Kapitel 2

 

2

 

Marjorie Stedman, die Privatsekretärin des Rechtsanwalts und Notars Vance, atmete erleichtert auf, als sie an diesem herrlichen Frühlingsabend wieder in die frische, kühle Luft hinaustreten konnte.

 

Das war also Sir James Tynewood. Wie oft hatte sie diesen Namen gelesen, der im Büro mit weißen Buchstaben auf einen schwarzen Aktenkasten gemalt war.

 

Und dieser Nachkomme eines alten, angesehenen Geschlechts, das sich in früheren Tagen im Dienste des Vaterlands ausgezeichnet hatte, war ein Trinker, ein Verschwender, der sich in unmöglicher, vulgärer Gesellschaft herumtrieb! Dieses Erlebnis war eine große Enttäuschung für sie, und sie schauderte noch bei der Erinnerung.

 

Als sie zu dem Büro in Bloomsbury zurückkam, waren schon alle Angestellten fortgegangen. Aber der alte Mr. Vance wartete in seinem Privatzimmer auf sie und sah sie neugierig an, als sie eintrat.

 

»Nun, Miss Stedman, haben Sie den Brief abgegeben?«

 

»Ja, Mr. Vance.«

 

»Haben Sie Sir James Tynewood persönlich angetroffen?«

 

Sie nickte.

 

Die Spannung in seinen Zügen steigerte sich.

 

»Was haben Sie denn – Sie sehen ja so blaß aus? Ist Ihnen etwas zugestoßen?«

 

Sie schüttelte den Kopf, erzählte ihm aber dann, was sie auf der ausgelassenen Gesellschaft gesehen und gehört hatte.

 

Mr. Vance biß sich auf die Lippe, er war sehr ärgerlich und erregt.

 

»Das tut mir wirklich leid. Ich dachte nicht, daß man es wagen würde, Sie so zu behandeln, sonst wäre ich natürlich selbst hingegangen. Sie verstehen doch, Miss Stedman, daß ich keinen der anderen Angestellten mit diesem Gang beauftragen konnte?«

 

»Natürlich. Ich weiß sehr gut, daß diese Mitteilung vertraulich war.« Sie verschwieg, daß sie sich darüber gewundert hatte. Es war ihr seltsam vorgekommen, daß ausgerechnet sie den Brief Sir James persönlich übergeben mußte.

 

Aber Mr. Vance las ihre Gedanken.

 

»Eines Tages werden Sie noch verstehen, warum ich gerade Ihnen den Auftrag gab, Sir James Tynewood aufzusuchen. Ich bin jedenfalls sehr dankbar, daß Sie die Sache erledigt haben. Hat Ihnen Sir James eigentlich eine Antwort mitgegeben oder etwas gesagt?«

 

Sie zögerte. »Was er sagte, möchte ich nicht gern wiederholen. Es war nämlich nicht sehr schmeichelhaft für Sie, Mr. Vance«, entgegnete sie lächelnd.

 

Der Rechtsanwalt nickte.

 

»Es ist eine recht unangenehme Angelegenheit«, meinte er nach einem kurzen Schweigen. »Hat denn Sir James wirklich nichts gesagt, was für mich von Bedeutung sein könnte?«

 

»Zu mir direkt hat er es nicht gesagt, er hat mehr im allgemeinen gesprochen –« Sie zögerte wieder. »Eine Dame fragte ihn, welche Nachricht der Brief enthalte, und darauf antwortete er, daß der Mann, den er am meisten von allen Menschen hasse, zurückgekommen sei.«

 

»Den er am meisten hasse«, wiederholte er mit einem traurigen Lächeln. Dann erhob er sich und zuckte die Schultern.

 

»Es ist tatsächlich eine sehr unangenehme Geschichte«, sagte er noch einmal und nahm den Mantel vom Haken. Dann wechselte er plötzlich das Thema. »Am Ende der Woche verlieren wir Sie also, Miss Stedman?«

 

»Ja, Mr. Vance. Es fällt mir selbst schwer genug zu gehen, denn ich habe mich in Ihrem Büro sehr wohl gefühlt«, erwiderte sie bedrückt.

 

»Von meinem egoistischen Standpunkt aus tut es mir natürlich auch unendlich leid.« Er schlüpfte in den Mantel. »Aber um Ihretwillen bin ich doch eigentlich recht froh. Hat Ihr Onkel denn nun die Goldmine entdeckt, nach der er so lange gesucht hat?«

 

Sie lächelte. »Nein, das nicht, aber er hat in Südafrika viel Geld verdient. Er war ja schon immer so großzügig zu meiner Mutter und zu mir. Sie müssen Onkel Alfred doch auch noch gekannt haben?«

 

»Ja, vor zwanzig Jahren habe ich ihn einmal gesehen. Ihr Vater brachte ihn eines Tages in mein Büro. Ich, hatte damals, soweit ich mich noch entsinnen kann, den Eindruck, daß er ein charaktervoller Mann war.«

 

Er ging zur Tür und blieb dort stehen, als ob er darauf wartete, daß Marjorie vor ihm hinausging.

 

»Sie haben doch heute nichts mehr zu tun?« fragte er etwas erstaunt, als sie keine Miene machte, ihm zu folgen.

 

»Ich muß noch den Schriftsatz in Sachen James Vesson abschreiben, bevor ich gehe.«

 

Er schüttelte ungeduldig den Kopf.

 

»Ach, das hatte ich ja ganz vergessen! Aber da hätte ich Sie doch gar nicht fortschicken dürfen! Können Sie es denn nicht morgen früh machen, Miss Stedman?«

 

Aber er wußte selbst nur zu gut, daß der Schriftsatz morgen in aller Frühe gebraucht wurde.

 

»Es kommt mir nicht darauf an, wenn ich heute ein wenig später nach Hause komme, Mr. Vance«, sagte sie und lachte. »Ich habe sowieso nichts weiter vor, und in zwei Stunden bin ich ja mit der Arbeit fertig. Es ist viel besser, ich schreibe die Sache heute abend noch, sonst müßte ich morgen schon sehr früh ins Büro kommen.«

 

»Na, dann ist es gut, Miss Stedman. Ich muß mich jetzt beeilen, daß ich meinen Zug nach Brighton noch erreiche. Morgen rufe ich Sie im Laufe des Vormittags an, dann können Sie mir sagen, ob irgend etwas Wichtiges vorgefallen ist. Also, gute Nacht.«

 

Als Marjorie allein war, ging sie in ihr kleines Büro, das an das Arbeitszimmer des Rechtsanwalts stieß, und kurze Zeit später klapperte ihre Schreibmaschine in rasendem Tempo. Sie wußte, daß sich ihre Mutter stets Sorgen machte, wenn sie nicht rechtzeitig nach Hause kam, und sie bemühte sich deshalb, so schnell wie möglich fertig zu werden.

 

Sie hatte gerade die vierte DIN-A-4-Seite des langen, trockenen Schriftsatzes hinter sich, als sie ein Klopfen an der äußeren Bürotür zu hören glaubte. Sie machte eine Pause und lauschte angestrengt.

 

Jetzt vernahm sie es deutlich und erhob sich. Sie war sehr gespannt, wer Mr. Vance zu so später Stunde noch geschäftlich aufsuchen wollte.

 

Als sie die Tür öffnete, erwartete sie eigentlich einen Telegrafenboten, aber zu ihrem Erstaunen sah sie sich einem großen, schlanken Herrn gegenüber.

 

Mit einem Blick umfaßte sie seine äußere Erscheinung und sah, daß er einen alten, grauen Flanellanzug und weder Kragen noch Krawatte trug. Sein weiches Hemd war am Hals offen und der etwas verbeulte, graue, breitkrempige Filzhut in den Nacken geschoben. Die Sonne hatte sein hübsches, hageres Gesicht außergewöhnlich dunkel gebräunt, und seine klugen, tiefblauen Augen standen in reizvollem Gegensatz zu der dunklen Hautfarbe.

 

»Ist Mr. Vance noch im Büro?« erkundigte er sich kurz, nachdem er den Hut abgenommen hatte;

 

»Nein, er ist vor etwa zwanzig Minuten gegangen.«

 

Der Fremde biß sich auf die Lippe.

 

»Wissen Sie vielleicht, wo ich, ihn heute abend noch treffen könnte?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Für gewöhnlich könnte ich es Ihnen sagen«, entgegnete sie lächelnd, wenn es auch eigentlich nicht gebräuchlich ist, Klienten seine Privatadresse mitzuteilen. »Aber heute abend ist er nach Brighton gefahren, wo er mit einem Freund das Wochenende verbringen will, und er hat keine Adresse hinterlassen.« Sie zögerte einen Augenblick. »Vielleicht nennen Sie mir Ihren Namen?«

 

Er sah sie unschlüssig an. »Setzt er sich morgen irgendwie mit Ihnen in Verbindung?«

 

Sie nickte.

 

»Er telefoniert morgen mit mir, um zu hören, ob etwas Wichtiges vorgefallen ist. Dann könnte ich ihm ja von Ihrem Besuch erzählen und ihm sagen, daß Sie ihn sprechen wollten.«

 

Er stand noch im Gang, und während sie ihn betrachtete, kam ihr plötzlich der Gedanke, daß er trotz seiner gerade nicht sehr vorteilhaften Kleidung vielleicht doch ein wichtiger Kunde sein könnte. Sie öffnete die Tür weiter.

 

»Wollen Sie nicht näher treten und einen Augenblick Platz nehmen? Vielleicht möchten Sie auch eine kurze schriftliche Mitteilung für Mr. Vance zurücklassen?«

 

Langsam ging er in den Büroraum und sah einen Augenblick auf den Stuhl, den sie ihm hinschob.

 

»Nein, schreiben möchte ich nichts«, sagte er nach einer Pause. »Aber wenn Mr. Vance morgen anrufen sollte, dann sagen Sie ihm doch bitte, daß Mr. Smith von Pretoria gekommen ist.«

 

Die letzten Worte hatte er sehr deutlich und mit besonderem Nachdruck gesprochen. »Also, bitte vergessen Sie es nicht – Mr. Smith von Pretoria. Bestellen Sie ihm auch, daß ich so bald wie möglich mit ihm in Verbindung treten möchte.«

 

»Mr. Smith von Pretoria«, wiederholte sie und machte eine Notiz auf ein Blatt Papier. Sie hatte den Eindruck, daß es sich um eine wichtige Sache handeln müßte.

 

Er stand vor ihr und schaute sie an, aber sie hatte das merkwürdige Gefühl, daß er durch sie hindurchsähe. Die Falten auf seiner Stirn ließen erkennen, daß er tief in Gedanken versunken war.

 

Plötzlich schien er sich wieder an die Wirklichkeit zu erinnern und machte eine impulsive Bewegung zum Tisch hin.

 

»Ich habe es mir doch überlegt. Ich werde eine kleine Mitteilung für Mr. Vance zurücklassen. Geben Sie mir bitte Papier und Feder.«

 

»Beides liegt schon vor Ihnen«, erwiderte sie mit einem leichten Lächeln.

 

Er wurde verlegen über seine Unachtsamkeit.

 

»Es tut mir leid«, entschuldigte er sich. »Ich bin heute etwas zerstreut.«

 

»Ja, das habe ich auch schon bemerkt.«

 

Sie ging in den anderen Teil des Zimmers, um nicht den Anschein der Neugierde zu erwecken.

 

Offenbar fiel es ihm schwer, seine Gedanken in Worte zu fassen, denn er saß fünf Minuten vor dem Schreibtisch und grübelte.

 

»Nein, ich werde doch nicht schreiben«, erklärte er dann, legte die Feder auf den Tisch und stand auf. »Es genügt, wenn Sie Ihrem Chef sagen, daß Mr. Smith von Pretoria im Büro vorgesprochen hat. Er weiß, wo er mich finden kann.«

 

Vom Gang her ertönten plötzlich Schritte, und gleich darauf wurde die Türklinke hastig heruntergedrückt. Der Besucher mußte in ungewöhnlicher Aufregung sein, da er zu klopfen vergessen hatte.

 

»Wo ist Rechtsanwalt Vance?« fragte er schnell, als er eintrat.

 

Das Licht fiel voll auf sein Gesicht, und Marjorie erkannte in dem Mann mit dem zerwühlten Haar und dem roten Gesicht Sir James Tynewood wieder.

 

»Mr. Vance ist schon gegangen«, entgegnete sie.

 

Sir James antwortete nicht gleich. Er starrte entsetzt Mr. Smith von Pretoria an.

 

»Mein Gott!« stieß er dann verstört hervor. »Du bist es – Jot!«

 

Die beiden standen einander gegenüber und maßen sich mit den Blicken. Mr. Smiths Züge wurden plötzlich hart und undurchdringlich.

 

Als das Schweigen andauerte, wurde Marjorie die Situation sehr peinlich. Sie ahnte, daß sich eine Tragödie hinter diesen Worten und Blicken verbarg, und rein gefühlsmäßig nahm sie für den Mann aus Südafrika Partei.

 

»Kennen Sie Sir James Tynewood?« fragte sie verlegen.

 

Langsam wandte sich Mr. Smith von Pretoria um und lächelte bitter.

 

»Ja, ich kenne Sir James Tynewood sehr gut.« Er drehte sich wieder dem anderen zu. »Wir werden uns morgen abend in Schloß Tynewood sprechen, Sir James.«

 

Der junge Baron hatte den Kopf gesenkt und zitterte am ganzen Körper. Sein Gesicht war totenbleich.

 

»Ja, ich werde kommen«, erwiderte er heiser und verließ mit unsicheren Schritten das Zimmer.

 

Kapitel 20

 

20

 

»Es tut mir so leid«, sagte er liebenswürdig. »Sie halten mich wahrscheinlich für einen rohen, ungebildeten Menschen, Miss Stedman. Aber ich war in Südafrika so lange allein mit meinen Gedanken, daß ich nicht mehr in die europäische Gesellschaft passe und auch nicht mehr weiß, wie ich mich mit den Leuten unterhalten soll. Es ist sehr gut, daß Sie wegen der Trauung schon alles verabredet haben.«

 

Er sah sie so freundlich an, wie sie es niemals von ihm erwartet hatte.

 

»Ich werde dafür sorgen, daß nach der Trauung ein Auto auf uns wartet.«

 

»Im Augenblick habe ich keinen besseren Anzug als diesen hier. Aber ich habe mir bereits einige in London bestellt. Sie heißen doch Marjorie?«

 

»Ja.«

 

Er wiederholte den Namen leise.

 

»In Zukunft muß ich Sie ja wohl Marjorie nennen. Sie haben doch nichts dagegen?«

 

Sie mußte lachen.

 

»Ich glaube, es ist Brauch, daß sich Eheleute beim Vornamen nennen.«

 

Sie hatte das Gefühl, daß er noch etwas sagen wollte, und zögerte. Aber er schwieg, bis sie ihm die Hand zum Abschied reichte.

 

»Ich werde Sie noch ein wenig begleiten. Gehen Sie nach Hause zurück?«

 

Sie nickte.

 

Als sie dann neben ihm herging, kam sie sich selbst sonderbar vor. Er war einen Kopf größer als sie, und große Leute waren ihr immer sympathisch gewesen. Aber sie wollte diese Sympathie nicht auf Pretoria-Smith ausdehnen.

 

»Es klang unhöflich, als ich Ihnen sagte, daß ich eigentlich gegen meinen Willen nach England reiste, um mich mit Ihnen trauen zu lassen«, sagte er plötzlich, »aber es war die reine Wahrheit. Ich verdanke Ihrem Onkel so viel, daß ich seinen Wunsch schließlich erfüllen mußte. Und wenn ich Ihnen jetzt ein Angebot mache und sage, was ich eigentlich denke, betrüge und hintergehe ich ihn.«

 

»Welches Angebot wollen Sie mir denn machen?« fragte sie überrascht.

 

»Ein sehr einfaches«, erklärte er ruhig. »Es ist mir klar, daß Sie mich heiraten, weil Sie die jährliche Unterstützung Ihres Onkels nicht entbehren können. Ich erfuhr von seiner häßlichen Drohung erst in dem Augenblick, als ich von Afrika abreiste. Er hat sich diese Heirat nun einmal in den Kopf gesetzt, weil er fürchtet, sein Geld könnte in die Hände eines Mannes fallen, der Sie nur wegen Ihres Reichtums heiratet. Miss Stedman, ich kann Ihnen versichern, daß Ihr Onkel zuerst nur Ihr Glück im Auge hatte. Er hat mir so oft von Ihnen erzählt, und er freute sich immer so sehr, wenn er Briefe von Ihnen erhielt. Er hat sie noch alle aufbewahrt.«

 

Marjorie war gerührt.

