einem ganz plumpen Trick geschafft. Einer unserer Kunden, der sehr vermögend ist, läßt stets große Summen auf seinem Bankkonto stehen, anstatt das Geld in Wertpapieren anzulegen. Manchmal bis zu einer halben Million Pfund. Obwohl die Banken in England im allgemeinen derartige laufende Konten nicht verzinsen, haben wir in seinem Fall eine Ausnahme gemacht und ihm drei Prozent zugebilligt.

 

Dieser Graddle hat nun alles Geld von diesem Konto abgehoben. Ich hatte schon mehrmals die Befürchtung ausgesprochen, daß unser Kunde nicht ganz bei Verstand sei, denn kein normaler Mensch würde doch einen derartig hohen Betrag auf seinem Konto stehenlassen. Der Geschäftsführer unserer Bank in Birmingham versuchte dann auf meine Veranlassung hin, ihn umzustimmen, aber ohne Erfolg. Und diesem niederträchtigen Kerl, diesem Graddle, gelingt es, das Geld vor unserer Nase zu stehlen! Dabei ist der junge Mann kaum trocken hinter den Ohren. Es ist unerhört! Wie gesagt, ein ähnlicher Fall ist in der Geschichte des Bankwesens noch nicht vorgekommen!«

 

Mr. Reeder wußte, daß noch unglaublichere Dinge passiert waren, aber er schwieg.

 

»Hoffentlich leidet der gute Ruf der Bank nicht darunter?« fragte er dann.

 

Sir Wilfred fuhr empört auf.

 

»Wie sollte denn das den guten Ruf unserer Bank beeinträchtigen können! Ich bitte Sie, das ist doch wohl kaum anzunehmen!« Er faßte sich wieder. »Erlauben Sie mal, wir haben mindestens zehn Millionen Reserve! Die dreihunderttausend Pfund bedeuten für uns nicht mehr als ein Flohstich! Wenn man natürlich andererseits die nackten Zahlen nimmt, so ist es doch ein ziemlicher Verlust.«

 

Sir Wilfred hätte sich gern noch länger über die absolut sichere Grundlage seiner Bank verbreitet, aber Mr. Reeder lenkte die Unterhaltung auf praktische Dinge.

 

»Wann ist die Sache denn herausgekommen?«

 

»Den Verlust des Geldes entdeckte man vor zwei Tagen, als Ernest Graddle nicht zum Dienst erschien«, berichtete Sir Wilfred. »Der Geschäftsführer in Birmingham glaubte, daß der junge Mann krank sei und schickte einen Boten in dessen Wohnung. Dadurch erfuhr er zum erstenmal, daß Mr. Graddle nur sehr selten zu Hause war und häufig auswärts schlief. Am Abend vorher war er nach London abgereist und hatte alle seine Sachen mitgenommen. Gegen acht Uhr abends erschien er bei seinem Hauswirt, bezahlte die Miete und fuhr dann in einem kleinen schwarzen Auto fort, das man noch nie bei ihm gesehen hatte. Als der Geschäftsführer das hörte, wurde er aufmerksam und ließ die Bücher revidieren; dabei kam man dann den ganzen Unterschlagungen auf die Spur. Graddle hatte die Buchungen für das Bankkonto vorzunehmen, von dem er die Summe abgehoben hatte, und schon nach dreistündiger Revision der Bücher zeigte es sich, daß er dreihunderttausend Pfund unterschlagen hatte. Natürlich wurde sofort die Polizei benachrichtigt, die jetzt Graddle steckbrieflich verfolgt. Und Sie habe ich rufen lassen, Mr. Reeder, weil Sie meine größte Hoffnung sind – bitte übernehmen Sie im Auftrag der Bank die Aufklärung dieses Falles.«

 

Der Detektiv lächelte.

 

»Leider wird das nicht gehen«, entgegnete er bedauernd. »Wenigstens nicht in Ihrem Auftrag. Zu Ihrer Beruhigung kann ich Ihnen aber sagen, daß ich von Seiten der Staatsanwaltschaft dazu ermächtigt bin, diesen Fall zu bearbeiten.«

 

Sir Wilfred war erstaunt. Bis jetzt hatte er immer noch geglaubt, daß Mr. Reeder hauptsächlich als Privatdetektiv tätig sei. Er wußte, daß Mr. Reeder früher mit einem englischen Bankkonsortium zusammengearbeitet hatte und daß er sehr erfolgreich gewesen war.

 

Mr. Reeder setzte dem Bankier auseinander, was für Schritte er zunächst unternehmen wollte, und Sir Wilfred erklärte sich ohne Zögern mit allem einverstanden.

 

Der Geschäftsführer, der Kassierer und mehrere Bankangestellte aus Birmingham waren nach London beordert worden, und Mr. Reeder stellte eine Unzahl von Fragen an sie. Der Geschäftsführer war immer noch ganz außer sich, da er fürchtete, daß die Schuld an ihm hängenbleiben würde.

 

»An und für sich weiß ich von der Sache gar nichts«, erklärte er nervös, »aber die Verantwortung muß ich natürlich trotzdem tragen! Graddle galt als einer unserer fähigsten jungen Leute, und kein Mensch hätte ihm so etwas jemals zugetraut. Wie es überhaupt passieren konnte …? Ja, Mr. Reeder, da muß ich schon sagen, daß daran einfach unsere veralteten Geschäftsmethoden schuld sind. Ich habe Sir Wilfred schon ein dutzendmal darauf aufmerksam gemacht, daß keine richtige Kontrolle vorhanden ist. Bei diesen Zuständen war es wirklich kein Wunder, daß ein Angestellter, besonders wenn er noch jemand fand, der mit ihm zusammenarbeitete, die Bank so hereinlegen konnte!«

 

»Hatte Graddle irgendwelche besonderen Eigenschaften?«

 

Der Geschäftsführer überlegte und sagte dann, daß Graddle Mitglied verschiedener Klubs gewesen sei. Übrigens wäre seine hervorstechendste Eigenschaft gewesen, niemals unangenehm aufzufallen – alle hätten das größte Zutrauen zu ihm gehabt.

 

»Hat er vielleicht gewettet?«

 

»Durchaus nicht! Graddle verabscheute jede Art von Glücksspiel und hat sogar zweimal in öffentlichen Versammlungen dagegen gewettert. Auch mit Frauen gab er sich nicht ab, soviel man wußte. Er führte kein ausschweifendes Leben, er trank nicht – wie gesagt, er hatte keinerlei schlimme Angewohnheiten. Nur sehr ehrgeizig war er! Einmal erklärte er mir, daß er, wenn er ein reicher Mann wäre, an der Börse spielen würde wie auf einem Klavier. Seiner Meinung nach konnte man sich leicht ein ungeheures Vermögen erwerben, wenn man nur das nötige Grundkapital besaß.«

 

»Damit hatte er wahrscheinlich gar nicht so unrecht«, murmelte Mr. Reeder.

 

»Besonders für Ölaktien interessierte sich Mr. Graddle, obwohl niemand bekannt wir, daß er auch nur einen Shilling bei Spekulationen riskiert hatte. Aber er besuchte Abendkurse am hiesigen Polytechnikum – wie er öfter sagte, hatte er die Absicht, umzusatteln und Petroleumingenieur zu werden.«

 

Am Wochenende hielt sich Ernest Graddle für gewöhnlich in London auf und verbrauchte bei diesen Besuchen offensichtlich alle seine Ersparnisse. Als man seinen Schreibtisch öffnete, fand man einen ganzen Stoß von Briefen. Fast alle stammten von Leuten, die petroleumfündige Grundstücke anboten. Allem Anschein nach hatte er sich entsprechende Annoncen aus den Zeitungen herausgesucht und regelmäßig um nähere Auskunft gebeten. Vielleicht hatte er nur ein theoretisches Interesse daran und wollte feststellen, wie zahlreich die einzelnen Petroleumvorkommen waren, die auf dem Markt angeboten wurden. Wie gesagt, nicht das geringste sprach dafür, daß er sich an Spekulationen auf diesem Gebiet beteiligt hätte.

 

Nachdem Mr. Reeder das alles erfahren hatte, dehnte er seine Nachforschungen noch weiter aus.

 

Bei einer amerikanischen Bank erfuhr er, daß Mr. Graddle dort die letzten fünfundachtzigtausend Pfund in amerikanische Banknoten umgewechselt hatte. Der ganz Betrag war an den jungen Mann, der sich durch einen Empfehlungsbrief der Zentral-Bank auswies und die entsprechende Summe in englischem Geld bei sich hatte, ohne weiteres ausgezahlt worden.

 

Schon einige Tage vorher hatte die Bank einen schriftlichen Bescheid erhalten, daß ein Kunde eine größere Summe amerikanischen Geldes in bar benötigte, und man hatte sich auf diesen Fall eingerichtet. Die Beschreibung des jungen Mannes paßte natürlich haargenau auf Ernie.

 

Genaugenommen war das alles ein ganz gewöhnlicher Bankdiebstahl, wie er immer wieder vorkommt. Natürlich war die unterschlagene Summe außerordentlich hoch, aber vor allem in einer Beziehung unterschied sich die Angelegenheit von früheren Fällen.

 

Dieser Unterschied allerdings war merkwürdig – Ernie hatte nämlich auf den ersten Blick keinen einzigen Charakterfehler, wie sie sonst bei einem leichtsinnigen Angestellten üblich waren; vor allem wettete und spekulierte er nicht. Mr. Reeder allerdings traute diesen Angaben nicht ganz. Schließlich hatte er doch den Brief an Ena gelesen, in dem Petroleum erwähnt wurde. Und ihm war klar, was das zu bedeuten hatte.

 

In den Zeitungen werden verhältnismäßig viele Petroleumvorkommen zum Kauf angeboten – und leider ist ein Teil dieser Angebote durchaus nicht solide. Es gibt genügend Gauner, die solche Annoncen aufgeben und damit kleine Leute hereinlegen, die möglichst schnell und einfach reich werden wollen. Möglicherweise war es Graddle ähnlich ergangen.

 

Reeder fragte sich nur: Wer war der Betrüger, der ihn übers Ohr gehauen hatte?

 

*

 

Einige Tage später wurde der ganze Inhalt von Ernies Schreibtisch nach London geschickt, und Mr. Reeder prüfte sorgfältig jedes Blatt Papier. Er hatte mehrere Beamte in die Archive einiger großer Zeitungsredaktionen geschickt; sie hatten den Auftrag, alle Annoncen, die von Petroleum handelten, aus den Anzeigenseiten herauszusuchen. Ein Glück, daß das in England und nicht in Amerika geschah, sonst hätte er eine ganze Armee von Angestellten für diese Aufgabe gebraucht.

 

Ernies Interesse für Petroleum war zum erstenmal vor ungefähr einem Jahr aufgefallen. Wahrscheinlich hatte er Bücher über dieses Thema gelesen, die ihn auf den Gedanken brachten, sich näher damit zu beschäftigen. Ein Werk mit dem Titel ›Weltmacht Petroleum‹ wurde in seiner Wohnung gefunden. Er hatte es eifrig durchgearbeitet, was aus den vielen Randbemerkungen auf jeder Seite ersichtlich war.

 

Die Korrespondenz Ernies ergab einen stattlichen Aktenordner, in dem die einzelnen Schreiben dem Datum nach geordnet wurden.

 

Am nächsten Tag sollten alle diese Briefe mit den herausgesuchten Zeitungsanzeigen verglichen werden.

 

Ein Steckbrief von Mr. Graddle war an jede Polizeidienststelle durchgegeben worden. Vor allem hatte man seine Personenbeschreibung auch allen Autoverleihfirmen mitgeteilt.

 

Um acht Uhr abends rief der Chef von Scotland Yard Mr. Reeder an.

 

»Ich glaube, wir haben eine Spur von Graddle gefunden«, sagte er. »Erinnern Sie sich noch an die Nachricht, daß ein ausgebranntes Auto auf der Landstraße in der Nähe von Shrewton gefunden wurde?«

 

Mr. Reeder wäre fast vom Stuhl gefallen, als er das hörte. Seine phantastische Geschichte, die er aus Langeweile erfunden hatte, schien sich also doch zu bewahrheiten!

 

»Ja, ich erinnere mich.«

 

»Das war Graddles Wagen. Dem Besitzer der Reparaturwerkstätte gegenüber, wo er den Wagen gekauft hatte, nannte er sich Stevenson, nach der Personalbeschreibung wurde er aber erkannt, und als ich später einen Beamten mit einer Fotografie Graddles hinschickte, ließ sich jeder Zweifel ausschalten.«

 

Kapitel 6

 

6

 

Reeder wartete bis drei Uhr morgens auf den Bericht des Beamten, den er mit dem Auftrag, genauere Nachforschungen anzustellen, nach Shrewton geschickt hatte.

 

Es stellte sich heraus, daß das Auto in Brand gesteckt worden war. Zwei Benzinkanister wurden in einem nahen Gebüsch gefunden, und die Untersuchung der Sachverständigen ergab, daß der Wagen mit Benzin übergössen und durch eine Sprengpatrone mit Spätzünder in Flammen gesetzt worden war. Vermutlich war der Zeitzünder auf eine halbe Stunde Brenndauer eingestellt gewesen.

 

Das Nummernschild des Wagens war unkenntlich gemacht worden, aber bei genauerer Untersuchung konnte man immerhin noch die Nummer des Motorblocks und des Fahrgestells feststellen.

 

Stevenson – richtiger Graddle – war auch von dem Wirt eines Gasthauses in Andover auf einer Fotografie, die man ihm vorlegte, wiedererkannt worden. Spät am Abend war er dort mit dem Wagen angekommen. Er hatte einen kleinen Koffer bei sich und bestellte ein Abendessen. Dem Wirt fiel der Mann auf, weil er so bleich und aufgeregt war; einer der Kellner wollte sogar bemerkt haben, daß Graddle sich Tränen aus den Augen wischte.

 

Nachdem er gezahlt hatte, sagte er, daß er nach Bornemouth weiterfahren wolle – aber dann klappte etwas mit seinem Wagen nicht. Er konnte ihn nicht in Gang bringen und war darüber völlig außer sich. Ein Automechaniker wurde geholt und stellte fest, daß er nur vergessen hatte, die Zündung einzuschalten.

 

Während er sich im Gasthaus aufhielt, ließ er den Koffer nicht aus den Augen, auch im Auto stellte er ihn direkt neben sich.

 

Zuerst hatte man gar nicht an diesen aufgeregten Mr. Stevenson gedacht, als man den ausgebrannten Wagen fand. Erst später, als die Polizei das Auto abschleppte und die Nummer des Motorblocks bekanntgab, meldete sich der Besitzer der Reparaturwerkstätte.

 

Alles stimmte genau mit der Geschichte überein, die sich Mr. Reeder seinerzeit ausgedacht hatte.

 

Hätte Mr. Graddle die Nerven behalten, so wäre bestimmt nichts von alledem passiert, was sich in jener für ihn verhängnisvollen Nacht zutrug. Man hätte sicher keine Banknoten auf einem Heuschober und in einem Straßengraben gefunden, und auch der Lehrer wäre nicht ums Leben gekommen.

 

Mr. Reeder hatte von Anfang an vermutet, daß Ernie ein Bankangestellter war. Er nahm auch an, daß er bei der Zentral-Bank arbeitete, denn alle Briefe, die er von ihm zu Gesicht bekommen hatte, waren an der unteren rechten Ecke abgeschnitten gewesen. An dieser ungewöhnlichen Stelle befand sich der Firmeneindruck auf dem Geschäftsbogen der Zentral-Bank.

 

Immerhin brauchen Bankangestellte nicht gleich Verbrecher zu sein, weil sie Geld haben und jungen Damen teure Geschenke machen.

 

*

 

Mr. Reeder nahm sich einen schnellen Polizeiwagen und machte allein eine Entdeckungsfahrt nach Buckinghamshire. Zuvor hatte er sämtliche Akten durchgestöbert, aber nichts Besonderes gefunden. Mr. Mannering, der sich auch Hymie Higson nannte, mußte noch einen anderen Namen besitzen.

