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Marjorie sank in eine Ecke des Wagens und wagte nicht, den Mann anzusehen, den sie unter so merkwürdigen Umständen geheiratet hatte. Erst als sie die Parktore passiert hatten und ins freie Land kamen, sah sie sich um. Pretoria-Smith schlief und atmete schwer. Seine Hände, die in seinem Schoß lagen, zuckten nervös.

 

»Womöglich erstickt er noch«, dachte sie und löste den weichen Kragen seines Oberhemdes, den er nicht wie gewöhnlich offen, sondern geschlossen trug. Dabei streifte sein Atem ihre Wange, und sie schaute Smith erstaunt an. Auf jener fürchterlichen Gesellschaft bei Lady Tynewood war sie von einem betrunkenen Mann geküßt worden, und der entsetzliche Alkoholgeruch war ihr noch verhaßt. Aber sie konnte ihn hier nicht feststellen. Sie überlegte, was sie tun konnte. Vielleicht hatte er irgendein Mittel bei sich, das ihn wieder nüchtern machte. Sie hatte schon von solchen Dingen gehört. Zuerst zögerte sie, aber dann faßte sie Mut und durchsuchte seine Westentaschen. Sie fand eine Taschenuhr, die anscheinend in der vergangenen Nacht stehengeblieben war, und ein flaches, schwarzes Kästchen. Sie nahm es heraus und öffnete den Deckel. Aber sie erschrak heftig, als sie eine Spritze darin liegen sah, wie sie Morphiumsüchtige gebrauchen. Das war also die Ursache! Sie betrachtete das Instrument genauer. Es war vollständig neu, und zu ihrem größten Erstaunen entdeckte Marjorie den Namen des Apothekers aus Tynewood darauf.

 

Eine Anzahl Tabletten in einer kleinen Glasröhre waren beigefügt.

 

»Chinin«, las sie und schüttelte den Kopf. Man verwendete doch Chinin weder als Beruhigungs- noch als Betäubungsmittel.

 

Sie steckte die Schachtel in ihre Handtasche und betrachtete ihn einige Zeit. Schließlich war es ja gleichgültig, ob sie mit einem Trinker oder mit einem Morphiumsüchtigen verheiratet war. Verzweifelt dachte sie an die Zukunft.

 

Der Wagen fuhr mit großer Geschwindigkeit. Die Fahrt ging über Hügel und durch Täler, an Waldungen vorbei und durch landwirtschaftliche Gegenden, aber Marjorie hatte keinen Sinn für die Schönheit der Natur. Der Sonnenschein lockte sie nicht, und sie schaute nicht zum blauen Himmel empor. Nur der Wind streifte ihre heißen Wangen durch die offenen Fenster.

 

Endlich hielt der Chauffeur am Rand einer großen Wiese und stieg aus.

 

»Haben Sie etwas zu essen mitgenommen, Madam?« fragte er. »Oder soll ich bei einem Gasthaus halten? Wir kommen gleich durch eine Stadt.« Bei diesen Worten warf er einen vielsagenden Blick auf den schlafenden Mann.

 

»Danke, wir wollen nicht bei einem Gasthaus halten. Aber vielleicht nehmen Sie den Proviantkoffer herunter. Er ist hinten festgeschnallt.«

 

»Entschuldigen Sie noch eine Frage. Hat der Herr nicht seine Kleider vergessen? Ich habe keinen Koffer von ihm bekommen.« Sie sah sich bestürzt um. Pretoria-Smith hatte tatsächlich kein Gepäck bei sich.

 

»Die Koffer kommen mit dem Zug nach«, erwiderte sie schnell. Sie hatte sich jetzt schon daran gewöhnt, für ihn zu lügen und zu schwindeln. »Ach, öffnen Sie doch die Tasche und reichen Sie mir ein paar belegte Brötchen – auch die Thermosflasche mit Kaffee.« Sie schaute wieder zweifelnd zu ihrem Mann hinüber. »Glauben Sie, daß ich ihn aufwecken könnte?«

 

»Ich werde es versuchen, wenn es Ihnen recht ist«, sagte er und rüttelte Pretoria-Smith wach.

 

Smith sah zuerst auf den Chauffeur, dann auf Marjorie und faßte mechanisch nach seiner Westentasche.

 

»Hallo, was ist denn geschehen?« fragte er.

 

Er betrachtete Marjorie lange Zeit, und plötzlich schien er sich seiner Lage bewußt zu werden.

 

»Ach so, wir haben uns trauen lassen! Es fällt mit wieder ein. Wo sind wir denn jetzt?«

 

»Möchtest du Kaffee haben?« fragte sie. »Ich glaube, du fühlst dich – nicht ganz wohl.«

 

»Kaffee? Das ist ausgezeichnet. Ich fürchte, du hast mich heute morgen wieder für einen unausstehlichen Menschen gehalten, aber –«, er tastete wieder mit der Hand nach seiner Tasche – »ich konnte mein Mittel nicht nehmen, und da ist mir schwach geworden.«

 

Er trank den Kaffee begierig und schien sich zu erholen. Dann fuhr er mit der Hand über sein unrasiertes Gesicht.

 

»Ich möchte ein wenig auf und ab gehen, ich bin ganz steif geworden durch das lange Sitzen im Wagen.«

 

Er ging die Straße entlang, und als er zurückkam, machte er einen fast normalen Eindruck.

 

»Ich weiß kaum, was ich sagen soll, damit du mir verzeihst«, begann er. »Aber gestern abend –«

 

»Bitte sprich nicht darüber«, unterbrach sie ihn. »Es ist wirklich nicht nötig, daß ich es erfahre.«

 

Er sah sie merkwürdig an und lachte.