 

»Der arme Onkel«, sagte sie leise. »Ich bin davon überzeugt, daß er seiner Meinung nach das Beste für mich tut.«

 

»Denken Sie immer daran«, fuhr er fort, »dann werden Sie auch verstehen, in welchem Dilemma ich mich befinde. Ich würde Ihnen ja gern eine Viertelmillion Pfund geben, um es Ihnen zu ermöglichen, diese Heirat abzulehnen – mit oder ohne Ihren Dank.« Er lächelte ein wenig und sah plötzlich viel hübscher und jünger aus.

 

Sie war stehengeblieben und schaute ihn erstaunt an.

 

»Nein, das geht nicht, das dürfte ich doch nicht tun. Ich habe meinem Onkel schon mein Wort gegeben. An dem Tag, an dem ich seinen Brief erhielt, ist mein Telegramm an ihn abgegangen.«

 

»Das fürchtete ich«, erwiderte er düster, »aber ich fürchtete auch, daß Sie mein Angebot annehmen würden, und das wäre dem alten Stedman gegenüber sehr unfair gewesen. Er war nicht um das Geld besorgt, sondern er wollte Sie vor gewissenlosen Menschen schützen, die nur Ihrem Vermögen nachjagten. Und wenn ich Sie nun reich machte – ich kann es, denn ich besitze ebensoviel, wenn nicht mehr als Ihr Onkel –, dann wären Sie derselben Gefahr ausgesetzt wie vorher.«

 

Sie ging wieder langsam neben ihm her. Plötzlich hörten sie Pferdegetrappel und traten zur Seite, um die Reiter vorüberzulassen.

 

Es waren Lance Kelman und Lady Tynewood. Kelman wurde dunkelrot vor Zorn, als er Marjorie und Pretoria-Smith zusammen sah. Er hatte sich schon vorher für seine Kusine stark interessiert, aber jetzt glaubte er, daß sie die große Liebe seines Lebens sei. Almas Reden und Bemerkungen hatten ihn aufgestachelt.

 

Er ritt nicht vorbei, sondern hielt mitten im Weg an. Lady Tynewood beobachtete die Szene belustigt.

 

»So, da hast du nun endlich deinen Pretoria-Smith!« schrie Kelman laut. Er hatte bei Alma zu Mittag gegessen und viel Wein getrunken.

 

Marjorie war blaß geworden. Sie sah ihn fest an, aber sie schwieg.

 

»Jetzt muß ich allerdings wirklich annehmen, daß du in diesen Menschen verliebt bist«, führ Lance fort und lachte pöbelhaft. »Er hat ja wohl das nötige Kleingeld, und deine Mutter, kennt sich nicht mehr aus vor Schulden. Da kommt es ja schließlich auch nicht darauf an, daß du einen alten Trinker heiratest. Hast du nicht gesehen, was für ein Kerl das ist, als ich ihn gestern abend in den Saal brachte?«

 

Pretoria-Smith stand plötzlich an seiner Seite. Er hatte die Hand auf das Knie des Reiters gelegt.

 

»Sie haben mich in den Saal gebracht?« fragte er ruhig. »Ich habe heute morgen etwas davon gehört, welche Szene sich dort abgespielt hat. Ich selbst kann mich nicht darauf besinnen. Sie haben mich also hineingeführt?«

 

»Nehmen Sie Ihre Hand weg, Sie Schwein!«

 

Marjorie schrie auf, aber die Peitsche traf nicht. Pretoria-Smith hatte Kelman am Handgelenk gepackt und hielt ihn mit eisernem Griff fest.

 

»Es gibt gewisse Dinge, die Sie nicht tun dürfen«, sagte er ruhig. »Können Sie schwimmen?«

 

»Lassen Sie mich los!« schrie Lance und versuchte, sich freizumachen.

 

»Können Sie schwimmen?« wiederholte Pretoria-Smith. Aber er zog ihn schon vom Pferd, bevor der junge Mann etwas antworten konnte.

 

Einen Augenblick zappelte Lance in der Luft, dann warf ihn Pretoria-Smith wie einen Stein in einen großen, grünen Teich, der dicht neben der Straße lag. Das Wasser spritzte hoch auf, und die beiden Frauen sahen entsetzt hinüber, als ein angstvoller Schrei ertönte. Aber nach wenigen Sekunden tauchte Kelman in etwas sonderbarer Verfassung wieder auf und kam ans Ufer. »Das werde ich Ihnen heimzahlen, Sie verdammter Hund – Sie Negermörder! Erzählen Sie doch Marjorie, wie viele Leute Sie schon zu Tode gepeitscht haben!«

 

Pretoria-Smith war bleich geworden, und seine Stimme zitterte.

 

»Es tut mir leid, daß ich meine Fassung verloren habe«, sagte er leise, als Kelman näher kam. Er sah nicht zu Lady Tynewood auf. »Sie sind in schlechter Gesellschaft, junger Mann.«

 

»Ich glaube allerdings, daß Sie auf der Höhe sind, wenn es gilt, schlechte Gesellschaft zu beurteilen«, mischte sich Alma nun ein.

 

Langsam schaute er zu ihr auf.

 

»Ich freue mich wenigstens, daß ich früher niemals auf Ihren Gesellschaften war, Miss Trebizond«, erwiderte er gelassen.

 

Sie versuchte zu lächeln, aber dann sah sie Marjorie an und schrak zusammen. In diesem Augenblick erst erkannte sie in ihr die Stenotypistin, die an dem Abend ihrer Hochzeit in ihre Wohnung gekommen war.

 

Kapitel 1

 

1

 

»Deinen Baron hast du dir ja nun glücklich erobert! Was hältst du denn jetzt von ihm?« fragte Javot und schaute sich mit einem zynischen Lächeln um.

 

Der verhältnismäßig kleine Gesellschaftsraum in Almas Wohnung bot ein Bild vollkommener Unordnung. Die Möbel waren an die Wände gerückt, um mehr Raum für die Tanzfläche zu schaffen. Einer der silbernen Armleuchter hing schief, weil ihn ein angetrunkener Gast in seinem Übermut verbogen hatte, und eine große, kostbare Vase mit weißem Flieder war umgeworfen worden. Die welken Blumen lagen zwischen den Porzellanscherben in einer Wasserlache auf dem Boden. Mit schrillem, metallischem Ton spielte ein Schallplattenspieler einen Twostep. Mehrere Paare tanzten mit etwas unsicheren Schritten nach der abgehackten Melodie, die ab und zu von der ausgelassenen, lauten Unterhaltung und dem Gelächter übertönt wurde. Der Sekt hatte seine Wirkung getan; selbst die Damen kicherten und sprachen hemmungslos.

 

Die hübsche Frau, die neben dem Schauspieler Javot stand, sah zu einem jungen Herrn hinüber, der mit hochrotem Gesicht den Versuch machte, auf den Händen zu stehen. Ein Freund, der nicht nüchterner zu sein schien als der Amateurakrobat, feuerte ihn durch laute Zurufe an.

 

Alma Trebizond hob die Augenbrauen leicht und warf Javot einen merkwürdigen Blick zu.

 

»Wenn man kein Geld hat, kann man eben nicht lange wählen«, erwiderte sie nachdenklich. »Großen Eindruck kann ich ja nicht mit ihm machen, aber er ist ein Baron von altenglischem Adel und hat ein jährliches Einkommen von vierzigtausend Pfund. Das fällt doch ins Gewicht.«

 

»Vergiß nicht das berühmte Diamantenhalsband aus dem Familienschmuck der Tynewoods«, entgegnete er leise. »Es wird ein ungewöhnlich entzückender Anblick sein, dich darin zu sehen. Schlecht gerechnet hat es einen Wert von hunderttausend Pfund, mein Liebling. Das gibt dir erst das nötige Profil.«

 

Sie seufzte befriedigt, denn sie hatte ein hohes Spiel gewagt und einen Erfolg errungen, der ihre kühnsten Hoffnungen weit übertraf.

 

»Ja, die Sache ist besser gegangen, als ich je erwartet hätte. Ich habe übrigens eine Vermählungsanzeige an die maßgebenden Zeitungen geschickt.«

 

Er sah sie scharf und durchdringend an. Kalte, habichtähnliche Augen belebten sein sonst sehr intelligentes, hageres Gesicht. Seine Haare hatten sich schon stark gelichtet.

 

»Hast du die Nachricht wirklich schon an die Redaktionen geschickt?« fragte er langsam. »Das wäre aber sehr unüberlegt von dir gewesen.«

 

»Warum denn?« erwiderte sie ärgerlich. »Ich brauche mich doch absolut nicht zu schämen! Ich bin genausoviel wert wie er, und es ist in unseren Tagen durchaus nichts Ungewöhnliches, wenn eine Schauspielerin von meinen Fähigkeiten einen Repräsentanten des hohen Adels heiratet!«

 

»Ein Baron gehört wirklich nicht zum hohen Adel«, verbesserte er sie ironisch. »Aber darauf kommt es im Augenblick ja nicht an. Viel wichtiger ist, daß er dich ausdrücklich gebeten hat, die Eheschließung mit ihm geheimzuhalten.«

 

»Aber ich wüßte gar nicht, warum ich das tun sollte.«

 

Ein sarkastisches Lächeln spielte um seinen Mund.

 

»Es gibt genug Gründe dafür!« sagte er bedeutungsvoll. »Ich könnte dir einen sehr triftigen nennen, der dich allein schon bestimmen müßte, über diese Vorgänge den Mund zu halten! Du wirst deine Vermählung mit dem Baron nicht veröffentlichen, Alma!«

 

»Aber ich habe es doch schon getan«, entgegnete sie düster.

 

Er schüttelte mißbilligend den Kopf.

 

»Du fängst die Sache gleich von vornherein verkehrt an. Sir James Tynewood war nicht betrunken, als er dich dringend bat, die Heirat für ein Jahr geheimzuhalten. Er war sogar sehr nüchtern, und sicher hat er wichtige Gründe.«

 

Mit einem ungeduldigen Achselzucken wandte sie sich von ihm ab und ging zu dem jungen Mann hinüber, der inzwischen seine akrobatischen Kunststücke aufgegeben hatte und mit unsicherer Hand ein Sektglas hielt. Sein Freund bemühte sich, es zu füllen, goß aber dauernd daneben, so daß der fliederfarbene Teppich bald häßliche Flecken zeigte.

 

»Jimmy, komm einmal mit mir«, sagte sie und legte ihren Arm in den seinen.

 

Sein Gesicht war rot und angeheitert, und er lächelte sie verständnislos an.

 

»Einen Augenblick, Schatz«, entgegnete er mit etwas belegter Stimme. »Ich muß noch ein Glas mit meinem lieben alten Mark zusammen trinken.«

 

»Du kommst jetzt mit mir. Ich muß mit dir sprechen«, erklärte sie entschieden.

 

Mit einem Grinsen ließ er den Sektkelch zu Boden fallen, und das Glas zersplitterte in tausend Stücke.

 

»Da merkt man erst, wie verheiratet man ist! Am Ende hat der Pfarrer bei der Trauung noch gesagt, daß man seiner Frau gehorchen soll!«

 

Sie führte ihn zu Javot.

 

»Jimmy«, sagte sie dann unvermittelt, »ich habe den großen Zeitungen und Gesellschaftsblättern unsere Verheiratung mitgeteilt.«

 

Er starrte sie nur erstaunt an und runzelte die Stirn. In seinem betrunkenen Zustand wurde ihm nicht klar, um was es sich eigentlich handelte.

 

»Sag doch – noch einmal –, was du willst.«

 

»Ich habe die Zeitungen davon benachrichtigt, daß sich die bekannte und beliebte Schauspielerin Alma Trebizond mit Sir James Tynewood auf Schloß Tynewood vermählt hat«, erwiderte sie kühl. »Es paßt mir nicht, daß meine Heirat mit dir geheimgehalten werden soll. Du schämst dich doch nicht etwa meinetwegen?«

 

Er zog seinen Arm aus dem ihren und fuhr nervös mit der Hand durch sein Haar. Anscheinend machte er den Versuch, intensiv nachzudenken.

 

»Verdammt noch einmal, ich habe dir doch aber ausdrücklich gesagt, daß du das unterlassen sollst«, entgegnete er mit plötzlicher Heftigkeit. »Zum Henker, habe ich dir das nicht ganz strikt befohlen, Alma?«

 

Plötzlich schlug seine Stimmung jedoch wieder um, und der düstere Ausdruck wich aus seinem Gesicht. Er warf den Kopf zurück und lachte übermäßig laut.

 

»Na, das ist ja der beste Witz, den ich jemals gehört habe«, brüllte er und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Javot, darauf müssen wir sofort ein Glas trinken.«

 

Aber Augustus Javot schüttelte den Kopf.

 

»Nein, danke vielmals, Sir James. Wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf –«

 

»Lassen Sie das lieber«, sagte Sir James etwas anmaßend. »In diesen Tagen nehme ich überhaupt von niemandem einen Rat an. Ich habe Alma geheiratet – das ist das einzige, was augenblicklich für mich zählt, und wenn sich die ganze Welt auf den Kopf stellt. Habe ich nicht recht, Liebling?«

 

Als er wieder durch das Zimmer wankte, schaute Javot nachdenklich hinter ihm her.

 

»Ich möchte nur wissen, was seine Verwandten dazu sagen?« fragte er leise.

 

Alma wandte sich gereizt zu ihm um.

 

»Kommt es denn darauf an, was seine Verwandten dazu sagen?« fragte sie scharf. »Außerdem hat er gar keine Verwandten! Nur einen jüngeren Bruder, der sich in Afrika aufhält. Und obendrein ist der Junge nur ein Halbbruder von ihm. Javot, du bist heute abend wirklich unausstehlich. Du fällst mir direkt auf die Nerven mit deinem entsetzlichen Unken. Nimm dich doch ein wenig zusammen.«

 

Er erwiderte nichts und setzte sich nachlässig auf die Sofalehne, als sie ihrem Mann nachging. Seine Gedanken beschäftigten sich unablässig damit, wie dieses Abenteuer wohl noch enden würde.

 

Die ausgelassene Stimmung war gerade auf dem Höhepunkt, als plötzlich eine Unterbrechung kam.

 

Almas Wohnung lag in einem vornehmen Häuserblock in der Nähe des Hyde Parks, und es wohnten im allgemeinen nur ruhige Leute in dieser Gegend. Als das Dienstmädchen in der Tür erschien, glaubte Javot daher, daß sich die Mieter der unteren Stockwerke über den Lärm beschweren wollten. Daran war er schon gewöhnt, denn solche Unterbrechungen kamen, regelmäßig bei den Gesellschaften vor, die Alma in ihrer Wohnung gab.

 

Diesmal schien Janet jedoch eine wichtige Nachricht zu haben, denn Alma brachte die angeheiterten Gäste zum Schweigen.

 

»Was, ich soll hier gestört werden?« fragte Sir James laut.

 

»Ja, die Dame wünscht, Sie dringend zu sprechen«, erwiderte Janet.

 

»Wer ist es denn?« fragte Alma.

 

»Ein hübsches, junges Mädchen, Mylady.« Janet gab sich Mühe, ihre Herrin mit dem neuen Titel anzureden.

 

Lady Tynewood lachte.

 

»Hast du schon wieder eine neue Eroberung gemacht, Jimmy?«

 

Sir James grinste selbstzufrieden, denn er war sehr stolz auf die Wirkung seiner Persönlichkeit.

 

»Na, dann bringen Sie die Dame mal herein«, befahl er gönnerhaft.

 

Janet zögerte.

 

»Haben Sie nicht gehört, was ich gesagt habe?« rief Tynewood übermäßig laut.

 

Janet verschwand.

 

Gleich darauf kam sie zurück und führte eine junge Dame herein.

 

Javots Augen leuchteten auf, als er das unbekannte Mädchen sah.

 

»Ein verdammt hübscher Käfer!« murmelte er halblaut vor sich hin.

 

Miss Stedman sah sich etwas verwirrt in der Gesellschaft um und schien sich in dieser Umgebung wenig wohl zu fühlen.

 

»Sir James Tynewood?« fragte sie leise.

 

»Ja, das bin ich.«

 

»Ich bringe einen Brief für Sie.«

 

»Für mich?« wiederholte er gedehnt. »Zum Teufel, woher kommen Sie denn?«

 

»Von den Rechtsanwälten Vance and Vance.«

 

Sir James Tynewoods Gesicht zuckte nervös.

 

»So, von Vance and Vance kommen Sie?« sagte er heiser.

 

Javot glaubte, einen angstvollen Unterton in der Stimme des jungen Mannes zu hören.