 

Reeder scheute vor keiner Mühe zurück und besuchte die verschiedensten Leute. Auch diesmal hatte er den. Eindruck, am besten dann vorwärtszukommen, wenn er allein arbeitete. Er war nun einmal nicht sehr mitteilsam und hielt mit seinen Entdeckungen so lange hinter dem Berg, wie es nur eben anging.

 

Viele seiner Kollegen beklagten sich bitter über diese Angewohnheit. Sie glaubten, daß er jedesmal selbst den Ruhm einstecken wolle, taten ihm damit aber sehr unrecht. In Wirklichkeit war dieser Hang zur Schweigsamkeit nichts anderes als ein Zeichen seines eigenbrötlerischen Charakters.

 

Auch von seiner Fahrt nach Buckinghamshire sagte Mr. Reeder niemand etwas. Als er am Abend zurückgekommen war, nahm er schnell in einem Restaurant eine kräftige Mahlzeit zu sich, dann stieg er am Paddington-Bahnhof in einen Zug nach Maidenhead. Dort mietete er einen Wagen und fuhr durch Nacht und Nebel in die Nähe des Hauses von Captain Mannering.

 

Die schmiedeeisernen Parktore waren geschlossen, und die Mauer, die das Grundstück umgab, hatte in der Nähe der Einfahrt eine beträchtliche Höhe. Mr. Reeder ließ sich davon nicht abschrecken. Er ging an der Mauer entlang, und als er einige hundert Meter zurückgelegt hatte, fand er eine Stelle, wo es ihm ein dicht neben der Mauer emporgewachsener Baumstamm ermöglichte, hinüberzuklettern.

 

Gleich darauf schlich er sich geduckt durch das niedere Gebüsch des Parks.

 

Ena Panton mochte zwar – wenigstens Hymie Higsons Meinung nach – nicht übermäßig intelligent sein. Immerhin konnte sie aber beobachten und hatte bald herausgefunden, daß der Raum, in dem sie gefangengehalten wurde, sorgsam für ihren Aufenthalt vorbereitet worden war.

 

Die Leute, die sie hier festhielten, mußten ihre Entführung schon seit Wochen geplant haben. Das war aus verschiedenen Umständen klar ersichtlich: Die Fenster waren durch Läden verschlossen, die man von außen an die Rahmen angeschraubt hatte; von innen ließen sie sich nicht öffnen. Zur Lüftung des Raumes diente ein Ventilatorschacht, der so hoch oben an der Wand angebracht war, daß sie nicht hinaufreichen konnte. Verschiedene Bücher sollten offenbar dazu dienen, einem Gefangenen die Zeit zu vertreiben. Merkwürdigerweise handelte es sich aber um Lektüre, aus der sich eine Frau bestimmt nichts machte – es waren wissenschaftliche Werke, die sich meist mit Fragen der Petroleumgewinnung befaßten.

 

Schon einen Tag nach ihrer Ankunft erhielt Ena dann Lesestoff, mit dem sie mehr anfangen konnte: illustrierte Zeitschriften, Unterhaltungsromane, Modejournale und Magazine.

 

Sie sprach mit Hymie, mit dem sie verhältnismäßig gut auskam, über ihre Beobachtungen.

 

»Stimmt es, daß Sie schon lange vorhaben, hier jemand gefangenzuhalten?« erkundigte sie sich geradeheraus.

 

»Wie kommen Sie denn darauf?«

 

»Nun, die Maßnahmen, die Sie getroffen haben, sprechen für sich«, entgegnete sie lächelnd.

 

»Erstaunlich, was Sie, für Schlüsse ziehen können! Aber Sie haben recht – seit einem Monat schon warte ich auf das Vergnügen, Sie hier begrüßen zu dürfen.«

 

Energisch schüttelte sie den Kopf.

 

»Das stimmt ja gar nicht. Sie haben jemand ganz anderen hier erwartet – nicht mich, sondern Ernie!«

 

Er starrte sie an.

 

»Was bringt Sie auf diese Idee?«

 

»Das weiß ich nicht. Ich habe nur so ein Gefühl … Wo ist denn Ernie?«

 

»Er ist ins Ausland gefahren.«

 

»Und warum?«

 

»Ich habe Ihnen doch schon oft genug gesagt, daß Sie keine Fragen stellen sollen!«

 

Er ging zum andern Ende des Zimmers, zog einen Vorhang beiseite, der eine schwere eichene Schiebetür verdeckte, schloß auf und schob sie zurück.

 

»Kommen Sie mit, Sie müssen jetzt einen Spaziergang machen. Ziehen Sie aber Ihren Mantel an, es ist kalt draußen.«

 

Sie folgte seiner Aufforderung, und zusammen gingen sie hinaus. Von einem kleinen, kahlen Vorraum aus führte eine Treppe direkt in den Park. Es war bereits dunkel.

 

Dies war schon die zweite Aufforderung zu einem nächtlichen Spaziergang. Beim erstenmal hatte sie sich geweigert, mitzugehen, und er hatte achselzuckend auch nicht darauf bestanden.

 

»Wenn Sie nicht krank werden wollen, müssen Sie sich etwas Bewegung machen«, hatte er nur gesagt. »Aber wie Sie meinen – bleiben Sie ruhig in Ihrem Zimmer sitzen.«

 

Sie sah schließlich ein, daß er recht hatte, und als er sie an diesem Abend wieder zum Spazierengehen aufforderte, begleitete sie ihn widerspruchslos.

 

Viel sehen konnte sie draußen nicht – nur Bäume und in größerer Entfernung einen roten Schein am Himmel. Sie fragte ihn, was dort für eine Stadt läge, aber er gab ihr keine Antwort.

 

»Ist das nicht London?« begann sie wieder.

 

»Schon möglich«, brummte er unwillig.

 

Sie verbrachte nun bereits den vierten Abend als Gefangene, aber ihre Laune war merklich besser geworden, seit sie sich nicht mehr so fürchtete.

 

Auf ihre stete Frage, was er mit ihr anfangen wolle, hätte er ihr am liebsten eine klare Antwort gegeben, denn ihre Anwesenheit behinderte ihn allmählich.

 

Sie machten einen längeren Spaziergang und kehrten dann ins Haus zurück.

 

Als sie am Fuß der Treppe angekommen waren, die nach oben führte, legte er plötzlich den Arm um Ena und versuchte, sie zu küssen.

 

Ena war außer sich und schlug wütend nach ihm. Daraufhin ließ er sie sofort los und stieg schweigend die Treppe hinter ihr hinauf. Er schob sie in ihr Zimmer und schloß die Tür ab. Als er etwas später das Abendessen brachte, zog sie sich in die äußerste Ecke des Raumes zurück und ließ ihn nicht aus den Augen.

 

»Sie brauchen keine Angst zu haben«, knurrte er. »Ich habe mich schlecht benommen, weiß schon – aber es soll nicht wieder vorkommen.«

 

Wenn sie sich nur den Schlüssel zu ihrer Tür hätte beschaffen können! Sie wußte, daß er ihn stets in einer Seitentasche seines Jacketts trug, und versuchte nun, aus der Tasche eines Kleidungsstücks, das sie über eine Stuhllehne hängte, möglichst unauffällig kleine Gegenstände herauszuziehen. Er gab ihr aber vorerst keine Gelegenheit, ihre neuerworbene Fingerfertigkeit auszuprobieren, sondern hielt sich von ihr fern.

 

An diesem Abend war sie ängstlich und stellte Stühle vor beide Türen, bevor sie sich ins Bett legte.

 

Es war neun Uhr. Zwei Stunden später wachte sie plötzlich auf, weil sie ein Geräusch gehört hatte. Ein Schlüssel bewegte sich leise in dem Schloß der Tür, die zur Treppe führte.

 

Im nächsten Augenblick sprang sie aus dem. Bett, drehte das Licht an und schlüpfte in ihren Morgenrock. Sie war bleich und ihre Knie zitterten, als sie zur hinteren Tür schlich, von der das Geräusch gekommen war.

 

Es blieb eine Weile still, dann hörte sie wieder etwas rascheln.

 

»Machen Sie, daß Sie fortkommen!« schrie sie laut. »Wenn Sie es wagen, hier hereinzukommen, bringe ich Sie um – ich habe ein Messer!«

 

Das Geräusch verstummte, und sie lauschte angestrengt. Als sie das Ohr an die Tür legte, glaubte sie, leise Schritte zu hören.

 

Aber dann drehte sie sich plötzlich zur anderen Tür um. Sie ging auf, und Hymie im Morgenrock trat ein. Er machte ein düsteres Gesicht.

 

»Was soll denn der Krach mitten in der Nacht? Wollen Sie etwa einen Fluchtversuch unternehmen? Legen Sie sich sofort wieder ins Bett!«

 

»Haben Sie denn nicht eben versucht, die Tür zur Treppe aufzumachen?«

 

»Was, diese Tür?«

 

Rasch ging er durch das Zimmer, nahm den Schlüssel aus der Tasche und schloß auf.

 

Aber draußen stand niemand.

 

Er leuchtete die Treppe ab, und auch dort konnte er keinen Menschen entdecken.

 

»Wollten Sie mich hinters Licht führen – oder was soll das Theater?« fragte er barsch.

 

Aber dann sah er etwas und bückte sich schnell. Vorsichtig fuhr er mit den Fingerspitzen über den Fußboden – er fühlte eine feuchte Spur, hier mußte vor kurzem jemand gestanden haben.

 

Er schloß die Tür wieder ab, lief aus dem Zimmer und blieb einige Minuten fort. Als er zurückkam, hatte er einen Mantel übergeworfen und trug eine starke Taschenlampe in der Hand. Sorgfältig untersuchte er den Treppenabsatz und probierte dann die Tür, die ins Freie führte. Sie war nicht verschlossen, obwohl er genau wußte, daß er zugesperrt hatte. Draußen regnete es, und der Boden war naß.

 

Hymie stieg die Treppe wieder hinauf, durchquerte Enas Zimmer und rannte die Stufen zu der großen Halle hinunter. Dort saß, bequem in einen Sessel geflegelt, ein Mann und las die Zeitung. Es war derselbe, der den Riegel von Enas Tür entfernt hatte.

 

»Los, wecken Sie die andern!« befahl Hymie. »Rufen Sie auch Janny.«

 

»Was ist denn passiert?« fragte der Mann und ließ die Zeitung fallen.

 

»Jemand hat versucht, über die hintere Treppe ins Haus einzudringen.«

 

Der Mann grinste ironisch.

 

»Sollten das etwa Einbrecher gewesen sein?« meinte er spöttisch.

 

Hymie wurde wütend.

 

»Tun Sie, was ich Ihnen gesagt habe!« fuhr er ihn an.

 

Natürlich war sich Hymie ziemlich im klaren darüber, wer der nächtliche Besucher gewesen war.

 

Unangenehm, sicher – aber deshalb beunruhigte er sich trotzdem nicht zu sehr. Eigentlich hatte er keinen Augenblick daran gezweifelt, daß Mr. Reeder seinen Aufenthaltsort kannte und auch genau wußte, wer sich unter dem Namen eines Captain Mannering verbarg – bestimmt ahnte der Detektiv aber nicht, daß sich Ena Panton hier befand. Und vor allem lag Hymies größtes Geheimnis so gut verborgen, daß er eine Entdeckung nicht zu befürchten brauchte.

 

Hymie war nicht etwa ein gewöhnlicher kleiner Gauner. Er verfügte über ein eigenes, gut funktionierendes Nachrichtensystem und hatte selbst bei der Polizei und im Innenministerium seine Leute sitzen. Kein Haftbefehl konnte ausgestellt werden, ohne daß er es nicht vorher erfuhr – darauf verließ er sich. Sobald er eine entsprechende Nachricht bekäme, wollte er sich aus dem Staub machen. Erst am selben Abend hatte er ein Telefongespräch mit seinem Vertrauensmann geführt, doch dieser hatte ihm versichert, daß Scotland Yard vorerst nichts gegen ihn unternehmen würde.

 

Leider waren Mr. Reeders Methoden und seine Denkweise ganz anders als die der Leute vom Yard. Hymie wußte das nur zu gut. Dieser Detektiv nahm sich Dinge heraus, die sich andere Beamte nicht erlaubt hätten; unter anderem erschienen ihm Haftbefehle manchmal vollkommen überflüssig.

 

Wer anders als Mr. Reeder hätte es gewagt, bei Nacht und Nebel ein fremdes Grundstück zu betreten und in ein Haus einzubrechen!

 

*

 

Als Hymie seine Leute zusammengetrommelt hatte, setzte er ihnen seinen Plan auseinander.

 

»Ich bringe Ena Panton noch heute abend nach Frankreich. Das hätte ich gleich tun sollen. Sie wird dort gut aufgehoben sein. Morgen abend bin ich wieder zurück. Ich brauche einen Wagen aus der Garage, und dann muß zum Flugzeugschuppen telefoniert werden.«

 

Hymie hatte während des Krieges bei der Luftwaffe gedient und besaß eine zweisitzige Sportmaschine, die ihm schon mehrmals gute Dienste geleistet hatte. Sie stand in einem Schuppen auf einem Feld hinter Wycombe. Der Pilotenschein war aber weder auf den Namen Higson noch auf Mannering ausgestellt, wie Mr. Reeder ganz richtig vermutete.

 

»Ich gehe jede Wette ein, daß der Kerl danach gesucht hat«, sagte einer der Leute.

 

Hymie wandte sich ärgerlich nach ihm um.

 

»Wen meinen Sie – doch nicht etwa Reeder?«

 

»Umsonst hat der sich hier nicht herumgetrieben. Sie haben uns doch erzählt, daß er Sie neulich im Klub gefragt hätte, warum Sie fünfzigtausend Dollar in der Gegend herumliegen lassen.«

 

»Ach, das war nur so eine Vermutung von ihm«, erwiderte Hymie schnell.

 

Aber der Mann schüttelte den Kopf. Es war der Gärtner, der das kleine Haus bewohnte und Mr. Reeder sehr gut kannte.

 

»Er kam doch her und brachte die verdammten Hühner. Ich saß gerade draußen, als er mit seinem Wagen vorbeifuhr, und natürlich hat er mich gleich erkannt, obwohl ich überhaupt keine Notiz von ihm nahm.

 

Vor vier Jahren hat er mich geschnappt, als ich Falschgeld losbringen wollte, und der Kerl hat ein Gedächtnis wie kein anderer. Er weiß einfach alles. Bestimmt brachte er auch irgendwie in Erfahrung, daß Sie fliegen können, und hat sich dann nach der Maschine umgesehen. Und wenn er heute abend hier in der Gegend ist, hält er bestimmt nach diesem Mädel Ausschau. Ich glaube, es ist besser, wenn wir alle verschwinden.«

 

Hymie überlegte, und der Vorschlag erschien ihm ganz vernünftig. Es war sehr dumm von ihm gewesen, daß er diese Entführung inszeniert hatte. Die Sache war von Anfang an viel zu gefährlich gewesen.

 

»Gut, holen Sie alle Wagen heraus. Ich gehe inzwischen nach oben und sage es ihr.«

 

Er eilte die Treppe hinauf und den Gang entlang. Oben schloß er die Tür auf – das Zimmer lag im Dunkeln.

 

»Stehen Sie auf und ziehen Sie sich an«, befahl er. »Wir müssen eine kleine Fahrt machen.«

 

Als er keine Antwort erhielt, tastete er nach dem Lichtschalter.

 

»Rühren Sie sich nicht«, sagte Mr. Reeder, als es hell wurde.

 

Er saß am Tisch, hatte den Hut in den Nacken geschoben und richtete einen Revolver auf Hymie Higson.

 

Kapitel 1

 

1

 

Bei den Leuten im Dorf war Mr. Mannering allgemein als ›Der Captain‹ bekannt. Er lebte in Woodern Green, das im äußersten südlichen Winkel von Buckingham liegt, und wahrscheinlich nannten ihn die Leute so wegen seines soldatischen Aussehens und seines schroffen Wesens.