 

»Nun gut, dann wollen wir die Sache vorläufig auf sich beruhen lassen.«

 

Er gefiel ihr eigentlich, wenn er lachte. Seine Züge veränderten sich dann und wurden ihr sympathisch. Sie reichte ihm einige Brote, aber er dankte.

 

»Ich kann nicht essen«, sagte er und schauderte zusammen. »Vielleicht später. Wann kommen wir in Brightsea an? Wir sind doch auf dem Weg dorthin?«

 

»Wir haben noch etwas über eine Stunde Fahrt«, sagte der Chauffeur.

 

Smith sah auf die Uhr.

 

»Sie ist stehengeblieben«, meinte er, als er sie ans Ohr hielt. »Wie spät ist es jetzt?«

 

»Zwei«, erwiderte der Mann, und Pretoria-Smith schien zufrieden zu sein.

 

Bald darauf setzte sich der Wagen wieder in Bewegung, und nun unterhielt sich Smith mit Marjorie, obwohl er immer wieder wegen seines ungepflegten Aussehens in Verlegenheit kam.

 

»Wenn wir in das Haus kommen, sind wahrscheinlich auch meine Anzüge da. Ich habe der Schneiderfirma in London geschrieben, daß meine Sachen direkt nach Brightsea geschickt werden sollen. Du hast doch nichts dagegen?«

 

»Durchaus nicht. Wir sind doch jetzt verheiratet, und du hast ein Recht, deine Kleider in mein Haus zu schicken«, versuchte sie zu scherzen.

 

»Wir sind also richtig verheiratet?«

 

»Aber selbstverständlich.«

 

Er hörte den bitteren Unterton in ihrer Stimme. Eine Viertelstunde lang schaute er schweigend in die Landschaft hinaus.

 

»Mir; gefällt die Gegend hier sehr gut«, sagte er dann. »Manchmal fällt es mir schwer, daran zu denken, daß ich wieder nach Südafrika gehe.«

 

»Fährst du dahin zurück?« fragte sie ein wenig enttäuscht. »Ich meine – fahren wir dorthin?«

 

»Ich gehe nach einer angemessenen Zeit zurück«, sagte er freundlich und doch nachdenklich, als ob er überlegte, wie lange eine angemessene Zeit wohl dauern könnte.

 

»Liebst du eigentlich Südafrika?«

 

»In gewisser Weise – ja.«

 

»Wann – wann kommst du denn von dieser Reise wieder zurück?«

 

Er lächelte. »Ach, das kann Jahre dauern.«

 

»Ist das dein Ernst?«

 

»Natürlich. Südafrika gefällt mir, und ich habe deinen Onkel gern. Er bildet sich natürlich ein, daß er nur noch kurze Zeit zu leben hat, aber das ist Unsinn. Er sieht so gesund und frisch aus wie nur irgend jemand. Übrigens«, sagte er plötzlich, »läßt er dich nicht warten, bis er stirbt. Du hast sofort Anspruch auf Geld, wenn du geheiratet hast.«

 

»Wie soll ich das verstehen?« fragte sie überrascht.

 

»Seine Rechtsanwälte in London haben den Auftrag, zweihunderttausend Pfund auf dein Konto einzuzahlen, und zwar an deinem Hochzeitstag. Und ich habe heute morgen in aller Frühe jemanden beauftragt, deinem Onkel ein Telegramm zu schicken, sobald die Trauung vorüber ist.«

 

»Zweihunderttausend Pfund hat er für mich bestimmt?« fragte sie atemlos.

 

Er nickte.

 

»Du hast doch ein Konto bei der Bankfiliale in Tynewood? Dort wird das Geld eingezahlt.«

 

Marjorie atmete erleichtert auf. Nun konnte ihre Mutter wenigstens die Schulden an Lady Tynewood bezahlen. Sie erzählte ihm jetzt von der Torheit ihrer Mutter.

 

»Du bist ja nun mit mir verheiratet und mußt schließlich auch diese Dinge wissen. Meine Mutter hat leider viele Schulden, aber erst in der letzten Zeit hat sie gespielt. Es tut mir so leid, denn sie hat wirklich noch nicht viel von ihrem Leben gehabt.«

 

»Mit wem spielt sie denn? Doch nicht etwa mit Lady Tynewood?«

 

Sie nickte.

 

»So?« Er lächelte grimmig.

 

»Du scheinst Lady Tynewood zu hassen? Du kannst es mir ruhig sagen, denn mir ist sie auch unausstehlich.«

 

»Was hat sie dir denn getan? In meinem Leben hat sie schon viel Unheil angerichtet, ja sie hat sogar –« Er brach ab, sprach aber nach einer kurzen Pause weiter. »Wenn du mir vertraust, muß ich auch dir vertrauen. Sie hat einen guten Freund von mir ruiniert.«

 

Sie sah schnell zu ihm auf.

 

»War sie mit ihm verheiratet?«

 

»Ja, er war ihr Mann. Kennst du die Geschichte von Sir James Tynewood?«

 

»Sie ist doch sehr traurig?«

 

»Ich weiß nicht, ob man sie traurig oder wahnsinnig nennen soll. Ich kenne alle Einzelheiten, und an einem der nächsten Tage will ich sie dir erzählen. Lady Tynewood wird ihre Handlungsweise noch einmal sehr bereuen.«

 

Sein Ton klang so drohend, daß Marjorie ihn befremdet betrachtete.