 

»Ich weiß wirklich nicht, wie Mr. Vance dazu kommt, mich zu so später Stunde noch zu stören.«

 

Zögernd nahm Sir James den Brief aus der Hand des Mädchens und betrachtete ihn von allen Seiten.

 

»Mach ihn doch auf, Jimmy«, rief Alma ungeduldig. »Du kannst doch die junge Dame nicht so lange warten lassen!«

 

Ein Herr mit Künstlerlocken trat näher, und bevor Miss Stedman seine Absicht erkennen konnte, hatte er sie schon um die Taille gefaßt.

 

»Das ist meine Partnerin zum Tanz, auf die habe ich schon den ganzen Abend gewartet!« erklärte er ausgelassen. »Dreh doch den Klapperkasten wieder an, Billy.«

 

Sie wollte sich freimachen, aber es gelang ihr nicht, und wohl oder übel mußte sie sich nach dem Takt der Musik bewegen. Hilfesuchend sah sie sich um, aber niemand nahm sich ihrer an. Die anderen grinsten nur und schauten vergnügt zu.

 

»Lassen Sie mich sofort gehen«, rief sie erregt. »Bitte, lassen Sie mich in Ruhe. Sie dürfen doch nicht –«

 

»Immer flott und elegant, meine kleine Puppe«, erwiderte der junge Mann. Aber plötzlich packte ihn eine starke Hand am Arm.

 

»Lassen Sie die Dame sofort los«, sagte Mr. Javot streng.

 

»Verdammt noch mal, kümmern Sie sich doch um Ihren eigenen Kram!« rief ihm der Gast ärgerlich zu.

 

Aber Javot hatte erreicht, daß er das Mädchen freiließ, und trat nun zwischen sie und ihn.

 

»Entschuldigen Sie vielmals«, wandte er sich freundlich an sie und schob den aufgeregten jungen Mann beiseite.

 

Tynewood riß den Umschlag auf, und Javot beobachtete ihn interessiert. Sir James konnte in seinem Rausch das Schreiben nur Wort für Wort lesen. Plötzlich wurde er bleich, und seine Unterlippe zitterte.

 

»Was hast du denn?« fragte Alma scharf, denn auch sie bemerkte die Veränderung in seinen Zügen.

 

Langsam zerknitterte James den Brief in der Hand, und ein häßlicher Ausdruck entstellte sein Gesicht.

 

»Verdammt noch mal, der Kerl ist tatsächlich zurückgekommen!« stieß er heiser hervor.

 

»Wer ist zurückgekommen?« wandte sich Javot schnell an ihn.

 

Sir James antwortete nicht gleich und biß die Zähne aufeinander.

 

»Der Kerl, den ich von allen Menschen auf der Welt am meisten hasse«, sagte er dann böse und schob das zerknüllte Papier in seine Tasche.

 

Dann drehte er sich plötzlich zu dem jungen Mädchen um.

 

»Soll ich etwas bestellen?« fragte sie ängstlich. Sie sah noch blaß aus und zitterte vor Erregung.

 

»Sagen Sie Vance, daß er sich zum Teufel scheren soll! – He, Mark, gieß mir mal einen Kognak ein!«

 

Kapitel 10

 

10

 

Lance Kelman wartete in tadellosem Reitdreß am Gartentor. Er sah außerordentlich gut aus, aber seine affektierten Bewegungen verrieten seine Eitelkeit und seinen wenig männlichen Charakter. Sein sorgfältig frisiertes und gebürstetes Haar duftete nach Brillantine, und er war sehr stolz auf seine schmalen, gepflegten Hände.

 

Als Marjorie im Straßenanzug an das Tor kam, grüßte er sie in überschwenglicher Weise.

 

»Aber ich dachte doch, du wolltest heute morgen mit mir ausreiten?«

 

Lance Kelman war mit sich selbst sehr zufrieden und trat auch dementsprechend auf. Er hatte gehofft, durch dieses Benehmen auch auf Mr. Stedman einen so großen Eindruck zu machen, daß dieser ihm einen Teil seines Vermögens überlassen oder ihm wenigstens eine Anstellung geben würde, bei der er mit geringster Anstrengung möglichst viel verdiente. Aber er war sehr enttäuscht aus Südafrika nach Hause gekommen und hatte sich wenig schmeichelhaft über Mr. Stedman ausgesprochen.

 

Marjorie hatte eigentlich nicht die Absicht, ihre schwierige Lage mit Lance Kelman zu besprechen, aber sie mußte sich in diesem Augenblick irgendeinem Menschen anvertrauen, wenn sie nicht den letzten Rest ihrer Selbstbeherrschung verlieren sollte.

 

Sie wünschte, daß sie nur etwas stärker wäre, um nicht gerade in dieser Krise zusammenzubrechen.

 

»Ja, du hast recht«, sagte sie hastig. »Aber ich reite erst heute nachmittag.«

 

»Ich hätte dir gern einmal das Schloß Tynewood und den großen Park gezeigt.«

 

Er sprach so anmaßend und herablassend, als ob ihm das ganze Land gehörte und er es aus lauter Gnade und Barmherzigkeit seinen Mitmenschen zeigte. Aber heute machte sein Wesen, über das sie sich sonst amüsierte, nicht den geringsten Eindruck auf sie. Sie sah ihn nur traurig an.

 

»Ich bin aber wirklich nicht in der Stimmung, mir Tynewood anzusehen oder etwas, was mit diesem Namen zusammenhängt. Du kommst doch morgen abend auch zum Essen?«

 

Er nickte und runzelte die Stirn.

 

»Ich wundere mich nur, daß es dir nicht gelungen ist, Marjorie, mir einen Platz an deinem Tisch zu verschaffen. Ich will mich nicht an die Rockschöße des Prinzen hängen, das liegt mir ganz fern, aber ich möchte doch gern in deiner Nähe sein. Und dann noch eins. Was hast du bloß mit Lady Tynewood gemacht? Hast du dich schon wieder einmal mit ihr gezankt?« fragte er schnell.

 

»Nein, ich habe mich nicht mit ihr gezankt. Sie hat Streit angefangen, und zwar wegen derselben Sache, über die du dich eben auch bei mir beschwert hast. Sie wollte absolut an der Ehrentafel sitzen. Ich wünschte nur, daß ich überhaupt nicht hinzugehen brauchte.«

 

»Sitzt sie denn nicht bei den Honoratioren?«

 

»Nein.« Marjorie verlor die Geduld. »Und ich freue mich darüber. Ich habe gar nichts mit der Platzverteilung zu tun, ob es sich nun um große oder um kleine Tische handelt.«

 

Lance fühlte sich ebenso beleidigt wie Alma und machte deren Sache zu seiner eigenen.

 

»Ich weiß nicht, was du immer gegen Lady Tynewood hast. Sie ist wirklich eine sehr nette Dame, das kannst du mir glauben. Und sie hat große Weltkenntnis. Ich muß sagen, daß ich sie in jeder Weise respektiere. Mein Verhältnis zu ihr läßt sich allerdings in keiner Beziehung mit meinen Gefühlen dir gegenüber vergleichen«, fügte er schnell hinzu.

 

Marjorie sah ein, daß es sinnlos war, mit diesem jungen Mann ihre Sorgen zu besprechen.

 

»Ich muß jetzt ins Dorf gehen, Lance«, erwiderte sie ungeduldig. »Holst du mich um zwei ab? Du siehst in deinem Reitdreß wirklich recht smart aus«, lenkte sie dann ein und lächelte ein wenig. »Eigentlich solltest du dich gar nicht umziehen bis heute nachmittag.

 

Er strahlte.

 

»Schön, um zwei bin ich wieder hier. Aber kann ich dich denn nicht ins Dorf begleiten?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Nein, ich habe etwas Wichtiges auf der Post zu erledigen und möchte lieber allein gehen.«

 

Sie wartete nicht mehr auf seine Antwort, wandte sich mit einem kurzen Kopfnicken um und ging schnell den Hügel zu dem Dorf hinunter.

 

Tynewood! Wie sie den Namen haßte! Obwohl sie in der letzten Zeit zufrieden und glücklich in dieser Gegend gelebt hatte, empfand sie doch jetzt eine unsägliche Bitterkeit gegen ihre Umgebung. Sie hatte das Gefühl, daß die Nähe Alma Tynewoods die herrliche Natur ringsum vergiftete und ihr das Leben unerträglich machte. Und ihre Mutter war in den Klauen dieser entsetzlichen Frau! Allein diese Tatsache zwang Marjorie gegen ihren Willen zu dem Schritt, gegen den sich ihr ganzes Inneres aufbäumte. Glühender Haß gegen Alma Tynewood packte sie.

 

An diesem Morgen verschwor sich alles gegen das junge Mädchen. Das Postamt lag am äußersten Ende der Dorfstraße, so daß sie durch den ganzen Ort gehen mußte. Sie machte diesen Weg nur selten, denn der Bahnhof lag näher am Schloß.

 

Als sie an dem Laden des Fleischers Perkins vorüberkam, trat dieser aus seiner Tür und grüßte sie höflich.

 

»Es tut mir leid, daß ich Sie belästigen muß, Miss Stedman. Aber schon seit vierzehn Tagen habe ich versucht, einmal mit Ihnen zu sprechen.«

 

»Warum denn?« fragte sie erstaunt.

 

»Nun, sehen Sie, ich dränge ja meine guten Kunden nicht«, entgegnete der Mann verlegen, »vor allem da Sie doch im ganzen Ort so geachtet sind. Aber ich wäre Ihnen doch sehr dankbar, wenn Ihre Mutter die Rechnung bezahlte, die noch bei mir steht.

 

Marjories Herz wurde schwer.

 

»Ist sie hoch?«

 

»Ach, es sind im ganzen hundertzwanzig Pfund. Die sind im Lauf der Zeit zusammengekommen. Für Sie bedeutet es ja nicht viel, aber für mich ist das schon eine andere Sache, denn ich muß auch meinen Verpflichtungen nachkommen. Sie wissen vielleicht auch, wie schwer es heutzutage ist, bares Geld hereinzubringen.«

 

Sie nahm sich zusammen und sah ihn freundlich an.

 

»Schon gut, Mr. Perkins, ich will sehen, daß Ihre Rechnung bald beglichen wird.«

 

Ein paar Minuten später wurde sie von dem kleinen Mr. Grain angehalten, der ein Baugeschäft hatte.

 

»Miss Stedman«, sagte er ebenso höflich wie der Fleischer, »würden Sie so liebenswürdig sein und Ihre Mutter daran erinnern, daß meine Rechnung immer noch nicht bezahlt ist? Ich habe sie schon vor zwölf Monaten geschickt. Sie wissen doch, daß ich umfangreiche Reparaturen an Ihrem Hause ausgeführt habe. Im vergangenen Frühjahr habe ich es innen und außen neu gestrichen.«

 

»Ist Ihre Rechnung hoch?« fragte Marjorie leise.

 

»Etwa hundertachtzig Pfund. Ich habe Ihrer Mutter schon mehrmals geschrieben, aber sie hat mir nie geantwortet.«

 

»Ich werde dafür sorgen, daß die Sache in Ordnung kommt, Mr. Grain. Meine Mutter war in der letzten Zeit sehr beschäftigt und hat es wahrscheinlich vergessen.«

 

Es bedrückte Marjorie tief, daß all diese armen, bescheidenen Leute, die selbst schwer kämpfen mußten, Geld von ihrer Mutter zu bekommen hatten. Wenn sie noch irgendeine Bestärkung für ihren Vorsatz brauchte, so hätte sie sie jetzt erhalten. Es blieb ihr kein Ausweg.

 

Mit hoch erhobenem Kopf ging sie in das Postamt und nahm ein Telegrammformular.

 

»Aber das ist ein Auslandstelegramm, Miss Stedman«, sagte die Beamtin freundlich.

 

»Ja, das weiß ich.«

 

Die Ausführung ihres Entschlusses fiel ihr aber doch sehr schwer. Mit größter Selbstüberwindung tauchte sie schließlich die Feder ein und schrieb die Adresse.

 

»Alfred Stedman, Stedman’s Mine, Vrykloof, Südafrika.«

 

Dann hielt sie wieder inne und starrte ein paar Minuten verzweifelt auf das Blatt. Endlich riß sie sich gewaltsam zusammen.

 

»Nehme Vorschlag betreffend Pretoria-Smith an«, stand plötzlich auf dem Blatt, und mit fester Hand setzte sie ihren Namenszug darunter.

 

Kapitel 11

 

11

 

»Was ist nur mit Marjorie los?« fragte Lance Kelman nachlässig und zündete sich eine Zigarette an.

 

Mrs. Stedman saß mit ihrem Neffen im Empfangszimmer. Sie zuckte die Schultern, was andeuten sollte, daß sie darüber nichts wüßte.

 

»Ich kann das Mädchen überhaupt nicht verstehen. Je älter sie wird, desto mehr lebt sie für sich«, klagte sie. »Sie nimmt nicht mehr die geringste Rücksicht auf mich und weiß auch nicht, was sie mir schuldig ist.«

 

»Ach, sie ist noch sehr jung«, meinte Lance wohlwollend. »Wenn sie erst einmal etwas mehr reist und die Welt kennenlernt, bekommt sie auch einen weiteren Gesichtskreis und bessere Urteilsfähigkeit.«

 

Er tröstete seine Tante stets, und sie bewunderte dafür immer aufs neue seine elegante Erscheinung.

 

»Ich wünschte nur, Marjorie käme endlich einmal zur Vernunft. Das beste wäre doch wirklich, wenn sie sich verheiraten würde. Ich hoffte eigentlich damals, als du diese gefährliche Reise nach Südafrika machtest, daß mein Schwager dir irgendeine Lebensstellung verschaffte, damit du heiraten könntest.«

 

»Du meinst, damit ich Marjorie heiraten könnte?« fragte Lance ruhig, denn dieser Gedanke erschien ihm vollkommen selbstverständlich. »Ich dachte auch schon daran. Sie ist ein ganz nettes Mädel, nur leider etwas engherzig und einseitig, Tante.«

 

»Genau meine Meinung«, entgegnete sie und schaute nervös nach der Uhr. »Ich möchte nur wissen, wie lange sie wieder fortbleibt.«

 

»Gehst du heute nachmittag aus?«

 

»Ja«, erwiderte sie leise. »Aber bitte sage nichts davon zu Marjorie. Sie hat ein so unvernünftiges Vorurteil gegen Lady Tynewood.«

 

»Ach, willst du Lady Alma besuchen? Nun, da tust du ganz recht. Sie ist eine sehr liebenswürdige Dame. Ich habe ihr neulich einmal von meiner Reise nach Südafrika erzählt, und da fragte sie mich, ob ich nicht zufällig ihren Mann, Sir James, dort getroffen hätte. Du weißt doch, daß er sie verlassen hat. Ich bin aber nie ganz hinter die Geschichte gekommen.«

 

»Ja, die Leute haben viel darüber gesprochen«, begann Mrs, Stedman gerade, als sie durch das plötzliche Erscheinen Marjories gestört wurde. Das junge Mädchen trug Reitkleidung und sah in dem hellgrauen Anzug vorzüglich aus. Lance betrachtete sie mit aufrichtiger Bewunderung.

 

»Bei deinen sonst soliden Ansichten kleidest du dich manchmal etwas gewagt, Marje.«

 

»Darüber kannst du nicht urteilen. Und nenne mich doch vor allem nicht Marje. Das klingt so gewöhnlich, ich will es nicht hören.«

 

»Aber Marjorie, wie kannst du nur so schroff sein!« rief ihre Mutter entrüstet.

 

»Bist du fertig, Lance?« fragte Marjorie kurz und ging, ohne seine Antwort abzuwarten, nach draußen, wo die Pferde bereitstanden.

 

Er eilte ihr nach, um ihr behilflich zu sein, aber schon ehe er ankam, hatte sie den Fuß in den Steigbügel gesetzt und sich in den Sattel geschwungen.

 

»Du bist ja kolossal selbständig geworden«, beschwerte er sich, da er sich zurückgesetzt fühlte.

 

Sie ritten durch eine lange Allee, die von hohen Hecken eingefaßt war, und Marjorie blieb zunächst schweigsam. Sie hatte die Absicht, Lance kurz mitzuteilen, was sie telegrafiert hätte, und sie zweifelte natürlich nicht daran, daß er ihre Handlungsweise verurteilen würde.

 

»Deine Mutter hat von Schloß Tynewood gesprochen«, begann er schließlich, und sie ärgerte sich, daß dieser Name fiel.

 

»Ich hoffe nur, daß sie heute nachmittag nicht wieder zu Lady Tynewood geht«, sagte sie plötzlich, aber Lance schwieg über diesen Punkt.