 

Er wohnte in Hexleigh Manor, einem kleinen Haus, das in einem großen Park stand, und man erzählte sich, daß er nicht allzuviel Geld besäße. Das Gebäude befand sich in schlechtem Zustand, als er es übernahm, und er zahlte auch nur einen lächerlich kleinen Betrag als Miete. Interessenten, die vor ihm in das Haus hatten einziehen wollen, verlangten meist die Vornahme umfangreicher Reparaturen, und so war früher nie ein Mietvertrag zustande gekommen.

 

Der Captain hatte nicht darauf bestanden, sondern die notwendigsten Arbeiten selbst ausführen lassen. Er vergab jedoch keinen Auftrag an ortsansässige Handwerker.

 

Er beschäftigte drei Angestellte; zwei davon wohnten im Haus selbst, der dritte in einem kleinen Portierhaus, das ebenfalls auf dem Grundstück stand. Die drei hatten harte Gesichter und ließen sich nie im Dorf sehen. Man hielt sie alle für alte Soldaten, die während des Krieges unter dem Captain gedient hatten.

 

Lebensmittel wurden regelmäßig von den Dorfbewohnern im Portierhaus abgeliefert; es wurde niemand gestattet, zum Hauptgebäude zu kommen. Die Rechnungen ließ der Captain am Ende jeder Woche pünktlich durch Schecks auf eine Londoner Bank bezahlen.

 

Captain Mannering erhielt keine Post mit Ausnahme von Drucksachen und Rundschreiben. Er hatte offenbar weder Freunde noch nähere Bekannte.

 

Nachdem er ein Jahr lang still und zurückgezogen gelebt hatte, trat plötzlich eine Veränderung ein. Lastwagen mit teuren Möbeln kamen von London. Der wortkarge Mann am Eingang des Parks stellte drei Gärtner an, und ein Malermeister erhielt den Auftrag, das Haupthaus auszubessern und das Innere zu renovieren.

 

Mr. Reeder, der als Detektiv bei der Staatsanwaltschaft tätig war, wurde mit Hexleigh Manor auf eine ganz besondere Art bekannt. Alle Welt wußte, daß sein Hobby die Hühnerzucht war; er besaß eine Farm in Kent, wo er seltene und schöne Rassen zog. Auch Captain Mannering legte um diese Zeit einen Hühnerhof an, und der Mann, den er damit beauftragte, wandte sich an Mr. Reeder, der ihn als Sachverständiger beraten sollte.

 

Captain Mannering war nicht zu Hause, als Mr. Reeder hinkam. Fast jeden Tag fuhr der Captain in seinem Wagen zur Hauptstadt. Mr. Reeder konnte also nur mit dem Mann sprechen, der die Hühnerfarm errichten sollte.

 

Nachdem die Angelegenheit zur Zufriedenheit beider abgeschlossen worden war, kletterte Mr. Reeder wieder in seinen Wagen und fuhr nach Hause. Der Weg hatte sich für ihn kaum gelohnt, aber daraus machte er sich nichts. Viel wichtiger war es für ihn, daß er einige seiner selbstgezogenen Tiere untergebracht hatte.

 

Er kam auch an dem Portierhaus in der Nähe des Parktors vorbei. Vor der Tür saß der Angestellte, der dort wohnte, und rauchte seine Pfeife. Er schaute nicht auf, aber Mr. Reeder erkannte ihn sofort.

 

»Da hört sich doch verschiedenes auf«, murmelte der Detektiv erstaunt, denn er kannte den Mann von früher her ganz genau.

 

Mr. Reeders Erinnerungsvermögen war berühmt. Damit und mit seiner unaufhörlichen Neugier fiel er manchen Leuten auf die Nerven.

 

In Scotland Yard erzählte man sich ein wenig neidisch, daß er außerordentlich viel Glück hätte. Man wußte von einer ganzen Anzahl von Fällen, bei denen ihm – wenigstens auf den ersten Blick hin – ein günstiger Zufall die Lösung erleichtert hatte.

 

Mr. Reeder war allerdings gegenteiliger Ansicht; er schrieb seine Erfolge nur seiner eigenen Tüchtigkeit zu.

 

*

 

Bei Gelegenheit, als er gerade einmal nicht soviel zu tun hatte, fuhr er wieder nach Wooden Green und stellte dort einige Nachforschungen an. Nicht, weil er glaubte, daß er davon im Moment irgendeinen Vorteil haben könnte – er wollte ganz einfach seine Neugierde befriedigen.

 

Es war bei ihm geradezu zur Gewohnheit geworden, Erkundigungen einzuziehen und scheinbar ganz unwichtige Nachrichten zusammenzutragen. Tatsachen sammelte er, wie etwa ein Mechaniker oder Bastler Schrauben und Ersatzteile sammelt – nicht, weil er sie im Augenblick benötigt, sondern weil er sie vielleicht irgendwann einmal brauchen kann.

 

Sein Vorgesetzter, dem er von seiner Entdeckung berichtet hatte, fragte ihn, was er erreicht hätte, und Mr. Reeder seufzte.

 

»Ich sehe eben überall nur das Schlechte, selbst bei ganz harmlosen Dingen. Wahrscheinlich kommt das daher, daß ich selbst einen schlechten Charakter habe – mit anderen Worten, den Charakter eines Verbrechers! Wenn ich mutig genug wäre – was Gott sei Dank nicht der Fall ist –, käme ich sicher selbst, auf die schiefe Ebene und geriete mit dem Gesetz in Konflikt.«

 

Der Vorgesetzte grinste verständnisvoll.

 

»Schon gut, Mr. Reeder – ich weiß Bescheid! Damit Sie auf andere Gedanken kommen, möchte ich Sie bitten, morgen Sir Wilfred Hainhall aufzusuchen. Hoffentlich sagt Ihnen Ihr Verbrecherinstinkt, wie Sie ihm am besten helfen können.«

 

Auf diese Weise lernte Mr. Reeder einen einflußreichen Bankkaufmann kennen, der in siebzehn Bankkonsortien zum Aufsichtsrat gehörte und im Präsidium von acht anderen Geldinstituten den Vorsitz führte. Sir Wilfred war über alles genauestens informiert, was sich im Geschäftsleben ereignete. Die Bilanzen einer ganzen Reihe von Firmen kannte er auswendig, und über die Situation des Welthandels war er so gut unterrichtet wie der Wirtschaftsminister selbst. Trotz allen geschäftlichen Spürsinns besaß er aber leider eines nicht – Menschenkenntnis.

 

Mr. Reeder suchte ihn im Auftrag der Staatsanwaltschaft auf, weil einer seiner Angestellten eine Unterschlagung begangen hatte. Im Anschluß an seine Ermittlungen erklärte Mr. Reeder, daß die Geschäftsmethoden ziemlich veraltet seien.

 

»Wenn ich mir die Bemerkung gestatten darf, dann läßt ihr Kontrollsystem – hm – viel zu wünschen übrig.«

 

»Aber das stimmt doch gar nicht«, entgegnete Sir Wilfred entrüstet. »Wollen Sie mir etwa erzählen, wie man ein Geschäft führen muß? Ich glaube nicht, daß Sie der Staatsanwalt zu mir geschickt hat, damit Sie mir einen Vortrag über Buchführung halten!«

 

Er sagte noch mehr, aber Mr. Reeder konnte nicht viel erwidern, da ihn Sir Wilfred Hainhall kaum zu Wort kommen ließ. Die Unterredung fand ein ziemlich plötzliches Ende, da sich der Detektiv schließlich einfach umdrehte und das Haus verließ.

 

Am späten Nachmittag schlenderte Mr. Reeder durch Whitehall. Unterwegs sah er einen Mann, mit dem er sich gern etwas unterhalten hätte, der aber eilig weiterging. Es blieb Mr. Reeder nichts anderes übrig, als hinter dem Betreffenden herzulaufen und ihn am Ärmel zu zupfen.

 

»Was tun Sie denn in der Stadt, Mr. Higson?«

 

Der gutaussehende Mann, der etwa vierzig Jahre alt sein mochte, schaute Mr. Reeder wenig liebenswürdig an, zwang sich dann aber doch zu einem Lächeln.

 

»Hallo, Reeder …«

 

»Mr. Reeder, wenn ich bitten darf. Nun, was führen Sie im Schild? Versuchen Sie wieder, Falschgeld unter die Leute zu bringen – oder handelt es sich diesmal nur um einfachen Diebstahl?«

 

Higson war gut gekleidet, denn es gehörte nun einmal zu seinem Beruf, elegant und vornehm aufzutreten. Er nahm aus seinem goldenen Etui eine Zigarette und steckte sie an.

 

»Ich werde es Ihnen sagen«, erwiderte er dann. Seine Stimme klang weder respektvoll noch unterwürfig. »Als Sie mich seinerzeit durch Ihre verdammten Aussagen ins Gefängnis brachten, hatte ich ein schönes Stück Geld beiseite gelegt. Da bricht Ihnen wohl das Herz, wenn Sie das hören, Sie alter Spürhund, wie? Es waren fünfzehntausend Pfund! Inzwischen habe ich meine Strafe abgesessen, und an das Geld können Sie nicht heran. Ich lasse mir jetzt nichts mehr zuschulden kommen – das kann ich mir leisten. Wenn ich nicht so gut gestellt wäre, würde ich ohne weiteres wieder falsche Fünfpfundnoten vertreiben und bestimmt auch ganz anständig von dem Verdienst leben. Nur würde ich mich diesmal nicht mehr von Ihnen erwischen lassen, Sie gerissener Fuchs!«

 

Mr. Reeder klopfte ihm mit dem Griff seines Schirms so unsanft auf die Schultern, daß Hymie Higson einen Schmerzenslaut ausstieß.

 

»Werden Sie nicht unverschämt«, sagte Mr. Reeder freundlich, »sonst lernen Sie mich noch von einer anderen Seite kennen.«

 

Hymie erinnerte sich plötzlich daran, daß Mr. Reeder recht grob zupacken konnte. Er sah den Detektiv scheu von der Seite an und rieb sich die schmerzende Stelle; dann drehte er sich um und machte, daß er fortkam.

 

»Sehr seltsam«, murmelte Mr. Reeder nachdenklich vor sich hin.

 

Aber diese Begegnung war noch lange nicht so sonderbar, wie die Geschichte mit seinem Dienstmädchen.

 

Lizzie Panton sah unscheinbar aus und fiel auch sonst so wenig auf, daß niemand sich weder für sie noch für ihre Verwandten besonders interessierte. Sie war hager, hatte ein längliches, schmales Gesicht, blasse Hautfarbe und dünne Beine wie Besenstiele.

 

Das Arbeitszimmer Mr. Reeders staubte sie immer sehr sorgfältig ab, zerbrach nichts Wertvolles und machte vor allem niemals den Versuch seinen Schreibtisch aufzuräumen. Ihre Arbeit verrichtete sie so unauffällig wie nur möglich. In ihren Augen war er ›ein älterer Herr‹, und wenn sie sich über etwas wunderte, dann hauptsächlich darüber, daß er einen so altmodischen steifen Filzhut trug. Als ihr Reeders Haushälterin eines Tages erzählte, daß er ein bekannter Detektiv sei, war sie höchst erstaunt.

 

»Was, der?« fragte sie ungläubig.

 

»Sie wollen wohl sagen – Mr. Reeder!« verbesserte die Haushälterin.

 

»Der soll bei der Polizei sein?«

 

»Nicht gerade bei der Polizei, obwohl er viel in Scotland Yard zu tun hat. Er ist Regierungsbeamter und mit besonderen Ermittlungsaufgaben betraut.«

 

»Um Himmels willen!«

 

Das Dienstmädchen hieß eigentlich Elizabeth, aber da das ein so langer Name war, rief man sie einfach Lizzie. Nachdem sie den Beruf ihres Brotgebers erfahren hatte, dachte sie öfters über Mr. Reeder nach. Wenn sie ihm begegnete, sah sie ihn scheu von der Seite her an; manchmal beobachtete sie ihn auch vom Fenster aus, wenn er abends vom Büro heimkam. Aufregend sah er allerdings nicht aus mit seinem zusammengerollten Regenschirm und dem Klemmer, den er meistens an einer Schnur um den Finger wirbelte.

 

Lizzie hatte Sorgen. Sie zerbrach sich schon seit einiger Zeit den Kopf über den Bräutigam ihrer Schwester, die sehr hübsch war. Sie hatte eine so herausfordernde Figur und so schöne Beine, daß kein Mann an ihr vorübergehen konnte, ohne sich umzudrehen. Wer die beiden nebeneinander sah, hätte es nicht geglaubt, daß Ena und Lizzie Panton Schwestern waren.

 

Früher hatte Ena eine Stellung als Stenotypistin gehabt und fünfzig Shilling in der Woche verdient. Dafür hatte sie unzählige Briefe auf der Maschine getippt, Briefe, die für gewöhnlich begannen: »In Erwiderung Ihres werten Schreibens vom …« Jetzt aber brauchte sie nicht mehr zu arbeiten, lebte zu Hause und hatte sich ihr Zimmer gemütlich möbliert. Seit einiger Zeit war sie sogar zu fein dazu, im Bus zu fahren – sie benützte nur noch Taxis, und verschiedentlich hatte sie ihr Bräutigam in einem supereleganten Wagen nach Hause gebracht. Außerdem trug sie zwei wertvolle Brillantringe und hatte drei schicke Abendkleider. Wie sie beteuerte, führte sie aber trotzdem ein ordentliches Leben. Sie war mit Ernie Molyneux verlobt, einem reichen jungen Mann, der nicht in London wohnte, sondern auf dem Lande. Nur übers Wochenende besuchte er sie in der Stadt oder fuhr mit ihr nach Brighton.

 

Die Verbindung war auf ganz normale Weise zustande gekommen. Mr. Molyneux war ein etwas bleicher junger Mann von etwa sechsundzwanzig Jahren, wie es viele gab. Sein Kinn zeugte nicht gerade von Willenskraft, aber sonst sah er sehr gut aus. In Ena hatte er sich bis über beide Ohren verliebt, als er sie einmal zufällig im Kino kennenlernte. Er hatte sie dann nach Hause begleitet und später bei ihren Eltern Besuch gemacht, wie es der Anstand erforderte. Sie hatte ihn ins gute Zimmer geführt und dort über das Wetter und die Politik geplaudert, wie es so üblich war. Er hatte freundlich und liebenswürdig Konversation gemacht und gab auch brav Antwort, als Enas Mutter einige der geschickten Fragen stellte, wie sie Mütter zu stellen pflegten, wenn es sich um die Zukunft ihrer Töchter handelt. Dabei hatte er zugegeben, daß er nicht mehr viel in die Kirche ginge, früher aber sehr eifrig im Kirchenchor mitgesungen habe. Das machte einen guten Eindruck, und man nahm ihn in die Familie auf. Einige Zeit darauf starb sein Onkel in Australien und hinterließ ihm ein großes Vermögen. Erst von da ab war Ena zu vornehm, den Bus zu benutzen, und trug glänzende Brillantringe.

 

Deswegen hätte sich Lizzie Panton aber natürlich noch keine Sorgen gemacht. Sie wurde erst nachdenklich, als sie eines Abends ein vornehmer Herr besuchte. Er kam offensichtlich von einer Gesellschaft, denn er trug einen Smoking. Sein schwarzer Schnurrbart und eine dunkle Brille gaben ihm ganz das Aussehen eines Gentlemans. Es war an einem Samstagabend gegen elf Uhr, als er bei den Pantons in der Friendly Street auftauchte. Die Familie war schon zu Bett gegangen, mit Ausnahme von Lizzie, die sich noch ein paar Strümpfe auswusch. Da sie tagsüber im Haushalt von Mr. Reeder mithalf, fand sie nur wenig Zeit, sich um ihre eigenen Sachen zu kümmern.

 

Sie öffnete die Haustür, als es klingelte.

 

»Bitte entschuldigen Sie vielmals, daß ich so spät noch störe«, begann der Fremde, der vor der Tür stand, mit tiefer Stimme. »Ich möchte Sie fragen, ob hier Familie Panton wohnt?«

 

»Ja«, entgegnete sie erstaunt.

 

»Habe ich vielleicht das Vergnügen, mit Miss Ena zu sprechen?«

 

Er trat einen Schritt näher, als Lizzie unwillkürlich einladend die Tür öffnete, und sah sie prüfend an.

 

»Nein – ich bin Lizzie, Enas Schwester.«

 

»Ach so!«

 

Eine Pause.

 

»Sie sind – Sie sind doch das junge Mädchen, das eine Stellung hat?«

 

Lizzie war die Frage unangenehm, sie fühlte sich in ihrem Stolz verletzt.

 

»Ich helfe bei Mr. Reeder im Haushalt aus«, erwiderte sie schnippisch.

 

Wieder entstand eine längere Pause. Ihre Antwort schien ihn nachdenklich gemacht zu haben.

 

»Sie haben eine Stellung bei Mr. Reeder? Bei welchem Mr. Reeder, wenn ich fragen darf?«

 

»Er wohnt in der Brockley Road. Aber was interessiert Sie das eigentlich alles?«

 

Sie sah, daß er die Stirn runzelte.

 

»Ach – nur so! Ist Miss Ena zu Hause?«

 

»Sie ist eben zu Bett gegangen. Kommen Sie vielleicht von Ernie? Ist ihm etwas zugestoßen?«

 

Er zögerte.

 

»Nein, zugestoßen ist ihm nichts. Aber ich bin ein Bekannter von Ernie und wollte Miss Ena etwas sagen: Ernie und Ena haben heute abend den Text einer Zeitungsannonce aufgesetzt – ich wollte darauf aufmerksam machen, daß diese Annonce unter keinen Umständen erscheinen darf.«

 

Ena war an diesem Abend verhältnismäßig früh nach Hause gekommen, und man hatte die Sache mit der Zeitungsanzeige auch in der Familie ausgiebig besprochen. Ursprünglich war es Lizzies Gedanke gewesen, die Verlobung der beiden auf diese Weise bekanntzugeben. »Dadurch werden sie fester aneinander gebunden«, hatte sie mit weiblicher Schläue zu ihrer Mutter gesagt.

 

Schließlich einigte man sich auf folgenden Wortlaut:

 

›Mr. Ernest Jake Molyneux aus Overdeen, Birmingham, hat sich mit Miss Ena Panton in Brockley verlobt. Die Hochzeit wird in Kürze stattfinden.‹

 

Die Wohnung der Pantons in der Friendly Street lag in Deptford, aber Ena hielt Brockley für vornehmer.

 

»Haben Sie die Anzeige schon aufgegeben?«

 

»Nein, noch nicht«, erwiderte Lizzie, die immer weniger wußte, was sie von dem seltsamen Gast halten sollte. Aber warten Sie doch bitte einen Augenblick, ich werde Ena rufen. Wollen Sie nicht hereinkommen?«

 

Er dankte ihr höflich und blieb im Flur stehen.

 

Kurz darauf kam Ena, die sich schnell einen Morgenrock übergeworfen hatte, herunter. Sie war ein wenig verstört und verärgert, denn schon Ernie hatte wegen der Verlobungsanzeige alle möglichen Ausflüchte gemacht.

 

»Wer sind Sie denn eigentlich?« erkundigte sie sich nicht gerade sehr freundlich.

 

»Ich bin Ernies Vormund«, erklärte der Fremde.

 

Lizzie sah deutlich, daß er seiner Ungeduld nur mühsam Herr wurde.

 

»Meiner Meinung nach ist die Ankündigung Ihrer Verlobung in der Zeitung durchaus nicht notwendig«, fuhr er mit gepreßter Stimme fort. »Wahrscheinlich wissen Sie nicht, daß dadurch Ernies gutes Verhältnis zu einem seiner Onkel getrübt werden könnte. Der alte Herr, der sehr reich ist und Ernie zum Erben eingesetzt hat, wünscht nämlich nicht, daß sich sein Neffe schon verheiratet.«

 

Das machte Eindruck auf Ena. Ihr Bräutigam hatte zwar noch nie etwas von diesem Verwandten erwähnt, aber ein Onkel, von dem man etwas erben kann, ist schließlich immer eine große Annehmlichkeit.

 

»Nun ja, wenn es sich so verhält, dann zerreiße ich die Annonce eben«, entgegnete sie zögernd. »Eigentlich wollte ich sie morgen früh gleich an die Zeitung schicken, aber wenn Sie wirklich glauben, daß ich es besser nicht tun soll …«

 

»Würden Sie so liebenswürdig sein und mir das Blatt geben, auf das Ernest den Text geschrieben hat?«

 

Sie hatte es in ihrem Zimmer, stieg die Treppe hinauf und brachte es herunter.

 

Der Fremde bedankte sich höflich, entschuldigte sich nochmals und ging dann.

 

Lizzie sah ihm durch das Fester nach, wie er auf der Straße in ein Taxi stieg, das dort offensichtlich auf ihn gewartet hatte.

 

»Merkwürdig«, sagte sie kopfschüttelnd.

 

»Da hast du recht«, stimmte ihre Schwester zu. »Au!«

 

Sie stieß einen Schrei aus und sprang zur Seite.

 

»Was hast du denn?«

 

»Ich glaube, ich bin gerade auf eine Maus oder so etwas Ähnliches getreten!« rief Ena bestürzt. Sie hatte keine Pantoffeln an.

 

»Rede doch keinen Unsinn! Haben wir jemals Mäuse im Haus gehabt? Warte, ich werde nachsehen.«

 

Lizzie suchte neugierig den Boden ab und entdeckte, daß neben der Tür tatsächlich etwas Dunkles, Weiches lag. Sie bückte sich und hob es mit spitzen Fingern auf.

 

»Um Himmels willen, schau mal her – ein schwarzer Schnurrbart! Den hat dieser Mensch getragen! Es kam mir gleich so vor, als ob er etwas verloren hätte, als er sich beim Abschied verbeugte.«

 

Die beiden jungen Mädchen schauten sich erstaunt an und wußten nicht, was sie davon halten sollten.

 

»Äußerst merkwürdig«, meinte Lizzie gähnend und schüttelte den Kopf.

 

Ena ließ sich nicht so schnell beruhigen. Sie setzte sich sofort hin und schrieb einen Brief an ihren Bräutigam, in dem sie ihn dringend um Aufklärung bat.

 

Sie hatte ihm schon häufig geschrieben, aber fast niemals eine Antwort darauf erhalten; er hatte ihr einmal lachend erklärt, daß er kein großer Briefschreiber sei und sich lieber persönlich mit ihr unterhielte. Sie konnte sich nur an eine Ausnahme erinnern, als er ihr unter der Woche eine Nachricht aus Birmingham schickte. Ihre eigenen Briefe richtete sie immer an eine Adresse in der Nähe von Haymarket in London. Sie hatte ihn dort, in seiner Stadtwohnung, noch nie besucht, gelegentlich eines Spazierganges aber festgestellt, daß es sich um ein großes Mietshaus mit vielen Einzelwohnungen handelte.

 

Nach diesem sonderbaren Ereignis erhielt Ena noch in der gleichen Woche einen Brief von Ernie, in dem er ihr mitteilte, es wäre alles ein großes Mißverständnis, und obwohl er sie über alles liebe, wäre es doch besser für sie und für ihn, wenn sie sich trennten. Er gab ihr keine triftigen Gründe für diesen plötzlichen Entschluß an, sondern bat sie nur, sie möchte alle Geschenke behalten, die er ihr gemacht hatte.

 

Ena weinte lange über ihr Pech. Schließlich raffte sie sich auf und ging zu dem Haus in der Nähe von Haymarket; dort erfuhr sie aber nur, daß Mr. Molyneux seine Wohnung aufgegeben hatte. Der Portier konnte ihr nicht sagen, wohin er gezogen war.

 

Ena und ihre Schwester waren fassungslos – aber die ganze Sache sollte noch verwickelter und geheimnisvoller werden.

 

Ena erhielt einen weiteren Brief, der offensichtlich in größter Eile geschrieben worden war. Ernie versicherte darin, daß er sie immer noch über alles liebe.

 

Der Brief war auf dem Hauptpostamt in Birmingham aufgegeben worden, aber Ernie gab keine Adresse an, unter der sie ihn erreichen konnte. Am merkwürdigsten war die Tatsache, daß er auf Papierbogen geschrieben hatte, deren rechte untere Ecke abgetrennt worden war:

 

 

›Ich liebe Dich über alles … Ich denke dauernd an Dich – Du allein könntest mich vor diesem furchtbaren Menschen retten, der mir keine Ruhe läßt. Wenn ich Dich doch nur ein einziges Mal sehen und Dir alles erklären könnte – aber er läßt mich ja keine Sekunde aus den Augen! Ständig steht er hinter mir, und dauernd redet er von Petroleum, Petroleum und immer wieder Petroleum … Manchmal wache ich mitten in der Nacht auf und sage mir, daß es gar nicht wahr ist. Die Zeit vergeht und schreckliche Gedanken quälen mich! –‹

 

 

»Was soll denn das alles heißen? Ich verstehe kein Wort davon«, sagte Ena und schluchzte dabei leise vor sich hin.

 

»Eines scheint mir immerhin festzustehen – nämlich, daß er dich liebt«, erwiderte ihre Schwester.

 

»Sicher, daran habe ich auch nie gezweifelt«, entgegnete Ena traurig.

 

Dieser Brief war das letzte Lebenszeichen von Ernie gewesen. Er ließ daraufhin nichts mehr von sich hören.

 

Lizzie, die voll Kummer beobachtete, wie niedergeschlagen ihre Schwester war, sagte sich eines Tages, daß es so nicht weitergehen könne. Sie nahm allen Mut zusammen und brachte Brief und Schnurrbart zu Mr. Reeder.

 

Natürlich wartete sie eine günstige Gelegenheit ab, die sich noch am gleichen Abend bot. Mr. Reeder saß in seinem Lehnsessel vor dem Kamin und döste vor sich hin – schöpferische Pause nannte er so etwas.

 

»Ich bitte vielmals um Entschuldigung, daß ich störe«, begann sie verlegen. »Dürfte ich Sie etwas fragen?«

 

Mr. Reeder blinzelte sie schläfrig an.

 

»Was gibt’s denn, liebes Kind?« murmelte er freundlich, als er sah, daß Lizzie vor ihm stand.

 

»Es handelt sich um meine Schwester«, erklärte Lizzie verlegen. Er richtete sich auf, streckte sich, ging zum Schreibtisch und suchte seinen Klemmer.

 

»Na, und was ist mit Ihrer Schwester?«

 

Er hatte Menschenkenntnis genug, um zu sehen, daß es sich um eine für Lizzie äußerst wichtige Sache handelte – wenn sie auch an und für sich vielleicht geringfügig sein mochte. Sicher handelte es sich um eine der vielen kleinen Tragödien, wie sie sich im Alltagsleben so oft ereignen.

 

»Der Bräutigam meiner Schwester hat sich so sonderbar benommen«, erwiderte Lizzie und erzählte dann, was geschehen war. Aber erst zum Schluß berichtete sie von dem falschen Schnurrbart, der auf sie den größten Eindruck gemacht hatte.

 

Mr. Reeder hörte genau zu und prägte sich jede Einzelheit ein. Als Lizzie geendet hatte, wäre er durchaus in der Lage gewesen, die ganze Geschichte von Enas unglücklicher Liebe zu erzählen – und zwar viel zusammenhängender und besser als Lizzie selbst.

 

»Zeigen Sie mir doch den Brief und den Schnurrbart«, sagte er interessiert.

 

Sie zog beides aus ihrer Schürzentasche und legte die Sachen auf den Tisch.

 

»Ich habe Ena nichts davon gesagt – daß ich den Brief genommen habe, meine ich –, aber ich wußte, daß sie ihn in ihrer linken Kommodenschublade aufbewahrt …«

 

Mr. Reeder war über einige Einzelheiten der Geschichte erstaunter, als er zugab. Anderes erschien ihm dagegen ziemlich alltäglich. Als er aber den Schnurrbart sah, runzelte er die Stirn. Das Ding war sehr gut hergestellt, viel besser als die gewöhnlichen falschen Schnurrbärte, die man in den Geschäften kaufen konnte. Wahrscheinlich hatte ihn ein erfahrener Theaterfriseur verfertigt. Reeder bemerkte Spuren einer Gummilösung an der oberen Seite. Von Rechts wegen hätte der Bart eigentlich mit einem Spezialklebstoff angeklebt sein müssen. Wahrscheinlich hatte er sich bei einer heftigen Bewegung des Trägers gelöst.

 

Der Detektiv stellte nun eine ganze Reihe von Fragen an Lizzie, die jedoch nur einige beantworten konnte. Es erschien ihr sonderbar, daß er sich über alle möglichen merkwürdigen Dinge bei ihr erkundigte, die ihrer Meinung nach nicht den geringsten Zusammenhang mit Mr. Molyneux und dem falschen Schnurrbart hatten. Zum Beispiel wollte er wissen, ob Ernie ihrer Schwester Geld gegeben, und ob Ena den Mann mit dem falschen Schnurrbart einmal in Ernies Gesellschaft gesehen hatte – oder vielleicht jemand, der ihm ähnlich sah? Hatte Ernie früher einmal etwas davon gesagt, daß er ins Ausland, zum Beispiel nach Amerika, gehen wolle?

 

Mr. Reeder interessierte sich viel mehr für den Fall, als Lizzie erwartet hatte. Sie erzählte ihm alles, was sie wußte, und schilderte Ernie als einen liebenswürdigen jungen Mann.

 

»Hat er das geschrieben?« Er zeigte auf den Brief.

 

Sie nickte.

 

»Sind Sie auch vollkommen sicher, daß er das selbst geschrieben hat?«

 

Lizzie war fest davon überzeugt. Sie kannte die Handschrift, denn ihre Schwester hatte ihr die beiden Briefe, die sie von Ernie früher erhalten hatte, natürlich gezeigt. Und außerdem stand eine Widmung von ihm in einem Buch, das er ihr geschenkt hatte.

 

»Haben Sie vielleicht zufällig zugeschaut, als er in das Buch schrieb?« fragte Mr. Reeder eifrig.

 

Sie nickte wieder.

 

»Wie hielt er denn den Federhalter? Etwa so?«

 

Er nahm einen Federhalter vom Schreibtisch und zog einige Schnörkel in der Luft, bevor er die Feder aufs Papier setzte.

 

Lizzie war starr vor Staunen.

 

»Ja, genauso hat er es gemacht. Ich erinnere mich noch daran, weil ich zu meiner Mutter sagte: ›Er scheint nicht zu wissen, was er schreiben soll.‹«

 

Mr. Reeder nickte befriedigt.

 

»Wollen Sie auch wissen, was er in das Buch geschrieben hat?«

 

Er zögerte einen Augenblick.

 

»Natürlich interessiert mich das«, sagte er dann.

 

Diese Kleinigkeit mochte an sich bedeutungslos sein, aber sein Interesse war nun einmal geweckt. Vielleicht konnte er dadurch Rückschlüsse auf den Charakter des jungen Mannes ziehen.

 

Ernie hatte einen Vers geschrieben, der zum Ausdruck brachte, daß es für ein Mädchen besser wäre, ein gutes Herz zu haben, als klug zu sein.

 

»Hm«, meinte Mr. Reeder. »Klingt ja ganz schön.«

 

Kapitel 6

 

6

 

Arthur Jules, der sich stets sehr wichtig vorkam, war ein düsterer, verhältnismäßig kleiner junger Mann. Er trug ein Monokel, hatte eine tadellose Frisur und war immer so gekleidet, als ob er an einer großen Festlichkeit teilnehmen sollte.