 

»Hast du das Schloß eigentlich schon einmal gesehen?«

 

Sie erinnerte sich gut genug an den schrecklichen Abend, den sie dort zugebracht hatte, und schauderte leicht.

 

»Nein, ich kenne es nicht.«

 

»Es ist ein schönes, altes Gebäude aus der Tudorzeit, und der Park ist wirklich großartig. Ich verstehe nicht, daß Sir James es fertigbringt, seine hübsche Frau und eine solche Besitzung im Stich zu lassen und in der Wildnis umherzustreifen. Ich halte das direkt für Wahnsinn!«

 

»Du scheinst ja mit den Verhältnissen der Familie Tynewood ziemlich gut Bescheid zu wissen.«

 

»Ja, man erfährt so allerlei. Der Baron hat seine Frau verlassen, und zwar einige Tage nach der Hochzeit. Die wirklichen Zusammenhänge sind hier allerdings nicht bekannt. Er hat nämlich zwei große Güter und hält sich meistens auf dem anderen auf. Hier in Schloß Tynewood ist nur der alte Pförtner, der ihn schon seit seiner frühen Jugend kennt. Vor vier Jahren hat Sir James ganz plötzlich geheiratet. Lady Tynewood war früher Schauspielerin, das weißt du wohl auch.«

 

»Ja, ich habe davon gehört.«

 

»Er muß nicht ganz bei Verstand gewesen sein. Ohne daß er ihr die geringste Mitteilung machte, hat er sie einfach verlassen. Die beiden haben in London geheiratet.«

 

»Wer hat dir denn das alles erzählt?«

 

»Nun, wenn ich offen sein soll – Lady Tynewood selbst. Sie hat mich in diese traurige Angelegenheit eingeweiht, als ich neulich zum Tee bei ihr war«, sagte Lance gleichgültig.

 

»Ach so, jetzt verstehe ich.« Marjorie lächelte ein wenig. »Aber sprich nur ruhig weiter. Ich interessiere mich sehr für Sir James Tynewood.«

 

»Also, der Mann ist unbegreiflicherweise auf und davon gegangen«, fuhr Lance fort. Er war sehr stolz darauf, daß er die Geschichte aus erster Hand hatte. »Soweit ich die Sache beurteilen kann, hatte er einen etwas aufbrausenden Charakter und war in mehrere unangenehme Affären verwickelt, bevor er Alma traf – ich meine Lady Tynewood. Man hat seinerzeit viel in den Zeitungen über ihn geschrieben. In einem Artikel wurde auch erwähnt, daß Lady Tynewood in den Besitz des berühmten Halsbandes kommen würde. Es ist ein herrliches Brillantkollier.«

 

»Ich weiß, daß es kein Hundehalsband ist«, erwiderte sie ironisch.

 

Er sah sie mißtrauisch von der Seite an.

 

»Lady Tynewood bestand darauf, daß James es ihr bringen sollte. Das war in ihrer Londoner Wohnung. Er kam bis hierher zum Schloß, und von dem Augenblick an« – er machte eine dramatische Pause – »hat man nie wieder etwas von ihm gesehen. Am nächsten Morgen erhielt sie einen Brief von seinem Rechtsanwalt, daß sie unter keinen Umständen den Versuch machen dürfte, das Schloß und den Park von Tynewood zu betreten. Und dabei war sie doch rechtmäßig verheiratet! Es wurde ihr ein jährliches Einkommen ausgesetzt, aber es ist viel zu gering für eine Frau von ihrer Stellung. Und dann las sie in der Zeitung, daß James Tynewood nach Südafrika gereist sei.«

 

»Nach Südafrika?« wiederholte sie mit besonderer Betonung. »Natürlich, das Schiff ›Carisbrooke Castle‹ fährt ja nach Kapstadt.«

 

»Den Namen des Schiffes habe ich doch gar nicht erwähnt«, entgegnete Lance etwas verblüfft. Aber er war zufrieden mit der Wirkung seiner Worte und machte sich nicht die Mühe, Marjorie näher auszufragen. »Warum hast du denn eigentlich eben so merkwürdig ›Südafrika‹ gesagt?«

 

»Weil ich mich dafür interessiere«, erwiderte sie schroff.

 

Er sah sie erstaunt an.

 

»Ich heirate nämlich einen Pretoria-Smith«, fuhr sie fort.

 

»Pretoria-Smith?« rief er atemlos. »Aber was soll denn das heißen?«

 

»Hier – lies bitte.«

 

Sie nahm den Brief aus der Tasche und gab ihn Lance, der sein Pferd anhielt.

 

»Du wirst doch nicht einen derartigen Unsinn machen«, sagte er heftig, als er die Zeilen überflogen hatte. »Diesen Pretoria-Smith kenne ich sehr gut, er ist ein entsetzlicher Mensch! Furchtbar aufdringlich, spricht nur von sich selbst, verprügelt die Neger und ist ein roher, wüster Kerl. Ich habe mit meinen eigenen Augen gesehen, wie er einen Eingeborenen geschlagen hat. Es war so schlimm, daß ich dazwischentreten mußte. Einmal stand er auch vor Gericht, weil er einen Buschmann erschossen hatte. Den Namen habe ich vergessen, aber auf jeden Fall bleibt die Tatsache bestehen, daß er vor Gericht stand. Und dann trinkt der Mensch. Ich war mehrmals Zeuge, wie er stockbesoffen durch die Straßen wankte. Man sagt auch –«

 

»Ach, hör doch auf!« sagte sie schaudernd und fuhr mit der Hand über die Augen.

 

»Aber Marjorie, das kann doch nicht dein Ernst sein. Du wirst diesen Mann nicht heiraten! Ich selbst hoffe, dich in allernächster Zeit um deine Hand bitten zu können.«

 

»Dich könnte ich niemals heiraten, Lance«, erwiderte sie ruhig. »Bitte, mache die Sache nicht noch komplizierter, als sie schon ist.«

 

»Aber das ist doch Wahnsinn! Das erlaube ich nicht!«

 

Sie lächelte bitter.

 

»Du kannst doch gar nichts dagegen tun., Und es bleibt mir wirklich nichts anderes übrig.«

 

Sie erzählte ihm nichts von den Torheiten ihrer Mutter und von ihrem eigenen Kummer, als sie weiterritten. Lance war wütend und fühlte sich persönlich gekränkt, während sich Marjorie hilflos dem unabwendbaren Schicksal gegenübersah.

 

Schließlich kamen sie an das Parktor von Tynewood.

 

»Ich möchte mir den Park heute nicht ansehen«, sagte sie abgespannt. »Aber wir wollen einen Augenblick hier ausruhen.«

 

Sie hatten einen schönen Blick auf die großen Wiesen, die alten, mächtigen Bäume mit den weitausladenden Ästen und das graue Haus, dessen Fenster in der Nachmittagssonne glänzten.

 

»Es ist wirklich herrlich hier«, sagte sie leise.

 

Während sie die wundervolle Aussicht genoß, vergaß sie für einen Augenblick ihre Sorgen.

 

Plötzlich kam ein Auto in Sicht und hielt gleich darauf vor dem Parktor. Eine Dame stieg aus.

 

»Lady Tynewood«, flüsterte Lance.

 

Marjorie wollte eigentlich davonreiten, ohne sich umzusehen, aber ihre Neugierde hielt sie doch zurück.

 

Der Pförtner öffnete, blieb aber mitten im Weg stehen.

 

»Kann ich etwas für Sie tun, Mylady?« fragte er und legte die Hand an die Mütze.

 

»Ich möchte mir den Park ansehen«, erwiderte Alma.

 

Der Mann rührte sich jedoch nicht von der Stelle.

 

»Es tut mir sehr leid, Mylady, aber ich habe strengen Befehl, Sie unter keinen Umständen einzulassen.«

 

»Und ich gebe Ihnen jetzt den strikten Auftrag, zur Seite zu treten und mir den Weg freizugeben«, entgegnete sie aufgeregt. »Ich habe mich allzu lange den Wünschen von Sir James gefügt, aber jetzt bestehe ich auf meinem Recht. Ich will den Schloßpark betreten, wann es mir paßt.«

 

Der Pförtner trat einen Schritt zurück und schloß das schwere Tor vor ihrer Nase.

 

»Es tut mir sehr leid, Mylady, aber meine Instruktionen sind eindeutig. Ich kann Ihnen nicht gestatten näherzutreten.«

 

Als sich Lady Tynewood wütend umdrehte, entdeckte sie Marjorie.

 

»Wie kommen Sie denn hierher?« fragte sie mit heiserer Stimme und legte die Hand an die Kehle, als ob ihr das Atmen schwerfiele. »Das ist eine neue Unverschämtheit von Ihnen, daß Sie mir hier nachspüren! Aber das soll Ihnen schlecht bekommen?«

 

Marjorie sagte zunächst nichts, und es entstand eine peinliche Pause.

 

»Ich spüre Ihnen nicht nach«, erwiderte das junge Mädchen schließlich gelassen. »Nicht einmal, wenn Sie meiner Mutter beim Bridgespiel das Geld abnehmen.«

 

Sie wandte ihr Pferd und ritt davon.

 

Kapitel 12

 

12

 

Mr. Vance, Chef der renommierten Rechtsanwaltfirma Vance and Vance, war gerade eifrig beschäftigt, als ihm ein Besuch gemeldet wurde. Er las die Karte und zog die Augenbrauen in die Höhe.

 

»Lassen Sie Miss Stedman näher treten.«

 

Er erhob sich und ging ihr halbwegs entgegen.

 

»Das ist ein unerwartetes Vergnügen«, begann er. »Aber Sie kommen doch hoffentlich nicht zu mir, um sich in Rechtsangelegenheiten beraten zu lassen?«

 

»Nein, das gerade nicht«, entgegnete sie lächelnd.

 

»Man erzählt sich ja große Dinge darüber, wie angesehen Sie in Ihrer Gegend sind. Aber nehmen Sie doch bitte Platz. Ich freue mich, Sie wiederzusehen. Ich muß sagen, daß ich Sie als Privatsekretärin sehr vermißt habe. Ja, der Ruf Ihrer Tüchtigkeit ist selbst bis zu meinem Büro nach London gedrungen. Wie ich hörte, haben Sie eine große Summe für das dortige Hospital zusammengebracht. Ich las auch in der Zeitung, daß Ihnen zu Ehren ein Essen stattfinden sollte. Haben Sie das schon hinter sich?«

 

»Nein, ich habe es noch vor mir, aber es wird nicht für mich allein abgehalten. Man will nur die Gelegenheit feiern, und alle Leute gratulieren sich, daß die Aufbringung des Fonds so gut gelungen ist. Und zu diesen Leuten gehöre ich auch.« Sie machte plötzlich ein ernstes Gesicht. »Mr. Vance, haben Sie eigentlich jemals meinen Onkel Alfred Stedman gesehen?«

 

»Soviel ich weiß, habe ich Ihnen diese Frage schon einmal beantwortet.« Er nickte. »Ich kann mich allerdings nur sehr dunkel auf ihn besinnen.«

 

»Sie wissen aber doch, daß er ein großes Vermögen erworben hat?«

 

»Gewiß. Das haben Sie mir ja damals geschrieben, und ich kann Ihnen dazu nur gratulieren. Aber was ist denn passiert?« fragte er schnell, als er den traurigen Ausdruck in ihren Zügen sah. »Hat er sein Geld etwa wieder verloren?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Manchmal wünschte ich direkt, daß es so wäre. Nein, das ist es nicht. Aber denken Sie, er hat den Versuch gemacht, über meine Zukunft zu bestimmen«, sagte sie zögernd.

 

Mr. Vance sah sie etwas verwirrt an, aber dann verstand er plötzlich den Sinn ihrer Worte.

 

»Ach so, er hat einen Mann für Sie ausgesucht?« fragte er vergnügt und zwinkerte ihr mit den Augen zu.

 

»Sie haben es erraten.«

 

»Und wer ist denn der Glückliche?«

 

»Jemand, den Sie sehr gut kennen.«

 

Das Lächeln verschwand aus dem Gesicht des Rechtsanwalts.

 

»Wie soll ich das verstehen – jemand, den ich sehr gut kenne? Miss Stedman, das müssen Sie mir genauer erklären. Ist es einer meiner Freunde?«

 

»Ich weiß nicht, ob er ein Freund von Ihnen ist. Ich habe ihn allerdings früher einmal in Ihrem Büro hier getroffen – es ist Mr. Smith von Pretoria.«

 

Er erhob sich halb aus seinem Stuhl und sah sie ungläubig an.

 

»Mr. Smith von Pretoria – das ist doch ausgeschlossen!«

 

»Wenn es nur so wäre!«

 

Trotz ihres Kummers amüsierte sie sich einen Augenblick über seine Verwirrung.

 

Dann erzählte sie ihm kurz die näheren Umstände, erwähnte den Brief ihres Onkels, die Unterredung mit ihrer Mutter und deren törichte Handlungsweise. Sie hielt es nicht für angebracht, diese Dinge jetzt noch zu verschweigen.

 

»Ich bin tatsächlich aufs höchste erstaunt«, erwiderte Mr. Vance etwas betreten, als sie geendet hatte. »Vor allem hatte ich nicht die geringste Ahnung, daß Mr. Smith augenblicklich in England ist.«

 

Er dachte einige Zeit nach, und Marjorie beobachtete ihn scharf. Ihre Mitteilungen hatten den alten Herrn in ungewöhnliche Erregung versetzt.

 

»Ich möchte Sie noch etwas fragen, Mr. Vance. Aber bitte sagen Sie mir jetzt die volle Wahrheit. Das klingt zwar etwas unhöflich, aber es handelt sich um meine Zukunft, und da muß ich die Wahrheit erfahren.«

 

»Was wollen Sie denn wissen?« fragte er ruhig.

 

»Was bedeutete der Auftritt, den ich an einem gewissen Abend vor vier Jahren in Schloß Tynewood beobachtete?«

 

Er schwieg eine Weile.

 

»Darauf kann ich Ihnen nicht antworten, Miss Stedman«, sagte er schließlich. »Wenn ich es täte, würde ich das Vertrauen eines Freundes verletzen, und es würde dadurch ein alter, geachteter Name in den Staub getreten werden.«

 

»Sie meinen die Ehre des Hauses Tynewood?« fragte sie schnell.

 

Er nickte.

 

»Dann beantworten Sie mir bitte eine andere Frage. Wenn ich mich für Pretoria-Smith entscheide, heirate ich dann nicht den Mann, der die Veranlassung dazu war, daß Sir James Tynewood aus England verschwand? Ich sage ausdrücklich nicht, daß er ihn ermordete«, fügte sie hastig hinzu. »Das wäre zu schrecklich. Ich weiß allerdings, daß Sir James Tynewood tot ist. Aber ich habe das Versprechen gehalten, das ich Ihnen gab, und mit keinem Menschen über jene Ereignisse auf dem Schloß gesprochen.«

 

Er sah Marjorie mit aufrichtiger Bewunderung an.

 

»Dafür bin ich Ihnen auch zu größtem Dank verpflichtet, Miss Stedman. Und auch Sir James wird Ihnen das sicher hoch anrechnen, wenn er wieder nach England zurückkehrt.«

 

Marjorie schaute ihn durchdringend an.

 

»Sir James Tynewood ist tot«, sagte sie fest. Seine Augen verengten sich.

 

»Ich wiederhole«, entgegnete er ruhig, »daß Sir James Tynewood Ihnen das hoch anrechnen wird, wenn er nach England zurückkehrt.«

 

Marjorie legte die Hand auf den Schreibtisch.

 

»Ich will ganz offen und ehrlich zu Ihnen sein. Ich weiß, daß Sir James Tynewood tot ist. Durch einen Zufall habe ich es erfahren. Ich kam damals in Ihr Zimmer, als Sie mit Doktor Fordham darüber sprachen.«

 

Er erhob sich und ging langsam im Zimmer auf und ab. Nachdenklich hatte er das Kinn auf die Brust gesenkt und die Hände auf dem Rücken gefaltet. Plötzlich blieb er vor ihr stehen.

 

»Sie haben also die Absicht, Pretoria-Smith zu heiraten?« fragte er.

 

Sie zuckte die Schultern. »Was bleibt mir denn sonst noch übrig?«

 

Er rieb sein Kinn.

 

»Sie könnten noch schlimmere Dinge tun. Pretoria-Smith ist ein sehr liebenswürdiger, charaktervoller Mann und stammt aus einer guten, alten Familie.«

 

»Heißt er wirklich Smith?«

 

»Sie wissen doch ganz genau, daß sich viele Leute Smith nennen«, erwiderte er gut gelaunt. »Miss Stedman –« er legte die Hand auf ihre Schulter, »wollen Sie einen guten Rat von Ihrem alten Freund annehmen?«

 

»Was raten Sie mir denn?«

 

»Pretoria-Smith zu heiraten«, lautete die erstaunliche Antwort.