 

Als Attaché bei einer südamerikanischen Gesandtschaft befaßte er sich auf eigene Faust mit Diplomatie. In einem Land, wo die Leute mehr verdächtigt werden als in England, hätte man ihm vermutlich äußerst höflich seinen Paß zugestellt und ihn unter besonderer Aufsicht eines Detektivs in seine Heimat abgeschoben.

 

Eines Tages saß er an seinem Fenster, von dem aus er die St. James Street übersehen konnte. Er strich seinen kleinen schwarzen Schnurrbart nachdenklich und unterhielt sich mit Jerry Dornford.

 

Jedermann kannte Jerry. Er besaß all die angenehmen Umgangsformen, die begüterten Leuten einen Verschwender lieb und wert machen. Wie Jules war er Mitglied des Snells-Club. Er gehörte auch all den vornehmen Klubs an, in denen sich die oberen Zehntausend treffen, zahlte pünktlich seine Beiträge, und alle seine Schecks wurden von der Bank honoriert. Man konnte ihm nichts vorwerfen, er war bisher all seinen Verpflichtungen nachgekommen. Er war groß, trug elegante Kleidung, ging aber etwas vornübergeneigt. Seine braunen Haare lichteten sich auf dem Scheitel schon stark. Er hatte tiefliegende Augen und lächelte müde und nachsichtig, wenn er jemand ansah.

 

Jerry hatte ein sehr flottes Leben hinter sich und brauchte viel Geld. Er war Junggeselle und lebte in einer kleinen Wohnung in der Half Moon Street, wo er auch gelegentlich seine Gesellschaften gab.

 

Augenblicklich hatte er wieder einmal dringend Geld nötig, und Jules wußte, wie sehr er in der Klemme war. Die beiden hatten nur wenig Geheimnisse voreinander und kannten sich sehr gut.

 

»Wie heißt denn eigentlich dieser Mann?«

 

»Hervey Lyne.«

 

»Hervey Lyne? Ja, den kenne ich. Das ist ein alter Tapergreis. Als mein Vater in London Legationssekretär war, hat er auch schon Geld von ihm geborgt. Das muß in den neunziger Jahren gewesen sein. Aber ich dachte, der Mann hätte jetzt das Geschäft aufgegeben.«

 

Jerrys Mundwinkel zuckten leicht.

 

»Er hat sich schon lange vom Geschäft zurückgezogen. Seit Jahren schulde ich ihm dreitausend Pfund, jetzt sind es mit Zinsen viertausend geworden. Sie wissen doch, daß ich beim Tod meiner Tante Aussicht auf eine große Erbschaft hatte, aber die alte Hexe hat mir nichts vermacht.«

 

»Und jetzt drängt Sie der Geldverleiher?«

 

»Ja. Er droht, mich zum Bankrott zu treiben, und ich kann ihn leider nicht daran hindern. Bis jetzt habe ich diese Klippe immer vermeiden können. Es hat schon manchmal sehr böse ausgesehen, aber ich habe die Sache stets eingerenkt.«

 

Ein langes Schweigen folgte. Jules strich seinen kleinen Schnurrbart häufiger und schneller.

 

»Mit zweitausend könnten Sie sich helfen? Nun gut, Sie sollen zweitausend haben. Ich stelle nicht die Bedingung, daß Sie zum Kriegsministerium gehen und die Mobilisationspläne stehlen sollen, wie man es in manchen Romanen lesen kann. Aber etwas muß ich doch dafür haben, und zwar für einen Herrn, der einen ähnlichen Beruf hat wie Ihr Freund. Mir erscheint die Summe ja reichlich hoch für einen so kleinen Dienst. Natürlich sage ich das dem Betreffenden nicht. Wenn er so ungeheuere Beträge zahlen will, ist das schließlich seine Sache und berührt mich nicht weiter.«

 

Jerry Dornford sah düster auf die Straße hinaus. Wenn ihm einer sagte, daß er für Geld arbeiten sollte, fiel ihm immer ein, daß er ein Gentleman war, aber er hatte sich schon mit dem Gedanken abgefunden, noch viel unangenehmere Dinge zu tun.

 

»Ich weiß noch nicht genau, ob ich es durchführen kann«, sagte er.

 

In diesem Augenblick kamen zwei Herren in den Rauchsalon. Jerry kannte beide, aber er interessierte sich nur für den einen.

 

»Das ist geradezu ein Wink des Schicksals.«

 

»Wer ist es denn?« fragte Jules. Der zweite war ein Klubmitglied. Aber der andere untersetzte Mann mit den blonden Haaren war ihm fremd.

 

»Das ist Mr. Moran, mein Bankier. Zufällig hat Mr. Lyne auch sein Geld bei ihm.«

 

Jules warf einen schnellen Blick zu den beiden hinüber.

 

»Nun, wie denken Sie über die Sache?«

 

Jerry holte tief Atem, dann schüttelte er den Kopf.

 

»Ich muß es mir erst noch überlegen. Es ist eine ekelhafte Geschichte.«

 

»Aber ein Bankrott wäre doch noch viel ekelhafter«, erwiderte Jules liebenswürdig. »Sie müßten dann aus allen Klubs austreten und wären ein armer Junge wie Mike Hennessey. Das wollen Sie doch sicher nicht?«

 

»Wie kommen Sie auf Mike Hennessey?« fragte Jerry.

 

Jules lachte.

 

»Das ist so eine Gedankenverbindung. Sie gehen doch oft ins Sheridan-Theater? Ich mache Ihnen deshalb nicht die geringsten Vorwürfe. Sie ist wirklich ein hübsches Mädel.« Er verzog den Mund, als ob er pfeifen wollte. »Allenby hat die junge Dame auch sehr gern. Also überlegen Sie es sich noch einmal, Jerry. Sie können mich ja später im Grosvenor-Hotel anläuten.«

 

Er schnappte mit den Fingern, um den Kellner herbeizurufen, schrieb seine Anfangsbuchstaben unter die Rechnung und schlenderte zur Tür. Jerry folgte ihm. Sie mußten an Moran und dessen Freund vorübergehen. Der Bankmann sah gerade auf, nickte Jerry freundlich zu und faßte ihn am Ärmel.

 

»Ich würde diese Woche gern einmal mit Ihnen sprechen, wenn Sie Zeit haben, Jerry.«

 

Dornford vergaß nie, daß er Mitglied des Snells-Club war, wo nur Gentlemen verkehrten. Dieser Mr. Leo Moran stammte aus niederen Kreisen und war früher einmal Bankangestellter gewesen. Jerry ärgerte sich vor allem, daß dieser Mann ihn mit dem Vornamen anredete. Mit einer unwilligen Bewegung machte er sich frei.

 

»Gut, ich werde Sie gelegentlich besuchen«, erwiderte er kühl.

 

Gleich darauf ging er mit Jules die Treppe hinunter.

 

»Dieses Schwein!« sagte er empört. »Wie kommt dieser Kerl in den Klub hinein? Bei Snells geht es auch nicht mehr vornehm zu.«

 

»Es leben alle möglichen Leute auf der Welt, mein Freund, und nicht alle können gleich sein«, entgegnete Jules mit leicht ironischem Unterton. Dann wischte er ein Stäubchen von seinem Rock, klopfte Jerry auf den Arm, als ob er ein Kind wäre, und ging die St. James Street hinauf.

 

Jerry Dornford zögerte eine Sekunde, folgte dann einem augenblicklichen Impuls, winkte ein Taxi heran und fuhr nach Queen’s Gate. Dort stieg er aus und ging zu Fuß weiter.

 

Dick Allenby wohnte in einem großen Haus, das in kleinere Wohnungen aufgeteilt worden war. Da kein Portier vorhanden war, hatte man den Fahrstuhl zur Selbstbedienung eingerichtet. Jerry fuhr zum vierten Stock hinauf und klopfte an Dicks Arbeitszimmer, das in eine Werkstatt verwandelt worden war. Als niemand antwortete, drückte er die Klinke herunter und trat ein. Das Zimmer war leer, aber Dick hatte offenbar Besuch gehabt. Mehrere leere Bierflaschen standen auf einer Werkbank.

 

»Allenby, sind Sie hier?« rief er laut.

 

Alles blieb still. Nun ging Jerry zu dem Tisch, auf dem der Stahlkasten lag, und hob die Kassette auf. Er war befriedigt, daß er sie mühelos tragen konnte, und setzte sie wieder nieder. Dann wandte er sich zur Tür, zog den Schlüssel heraus und betrachtete ihn aufmerksam. Wachs, um einen Abdruck zu machen, hatte er nicht bei sich, weil er kein Berufseinbrecher war. Aber er hatte früher ein paar Semester auf einer Technischen Hochschule studiert, das kam ihm jetzt zustatten.

 

Er lauschte. Vom Fahrstuhl her hörte er kein Geräusch. Wahrscheinlich hielt sich Dick in seinem Schlafzimmer auf, das im Stockwerk darüber lag. Dornford machte auf der Rückseite eines Briefumschlags schnell eine Skizze von dem Schlüssel. Trotz der Schnelligkeit war die Zeichnung sehr genau. Er maß mit dem Bleistift die Länge des Bartes ab und machte sich einige Notizen. Als er hörte, daß jemand die Treppe herunterkam, steckte er den Schlüssel lautlos wieder in die Tür.

 

Er stand gerade vor der Werkbank und betrachtete die leeren Bierflaschen, als Dick eintrat.

 

»Hallo, Dornford, wollten Sie mich sprechen?«

 

Die Frage klang gerade nicht sehr ermutigend und freundlich.

 

Jerry lächelte.

 

»Ja, ich wollte einmal einen Erfinder besuchen und beobachten, wie er arbeitet. Übrigens habe ich Sie neulich im Theater gesehen – muß schon sagen, eine sehr nette junge Dame. Sie war aber verdammt unhöflich zu mir, als ich neulich zum erstenmal mit ihr sprach.«

 

Dick sah ihm gerade ins Gesicht.

 

»Und ich werde auch verdammt unhöflich zu Ihnen sein, wenn Sie die Dame das nächste Mal ansprechen.«

 

Dornford lachte.

 

»Steht es so? Übrigens sehe ich den Alten heute abend – soll ich ihm einen Gruß von Ihnen bestellen?«

 

»Ich würde Ihnen raten, ihm lieber Ihre Schulden zurückzuzahlen«, entgegnete Dick kühl.

 

Er machte diese Bemerkung aufs Geratewohl. Dornford, der sich selten aus der Fassung bringen ließ, zuckte zusammen und konnte seinen Ärger nicht ganz unterdrücken.

 

Merkwürdigerweise war es Dick Allenby noch nie zum Bewußtsein gekommen, wie sehr er diesen Mann haßte.

 

»Warum mögen Sie mich auf einmal nicht mehr? Ich interessiere mich doch überhaupt nicht für Ihre junge Dame. Sie ist eine schöne Frau und ein nettes, liebes Kind, aber auf der Bühne wird sie es in London nicht weit bringen.«

 

»Wenn Sie von Miss Lane sprechen, brauchen Sie kein weiteres Wort zu verlieren. Warum sind Sie eigentlich hergekommen? Sie haben recht, ich bin kein großer Freund von Ihnen. Ich kann mich aber nicht darauf besinnen, daß wir jemals viel füreinander übrig hatten.«

 

»Wir waren doch im selben Regiment«, erwiderte Jerry leichthin. »Großer Gott, das sind nun schon zwölf Jahre her –«

 

Dick öffnete die Tür mit einer nicht mißzuverstehenden Geste.

 

»Ich möchte Sie nicht gern hier in der Werkstatt haben und lege auch keinen Wert auf unsere Bekanntschaft. Wenn Sie meinen Onkel heute abend sehen sollten, dann sagen Sie ihm, daß ich Sie gebeten habe, meine Wohnung zu verlassen.«

 

Jerry Dornford verlor die Ruhe nicht.

 

»Sie kennen wahrscheinlich Tickler, der neulich in einem Auto erschossen wurde?« fragte er.

 

»Ich möchte mit Ihnen nicht über diesen Mord sprechen.«

 

Dick ging auf den Korridor hinaus und zog das Metallgitter vom Lift zurück.

 

Später ärgerte er sich über sich selbst, aber er haßte Jerrys Lebensauffassung und dessen Art, über die Dinge zu reden.

 

Kapitel 7

 

7

 

Die Bank war geschlossen, und Surefoot Smith ging deshalb zu Mr. Morans Wohnung. Er kam an Naylors Crescent vorbei, und dort begegnete ihm zufällig Binny, der Butler des alten Lyne. Er kannte den Mann und wußte, daß er eine geborene Klatschbase war. Plötzlich stieg eine dunkle Erinnerung in ihm auf, daß Binny in irgendwelcher Verbindung mit dem Bankdirektor stehen mußte. Vor vielen Jahren hatte er einmal diesen Bezirk als Polizeibeamter verwaltet, und sein Gedächtnis war außerordentlich gut.

 

»Guten Tag, Mr. Smith.«

 

Binny berührte mit dem Zeigefinger seinen steifen Hut und zögerte einen Augenblick. »Darf ich mir die Frage erlauben, ob es etwas Neues gibt?«

 

»Sie sagten mir doch, daß Sie diesen Tickler kannten?«

 

Binny schüttelte den Kopf.

 

»Ich weiß nur, daß er mein Amtsvorgänger war. Mehr ist mir nicht bekannt.«

 

»Na, das Wort können Sie sich tatsächlich einrahmen lassen«, erwiderte Surefoot kurz. »Er hatte also vorher Ihre Stelle inne. Warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Waren Sie nicht übrigens früher einmal bei einem Bankdirektor Moran in Dienst?«

 

Binny lächelte.

 

»Ich habe schon für die verschiedensten Leute gearbeitet, zum Beispiel war ich Kammerdiener bei Lord Frenley –«

 

»Sie brauchen mir Ihre Lebensgeschichte nicht zu erzählen, Binny. Was für ein Mann ist denn dieser Moran? Netter, freundlicher Charakter – großzügig, gibt gern Geld aus?«

 

Binny dachte nach, als ob sein Lebensglück von seiner Antwort abhinge. »Ja, er war wirklich ein sehr netter Herr. Aber ich war nur sechs Monate bei ihm, er wohnt direkt hier um die Ecke am Park.«

 

»Ist er ein ruhiger Mensch?«

 

»Ich habe niemals gehört, daß er großen Lärm machte –«, begann Binny.

 

»Sie haben mich falsch verstanden«, erklärte Surefoot Smith ärgerlich. »Ich meine, ob er viel auf Weiber, Wein und Spiel gibt. Sie kennen doch die Art Leute. Schließlich sind Sie auch einmal jung gewesen, Binny.«

 

»Nein, ich könnte nicht sagen, daß sich Mr. Moran viel daraus gemacht hätte. Früher gab er immer kleine Gesellschaften, Damen und Herren vom Theater waren meistens eingeladen. Aber damit ist es vorbei, seitdem er sein Geld verloren hat.«

 

Surefoot kniff die Augen zusammen.

 

»Seitdem er sein Geld verloren hat? Was soll das heißen? Er ist doch Bankdirektor und mit einem festen Gehalt angestellt. Wie konnte er denn da Geld verlieren?«

 

»Es war sein eigenes Geld«, sagte Binny. »Deshalb mußte ich auch damals meine Stellung bei ihm aufgeben. Er hatte verschiedene Anteile an einer großen Bank, und die brach zusammen.«

 

»Na, das ist ja sehr interessant. Er hat also Schauspieler und Schauspielerinnen eingeladen, gern Wein getrunken und dergleichen mehr.«

 

Binny fühlte sich nicht wohl und sah sich ängstlich nach rechts und nach links um, als ob er davonlaufen wollte.

 

»Haben Sie es eilig?« fragte der Polizeibeamte.

 

»Ja – der Hauptfilm beginnt in zehn Minuten, und ich möchte den Anfang nicht gern versäumen.«

 

»Ach so, ins Kino wollen Sie. Sagen Sie mir aber noch, wie das mit Tickler war. Hatte der jemals eine Stellung bei Moran?«

 

Binny überlegte.