 

»Was, ich soll einen Trunkenbold heiraten?« rief sie erregt und zornig.

 

»Wie kommen Sie denn auf eine solche Idee?« fragte er betroffen. »Pretoria-Smith ist doch kein Trinker!« sagte er dann ungläubig. »Das müssen Sie mir näher erklären.«

 

»Mein Vetter Lance Kelman hat eine Reise nach Südafrika gemacht und kennt daher den Mann genauer – wahrscheinlich viel besser als Sie. Er hat mir noch heute erzählt, daß er mit eigenen Augen, sah, wie Pretoria-Smith betrunken in den Straßen umherwankte.« Marjorie war ärgerlich auf ihren alten Chef, weil er ihr den Rat, gegeben hatte, diesen Menschen zu heiraten, and sie beobachtete nun triumphierend seine offensichtliche Bestürzung.

 

»Mr. Vance, wollen Sie mir nicht wenigstens sagen, wie er wirklich heißt? Ich kann doch nicht einen Mann heiraten, dessen Namen ich nicht einmal kenne.«

 

Er zögerte und sah sie unentschlossen an.

 

»Wenn ich Ihnen das mitteile, müssen Sie mir aber versprechen, und zwar feierlich und unverbrüchlich, weder Pretoria-Smith noch sonst jemandem zu sagen, daß Sie es von mir erfahren haben.«

 

»Gut, das verspreche ich Ihnen«, erwiderte sie sofort.

 

»Also – er heißt in Wirklichkeit Norman Garrick«, entgegnete er langsam.

 

»Norman Garrick?« wiederholte sie. Plötzlich glaubte sie einen Zusammenhang zu erkennen. »War er irgendwie verwandt mit dem jungen Mann, der jetzt tot ist?«

 

Sie konnte den Namen Tynewood im Augenblick, nicht aussprechen.

 

Mr. Vance suchte Zeit zu gewinnen und antwortete nicht gleich.

 

»Er ist sein Halbbruder«, sagte er dann leise. »Mehr kann ich Ihnen aber nicht erzählen.«

 

Er unterhielt sich noch eine Weile mit ihr über das Leben, das sie auf dem Lande führte, und über das große Festessen. Dann verabschiedete sie sich von ihm. Im äußeren Zimmer hielt sie kurz an, um den Bürovorsteher zu begrüßen, mit dem sie früher sehr gut gestanden hatte.

 

»Man wird wirklich an die guten, alten Zeiten erinnert, wenn man Sie wiedersieht, Miss Stedman«, meinte er vergnügt. »Ich muß schon sagen, es ist nach Ihnen kein Mensch mehr hier gewesen, mit dem ich so gern zusammengearbeitet habe wie mit Ihnen.«

 

»Ich soll wohl wiederkommen und Ihnen helfen? Sie haben sicher sehr viel zu tun und werden nicht mit der Arbeit fertig«, erwiderte sie lachend.

 

»Ach, das habe ich mir schon oft gewünscht. Auf meinem Platz sammeln sich die Aktenstöße und die Dokumente, und es ist niemand da, der alles so schön ordnen könnte, wie Sie es früher taten.«

 

Auf seinem Schreibtisch türmten sich tatsächlich die Schriftstücke in wildem Durcheinander.

 

»Sie haben es niemals verstanden, Ordnung zu halten, Mr. Herman«, sagte sie und begann rein mechanisch die Papiere zu sichten.

 

Als sie einen Stoß auf der einen Seite des Schreibtisches niedersetzte, fiel ihr Blick zufällig auf ein kleines Aktenstück, das mit einer roten Schnur zusammengebunden war. Sie nahm es auf, um es zu den anderen Schriftstücken zu legen, und las dabei die Aufschrift.

 

»In Sachen Norman Garrick.«

 

Mit einem Ausruf ließ sie den Aktendeckel fallen und starrte den Bürovorsteher an.

 

»Wer ist denn Norman Garrick?« fragte sie ängstlich.

 

Mr. Herman sah sie sonderbar an, nahm dann das Aktenstück und schob es in eine Schublade.

 

»Er ist einer unserer Klienten«, entgegnete er gleichgültig. »Das heißt, er gehörte früher dazu, denn vor einiger Zeit ist er gestorben.«

 

Zwei Minuten später ging Marjorie wie im Traum die Straße entlang, und ihre Gedanken wirbelten durcheinander.

 

Pretoria-Smith war Norman Garrick – und Norman Garrick war tot! Wer war denn nun Pretoria-Smith? Der Mann hatte ja überhaupt keine Existenzberechtigung!

 

Kapitel 13

 

13

 

Der Abend war gekommen, an dem die Direktion des Krankenhauses von Droitshire die Aufbringung des Fonds durch ein großes Galadiner feiern wollte. Die Gelder waren notwendig, um die Anstalt weiterführen zu können. Aber eigentlich wurde das Essen zu Ehren der energischen Sekretärin des Hilfskomitees gegeben, deren unermüdliche Tätigkeit den unerwartet großen Erfolg gebracht hatte.

 

Marjorie Stedman hatte das Wissen und die Geschäftserfahrungen, die sie in London gesammelt hatte, praktisch verwertet. Alle Vorteile hatte sie ausgenutzt, und da sie außerdem ein gutes Organisationstalent besaß, hatte sie diese hohe Summe zusammenbringen können.

 

Seine Königliche Hoheit der Herzog von Wight war der Protektor des Hospitals, und er war eigens von London gekommen, um den Vorsitz bei der Feier zu führen. Er war der Gast des Earl von Wadham, der seinen Landsitz in dieser Gegend hatte.

 

Marjorie sah in ihrem weißen Seidenkleid mit Silberbrokat entzückend aus. In der fröhlichen Umgebung und inmitten der glänzenden Gesellschaft vergaß sie für kurze Zeit ihre Sorgen und die unangenehmen Ereignisse des vergangenen Tages. Alle Leute gratulierten ihr. Von jeder hervorragenden Familie war mindestens ein Mitglied erschienen.

 

Lord Wadham war ein älterer Herr mit weißen Haaren und gesundem, gutmütigem Gesicht. Er trug ein Monokel und lächelte fast immer. Um zu Marjorie zu gelangen, mußte er sich einen Weg durch die Menge bahnen, denn sie wurde von allen Seiten umringt.

 

»Ach, hier sind Sie!« sagte er laut. Seine Stimme schrillte, und wenn er flüsterte, konnte man es noch im äußersten Winkel des großen Saales hören. »Kommen Sie doch bitte mit mir, Miss Stedman, ich möchte Sie Seiner Königlichen Hoheit vorstellen.«

 

Er führte sie zu dem Empfangsraum, wo sich der Herzog von Wight, eine jugendlich-schlanke Erscheinung, mit mehreren Herren unterhielt. Über der Frackweste trug der Prinz das blaue Band des Hosenbandordens.

 

»Königliche Hoheit, darf ich mir gestatten, Miss Marjorie Stedman vorzustellen, deren aufopferungsvoller Tätigkeit wir diesen großen Erfolg für das Droitshire-Hospital verdanken?«

 

Der Herzog lächelte und reichte ihr die Hand.

 

»Ich habe schon viel von Ihnen gehört, Miss Stedman, und ich bin hergekommen, um Ihnen meinen Dank persönlich auszusprechen. Wie Sie wissen, interessiere ich mich ganz besonders für das Hospital. Wenn Sie sich nicht mit solcher Tatkraft der Sache angenommen hätten, wären wahrscheinlich große Schwierigkeiten entstanden.«

 

Sie macht einen Hofknicks, als sie ihre Hand in die seine legte.

 

»Königliche Hoheit, die Arbeit für den wohltätigen Zweck war mir das größte Vergnügen.«

 

»Und es muß auch ein großes Vergnügen sein, mit Ihnen zusammenzuarbeiten«, erwiderte der Prinz liebenswürdig. Dann warf er Lord Wadham einen Blick zu und sah auf die große Uhr.

 

Gleich darauf meldete ein Diener, daß das Essen serviert sei, und die Anwesenden begaben sich in den Speisesaal.

 

Etwa fünfzig kleinere Tische waren aufgestellt worden. Nur am hinteren Ende des Raumes stand eine größere, überreich mit Blumen dekorierte Tafel, und dorthin führte der Herzog Marjorie Stedman.

 

»Heute sitzen Sie an meiner Rechten«, sagte er verbindlich, als sie neben ihm Platz nahm.

 

Die Mitglieder der alten Familien neideten ihr diese Ehre nicht, im Gegenteil, sie freuten sich darüber, daß die Verdienste dieses jungen Mädchens belohnt wurden. Aber die kleineren Leute, die Neureichen und Emporkömmlinge, gönnten ihr diese Auszeichnung nicht. Auch Lady Tynewood, die an einem der kleinen Tische mitten im Saal saß, gehörte zu ihnen.

 

»Nun, Mr. Kelman, was halten Sie jetzt von Ihrer Kusine?« wandte sie sich an ihren Tischherrn.

 

»Ach, sie sieht doch ganz nett aus«, entgegnete er vorsichtig, denn er wußte wohl, daß er in Almas Gegenwart Marjorie nicht zu sehr loben durfte. »Ich fürchte nur, sie wird hochmütig, wenn soviel Aufhebens von ihr gemacht wird. Wissen Sie, jungen Leuten steigt dergleichen gewöhnlich zu Kopf.«

 

Sie sah ihn belustigt an.

 

»Aber Sie sind doch selbst noch nicht so alt«, sagte sie ironisch. »Ist es wirklich wahr, daß sie einen Minenbesitzer heiratet? Ich habe gehört, daß sie sich mit einem gewissen Pretoria-Smith aus Südafrika verloben will.«

 

»Das ist ein ganz gemeiner Mensch«, erwiderte Lance heftig. »Wenn sie ihn gesehen hätte, wie ich ihn gesehen habe, würde sie überhaupt nicht daran denken, ihn zu heiraten. Es ist eine unverständliche Laune von ihr, und ich möchte ihr tatsächlich einmal eine Lektion erteilen.«

 

Marjorie dachte im Augenblick weder an Pretoria-Smith noch an sonst jemanden. Während der Herzog mit ihr über das Hospital sprach, ließ er den Blick über die Versammlung schweifen, und plötzlich entdeckte er Alma.

 

»Sitzt dort nicht Lady Tynewood?« fragte er.

 

»Ja, Königliche Hoheit. Ist sie Ihnen bekannt?«

 

»Ich kenne ihren Mann«, entgegnete er nachdenklich. »Wir waren zusammen in Eton auf der Schule. Später habe ich ihn in Südafrika wieder getroffen und war lange Zeit mit ihm dort unten auf der Jagd. Ein wirklich netter, lieber Kerl«, sagte er und schüttelte traurig den Kopf. »Ich habe diese merkwürdige Heirat niemals verstehen können.« Aber dann erinnerte er sich plötzlich daran, daß er sich nicht auf Gerede und Klatsch einlassen durfte, und änderte sofort das Gesprächsthema.

 

Lady Tynewood hatte seinen Blick aufgefangen und mit untrüglichem Instinkt sofort erkannt, daß der Herzog ihr nicht wohlgesinnt war.

 

»Lance, gehen Sie doch einmal zur Garderobe«, wandte sie sich an ihren Tischherrn. »Ich habe meine Handtasche dort gelassen, und darin liegt mein kleines Opernglas. Da ich hier für das Essen bezahlt habe, kann ich mir auch, ruhig den Schnabel Seiner Königlichen Hoheit genauer ansehen.«

 

Mr. Kelman lachte über diesen rohen Scherz und erhob sich.

 

Die Eingangshalle des Hotels war leer, und die Garderobenfrau hatte schnell die Handtasche gefunden.

 

Lance Kelman wollte gerade wieder in den Speisesaal zurückkehren, als ein Herr mit unsicheren Schritten in das Vestibül trat. Er sah ihn genauer an und glaubte seinen Augen nicht trauen zu dürfen. Dann fuhr ihm plötzlich ein teuflischer Gedanke durch den Kopf. Es war eine häßliche, gemeine Intrige, die er inszenieren wollte und über deren Folgen er sich nicht klarwurde.

 

Der Fremde war groß und breitschultrig und hatte ein glattrasiertes Gesicht, aber seine Züge zeigten kein Leben und schienen zu einer Maske erstarrt zu sein. Er trug einen etwas schäbigen, grauen Anzug nach Art der Farmer in Südafrika und ein Oberhemd mit weichem, offenem Kragen.

 

Lance steckte das Opernglas der Lady Tynewood ein und trat auf ihn zu.

 

»Hallo!« rief er.

 

Der Fremde drehte sich langsam nach ihm um.

 

»Hallo!« entgegnete er ein wenig heiser.

 

»Sie sind doch Pretoria-Smith?«

 

Der Mann schwankte von einer Seite zur anderen.

 

»Ja, so heiße ich«, sagte er mit unsicherer Stimme. »Aber zum Kuckuck, wer sind Sie denn?«

 

»Können Sie sich nicht auf mich besinnen? Ich bin doch der Neffe von Mr. Stedman.«

 

»Ach so – ja – jetzt fällt es mir wieder ein.« Pretoria-Smith nickte. »Sagen Sie, wo ist denn der Eingang zum Hotel? Ich bin anscheinend auf einer falschen Seite hereingegangen. Hier ist doch ein Festessen oder etwas Ähnliches im Gang?«

 

Der Gedanke, der Lance Kelman wie ein Blitz durchzuckt hatte, nahm immer festere Gestalt an. Er vergaß alle Rücksicht, die er Marjorie schuldig war, und er dachte nicht an die Folgen, die seine unverantwortliche Handlungsweise haben mußte. Rasch packte er Pretoria-Smith am Arm.

 

»Kommen Sie mit«, sagte er eifrig, »ich bringe Sie auf einem Seitengang dorthin, wo Sie die Dame treffen können, die Sie suchen.«

 

»Warten Sie einen Augenblick. Was haben Sie denn eigentlich vor?«

 

»Sie sind doch hungrig?«

 

»Ja, das stimmt«, erwiderte Pretoria-Smith heiser, nachdem er Lance einige Zeit mit glasigen Blicken betrachtet hatte. »Aber ich möchte doch nichts essen. Ich habe eigentlich mehr Durst.«

 

Wieder schwankte er unsicher.

 

Total betrunken, dachte Kelman frohlockend. Marjorie, du wirst dich sicherlich wundern, was für einen Mann du heiraten willst!

 

»Ich bringe Sie zu einem Büfett, wo Sie etwas trinken können«, sagte er laut. »Dort bekommen Sie alles, was Sie nur wollen.«

 

Er führte ihn den Korridor entlang, der dem Speisesaal parallel lief.

 

Der große Raum hatte mehrere Türen, und an der letzten blieb Mr. Kelman stehen. Er vermutete, daß sie direkt der Ehrentafel gegenüberlag. Wenn er diesen Mann jetzt in den Saal brachte, mußte es eine Sensation geben, die nicht zu überbieten war! Die Tür zu öffnen machte einige Schwierigkeiten, aber schließlich gelang es ihm doch. Er zog Pretoria-Smith schnell hinein, und die Aufmerksamkeit der Gäste richtete sich auch sofort auf den Fremden.

 

Der Herzog sah sich bestürzt um und runzelte die Stirn. Marjorie starrte betroffen auf den Mann, dem sie seit vier Jahren nicht mehr begegnet war. Sie glaubte, daß er betrunken sei, und wurde bleich.

 

Im Saal herrschte plötzlich peinliche Stille. Lance Kelman war befriedigt und redete die Versammlung mit erhobener Stimme an.

 

»Königliche Hoheit, meine Damen und Herren – gestatten Sie, daß ich Ihnen den Verlobten von Miss Marjorie Stedman vorstelle – Mister Pretoria-Smith aus Südafrika«, rief Kelman langsam aus.

 

Der Mann an seiner Seite sah ihn mit halbgeschlossenen Augen an, als ob er nicht verstünde, was um ihn vorging. Er machte ein paar Schritte vorwärts und ging auf den Prinzen zu, der aufgesprungen war. Marjorie war einer Ohnmacht nahe und schrak in ihrem Stuhl entsetzt zurück.

 

»Donnerwetter, ist der Mensch betrunken!« sagte Lord Wadham leise, aber der ganze Saal hörte es.

 

Im gleichen Augenblick strauchelte Pretoria-Smith und fiel polternd gegen den Tisch den Prinzen.