 

»Nein – nein. Er war Butler bei Mr. Lyne, als ich den Posten bei Mr. Moran hatte. Aber genau kann ich es im Augenblick wirklich nicht mehr sagen. Wissen Sie übrigens, daß Mr. Moran heute abend einen Radiovortrag hält?«

 

Surefoot sah ihn erstaunt an.

 

»Mr. Moran spricht über das Bankenwesen«, fuhr Binny fort. »Er hält regelmäßig Vorträge.«

 

Surefoot Smith interessierte sich wenig dafür. Er stellte noch ein paar Fragen über den unglücklichen Tickler und ging dann seines Weges.

 

Parkview Terrace war ein vornehmer Häuserblock, den man nach dem Krieg wie so manches andere große Gebäude in kleine Wohnungen aufgeteilt hatte.

 

Mr. Moran wohnte im obersten Stockwerk, und Surefoot Smith traf ihn zu Hause an. Der Bankdirektor war gerade dabei, sich zum Abendessen umzukleiden.

 

Smith wurde in einen großen Raum geführt, der sehr luxuriös und geschmackvoll eingerichtet war. Von zwei Fenstern hatte man einen schönen Ausblick auf den Park und den Kanal. Aber der Beamte achtete nicht darauf. Er interessierte sich mehr für die kostbare Ausstattung des Zimmers, die er mit dem verhältnismäßig bescheidenen Gehalt eines Bankdirektors nicht in Einklang bringen konnte.

 

Ein Perserteppich bedeckte den Fußboden, die Beleuchtungskörper an den Wänden waren anscheinend aus Silber. Im Hintergrund stand eine große, sehr bequeme Couch. Besonders fiel Smith eine prachtvolle Glasvitrine auf, die eine Sammlung kostbarer Miniaturen enthielt. Von Gemälden verstand er nicht viel, aber zwei der großen Bilder, die die Wände zierten, hielt er für sehr wertvoll.

 

Er betrachtete noch den Inhalt der Vitrine, als er Schritte hinter sich hörte. Er wandte sich um und sah Mr. Leo Moran vor sich. Der Bankdirektor trug einen seidenen Schlafrock.

 

»Hallo, Mr. Smith! Wir sehen uns ja gerade nicht allzu häufig. Nehmen Sie Platz und trinken Sie ein Glas.« Er klingelte. »Ihr Lieblingsgetränk ist doch Bier?«

 

»Ganz recht«, erklärte Surefoot befriedigt. »Sie haben aber eine sehr schöne Wohnung.«

 

»Ja, es wohnt sich hier nicht schlecht«, entgegnete der Bankmann gleichgültig. Dann zeigte er auf ein Gemälde. »Das ist ein echter Corot. Mein Vater hat einmal dreihundert Pfund dafür bezahlt. Aber es ist dreitausend wert.«

 

»Ihr Vater war sehr wohlhabend?«

 

Moran warf ihm einen schnellen Blick zu.

 

»Ja, er hatte Geld. Warum fragen Sie danach? Sie glauben doch nicht etwa, daß ich eine Wohnung wie diese mit meinem jetzigen Gehalt hätte einrichten können? Oder denken Sie, daß ich mir auf unrechte Weise Geld beschafft und die Bank betrogen hätte?«

 

»Hoffentlich kommt mir ein solcher Gedanke niemals«, erwiderte Smith ernst.

 

»Bier«, sagte Moran, als sich der Diener in der Tür zeigte. »Aber Sie sind doch mit einer bestimmten Absicht hergekommen? Um was handelt es sich denn?«

 

Surefoot runzelte die Stirn.

 

»Ich stelle Nachforschungen nach diesem Tickler an.«

 

»Ach, das ist der Mann, der neulich erschossen wurde. Wollten Sie fragen, ob ich ihn kannte?«

 

»Ja.«

 

»Der Kerl war eine furchtbare Landplage. Er lauerte mir öfter an der Haustür auf und wollte mir etwas erzählen oder etwas verkaufen – ich habe mich aber nicht mit ihm abgegeben, sondern ihn immer kurz abgefertigt.«

 

Moran hatte sehr schnell gesprochen. Seine manchmal rauhe und etwas gewöhnlich klingende Sprache verriet, daß er keine gute Kinderstube hatte.

 

»Meinen Sie vielleicht, ich hätte den Mann ermordet?« fragte er geradezu.

 

Surefoot lächelte. Es war allerdings nicht klar, ob er über die sonderbare Frage oder über die Flasche Bier lächelte, die der Diener gerade hereinbrachte.

 

»Kennen Sie Miss Lane?«

 

»Ja, oberflächlich«, entgegnete Moran kühl.

 

»Wirklich ein hübsches Mädchen – also, auf Ihr Wohl!«

 

Surefoot hob das Glas und trank es in einem Zuge aus.

 

»Gutes Bier.«

 

»Warum fragen Sie mich nach Miss Lane?«

 

»Ich wußte, daß Sie sich für das Theater interessieren. Sie haben doch früher Gesellschaften gegeben und Leute vom Theater dazu eingeladen?«

 

Der Bankdirektor nickte.

 

»Ja, vor vielen Jahren, in meiner blühenden Jugend. Aber trotzdem verstehe ich die Frage nicht.«

 

»Ach, es interessierte mich nur«, sagte Smith leichthin.

 

Mr. Moran ging im Zimmer auf und ab.

 

»Warum sind Sie hergekommen, Smith? Zum Teufel, Sie sind doch nicht ein Mann, der bloß herumläuft und alberne Fragen stellt. Sie bringen mich irgendwie mit dem Mord an diesem Herumtreiber in Zusammenhang.«

 

Smith schüttelte den Kopf.

 

»Sie können mir doch wenigstens sagen, was los ist«, fuhr Moran fort. »Seien Sie doch nicht so geheimnisvoll und erzählen Sie mir, warum Sie hier sind.«

 

Mr. Smith wischte seinen Schnurrbart ab und erhob sich langsam. Vor einem Spiegel rückte er seine Krawatte zurecht.

 

»Nun gut, ich will Ihnen im Vertrauen mitteilen, um was es sich handelt. Wir erhielten einen anonymen Brief, dessen Herkunft jedoch nicht schwer festzustellen war. Er war von Ticklers Wirtin abgeschickt. Einer meiner Beamten hat sich mit ihr unterhalten und dabei folgendes erfahren: Tickler trank viel, und wenn er zuviel geladen hatte, was manchmal zweimal am Tage passierte, sprach er mit seiner Wirtin gewöhnlich über Sie.«

 

»Was, über mich?« fragte Moran schnell. »Aber er kannte mich doch gar nicht näher?«

 

»Viele Leute sprechen über andere, die sie gar nicht näher kennen. Sehen Sie, wenn man wie Sie in der Öffentlichkeit lebt –«

 

»Aber das stimmt nicht. Ich lebe durchaus nicht in der Öffentlichkeit. Ich bin weiter nichts als ein kleiner, verhältnismäßig armer Bankdirektor, der seinen Beruf haßt. Ich würde gern viel Geld dafür geben, wenn ich alle Bankbücher auf einen Haufen werfen und ein Freudenfeuer anzünden könnte. Ich hasse die Bank und alles, was damit zusammenhängt. Man würde viel besser einen Nachtklub daraus machen.«

 

Smith schaute ihn verwundert an. Dieses Eingeständnis überraschte ihn vollkommen. Morans Züge hatten sich verfinstert, und seine Stimme klang leidenschaftlich erregt, als er weitersprach.

 

»Früher hat man mich beinahe einmal aus der Bank hinausgeworfen, weil ich spekulierte. Ich wäre ruiniert gewesen, und ich mußte die Generaldirektoren auf Knien bitten, mich zu behalten. Ich nahm mir, vor, meinen Beruf so bald wie möglich aufzugeben, aber jedesmal, wenn ich soweit war, kam mir irgend etwas dazwischen.« Er wandte sich an Smith. »Ich kenne Tickler wirklich nicht. Warum er über mich geredet hat, kann ich Ihnen nicht erklären. Ich habe nicht die geringste Ahnung.«

 

Surefoot Smith sah auf seinen Hut, der auf dem Stuhl lag.

 

»Kennen Sie Mr. Hervey Lyne?«

 

»Ja, er ist ein Kunde unserer Bank.«

 

»Haben Sie ihn in letzter Zeit einmal gesehen?«

 

»Nein, in den letzten zwei Jahren nicht.«

 

»Ach so.«

 

Surefoot Smith sagte das nur, weil ihm im Moment nichts Besseres einfiel.

 

»Gut, ich will jetzt gehen. Es tut mir leid, daß ich Sie aufgehalten habe. Aber Sie wissen ja, unser Beruf bringt das mit sich.«

 

Er reichte dem Bankdirektor seine große Hand. Aber Mr. Moran war so in Gedanken versunken, daß er es übersah. Nachdem er die Tür hinter seinem Besucher geschlossen hatte, ging er in sein Schlafzimmer und setzte sich auf den Rand des Bettes. Nach einer Weile stand er auf, ging quer durch das Zimmer zu einem eingebauten Safe, der hinter einem Bild versteckt war, öffnete ihn und entnahm ihm eine Anzahl von Schriftstücken, Sorgfältig sah er sie durch, legte sie dann in den Schrank zurück und holte eine dicke Brieftasche heraus, in der sich merkwürdige farbige Papiere befanden – Eisenbahn- und Schiffskarten. Obenauf lag sein Paß, und darin ein Paket von dreißig Banknoten zu je hundert Pfund.

 

Er schloß den Safe wieder, hängte das Bild darüber und kleidete sich dann vollkommen an. Er war bestürzt. Die zufällige Erwähnung von Hervey Lyne hatte ihn erschreckt.

 

Kapitel 8

 

8

 

Als um acht Uhr abends der Vortrag über »Bankwesen und Sparsystem« im Radio angekündigt wurde, schalteten die meisten Teilnehmer ab, um auf die Jubilee-Jazzband zu warten, deren Spiel um neun Uhr von Manchester übertragen werden sollte.

 

Binny mußte seinem Herrn das Programm vorlesen und kam schließlich auch zu dem Vortrag von Mr. Moran um acht.

 

»Ach, Moran, ist das der Mensch, der gestern hier war?« fragte der alte Herr.

 

»Jawohl.«

 

»Bankwesen!« brummte Lyne. »Nein, das will ich nicht hören.«

 

»Sehr wohl«, entgegnete der Butler.

 

Die weißen, runzeligen Hände des Alten tasteten an dem Tisch entlang, bis sie die goldene Uhr fanden. Dann drückte er auf den Knopf.

 

»Sechs«, sagte er, als die Repetieruhr geschlagen hatte. »Geben Sie mir meinen Salat.«

 

»Ich habe den Chefinspektor heute getroffen, der neulich hier war, diesen Mr. Smith –«

 

»Ich habe Ihnen gesagt, Sie sollen mir meinen Salat bringen.«

 

Hühnersalat mit Mayonnaise war stets die letzte Mahlzeit, die Lyne jeden Tag zu sich nahm. Binny servierte ihm das Essen, aber er konnte ihm nichts recht machen. Wenn er redete, sollte er den Mund halten, und wenn er schwieg, schimpfte der Alte, daß er blöde sei und nichts sage.

 

Der Butler räumte schließlich das Geschirr ab und stellte eine Tasse vor seinen Herrn. Als er sich entfernen wollte, wurde er jedoch zurückgerufen.

 

»Wie stehen die Aktien von Cassari-Petroleum?«

 

Binny hatte die Kurse auf dem Petroleummarkt seit langem nicht mehr verfolgt und konnte deshalb keine Auskunft geben.

 

»Holen Sie eine Zeitung, Sie alter Esel!«

 

Binny brachte ein Abendblatt. Morgens, mittags und abends mußte er seinem Herrn die Kurse der Industrieaktien vorlesen, was er immer sehr langweilig fand. Mr. Lyne hatte sein Geld in goldsicheren Papieren angelegt, die kaum ihren Kurs änderten. Cassari-Petroleum war allerdings eine unangenehme Überraschung gewesen. Die Aktien waren Teile des Vermögens, das er als Treuhänder für Mary Lane verwaltete. Er zögerte lange Zeit, bevor er sie verkaufte und sie gegen sichere Papiere eintauschte. Zwei Jahre lang hatte er sie in Besitz gehabt, und zwei Jahre lang hatte er sich dauernd geängstigt. Die Preise stiegen und fielen wie die Flammen eines Papierfeuers; höchstens eine Woche hielten sie sich.

 

Binny las die Notierung vor, und Mr. Lyne quittierte mit einem Brummen.

 

»Wenn sie in die Höhe gegangen wären, hätte ich die Bank verklagt. Dieser niederträchtige Moran hat mir den Rat gegeben, sie zu verkaufen.«

 

»Sind sie denn in die Höhe gegangen?« fragte Binny interessiert.

 

»Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten«, knurrte der Alte unfreundlich.

 

Um sieben Uhr kam Jerry Dornford. Dauernd hatte er sich unterwegs wiederholt, welche Entschuldigungsgründe er vorbringen wollte. Er hatte das Gefühl, daß er als der letzte Schuldner des alten Finanzmannes von diesem behandelt wurde wie die Maus von der Katze. Sicher freute sich der Mann an seiner Verlegenheit und wollte sich erst noch an seinen Qualen weiden, bevor er ihn erledigte. In dieser Annahme hatte Jerry bis zu einem gewissen Grad recht.

 

Hervey empfing ihn mit einem Grinsen, das eigentlich ein Lächeln sein sollte. »Nehmen Sie Platz, Mr. Dornford«, sagte er mit seiner hohen Stimme. »Binny, gehen Sie hinaus.«

 

»Binny ist nicht hier, Mr. Lyne.«

 

»Dann lauscht er draußen – immer horcht er am Schlüsselloch. Sehen Sie doch einmal nach.«

 

Dornford öffnete die Tür, konnte aber nichts von dem Butler sehen.

 

»Sie kommen also wegen des Geldes«, begann der Alte dann. »Dreitausendsiebenhundert Pfund, wenn ich nicht irre, wollten Sie mir doch heute abend zahlen, nicht wahr?«

 

»Ich bin leider nicht in der Lage, Ihnen heute abend die Summe zu geben, und es wird mir auch nicht so bald möglich sein«, erwiderte Jerry. »Ich kann die Schuld auf keinen Fall schnell begleichen, aber ich habe alles vorbereitet, um Ihnen vier- bis fünfhundert Pfund abzahlen zu können.«

 

»Die leihen Sie wohl von Stelbey, was?«

 

Jerry verwünschte sich selbst wegen dieser Dummheit. Er wußte doch, daß die Geldverleiher untereinander eine Liste all der Leute auswechselten, die sie um ein Darlehen angingen.

 

»Nun, ich kann Ihnen schon im voraus sagen, daß Sie das Geld nicht bekommen. Aber Sie müssen sich Geld beschaffen, sonst übergebe ich die Sache morgen meinem Anwalt.«

 

Diese Drohung hatte Jerry erwartet.

 

»Wenn ich Ihnen Ende der Woche zweitausend Pfund bar bezahlen könnte, würden Sie mir dann genügend Zeit geben, die Restsumme zu besorgen?«

 

Jerry war selbst erstaunt, daß seine Stimme heiser klang. Er hatte doch schon viele Krisen durchlebt und sich nicht aus der Fassung bringen lassen. Aber diesmal war er aufgeregt und nervös.

 

»Wenn Sie zweitausend beibringen, können Sie auch dreitausendsiebenhundert beschaffen. Bis Ende der Woche wollen Sie Zeit haben? Ich gebe Ihnen keinen Tag. Und außerdem, woher wollen Sie denn die zweitausend nehmen?«

 

Jerry räusperte sich.

 

»Ein Freund von mir –«

 

»Das ist doch eine Lüge«, erwiderte Lyne zynisch. »Sie haben keine Freunde. Die Leute, die früher mit Ihnen verkehrten, wollen nichts mehr von Ihnen wissen. Ich werde Ihnen sagen, was ich mit Ihnen mache.« Der Alte lehnte sich über den Tisch und stützte die Fäuste auf die polierte Mahagoniplatte. Er genoß diesen Augenblick des Triumphes. »Ich gebe Ihnen Zeit bis morgen abend um sechs. Dann zahlen Sie mir entweder die ganze Summe, oder ich treibe Sie zum Bankrott.«

 

Wenn er nur einigermaßen hätte sehen können, würde ihn der haßerfüllte Blick Jerrys erschreckt haben. Aber er sah nichts und fühlte nur, daß seine Worte Eindruck gemacht hatten.

 

»Verstehen Sie, was ich sage?«

 

»Ja, ich verstehe.«

 

»Morgen bringen Sie mir das Geld, dann bekommen Sie den Schuldschein. Aber pünktlich um sechs, sonst übergebe ich die Sache dem Gericht und meinem Anwalt.«

 

»Aber Mr. Lyne, zweitausend Pfund sind doch auch eine schöne Summe.«

 

»Bis morgen abend die ganze Summe. Ich habe weiter nichts zu sagen.«

 

Jerry stand auf. Er zitterte vor Wut.

 

»Aber ich habe Ihnen noch etwas zu sagen, Sie verdammter alter Wucherer! Sie Bluthund, Sie wollen mich zum Bankrott treiben?«

 

Hervey Lyne hatte sich erhoben und zeigte mit seiner weißen Hand auf die Tür.

 

»Machen Sie, daß Sie hinauskommen!« Auch der Alte konnte vor Aufregung kaum noch sprechen. »Bluthund hat er gesagt einen verdammten alten Wucherer hat er mich genannt – Binny!«

 

Der Butler kam die Treppe von der Küche herauf.

 

»Werfen Sie ihn hinaus, werfen Sie den Kerl die Treppe hinunter!« zeterte der Alte.

 

Binny zuckte mit den Achseln, als er vor dem Mann stand, der einen Kopf größer war als er selbst.

 

»Es ist besser, Sie gehen jetzt«, wandte er sich dann leise an ihn. »Und hören Sie nicht auf das, was ich sage. – Wollen Sie wohl machen, daß Sie sofort aus dem Haus kommen?« brüllte er und machte geräuschvoll die Haustür auf. »So!« Er schlug sich mit der flachen Hand auf den Schenkel und sah Mr. Dornford entschuldigend an.

 

Als er wieder nach oben kam, hatte sich der Alte erschöpft in die Kissen zurückgelegt.

 

»Haben Sie ihn auch ordentlich verprügelt?« fragte er schwach.

 

»Und ob ich ihn geschlagen habe! Ich habe mir beinahe das Handgelenk gebrochen.«

 

»Darauf kommt es gar nicht an. Haben Sie ihm das Handgelenk gebrochen?«

 

»Der muß mindestens zwei Ärzte rufen, daß sie ihn wieder kurieren«, erklärte Binny mit Überzeugung.

 

»Ich glaube überhaupt nicht, daß Sie ihn angerührt haben, Sie armseliger Wurm«, erwiderte Lyne. Sein Mund zuckte verächtlich.

 

»Haben Sie es denn nicht gehört?« fragte Binny vorwurfsvoll.

 

»Ja, Sie haben die Hände zusammengeschlagen, Sie alter Lügner! Wenn ich auch blind bin, kann ich doch noch sehr gut hören. Haben Sie vielleicht vorige Nacht den Einbrecher auch geprügelt – oder wann war es? Nein, Sie haben ihn nicht einmal gehört!«

 

Binny sah ihn hilflos an. Vor zwei Nächten hatte jemand eine Scheibe an der Rückseite des Hauses eingedrückt und ein Fenster geöffnet. Ob der Einbrecher in die Küche gekommen war, konnte man nicht sagen. Lyne, der nur einen leichten Schlaf hatte, hörte die Scherben auf den Boden fallen, ging von seinem Schlafzimmer zur Treppe und rief Binny, der im untersten Stockwerk neben der Küche schlief.

 

»Haben Sie den etwa verprügelt? Haben Sie den überhaupt gehört?«

 

»Ich habe ja gleich geraten, die Polizei zu rufen«, erwiderte Binny. »In solchen Fällen ist es immer das beste, wenn man den gesetzmäßigen Weg geht.«

 

»Machen Sie, daß Sie verschwinden«, brüllte der Alte noch wütender. »Jetzt redet er von Gesetz und Polizei! Glauben Sie denn, ich will eine Menge von tölpelhaften Polizisten hier in meinem Haus haben? Scheren Sie sich fort – ich werde ganz krank, wenn Sie hier im Zimmer sind!«

 

Binny machte schnell, daß er fortkam.

 

*

 

Lyne saß erregt in seinem Stuhl und sprach mit sich selbst. Er faltete die Hände auf dem Tisch, dann trommelte er nervös mit den Fingern auf der Platte. Als es nach einiger Zeit acht schlug, drehte er den Lautsprecher an.

 

»Bevor ich über das Bankwesen in England spreche, möchte ich erst noch ein paar Worte über die historische Entwicklung der Banken in früheren Zeiten sagen …«

 

Hervey Lyne richtete sich auf und lauschte gespannt. Sein Gehör war, wie er gesagt hatte, noch außerordentlich gut.

 

Kapitel 9

 

9

 

Dick Allenby sagte niemals, daß er verlobt sei, und auch an Mary Lanes Hand war kein Verlobungsring zu sehen. Er erwähnte dies beiläufig, als er zwischen den beiden letzten Akten in ihrer Garderobe saß. Sie sprachen miteinander durch einen Wandschirm, hinter dem sie sich umkleidete.

 

»Ich werde noch einen schlechten Ruf bekommen«, meinte er. »Nichts schädigt das Ansehen eines Erfinders mehr, als wenn ihn der Portier am Bühneneingang eines Theaters genau kennt. Er läßt mich jetzt schon ohne Frage durch und nickt nur freundlich, wenn ich auftauche.«

 

»Dann solltest du eben nicht so oft kommen!«

 

»Ich will nicht gerade sagen, daß es eine Sache auf Leben und Tod mit uns beiden ist, aber du bist mir doch wichtiger und teurer als irgend etwas auf der Welt.«

 

»Einschließlich deiner letzten Erfindung?«

 

»Ach, du meinst die Luftpistole?« fragte er verächtlich. »Übrigens hat ein deutscher Ingenieur mir heute im Namen seiner Essener Firma zehntausend Pfund für das Patent geboten.« –

 

»Was hatte denn der gute Mann?« fragte sie belustigt.

 

»Ja, ich war auch verwundert.« Dick steckte sich verbotenerweise eine Zigarette an. »Du mußt aber nicht denken, daß der Mensch irgendwie betrunken oder nicht bei Verstand war. Er ist ein sehr tüchtiger Mann, der weiß, was er will. Er sagte, daß er mich für einen der größten Erfinder unserer Zeit hielte.«

 

»Das bist du auch, Liebling.«

 

»Das weiß ich«, erklärte Dick befriedigt. »Aber es klang so nett, als mir der Deutsche das sagte. In allem Ernst, Mary, ich hatte keine Ahnung, daß meine Erfindung soviel wert ist.«

 

»Wirst du das Patent verkaufen?«

 

Er zögerte.

 

»Ich bin noch nicht ganz sicher. Aber die Aussicht, soviel Geld auf einmal zu verdienen, hat mich auf die Idee gebracht, daß wir beide uns doch verloben und heiraten könnten.«

 

Mary nahm die Puderquaste.

 

»Ich werde noch eine sehr erfolgreiche Schauspielerin werden.«

 

»Du bist es schon. Du hast es fertiggebracht, daß dir ein großes Genie einen Heiratsantrag macht.«

 

»Weißt du, wovor ich mich fürchte?«

 

»Ich wüßte nicht, wovor du dich fürchten solltest, wenn es nicht die Hochzeit ist.«

 

»In der letzten Zeit ist mir öfters der Gedanke gekommen«, entgegnete sie ernst, »daß dein Onkel mir all sein Geld hinterlassen könnte.«

 

Er lachte leise.

 

»Deshalb lasse ich mir keine grauen Haare wachsen. Aber warum kommst du gerade jetzt darauf?«

 

Sie war mit ihrer Garderobe fertig und schob den Wandschirm beiseite.

 

»Einmal hat er so etwas Ähnliches gesagt«, entgegnete sie nachdenklich und biß sich auf die Unterlippe. »Und als ich das letzte Mal bei ihm war, hatte ich den Eindruck, daß er dich ungeheuer haßt. Schon allein um dich zu ärgern, wird er mir sein Vermögen hinterlassen, und das wäre entsetzlich.«

 

Er starrte sie verwundert an.

 

»Aber um Himmels willen, warum denn?«

 

»Dann wäre ich gezwungen, dich zu heiraten.«

 

»Du meinst, nur um dem Alten ein Schnippchen zu schlagen?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Nein. Aber es wäre schrecklich.«

 

»Ich glaube, du machst dir unnötige Sorgen. Der Alte wird wahrscheinlich sein Geld eher einem Hundeheim als mir oder dir vermachen. Hast du ihn in letzter Zeit öfters gesehen?«

 

Sie erzählte ihm von ihrem letzten Besuch, aber das wußte er schon alles.

 

Während sie sich noch unterhielten, klopfte es an die Tür. Mary erhob sich schon halb, weil sie dachte, ihr. Auftritt wäre gekommen. Als aber noch einmal geklopft wurde, rief sie: »Herein!«

 

Leo Moran erschien in der Tür. Er warf Dick einen verschmitzten Blick zu.

 

»Sie hätten sich lieber meine Rede im Radio anhören sollen, als Ihre Zeit im Theater zuzubringen«, sagte er.

 

»Haben Sie schon wieder einen Vortrag gehalten?« fragte Dick lächelnd. »Muß man sich so elegant anziehen, wenn man vor dem Mikrophon steht?«

 

»Ich gehe zu einem Souper.«

 

Es klopfte wieder, und sie hörten die helle Stimme des Pagen, der Miss Lane zur Bühne rief. Mary eilte hinaus. Sie war froh, daß sie sich entfernen konnte, denn in Morans Gegenwart fühlte sie sich nie behaglich.

 

»Haben Sie das Stück schon gesehen?« fragte Dick.

 

Moran nickte.

 

»Ja. Es ist eine Strafe, das entsetzlichste Stück in ganz London. Ich wundere mich nur, daß der alte Mike es nicht endlich vom Spielplan absetzt. Er muß einen sehr kapitalkräftigen Hintermann haben, daß er das durchhalten kann.«

 

»Haben Sie schon einmal von Washington Wirth gehört?«

 

Leo Morans Gesicht war ausdruckslos.

 

»Nein. Wer ist das – ein Amerikaner?«

 

»Jedenfalls ein ungewöhnlicher Mann. Ich habe neulich einmal nachgerechnet, daß er allein bei diesem Stück mindestens zehntausend Pfund verloren haben muß. Und ich kann nicht einsehen, warum er darauf versessen ist, es weiterzuspielen. Mary ist die einzige Schauspielerin in der ganzen Truppe, die etwas taugt, und sie ist noch nicht einmal mit ihm befreundet.«

 

»Washington Wirth? Der Name kommt mir doch bekannt vor.« Moran sah auf die Wand. »Ich muß von ihm gehört oder in der Zeitung über ihn gelesen haben. Übrigens habe ich heute einen alten Freund von Ihnen gesehen, Surefoot Smith. Sie waren doch dabei, als der ermordete Tickler aufgefunden wurde?«

 

Dick nickte.

 

»Der Chefinspektor behandelte mich, als ob ich ein Mittäter wäre.«

 

»Nun, da können Sie sich trösten. Mich hat er neulich behandelt, als ob ich der Mörder selbst wäre. Haben Sie ihm auch Bier zu trinken gegeben?«

 

Leo Moran ging zur Tür, öffnete sie, sah den Korridor entlang und schloß sie dann wieder.

 

»Dick, ich möchte Sie um einen Gefallen bitten.«

 

Dick grinste.

 

»Nichts würde mir größeren Spaß machen, als einem Bankdirektor etwas abzuschlagen.«

 

»Reden Sie keinen Unsinn. Es hat nichts mit Geld zu tun. Nur –«

 

Er hielt plötzlich inne, als ob er seine nächsten Worte sorgfältig wählen müßte.

 

»Es ist möglich, daß ich eine oder zwei Wochen nicht in London bin. Mein Urlaub ist fällig; und ich möchte aufs Land gehen. Würden Sie so freundlich sein, die Post aus meiner Wohnung abzuholen und aufzuheben, bis ich wiederkomme?«

 

»Warum lassen Sie sich denn die Post nicht nachschicken?« fragte Dick erstaunt.

 

Leo Moran schüttelte ungeduldig den Kopf.

 

»Ich bitte Sie aus einem ganz bestimmten Grund um die Gefälligkeit. Ich lasse mir überhaupt nichts nachschicken. Mein Diener hat auch Urlaub. Würden Sie ein wenig auf die Wohnung aufpassen, wenn ich Ihnen die Schlüssel schicke?«

 

»Wann reisen Sie ab?«

 

Moran machte keine bestimmten Angaben hierüber. Er sagte, es sei noch ungewiß, ob sein Urlaub überhaupt bewilligt werde. Die Direktion mache Schwierigkeiten, obwohl er einen sehr tüchtigen Assistenten besäße, dem er die Führung seiner Bankfiliale jeden Augenblick übergeben könne.

 

»Ich möchte so bald als möglich abfahren, aber dieser Aufsichtsrat ist eine furchtbar schwerfällige Gesellschaft. Der läßt sich in seiner Gottähnlichkeit überhaupt nicht stören, wenn Sie von dem etwas haben wollen, müssen Sie erst dreimal vor ihm niederknien. Also, wollen Sie meine Bitte erfüllen?«

 

»Gewiß«, erwiderte Dick. »Sie wissen ja, wohin Sie den Schlüssel zu schicken haben. Nun möchte ich Sie aber in einer anderen Angelegenheit um Ihren Rat bitten.«

 

Er erzählte ihm von seiner patentierten Luftpistole und dem Angebot, das ihm der Deutsche gemacht hatte. Die Waffe selbst brauchte er nicht zu erklären, denn Moran hatte sie schon gesehen und geprüft.

 

»Ich würde an Ihrer Stelle eine einmalige Zahlung ablehnen. Nehmen Sie die Hälfte der Summe als Anzahlung auf eine Beteiligung. Gehen Sie bald nach Hause?«

 

»Ja, gleich. Mary ist zum Souper eingeladen.«

 

»Von Mr. Wirth?« fragte Moran lächelnd.

 

»Ich dachte, Sie hätten niemals von ihm gehört?«

 

»Doch, inzwischen ist es mir wieder eingefallen. Er ist doch der Mann, der wegen seiner Einladungen und Feste bekannt ist. Früher habe ich das auch gemacht. Wenn Sie nach Hause gehen, komme ich mit vorbei und sehe mir Ihre Erfindung noch einmal an.«

 

Obgleich der Abend warm war, hatte sich Nebel gebildet, der immer dichter wurde, je mehr sie sich dem Park näherten. Als sie nach Knightsbridge kamen, lichtete er sich etwas.

 

»Ich wollte schon den ganzen Abend nach Hause gehen und mich nach der Luftpistole umschauen«, sagte Dick. »Im Unterbewußtsein hat mich das dauernd gequält. Es war dumm von mir, daß ich damit experimentiert und sie geladen habe, bevor ich ausging.«

 

Der Nebel hatte sich wieder verdichtet, und der Chauffeur konnte nur langsam am Rinnstein entlangfahren, bis sie zu Dick Allenbys Haus kamen. Der Fahrstuhl war dunkel, und selbst als Dick den Schalter andrehte, flammte das elektrische Licht nicht auf. Er ging einen Schritt weiter und trat dabei auf etwas, das unter seinen Füßen krachend zerbrach.