 

Kapitel 14

 

14

 

Marjorie Stedman wäre vor Scham am liebsten in die Erde gesunken, als sie diese demütigende Szene erleben mußte. Wie durch einen Schleier sah sie den großen Saal, der taghell erleuchtet, war, die mit den Landesflaggen dekorierten Wände, die weißen Tische und die prachtvollen Gedecke. Alle Gesichter wandten sich ihr zu, und vor ihr auf dem Boden lag Smith.

 

Er redete in einer fremden, ungewöhnlichen Sprache und mußte nur noch halb bei Bewußtsein sein. Der Prinz hatte beide Hände auf die Tischplatte gelegt und sich leicht vorgeneigt. Er war der erste, der sich rührte. Schnell ging er um den Tisch herum, und bevor die Kellner kommen konnten, hatte er Pretoria-Smith aufgehoben. Anderen Leuten, die nun zu Hilfe kommen wollten, winkte er ab, stützte Pretoria-Smith und führte ihn langsam in die Hotelhalle.

 

Sobald er den Saal verlassen hatte, setzte an allen Tischen lebhafte Unterhaltung ein. Alle sahen zu Marjorie hinüber, die noch starr vor Entsetzen und Furcht auf ihrem Platz saß.

 

Nach kurzer Zeit kam der Prinz ruhig und gelassen zurück, als ob nichts geschehen wäre, und setzte sich wieder an ihre Seite. Freundlich neigte er sich zu ihr und streichelte ihre Hand.

 

»Es tut mir so unendlich leid«, sagte er leise. »Wer ist denn eigentlich dieser junge Mann, der ihn hereingebracht hat?«

 

Er schaute sich um, und sein Blick traf Kelman. Lance fühlte sich nicht besonders wohl, als der Herzog ihn zu sich winkte. Nachdem er seinen niederträchtigen Plan ausgeführt hatte, packte ihn großer Schrecken. Mit zitternden Knien ging er zu dem Tisch und blieb an derselben Stelle stehen, an der Pretoria-Smith wenige Minuten vorher gelegen hatte.

 

»Ich kenne Ihren Namen nicht«, sagte der Prinz und sah ihn mit eisigem Blick an, »und ich wünsche ihn auch nicht zu erfahren. Aber ich möchte Ihnen erklären, daß Sie kein Gentleman sind und nicht in diese Gesellschaft gehören. Ich fordere Sie deshalb auf, den Saal zu verlassen.«

 

Lance Kelman ging hinaus, ohne sich umzusehen. Innerlich kochte er vor Wut, die jedoch zum größten Teil aus einer wahnsinnigen Angst vor den Folgen seiner Unbesonnenheit bestand. Ihn, Lance Kelman, einen vermögenden, angesehenen Mann, der wahrscheinlich später einmal im Parlament sitzen würde, hatte man aus dem Saal gewiesen! Diese öffentliche Schande war doch zu groß. Er hätte laut aufschreien mögen. Die Tränen waren ihm nahe, und er bemitleidete sich selbst, als er in den Wagen stieg und zu dem Haus zurückfuhr, das er für den Sommer gemietet hatte.

 

Nur wenige Leute hatten gesehen, daß er sich entfernte, oder den Grund für sein Verschwinden erkannt.

 

Marjorie hatte die Worte des Prinzen natürlich gehört. Der Herzog wandte sich jetzt wieder lächelnd an sie.

 

»Aber Miss Stedman, Sie essen und trinken ja gar nichts«, sagte er vergnügt. »Darf ich Sie bitten, sich durch dieses traurige Vorkommnis nicht weiter stören zu lassen?«

 

Sie hob das Weinglas, und er sah, daß ihre Hand zitterte.

 

»Es muß entsetzlich für Sie gewesen sein, und es tut mir aufrichtig leid, daß dieser Zwischenfall das schöne Fest gestört hat. Der junge Mann, den ich hinauswies, hat sich aber auch unglaublich betragen. Hat er denn irgendeinen Grund für seine Handlungsweise?«

 

»Ich verstehe nicht, was ihn dazu getrieben hat«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Lance Kelman und ich waren bisher ganz gute Freunde. Aber er scheint irgend etwas übelgenommen zuhaben.«

 

Mit großem Takt verstand es der Herzog,, ihr Vertrauen zu gewinnen, und schließlich erzählte sie ihm, was sie bedrückte. Er erfuhr von dem Brief ihres Onkels, von dem Heiratsbefehl, von ihrer Abneigung und dem Entsetzen, das sie vor diesem unbekannten Mann hatte. Sie erzählte ihm allerdings nicht, daß sie Pretoria schon von früher her kannte, und sie sprach auch nicht über den Leichtsinn ihrer Mutter. Aber er vermutete, daß nur ein äußerst wichtiger Grund sie bestimmt haben konnte, den Vorschlag Mr. Stedmans anzunehmen.

 

»Ich hatte keine Ahnung, daß er schon in England war. Aus dem Brief meines Onkels sah ich nur, daß er unterwegs sein mußte. Er ist wahrscheinlich mit demselben Schiff angekommen, der auch den Brief beförderte.«

 

Der Prinz nickte.

 

»Was soll ich nun tun?« fragte sie hilflos. »Wenn ich meiner eigenen Neigung folgen könnte, würde ich nach London zurückgehen und dort wieder eine Stellung annehmen, um mir mein Brot zu verdienen. Aber aus bestimmten Gründen geht das nicht. Ich muß deshalb den Wunsch meines Onkels erfüllen und mich mit – Pretoria-Smith abfinden.«

 

Der Herzog schwieg einen Augenblick. Alle Leute im Saal beobachteten, daß sich Marjorie anscheinend angeregt mit ihm unterhielt; nicht die geringste Bewegung der beiden interessanten Persönlichkeiten entging ihnen.

 

Plötzlich erhob sich der Prinz, und es herrschte sofort Stille. Würde er eine Erklärung für den sonderbaren Zwischenfall abgeben?

 

»Meine Damen und Herren«, begann der Herzog von Wight, »ich bringe einen Toast aus auf Seine Majestät den König.«

 

Die Sache wurde also mit Stillschweigen übergangen, und es blieb ihnen selbst überlassen, herauszubringen, was diese ungewöhnliche Szene bedeutet haben mochte.

 

Marjorie war mit niemandem verlobt, soweit ihnen bekannt war, und bestimmt würde dieses Mädchen nicht einen Vagabunden und Herumtreiber heiraten, der sich derartig benahm.

 

Es gab mindestens ein Dutzend junger Leute in der Umgebung, die Marjorie mit Freuden zum Altar geführt hätten. Sie hatte viele Freunde, denen der Auftritt so peinlich war wie ihr selbst. Sie nahmen sich alle vor, später über diese Angelegenheit noch ein ernstes Wort mit Mr. Lance Kelman zu sprechen. So leicht sollte er nicht davonkommen, nachdem er die junge Dame so schwer beleidigt hatte.

 

Schließlich vergaß man die unangenehme Sache, als die Tischreden begannen, und Marjorie hörte wie im Traum das große Lob, das ihr der Prinz in seiner Rede spendete. Nachdem er geendet hatte, wandte er sich zu ihr und heftete ihr die Insignien des Ordens vom Roten Kreuz an.

 

Die Versammlung brach in spontane und begeisterte Hochrufe aus. Nur Lady Tynewood blieb stumm auf ihrem Stuhl sitzen und rührte sich nicht. Sie beobachtete die Szene aber genau durch ihr brillantenbesetztes Opernglas, und ihre Wut und ihr Neid kannten keine Grenzen mehr.

 

»Der Mann muß sich tatsächlich selbst in das Mädchen verliebt haben«, sagte sie laut.

 

Ihr Tischnachbar, ein etwas altmodischer Herr, sah sie mit einem bösen Blick an.

 

»Solche Worte wünsche ich nicht wieder in diesem Saal zu hören«, erwiderte er und wandte ihr den Rücken zu.

 

Sie kümmerte sich aber nicht darum. Ihre Gedanken waren nur damit beschäftigt, wie sie sich an Marjorie rächen könnte. Dieser Pretoria-Smith mußte ihr dabei helfen. Sie hatte ihn an diesem Tag zum erstenmal gesehen, aber sie wollte ihn näher kennenlernen und ihn für ihre Zwecke ausnützen.

 

Kapitel 4

 

4

 

Ena Panton konnte nicht sofort einschlafen, als sie sich zu Bett gelegt hatte. Dazu war sie viel zu aufgeregt. Sie wunderte sich immer mehr über Ernies Verhalten. Natürlich hatte sie ihn gern, aber man konnte beim besten Willen nicht behaupten, daß sie sehr verliebt in ihn war.

 

Ernie wirkte nicht besonders männlich und machte eigentlich nur durch seine große Anhänglichkeit Eindruck auf sie. Sie wußte, daß er sie liebte, und das schmeichelte ihr.

 

Es war ihr angenehm, daß ein gutaussehender und vor allem reicher junger Mann sich um sie bemühte, und als er ihr dann die teuren Geschenke brachte, war sie gerührt und glücklich.

 

Aber sie hatte sich eben doch niemals richtig in diesen jungen Mann mit der gepflegten Frisur und dem kleinen Schnurrbart verliebt. Nun war es allerdings für sie plötzlich von allergrößter Bedeutung geworden, denn unter ihrem Kopfkissen lag ein Vermögen. Sie tastete mit der Hand danach und vergewisserte sich, daß der Briefumschlag mit den Banknoten tatsächlich noch vorhanden war und daß sie nicht geträumt hatte.

 

In Gedanken malte sie sich aus, was sie mit dem Geld anfangen wollte.

 

So verging die Zeit, und sie lag noch hellwach, als etwas gegen die Fensterscheibe klirrte. Schnell stand sie auf und zog den Vorhang zurück. Sie tat es vorsichtig, damit ihre Schwester nicht aufwachen sollte.

 

Als sie sich aus dem Fenster lehnte, und hinunterschaute, entdeckte sie ein Auto, das in einiger Entfernung hielt. Unten stand ein Mann mit hochgeschlagenem Mantelkragen.

 

»Sind Sie’s, Ena?« fragte er mit gedämpfter Stimme.

 

»Wer ist da?« erwiderte sie leise.

 

»Ich bin Jack – Ernies Bruder.«

 

Sie hörte das erste Mal, daß Ernie einen Bruder hatte.

 

»Was gibt es denn?«

 

»Ernie möchte Sie sprechen. Er wartet im Wagen. Können Sie einen Augenblick herunterkommen?«

 

Sie zögerte und sah sich nach ihrer Schwester um, aber Lizzie schlief fest.

 

»Ich möchte eigentlich nicht«, sagte sie. »Können Sie mir denn nicht sagen, was er will?«

 

»Es handelt sich um das Geld«, erwiderte der Mann drängend. »Bringen Sie es mit hinunter, ich werde Ihnen alles erklären. Die Polizei ist hinter Ernie her, und es ist möglich, daß auch Sie gesucht werden.«

 

Ena, die sich noch nie hatte etwas zuschulden kommen lassen, erschrak heftig. Sie hatte sich auch schon Gedanken gemacht, wie Ernie zu einer so großen Summe kam, und sich gefragt, ob er das Geld auf ehrliche Weise erworben hätte.

 

»Ich komme«, sagte sie ängstlich, schlüpfte in Morgenrock und Pantoffeln, zog den Umschlag mit den Banknoten unter dem Kopfkissen hervor und lief zur Tür.

 

Vorher hatte sie Licht gemacht, und Lizzie wachte auf.

 

»Ernie will mich sprechen, er ist draußen«, flüsterte sie und lief die Treppe hinunter.

 

Sie nahm die Sicherheitskette von der Haustür, schloß auf und öffnete.

 

Dicht vor ihr stand ein Mann, der sie in den Flur zurückdrängte, und bevor Ena noch wußte, was geschah, legte sich ein starker Arm um sie und eine Hand preßte ihr Mund und Nase zu.

 

»Wenn Sie schreien, bringe ich Sie um«, zischte ihr der Fremde ins Ohr.

 

Sie war vor Schreck wie gelähmt und konnte nicht den geringsten Widerstand leisten. Willenlos ließ sie sich auf die Straße hinausführen, und erst als sie mit dem nackten Fuß auf das feuchte Straßenpflaster trat und merkte, daß sie einen Pantoffel verloren hatte, kam sie wieder zu sich. Der Mann hielt ihr immer noch Mund und Nase zu, und mit einer verzweifelten Anstrengung suchte sie sich zu befreien. Es half ihr nichts; er hob sie einfach auf und lief mit ihr zu einem wartenden Wagen.

 

Der Chauffeur hatte die Tür bereits geöffnet, und nachdem der Fremde sie unsanft hineingeschubst hatte, stieg er selbst ein und setzte sich an ihre Seite.

 

»Vergessen Sie nicht – wenn Sie Lärm machen, dann breche ich Ihnen das Genick. Das ist kein Scherz!«

 

Verstört und zitternd lehnte sie sich in eine Ecke zurück.

 

Er zog schwarze Vorhänge vor den Wagenfenstern vor, und gleich darauf setzte sich das Auto in Bewegung.

 

Sie hatte keine Ahnung, wohin die Fahrt ging, sie fühlte nur, daß sie bergaufwärts fuhren; möglicherweise in Richtung Lewisham.

 

Leise begann sie vor sich hin zu weinen, ohne daß ihr Begleiter Notiz davon genommen hätte. Dann fiel ihr plötzlich ein, daß er ihr den Briefumschlag mit den fünfundzwanzigtausend Dollar aus der Hand gerissen hatte.

 

»Was haben Sie mit dem Geld gemacht, Sie gemeiner Kerl! Sie sind ja gar nicht Ernies Bruder – er hat gar keine Geschwister!«

 

Der Mann lachte trocken.

 

»Was wissen Sie denn von Ernie und seinen Verwandten?« sagte er gleichgültig. »Und was das Geld betrifft – das ist in Sicherheit, ich habe es in der Tasche. Zuviel habe ich schon durch die Dummheit dieses Kerls verloren.«

 

»Wo ist Ernie?«

 

Darauf erhielt sie keine Antwort.

 

»Was wollen Sie denn mit mir anfangen?« fragte sie nach einem langen, bedrückenden Schweigen.

 

»Das hängt ganz von Ihnen ab. Wenn Sie das tun, was ich Ihnen sage, wird Ihnen nicht viel passieren: Sie werden einen Brief an Ihre Mutter oder an Ihre Schwester – vielleicht auch an Mr. Reeder schreiben. Darin teilen Sie mit, daß Sie mit Ernie ins Ausland gereist und sehr glücklich mit ihm sind. In einem Jahr werden Sie zurückkommen, und …«

 

»Ich denke nicht daran, ins Ausland zu fahren; weder mit Ihnen noch mit Ernie!« entgegnete sie heftig. »Man wird Sie festnehmen und einsperren. Was Sie gemacht haben, ist Entführung!«

 

»Sie sind so wenig intelligent«, erwiderte er ironisch, »daß Sie das durch ein hübsches Gesicht ausgleichen müssen. Sonst würde sich ein Mann wie Mr. Reeder bestimmt nicht mit Ihnen abgeben.«

 

Das brachte sie auf einen Gedanken.

 

»Mr. Reeder wird mich finden – er weiß alles, auch über Ernie. Ich habe ihm die Briefe gegeben, die Ernie mir geschrieben hat.«

 

»Was waren das für Briefe?« fragte der Mann schnell. Sie merkte, daß sie einen Fehler gemacht hatte.

 

»Ich meine den einen, den er von Birmingham aus schrieb.«

 

Sie hörte, daß er schnell atmete.

 

»Hat er Ihnen von Birmingham aus geschrieben? Stand ein Absender auf dem Brief?«

 

Als sie zögerte, war er sichtlich erleichtert.

 

»Es stand also keine Adresse darauf«, sagte er dann. »Und Reeder hat diesen Brief?«

 

Als sie nicht antwortete, packte er sie an den Schultern und schüttelte sie grob.

 

»Wenn ich Sie etwas frage, haben Sie zu antworten. So, und nun erzählen Sie mir genau, was Reeder weiß.«

 

Sie fürchtete sich vor ihrem Begleiter und begann wieder zu schluchzen.

 

»Lizzie hat die Briefe zu Mr. Reeder gebracht, und er hat sie über allerhand ausgefragt. Er wollte auch wissen, ob Ernie jedesmal mit der Feder Kringel in der Luft machte, bevor er anfing, etwas zu schreiben.«

 

»So, hat er das gefragt? Der alte schlaue Fuchs!«

 

Es war ihr klar, daß sie vorsichtiger sein mußte.