 

»Zum Teufel, was war denn das?« fragte Moran.

 

Dick steckte ein Streichholz an und sah auf dem Boden die Glassplitter einer elektrischen Birne, die offensichtlich aus der Decke der Kabine herausgeschraubt worden war.

 

»Unser Hausmeister wird nachlässig«, meinte er.

 

Er drückte auf den Knopf, und der Fahrstuhl glitt nach oben. Vor seiner Wohnungstür entdeckte er zu seinem Erstaunen, daß schon ein Schlüssel im Schloß steckte, und zwar so fest, daß er ihn weder nach rechts noch nach links herumdrehen konnte.

 

Als er die Klinke niederdrückte, gab die Tür nach.

 

»Hier hat jemand Dummheiten gemacht«, sagte Dick sehr bestimmt.

 

Er schaltete das Licht ein und blieb wie versteinert stehen. Der Platz, an dem der Stahlkasten mit der Luftpistole gestanden hatte, war leer. Die Waffe war verschwunden, keine Spur davon zu sehen.

 

Kapitel 29

 

29

 

Man hatte die Abwesenheit Surefoots in Scotland Yard wohl bemerkt. Es war aufgefallen, daß er nicht verabredungsgemäß in seinem Büro erschienen war, um die Meldungen entgegenzunehmen. Da es sich allerdings nur um negative Berichte handelte, hätte man sich mit seinem Ausbleiben schließlich abgefunden. Aber zufällig meldete ein junger Polizist, daß er ein blaues Luxusauto gesehen habe, das von einer Dame gesteuert wurde. Als er ihr an der Ecke der Westminsterbrücke und des Themseufers das Haltesignal gab, achtete sie nicht darauf, obwohl sie auf der falschen Seite der Straße fuhr. Er hatte die Nummer notiert.

 

Gewöhnlich werden solche kleinen Vergehen erst am nächsten Morgen erledigt, aber während der Meldung erschien ein Mitglied des Parlaments und zeigte an, daß ihm sein blauer Wagen gestohlen worden sei.

 

»Es war ein Mann, der sich als Frau verkleidet hatte«, schloß er seinen Bericht.

 

»Wie kommen Sie darauf?« fragte der Polizeiinspektor.

 

»Als er in den Wagen stieg, stieß er mit dem Kopf an den oberen Teil der Tür. Dadurch wurden sein Hut und seine Perücke zurückgeschoben, und ich sah, daß es ein Mann mit kahlem Kopf und gelbbraunem Gesicht war. Zuerst dachte ich, er würde an Gelbsucht leiden.«

 

Der Inspektor richtete sich plötzlich wie elektrisiert auf. Die Polizei von ganz England suchte nach einem Mann mit kahlem Kopf und gelbbraunem Gesicht. Kurz darauf waren Telegraf und Telefon tätig.

 

Einige Zeit später kam wieder eine Meldung von einem Verkehrsschutzmann. In der Nähe von Heston, wo eine Straßenbahn die Hauptstraße kreuzt, hatte der blaue Wagen einen Aufenthalt gehabt. Nur mit Mühe und Not entging er einem Zusammenstoß und mußte so scharf bremsen, daß der Wagen schleuderte. Der Polizist ging auf das Auto zu, um sich den Führerschein zeigen zu lassen. Dabei sah er eine Frau am Steuer. Aber noch bevor er eine Frage stellen konnte, fuhr der Wagen wieder davon.

 

Erst anderthalb Stunden, nachdem die Beschreibung des blauen Autos an alle Stationen durchgegeben war, kam dieser Bericht. Inzwischen hatte man auch Chefinspektor Smith gesucht, da verschiedene Nachrichten auf ihn warteten. Man hatte ihn aber nirgends im Amt finden können.

 

Seine Gewohnheit, ab und zu am Themseufer einen kleinen Spaziergang zu machen, war allgemein bekannt, und der Polizeiposten dort hatte auch gesehen, daß Smith zum Savoy Hill gegangen war. Einer seiner Kollegen hatte beobachtet, daß der Chefinspektor dort umkehrte. Jemand erinnerte sich daran, daß er ein blaues Luxusauto an der Straße hatte stehen sehen.

 

Als die Ermittlungen so weit gediehen waren, hatte der Präsident selbst die Sache in die Hand genommen. Alle Detektive waren im Amt zur Beratung versammelt.

 

»Möglich, daß Binny an die Küste geflohen ist«, sagte er. »Vielleicht hat er aber auch eins seiner beiden Landhäuser aufgesucht. Die Polizei von Buckinghamshire und von Salisbury muß sofort telefonisch verständigt werden. Außerdem soll sofort das Überfallkommando an beide Orte fahren.«

 

Der Präsident sah auf die Uhr. Sie zeigte soeben halb zwei.

 

*

 

Surefoot Smith hatte kaum eine halbe Minute Zeit, um sich für einen der vielen Pläne zu entscheiden, die er sich überlegt hatte. Die meisten hatte er bereits als unausführbar verworfen.

 

Langsam öffnete sich die Tür, und Binny kam herein.

 

»So, jetzt werden Sie einen kleinen Spaziergang mit mir machen, mein Freund«, sagte er liebenswürdig, nahm die Flasche vom Tisch und trank gierig.

 

Dann bückte er sich, löste den Strick und die Fessel an Surefoots Füßen, riß ihn mit einem kräftigen Ruck vom Boden hoch und stellte ihn auf die Beine.

 

Smith schwankte etwas. Sein Kopf schmerzte furchtbar, aber die Gefahr des Augenblicks ließ alles vergessen. Er dachte jetzt vollkommen klar. Binny stand neben der Tür und hatte die Pistole in der Hand. Auf die Mündung hatte er einen eiförmigen Stahlkörper geschraubt. Surefoot hatte einen solchen Schalldämpfer noch nie gesehen.

 

Er ging zum Tisch und legte die Hände auf die Platte.

 

»Na, beten Sie erst noch ein wenig?« höhnte Binny.

 

»Es soll doch niemand erfahren, daß ich hier war? Sie wollen doch keine Spuren hinterlassen?«

 

»Richtig geraten!« entgegnete Binny belustigt.

 

»Wenn nun ein paar hundert Leute hierhereilten und alle möglichen Fragen an Sie stellten, würde Ihr Plan dann über den Haufen geworfen werden?«

 

»Was soll das heißen?« fragte er scharf.

 

Er machte einen Schritt auf seinen Gefangenen zu. Im gleichen Augenblick hob Surefoot die Lampe hoch und warf sie in den offenen Koffer, unter Kostüme, Perücken und Bärte. Glas splitterte, das Licht flackerte, und gleich darauf schoß mit dumpfem Knall eine Flamme zur Decke empor.

 

Binny stand still, von Schrecken gelähmt. Erst als sich Surefoot mit aller Gewalt auf ihn warf, um ihm mit den Handschellen ins Gesicht zu schlagen, erwachte er aus seiner Erstarrung und duckte sich. Der Schlag ging vorbei. Im nächsten Moment fühlte Smith ein heißes Brennen im Gesicht und hörte, daß eine Kugel in die Wand schlug. Wieder holte er aus und zielte nach Binnys Schädel. Obwohl sich der Mann zur Seite bog, konnte er dem Hieb doch nicht ganz ausweichen. Dabei fiel ihm die Pistole aus der Hand.

 

Das Zimmer stand nun in Flammen; die Treppe brannte, und die Hitze wurde unerträglich.

 

Smith schlug wieder auf Binny ein. Mit einem schnellen Fußtritt hatte er die Pistole zu dem brennenden Koffer gestoßen.

 

Die Tür stand auf, und Binny lief aus dem Raum hinaus. Er versuchte, die Tür zu schließen, aber Smith hatte sich schon dazwischengeschoben. Er taumelte in den Gang und warf sich wieder mit voller Wucht auf den Mörder.

 

Die einzige Hoffnung des Chefinspektors bestand darin, Binny auf den Fersen zu bleiben. Der Verbrecher hatte noch eine Pistole in der Tasche, und wenn er diese herausziehen konnte, war es vorbei. Es gelang Smith, ihn gegen die Wand zu drücken. In dieser Stellung war es Binny unmöglich, die Waffe zu erreichen. Mit allen Mitteln versuchte er, von seinem Gegner loszukommen, und nach einer fast übermenschlichen Anstrengung konnte er sich schließlich freimachen. Surefoot war dicht hinter ihm. Im nächsten Moment zog Binny die Pistole, aber Smith brachte ihn zu Fall. Eine Sekunde später erhob sich Binny jedoch wieder und lief weiter.

 

Die Flammen schlugen schon aus dem Dach und aus den Fenstern und erleuchteten die ganze Umgebung. Smith verfolgte den Verbrecher trotz seiner Fesseln. Plötzlich wandte sich Binny um, und diesmal konnte er sorgfältig zielen. Der Chefinspektor wußte, daß es jetzt keine Hoffnung mehr für ihn gab. Binny war ein guter Pistolenschütze, und er war kaum ein Dutzend Schritte von ihm entfernt. Verzweifelt sprang Surefoot vorwärts, trat aber ins Leere und fiel …

 

Er hörte den Schuß und wunderte sich, daß er noch lebte. Schließlich erkannte er, was geschehen war. Er war in das Grab gestürzt, das Binny für ihn geschaufelt hatte!

 

Plötzlich krachten mehrere Schüsse hintereinander, und jemand brüllte ein lautes »Halt!«

 

Bald darauf beugte sich sein Sergeant über den Rand der Grube.

 

»Wir haben ihn«, erwiderte der Detektiv auf Surefoots hastige Frage. Smith war müde, verletzt und zerschunden, aber als er diese Nachricht hörte, vergaß er alle Schmerzen.

 

*

 

Die Verhaftung und Verurteilung Binnys wirkten entschieden demoralisierend auf Surefoot Smith. An dem Tag, an dem der Verbrecher im Gefängnis von Pentonville gehenkt wurde, brach der Chefinspektor mit einer lebenslangen Gewohnheit. Er trank nämlich nicht Bier, sondern Whisky.

 

»Wenn es einen Tag gibt, an dem ich mich betrinken darf, dann ist es der heutige!« sagte er zu Dick Allenby.

 

Kapitel 3

 

3

 

Mary Lane sah erschrocken auf ihre goldene Armbanduhr.

 

»Vier Uhr, mein Lieber!«

 

Es tanzten immerhin noch etwa zwanzig Paare auf dem Parkett des Gesandtschafts-Klubs. Es war ein Galaabend, und bei solchen Festen wurde es immer sehr spät.

 

»Tut mir leid, daß es so ein langweiliger Abend war.«

 

Aber Dick Allenby sah nicht gelangweilt aus. Er hatte freundliche blaue Augen und ein faltenloses, sonnengebräuntes Gesicht, obwohl er in den letzten vierundzwanzig Stunden nicht geschlafen hatte.

 

»Auf jeden Fall hast du mich gerettet«, sagte er und winkte einem Kellner. »Bis du kamst, war ich ganz allein. Ich habe geschwindelt, als ich dir erzählte, daß Moran hier war und später wegging. Der Junge war überhaupt nicht da. Jerry Dornford sucht Anschluß – er scheint die Hoffnung noch nicht aufgegeben zu haben.«

 

Er sah zu einem Tisch auf der anderen Seite des Tanzsaals hinüber, wo der tadellos gekleidete Jerry saß.

 

»Ich kenne ihn kaum«, entgegnete Mary.

 

Er lächelte.

 

»Er möchte dich eben besser kennenlernen, aber ich kann dir nur den guten Rat geben, ihm aus dem Weg zu gehen. Jerry entfernte sich kurz vor dem Abendessen und ist erst vor kurzem wieder aufgetaucht. Die Gesellschaft, die du besucht hast, war wohl auch nicht sehr anregend, was? Dieser Wirth ist doch ein ganz merkwürdiger Kerl. Ich muß sagen, Mike Hennessey hat sich ziemlich viel herausgenommen, daß er dich dazu eingeladen hat.«

 

»Aber Mike ist ein netter Mensch«, protestierte sie.

 

»Mike ist ein Verbrecher. Ein liebenswürdiger Charakter, aber doch ein Verbrecher. Solange der frei herumläuft, ist es eine Schande, daß andere Leute im Gefängnis sitzen.«

 

Sie traten auf die Straße hinaus, und während sie auf ein Taxi warteten, sah Dick Allenby ein bekanntes Gesicht.

 

»Mr. Smith, Sie sind noch so spät auf den Beinen?«

 

»Sie meinen so früh am Morgen«, entgegnete der Detektiv und begrüßte die junge Dame.

 

»Guten Morgen, Miss Lane. Eigentlich keine gute Angewohnheit, in einen Nachtklub zu gehen.«

 

»Ich habe eine ganze Menge schlechter Angewohnheiten«, erwiderte sie lächelnd.

 

Ein Taxi fuhr vor. Mary lehnte Dicks Begleitung ab, und der Wagen entfernte sich.

 

»Nette junge Dame«, bemerkte der Chefinspektor. »Schauspielerinnen mag ich im allgemeinen nicht – ich komme gerade von der Marlborough Street, wo ich drei verhaftet habe.«

 

»Haben Sie eine kleine Razzia abgehalten?«

 

»Ach, es war nichts von Bedeutung. Übrigens wäre ich neulich beinahe in Ihre Werkstätte gekommen und hätte mir Ihre neue Schußwaffe angesehen. Ist doch wohl eine Art Luftgewehr?«

 

»Ja. Wer hat Ihnen denn davon erzählt?«

 

»Dieser Dornford. Ich verstehe die Mechanik Ihrer neuen Pistole nicht. Dornford sagt, daß bei jedem Abfeuern die Waffe neu geladen wird.«

 

»Durch das Abfeuern erhalte ich komprimierte Luft.«

 

Dick Allenby war nicht in der Stimmung, über seine Erfindung zu sprechen.

 

»Das Ding sollten Sie nach Chikago verkaufen, dort haben die Leute großes Interesse an solchen Sachen. Jede Woche werden mindestens sechs Leute umgebracht, und die Polizei fängt niemand!«

 

Dick lachte. Er war erst vor einem Monat aus Chikago zurückgekehrt und kannte die schweren Aufgaben, die die Polizei drüben zu lösen hatte.

 

»Wenn einer umgebracht werden soll«, fuhr Smith fort, »machen sie mit ihm eine Spazierfahrt aufs Land und jagen ihm unterwegs eine Kugel durch den Kopf. So etwas wäre hier einfach nicht möglich.«

 

»In der Beziehung bin ich etwas skeptisch.« Dick schüttelte den Kopf. »Aber es ist beinahe halb fünf, und ich möchte mich jetzt nicht länger über Verbrechen unterhalten. Kommen Sie mit in meine Wohnung, dort können wir noch ein Glas trinken.«

 

»Schön, ich begleite Sie. Schlafen kann ich doch nicht mehr. Dort steht ein Taxi.«

 

Das Auto stand mitten auf der Straße neben einer Verkehrsinsel.

 

Smith pfiff. »Der Chauffeur ist fortgegangen«, sagte der Portier des Nachtklubs. »Ich habe schon vorhin versucht, den Wagen für die Dame zu rufen.«

 

»Der Kerl schläft wahrscheinlich«, meinte Smith und ging über die Straße. Dick folgte.

 

Der Chefinspektor sah durch das geschlossene Fenster, konnte aber im Innern nichts erkennen. Als er schließlich die Tür aufmachte, sah er jemand am Boden liegen.

 

»Der Mensch scheint sinnlos betrunken zu sein!« rief Smith und leuchtete die Gestalt mit seiner Lampe an.

 

Das Gesicht war grauenvoll entstellt, denn der Mann hatte aus nächster Nähe einen Schuß in den Kopf erhalten. Aber Smith erkannte trotzdem, daß Mr. Horace Tom Tickler tot in diesem Wagen lag.

 

»Was, den hat man auch auf eine Spazierfahrt mitgenommen?« fragte der Chefinspektor verstört. »Großer Gott, wir leben doch nicht in Chikago!«