 

»Es ist gemein von Ihnen, mich fortzuschleppen. Sie werden deshalb ins Gefängnis kommen …«

 

»Darüber brauchen Sie sich nicht den Kopf zu zerbrechen«, entgegnete er kurz. »Berichten Sie mir lieber, was Mr. Reeder sonst noch gesagt hat.«

 

Er merkte aber bald, daß aus ihr nicht mehr viel herauszuholen war.

 

»Weiß er auch von dem Geld, das Sie gestern morgen erhielten?«

 

»Nein. Aber Lizzie wird ihm das schon erzählen, darauf können Sie sich verlassen.«

 

»Ist sie aufgewacht, als Sie fortgingen?« fragte er hastig.

 

»Ja, sie war wach, und ich glaube bestimmt, daß sie aus dem Fenster sah. Sicher hat sie sich die Nummer Ihres Wagens aufgeschrieben. Seien Sie doch vernünftig, sagen Sie, daß alles nur ein Scherz war und bringen Sie mich wieder nach Hause.«

 

»Ich mache keine Scherze – Sie täuschen sich, wenn Sie das annehmen.«

 

Lange Zeit sprachen sie daraufhin nicht mehr miteinander.

 

Der Wagen fuhr jetzt mit höchster Geschwindigkeit, und Ena fragte wieder, wohin die Fahrt ginge.

 

»Ich bringe Sie zu einem hübschen, ruhigen Haus auf dem Land. Dort bekommen Sie ein komfortables Zimmer, und wenn Sie klug sind, regen Sie sich dann nicht weiter auf, sondern vertreiben sich die Zeit mit Handarbeiten. Morgen besorge ich Ihnen Kleider, und falls Sie keinen Fluchtversuch machen, werden Sie in jeder Hinsicht anständig behandelt. Sollten Sie aber doch wagen, sich zu entfernen …«

 

Er beendete den Satz nicht, aber seine Worte klangen auch so drohend genug.

 

Für Ena war die Aufregung zuviel gewesen. Eine lähmende Müdigkeit überkam sie, und sie sank während der letzten halben Stunde der Fahrt in einen ohnmachtähnlichen Schlummer.

 

Erst als der Wagen plötzlich hielt, wachte sie auf. Ihr Begleiter band ihr einen Schal um die Augen, zog sie aus dem Wagen und führte sie in ein Gebäude.

 

Die Luft im Innern roch dumpf und muffig, als ob das Haus lange nicht bewohnt gewesen wäre.

 

Er schob sie eine Treppe hinauf, die sehr breit sein mußte, denn als sie tastend die Hand ausstreckte, fand sie weder an einem Geländer noch einer Wand Halt.

 

In einem kleinen Raum nahm er ihr den Schal von den Augen und ließ sie allein. Zitternd vor Kälte setzte sie sich auf den einzigen Stuhl, den sie sah.

 

Gleich darauf kam er zurück und brachte sie in ein größeres Zimmer, in dem ein Bett stand. Vor den Fenstern waren feste Holzläden angebracht. Die Wände waren offensichtlich erst kürzlich tapeziert worden. Durch eine offene Tür sah sie in ein kleines Bad, das überhaupt keine Fenster zu haben schien.

 

»Ich bringe Ihnen jetzt noch etwas zu essen. Morgen können Sie dann Bücher bekommen, damit es Ihnen nicht zu langweilig wird und auch was Sie sonst noch so brauchen.«

 

Sie sah ihn jetzt im Schein der grellen Deckenbeleuchtung zum erstenmal genauer an. Er war groß und schlank und machte eigentlich einen ganz sympathischen Eindruck.

 

Jetzt hatte auch Hymie Higson Gelegenheit, Ena eingehender zu betrachten – er war erstaunt über Ernies guten Geschmack.

 

»Wirklich, Sie sehen gar nicht so übel aus. Sehr intelligent sind Sie deswegen natürlich trotzdem nicht«, erklärte er um einige Schattierungen freundlicher.

 

»Was fällt Ihnen ein …«

 

»Na, vielleicht lernen Sie ein wenig dazu, wenn Sie sich längere Zeit hier aufhalten. Inzwischen verspreche ich Ihnen, daß Ihnen nichts passiert, wenn Sie vernünftig sind. Sie werden bewacht, denken Sie bitte daran – vor ihrem Fenster und im Haus hält sich immer jemand auf, der auf Sie aufpaßt. Versuchen Sie es also erst gar nicht, hier herauszukommen.«

 

Damit verließ er das Zimmer, kam aber schon nach zehn Minuten mit einem Tablett wieder, auf dem eine Kanne mit heißem Tee und belegte Brote aufgebaut waren.

 

»Noch etwas«, sagte er ernst und stellte das Tablett vor sie hin. »Vielleicht wissen Sie, daß auf Entführung eine Mindeststrafe von zehn Jahren Zuchthaus steht. Das sollte ihnen klarmachen, daß wir vor nichts zurückschrecken. Ich habe Ihnen schon zu Beginn unserer – hm – Bekanntschaft erklärt, wie rücksichtslos ich mich im Notfall gegen Sie benehmen müßte. Vielleicht würde es mir jetzt, nachdem ich gesehen habe, wie hübsch Sie sind, ein wenig schwerer fallen, Ihnen den Hals zuzudrücken – aber bilden Sie sich bloß nicht ein, daß ich deswegen davon Abstand nehmen würde!«

 

Seine gepflegte Redeweise stand in einem schroffen Gegensatz zu diesen groben Andeutungen.

 

Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen – das war ja der Mann mit dem falschen Schnurrbart, der sie in ihrer Wohnung aufgesucht hatte! Sie sagte ihm ihre Vermutung auf den Kopf zu.

 

Er nickte lächelnd.

 

»Stimmt. Sie haben sich mein Gesicht besser gemerkt, als ich mir das Ihrige. Es war so dunkel in Ihrem Hausflur! Damals wollte ich Ihnen helfen, Sie wußten es nur nicht. Wenn Ihre Schwester nicht zu diesem verdammten Kerl, diesem Reeder gelaufen wäre und alles ausposaunt hätte, wären Sie jetzt nicht in einer so unangenehmen Lage. Ich hätte nicht einmal etwas dagegen gehabt, daß Ihnen Ernie das Geld schickte. Schließlich haben Sie ja ein gewisses Recht auf einen Anteil.«

 

Sie verstand den Sinn seiner Worte nicht, war vorsichtig und schwieg.

 

Er ging fort und ließ sie allein. Erst wartete sie noch ein wenig, aber nach einigem Zögern trank sie den Tee und aß die Brote.

 

Sie sah durch die Ritzen der Fensterläden, daß es hell wurde; dann legte sie sich auf das Bett, zog die Decke über sich und schlief ein.

 

Sie mußte sehr erschöpft gewesen sein, denn als sie wieder aufwachte, war es bereits wieder dunkel geworden. Sie drehte das Licht an und drückte auf einen Klingelknopf, den Hymie ihr gezeigt hatte.

 

Es verging einige Zeit, bis sich jemand meldete, und als sich die Tür öffnete, erschien Hymie selbst mit einem Tablett.

 

»Es tut mir leid, daß Sie so lange warten mußten«, sagte er freundlich und ein wenig ironisch. »Aber ich bin hier Koch und Gefangenenwärter in einer Person. Wir haben auch kein Zimmermädchen, das Sie bedienen könnte, aber ich bringe Ihnen jedenfalls das Beste, was uns hier zur Verfügung steht.«

 

Auf dem Tablett sah sie gekochte Eier, frisches Brot und Butter. Ena war jung und gesund und entwickelte einen guten Appetit.

 

Er verließ das Zimmer wieder und kam gleich darauf mit einigen Kleidungsstücken zurück, die er auf das Bett warf.

 

»Sie sind alle neu. Es hat uns einige Mühe gemacht, das Zeug in verschiedenen Läden Londons zu besorgen. Ich nehme nämlich an, daß dieser verdammte Reeder alle Geschäfte gewarnt hat. Wenn wir so dumm gewesen wären, alles in einem Geschäft zu kaufen, so hätten sie uns bestimmt gefaßt. Also, nun schauen Sie, wie Sie damit zurechtkommen«, meinte er gutgelaunt.

 

»Sind Sie Amerikaner?« fragte sie.

 

Er lächelte und zeigte dabei eine Reihe guterhaltener Zähne.

 

»Ich bin in England geboren, aber in Amerika erzogen worden. Meinen achtzehnten Geburtstag habe ich in einer amerikanischen Anstalt namens Sing-Sing gefeiert. Vielleicht haben Sie schon davon gehört?«

 

»Meinen Sie das berühmte Gefängnis?«

 

Er lachte schallend.

 

»Es wundert mich, daß Sie das wissen. Wahrscheinlich kennen Sie den Ort vom Kino her. Ja, mein Kind, ich saß in Sing-Sing und war zum Tode verurteilt. Aber rechtzeitig kam dann eine allgemeine Amnestie heraus. So war ich gerettet. Im Krieg habe ich mich dann freiwillig gemeldet und bin mit Auszeichnungen heimgekehrt.«

 

Er deutete mit der Hand auf die Kleider.

 

»Ich habe Ihnen alles gebracht, was eine Dame braucht. Hoffentlich habe ich nichts vergessen! Wenn Ihnen etwas fehlen sollte, dann sagen Sie es mir ruhig. Ich werde dann versuchen, es Ihnen noch zu beschaffen.«

 

Als er hinausgegangen war, schob sie den Riegel vor und zog sich an. Das Kleid paßte ausgezeichnet, und wenn auch die Schuhe ein wenig zu groß waren, fühlte sie sich jetzt doch wohler und sicherer.

 

Hymie kam nach einiger Zeit zurück und rüttelte an der Tür.

 

»Das habe ich ja ganz übersehen«, sagte er, als sie ihn hereingelassen hatte.

 

Er ging hinaus und rief nach jemand.

 

Gleich darauf tauchte ein Mann auf, der den Riegel losschraubte, ohne sich viel um Ena zu kümmern.

 

»Durchaus unnötig, daß Sie sich einschließen«, erklärte Hymie. »Ich habe es Ihnen ja schon ein paarmal gesagt – wenn Sie vernünftig sind, passiert Ihnen nicht das geringste. Und sollten Sie irgend etwas im Schilde führen, dann wird Ihnen auch der Riegel nichts helfen.«

 

Kapitel 5

 

5

 

Mr. Reeder behauptete zwar immer, daß er sich ohne weiteres in die Gedankengänge eines Verbrechers versetzen könne, aber selten wurde es so deutlich, daß er damit recht hatte, wie in den zwölf Stunden, die dem Verschwinden Ena Pantons folgten.

 

Er hatte einen Verdacht, ja, er war sich seiner Sache sogar ganz sicher – aber Scotland Yard ist nun einmal sehr vorsichtig. Bevor sich die ein wenig schwerfällige Maschinerie dieser Behörde allmählich in Gang setzt, darf auch nicht mehr der geringste Zweifel bestehen. So machen es sich die Kriminalbeamten, die verdächtige Personen beschatten müssen; zur Regel, für den Verdächtigen wirklich völlig unsichtbar zu bleiben. Das hemmt natürlich in gewisser Weise die Nachforschungen.

 

Aber Mr. Reeder war ja kein Beamter von Scotland Yard, wenn er auch in vielen Fällen mit dieser Behörde eng zusammenarbeitete.

 

Er hatte eine längere Unterredung mit seinem unmittelbaren Vorgesetzten, dem stellvertretenden Staatsanwalt, und der sagte natürlich genau das, was Mr. Reeder erwartet hatte: Man solle alle feststehenden Tatsachen Scotland Yard melden.

 

Leider gähnte zwischen den Vermutungen Mr. Reeders und feststehenden Tatsachen eine tiefe Kluft. Letzten Endes hätte er nur eine Tatsache melden können, die unbedingt feststand: daß eine kleine Stenotypistin nur mit Schlafanzug und Morgenrock bekleidet mitten in der Nacht ihre Wohnung verlassen hatte und seitdem verschwunden war.

 

Er konnte noch nicht einmal mit Sicherheit sagen, daß die Gesuchte im Besitz von fünfundzwanzigtausend Dollar gewesen war. Nichts konnte er als Beweis dafür angeben, nur die Aussage ihrer Schwester. Und Lizzie hatte selbst zugegeben, daß sie nicht viel von ausländischen Banknoten verstand!

 

Scotland Yard würde ihn wahrscheinlich höflich darauf aufmerksam machen, daß es durchaus kein aufsehenerregendes Ereignis wäre, wenn ein hübsches junges Mädchen mangelhaft bekleidet das Haus ihrer Eltern verläßt, um mit irgendeinem Galan das Weite zu suchen. Die Sache würde sich vermutlich als eine ganz harmlose Angelegenheit entpuppen.

 

Inspektor Grayson von Scotland Yard beriet mit Mr. Reeder.

 

»Es besteht immerhin die Möglichkeit«, meinte er, »daß mehr dahintersteckt, als wir im Augenblick beurteilen können. Andererseits wissen Sie aber auch, wie verrückt sich diese jungen Mädchen manchmal benehmen. Es könnte doch sein, daß Ena Panton sich heimlich angezogen und nur auf ihren Freund gewartet hat. Die Tatsache, daß ihre Kleider im Schlafzimmer gefunden wurden, besagt noch nicht viel, denn sie könnte sich ja für dieses Abenteuer neu ausgestattet haben. Sie ist in der Vermißtenliste dieses Jahres unter der Nummer 673 aufgeführt, und von diesen Vermißten sind schon mindestens fünfhundert wieder aufgetaucht, die alle reumütig zurückkehrten. Die Sache mit den fünfundzwanzigtausend Dollar ist mir allerdings auch ein Rätsel, aber ich glaube, daß ich die Lösung bereits gefunden habe.«

 

Er holte einen Zeitungsausschnitt aus der Tasche, der die Banknotenfunde in der Nähe von Farnham behandelte.

 

»Sehen Sie, daher kommt das Gerede von dem Geld. Wahrscheinlich hat sie den Artikel in der Zeitung gelesen und die Geschichte dann einfach erfunden. Sie wissen ja selbst, was für unglaubliche Dinge die Leute manchmal erzählen. Dazu kommt dann meist noch eine krankhafte Geltungssucht, die sie dazu treibt, sich auf irgendeine Weise interessant zu machen.«

 

Mr. Reeder seufzte. Er hatte Hymie Higson eigentlich nur bluffen wollen, als er ihn mit den Dollarnoten auf dem Heuschober in Verbindung brachte. Seine lebhafte Phantasie schien ihm wieder einmal einen Streich gespielt zu haben. Am liebsten hätte er noch einmal mit Higson gesprochen, denn er konnte auch jetzt noch nicht glauben, daß der Mann mit der Sache nichts zu tun hatte … Ob Higson wohl das junge Mädchen entführt hatte? Reeder fragte sich nach den Gründen für eine solche Tat, fand aber keine befriedigende Antwort.

 

Er setzte sich an seinen Schreibtisch und begann aufs neue, sich phantastische Geschichten auszudenken, worin er jedem der Beteiligten das Schlechteste zutraute. Er suchte bei allen, die seiner Meinung nach mit dem Fall in Verbindung standen, nach Motiven.

 

Immerhin war es nicht ausgeschlossen, daß Ena wieder auftauchte und durch ihr Erscheinen alle seine Theorien widerlegte. Er hatte ja nur die Aussagen Lizzies zur Verfügung, die noch dazu halb im Schlaf gewesen war. Wahrscheinlich konnte man sich nicht alllzusehr auf ihre Angaben verlassen, denn auch Lizzie besaß eine außerordentlich lebhafte Phantasie.

 

Eines jedoch stand für ihn fest: Der Schlag, den er erwartete, würde wie ein Blitz aus heiterem Himmel kommen und mehreren großen Banken einen gewaltigen Schrecken einjagen.

 

*

 

Als Reeder am nächsten Morgen sein Büro betrat, wurde er sofort zu seinem Vorgesetzten gerufen.

 

»Ich möchte, daß Sie gleich in die Stadt gehen und Sir Wilfred Heinhell aufsuchen. Die Sache eilt und ist sehr wichtig. Fahren Sie also nicht mit dem Bus, sondern nehmen Sie ein Taxi.«

 

»Sie können sich darauf verlassen, daß ich den schnellsten Weg wähle«, erwiderte Mr. Reeder.

 

Und dann fuhr er mit der U-Bahn.

 

In dem großen, luxuriös ausgestatteten Vorzimmer zu dem Büro Sir Wilfreds erwartete man ihn bereits. Zwei Geschäftsführer und ein Prokurist geleiteten ihn in den fürstlich eingerichteten Arbeitsraum des Bankgewaltigen.

 

»Mr. Reeder, Sir«, stellten sie den Detektiv vor und zogen sich dann auf einen Wink ihres Chefs hin diskret zurück.

 

Sir Wilfred, der Mr. Reeder ja bereits kannte, ging nervös auf dem kostbaren Perserteppich hin und her. Immer wieder fuhr er sich mit der Hand durchs Haar, das bereits dementsprechend zerzaust war. Außerdem sah er aus, als ob er schon eine Woche lang nicht mehr geschlafen hätte.

 

»Nehmen Sie bitte Platz, Mr. Reeder«, begann er schließlich mit Grabesstimme. »Es ist etwas Furchtbares geschehen. Wie recht hatten Sie mit Ihrer Warnung! Sie erwähnten doch bei unserer letzten Unterhaltung, daß meine Geschäftsmethoden veraltet seien. Natürlich widersprach ich Ihnen – aber leider haben sich Ihre Worte nur zu sehr bewahrheitet!«

 

Er machte eine Bewegung mit den Händen, die seine ganze Verzweiflung ausdrücken sollte.

 

Mr. Reeder setzte sich vorsichtig auf die Kante eines Sessels und klemmte seinen zusammengerollten Schirm zwischen die Beine. Die Hände auf den Griff gelegt und das Kinn darauf gestützt, wartete er ab, was Sir Wilfred ihm sonst noch anvertrauen würde.

 

»Ich wiederhole – als Sie mir damals sagten, daß die Geschäftsmethoden einer der Bankfirmen, die ich kontrolliere, veraltet und überholt seien, habe ich Ihnen nicht geglaubt, vielleicht war ich sogar ein wenig unhöflich zu Ihnen …«

 

»Ich kann Ihnen nicht widersprechen«, unterbrach ihn Mr. Reeder.

 

»Das tut mir außerordentlich leid – bitte nehmen Sie meine Entschuldigung an. Es ist etwas ganz Schreckliches geschehen – noch niemals hat sich in einer Bank ein derartiger Fall ereignet. Ein Riesenvermögen ist uns gestohlen worden – nicht hier in London, Mr. Reeder, sondern …«

 

Er machte eine Pause, um Luft zu schöpfen.

 

»Doch nicht etwa in Birmingham?« erkundigte sich Mr. Reeder bedächtig.

 

Sir Wilfred sah ihn völlig entgeistert an.

 

»Wie kommen Sie denn auf Birmingham? Ich habe doch noch keiner Menschenseele mitgeteilt, wo sich das Unglück zugetragen hat – weder der Staatsanwaltschaft noch meinen Direktoren. Aber Sie haben recht, es ist in Birmingham passiert!«

 

Mr. Reeder nickte gewichtig.

 

»Einer Ihrer Angestellten hat Sie betrogen, nicht wahr? Wie sein Nachname lautet, kann ich nicht sagen, aber mit Vornamen heißt er höchstwahrscheinlich Ernest.«

 

Sir Wilfred sank in den nächsten Stuhl.

 

»Was, Sie wußten das?« fragte er fassungslos. »Sie wußten, daß man uns berauben wollte? Der Mann heißt tatsächlich Ernest – Ernest Graddle. Ein entsetzlicher Name! Ich kann ihn nicht mehr hören! Wenn mein Geschäftsführer in Birmingham auch nur einen Funken Verstand gehabt hätte, wäre der Kerl schon seines Namens wegen nicht eingestellt worden!

 

Dieser Ernest Graddle war nur ein kleiner Angestellter, der in der Woche ein paar Pfund verdiente. Er hat die Bank in den letzten zwölf Monaten systematisch betrogen. Im Anfang schaffte er nur kleine Summen beiseite, aber mit der Zeit wurde er frecher, bis er schließlich einen Betrag von fünfundachtzigtausend Pfund entwendete – stellen Sie sich das einmal vor, fünfundachtzigtausend Pfund!«

 

Auf Mr. Reeder machte das alles keinen besonderen Eindruck.

 

»Ich dachte mir gleich, daß es sich um eine ähnliche Summe handeln würde. Wie groß ist denn der Gesamtschaden, den Sie durch Graddle haben?«

 

»Dreihundertundzehntausend Pfund«, entgegnete Sir Wilfred heiser. »Es ist einfach unglaublich! Und der Mann hat das mit einem ganz plumpen Trick geschafft. Einer unserer Kunden, der sehr vermögend ist, läßt stets große Summen auf seinem Bankkonto stehen, anstatt das Geld in Wertpapieren anzulegen. Manchmal bis zu einer halben Million Pfund. Obwohl die Banken in England im allgemeinen derartige laufende Konten nicht verzinsen, haben wir in seinem Fall eine Ausnahme gemacht und ihm drei Prozent zugebilligt.

 

Dieser Graddle hat nun alles Geld von diesem Konto abgehoben. Ich hatte schon mehrmals die Befürchtung ausgesprochen, daß unser Kunde nicht ganz bei Verstand sei, denn kein normaler Mensch würde doch einen derartig hohen Betrag auf seinem Konto stehenlassen. Der Geschäftsführer unserer Bank in Birmingham versuchte dann auf meine Veranlassung hin, ihn umzustimmen, aber ohne Erfolg. Und diesem niederträchtigen Kerl, diesem Graddle, gelingt es, das Geld vor unserer Nase zu stehlen! Dabei ist der junge Mann kaum trocken hinter den Ohren. Es ist unerhört! Wie gesagt, ein ähnlicher Fall ist in der Geschichte des Bankwesens noch nicht vorgekommen!«

 

Mr. Reeder wußte, daß noch unglaublichere Dinge passiert waren, aber er schwieg.

 

»Hoffentlich leidet der gute Ruf der Bank nicht darunter?« fragte er dann.

 

Sir Wilfred fuhr empört auf.

 

»Wie sollte denn das den guten Ruf unserer Bank beeinträchtigen können! Ich bitte Sie, das ist doch wohl kaum anzunehmen!« Er faßte sich wieder. »Erlauben Sie mal, wir haben mindestens zehn Millionen Reserve! Die dreihunderttausend Pfund bedeuten für uns nicht mehr als ein Flohstich! Wenn man natürlich andererseits die nackten Zahlen nimmt, so ist es doch ein ziemlicher Verlust.«

 

Sir Wilfred hätte sich gern noch länger über die absolut sichere Grundlage seiner Bank verbreitet, aber Mr. Reeder lenkte die Unterhaltung auf praktische Dinge.

 

»Wann ist die Sache denn herausgekommen?«

 

»Den Verlust des Geldes entdeckte man vor zwei Tagen, als Ernest Graddle nicht zum Dienst erschien«, berichtete Sir Wilfred. »Der Geschäftsführer in Birmingham glaubte, daß der junge Mann krank sei und schickte einen Boten in dessen Wohnung. Dadurch erfuhr er zum erstenmal, daß Mr. Graddle nur sehr selten zu Hause war und häufig auswärts schlief. Am Abend vorher war er nach London abgereist und hatte alle seine Sachen mitgenommen. Gegen acht Uhr abends erschien er bei seinem Hauswirt, bezahlte die Miete und fuhr dann in einem kleinen schwarzen Auto fort, das man noch nie bei ihm gesehen hatte. Als der Geschäftsführer das hörte, wurde er aufmerksam und ließ die Bücher revidieren; dabei kam man dann den ganzen Unterschlagungen auf die Spur. Graddle hatte die Buchungen für das Bankkonto vorzunehmen, von dem er die Summe abgehoben hatte, und schon nach dreistündiger Revision der Bücher zeigte es sich, daß er dreihunderttausend Pfund unterschlagen hatte. Natürlich wurde sofort die Polizei benachrichtigt, die jetzt Graddle steckbrieflich verfolgt. Und Sie habe ich rufen lassen, Mr. Reeder, weil Sie meine größte Hoffnung sind – bitte übernehmen Sie im Auftrag der Bank die Aufklärung dieses Falles.«

 

Der Detektiv lächelte.

 

»Leider wird das nicht gehen«, entgegnete er bedauernd. »Wenigstens nicht in Ihrem Auftrag. Zu Ihrer Beruhigung kann ich Ihnen aber sagen, daß ich von Seiten der Staatsanwaltschaft dazu ermächtigt bin, diesen Fall zu bearbeiten.«

 

Sir Wilfred war erstaunt. Bis jetzt hatte er immer noch geglaubt, daß Mr. Reeder hauptsächlich als Privatdetektiv tätig sei. Er wußte, daß Mr. Reeder früher mit einem englischen Bankkonsortium zusammengearbeitet hatte und daß er sehr erfolgreich gewesen war.

 

Mr. Reeder setzte dem Bankier auseinander, was für Schritte er zunächst unternehmen wollte, und Sir Wilfred erklärte sich ohne Zögern mit allem einverstanden.

 

Der Geschäftsführer, der Kassierer und mehrere Bankangestellte aus Birmingham waren nach London beordert worden, und Mr. Reeder stellte eine Unzahl von Fragen an sie. Der Geschäftsführer war immer noch ganz außer sich, da er fürchtete, daß die Schuld an ihm hängenbleiben würde.

 

»An und für sich weiß ich von der Sache gar nichts«, erklärte er nervös, »aber die Verantwortung muß ich natürlich trotzdem tragen! Graddle galt als einer unserer fähigsten jungen Leute, und kein Mensch hätte ihm so etwas jemals zugetraut. Wie es überhaupt passieren konnte …? Ja, Mr. Reeder, da muß ich schon sagen, daß daran einfach unsere veralteten Geschäftsmethoden schuld sind. Ich habe Sir Wilfred schon ein dutzendmal darauf aufmerksam gemacht, daß keine richtige Kontrolle vorhanden ist. Bei diesen Zuständen war es wirklich kein Wunder, daß ein Angestellter, besonders wenn er noch jemand fand, der mit ihm zusammenarbeitete, die Bank so hereinlegen konnte!«

 

»Hatte Graddle irgendwelche besonderen Eigenschaften?«

 

Der Geschäftsführer überlegte und sagte dann, daß Graddle Mitglied verschiedener Klubs gewesen sei. Übrigens wäre seine hervorstechendste Eigenschaft gewesen, niemals unangenehm aufzufallen – alle hätten das größte Zutrauen zu ihm gehabt.

 

»Hat er vielleicht gewettet?«

 

»Durchaus nicht! Graddle verabscheute jede Art von Glücksspiel und hat sogar zweimal in öffentlichen Versammlungen dagegen gewettert. Auch mit Frauen gab er sich nicht ab, soviel man wußte. Er führte kein ausschweifendes Leben, er trank nicht – wie gesagt, er hatte keinerlei schlimme Angewohnheiten. Nur sehr ehrgeizig war er! Einmal erklärte er mir, daß er, wenn er ein reicher Mann wäre, an der Börse spielen würde wie auf einem Klavier. Seiner Meinung nach konnte man sich leicht ein ungeheures Vermögen erwerben, wenn man nur das nötige Grundkapital besaß.«

 

»Damit hatte er wahrscheinlich gar nicht so unrecht«, murmelte Mr. Reeder.

 

»Besonders für Ölaktien interessierte sich Mr. Graddle, obwohl niemand bekannt wir, daß er auch nur einen Shilling bei Spekulationen riskiert hatte. Aber er besuchte Abendkurse am hiesigen Polytechnikum – wie er öfter sagte, hatte er die Absicht, umzusatteln und Petroleumingenieur zu werden.«

 

Am Wochenende hielt sich Ernest Graddle für gewöhnlich in London auf und verbrauchte bei diesen Besuchen offensichtlich alle seine Ersparnisse. Als man seinen Schreibtisch öffnete, fand man einen ganzen Stoß von Briefen. Fast alle stammten von Leuten, die petroleumfündige Grundstücke anboten. Allem Anschein nach hatte er sich entsprechende Annoncen aus den Zeitungen herausgesucht und regelmäßig um nähere Auskunft gebeten. Vielleicht hatte er nur ein theoretisches Interesse daran und wollte feststellen, wie zahlreich die einzelnen Petroleumvorkommen waren, die auf dem Markt angeboten wurden. Wie gesagt, nicht das geringste sprach dafür, daß er sich an Spekulationen auf diesem Gebiet beteiligt hätte.

 

Nachdem Mr. Reeder das alles erfahren hatte, dehnte er seine Nachforschungen noch weiter aus.

 

Bei einer amerikanischen Bank erfuhr er, daß Mr. Graddle dort die letzten fünfundachtzigtausend Pfund in amerikanische Banknoten umgewechselt hatte. Der ganz Betrag war an den jungen Mann, der sich durch einen Empfehlungsbrief der Zentral-Bank auswies und die entsprechende Summe in englischem Geld bei sich hatte, ohne weiteres ausgezahlt worden.

 

Schon einige Tage vorher hatte die Bank einen schriftlichen Bescheid erhalten, daß ein Kunde eine größere Summe amerikanischen Geldes in bar benötigte, und man hatte sich auf diesen Fall eingerichtet. Die Beschreibung des jungen Mannes paßte natürlich haargenau auf Ernie.

 

Genaugenommen war das alles ein ganz gewöhnlicher Bankdiebstahl, wie er immer wieder vorkommt. Natürlich war die unterschlagene Summe außerordentlich hoch, aber vor allem in einer Beziehung unterschied sich die Angelegenheit von früheren Fällen.

 

Dieser Unterschied allerdings war merkwürdig – Ernie hatte nämlich auf den ersten Blick keinen einzigen Charakterfehler, wie sie sonst bei einem leichtsinnigen Angestellten üblich waren; vor allem wettete und spekulierte er nicht. Mr. Reeder allerdings traute diesen Angaben nicht ganz. Schließlich hatte er doch den Brief an Ena gelesen, in dem Petroleum erwähnt wurde. Und ihm war klar, was das zu bedeuten hatte.

 

In den Zeitungen werden verhältnismäßig viele Petroleumvorkommen zum Kauf angeboten – und leider ist ein Teil dieser Angebote durchaus nicht solide. Es gibt genügend Gauner, die solche Annoncen aufgeben und damit kleine Leute hereinlegen, die möglichst schnell und einfach reich werden wollen. Möglicherweise war es Graddle ähnlich ergangen.

 

Reeder fragte sich nur: Wer war der Betrüger, der ihn übers Ohr gehauen hatte?

 

*

 

Einige Tage später wurde der ganze Inhalt von Ernies Schreibtisch nach London geschickt, und Mr. Reeder prüfte sorgfältig jedes Blatt Papier. Er hatte mehrere Beamte in die Archive einiger großer Zeitungsredaktionen geschickt; sie hatten den Auftrag, alle Annoncen, die von Petroleum handelten, aus den Anzeigenseiten herauszusuchen. Ein Glück, daß das in England und nicht in Amerika geschah, sonst hätte er eine ganze Armee von Angestellten für diese Aufgabe gebraucht.

 

Ernies Interesse für Petroleum war zum erstenmal vor ungefähr einem Jahr aufgefallen. Wahrscheinlich hatte er Bücher über dieses Thema gelesen, die ihn auf den Gedanken brachten, sich näher damit zu beschäftigen. Ein Werk mit dem Titel ›Weltmacht Petroleum‹ wurde in seiner Wohnung gefunden. Er hatte es eifrig durchgearbeitet, was aus den vielen Randbemerkungen auf jeder Seite ersichtlich war.

 

Die Korrespondenz Ernies ergab einen stattlichen Aktenordner, in dem die einzelnen Schreiben dem Datum nach geordnet wurden.

 

Am nächsten Tag sollten alle diese Briefe mit den herausgesuchten Zeitungsanzeigen verglichen werden.

 

Ein Steckbrief von Mr. Graddle war an jede Polizeidienststelle durchgegeben worden. Vor allem hatte man seine Personenbeschreibung auch allen Autoverleihfirmen mitgeteilt.

 

Um acht Uhr abends rief der Chef von Scotland Yard Mr. Reeder an.

 

»Ich glaube, wir haben eine Spur von Graddle gefunden«, sagte er. »Erinnern Sie sich noch an die Nachricht, daß ein ausgebranntes Auto auf der Landstraße in der Nähe von Shrewton gefunden wurde?«

 

Mr. Reeder wäre fast vom Stuhl gefallen, als er das hörte. Seine phantastische Geschichte, die er aus Langeweile erfunden hatte, schien sich also doch zu bewahrheiten!

 

»Ja, ich erinnere mich.«

 

»Das war Graddles Wagen. Dem Besitzer der Reparaturwerkstätte gegenüber, wo er den Wagen gekauft hatte, nannte er sich Stevenson, nach der Personalbeschreibung wurde er aber erkannt, und als ich später einen Beamten mit einer Fotografie Graddles hinschickte, ließ sich jeder Zweifel ausschalten.«