Kapitel 8

 

8

 

›Ich bin ein alter Mann geworden und habe ein hartes Leben voller Mühsal hinter mir. Es ist möglich, daß ich bald sterbe, und ich kann nicht zugeben, daß mein schwer erworbenes Vermögen von irgendeinem leichtsinnigen jungen Mann durchgebracht wird, in den Du Dich verliebst. Deshalb ist es mein Wunsch und Wille, daß Du heiratest, und zwar möglichst bald. Als Mann habe ich meinen Partner Pretoria-Smith für Dich ausgesucht. Vielleicht wirst Du ihn etwas ungeschliffen finden, aber unter der rauhen Schale verbirgt sich ein guter, ehrlicher Charakter. Es hat lange gedauert, bis ich ihn dazu überredet habe, aber schließlich hat er zugestimmt, weil er seinen alten Partner gern hat. Wenn Du diesen Brief erhältst, ist er schon unterwegs nach England.

 

Solltest Du wider Erwarten ablehnen, Marjorie, so muß ich natürlich die jährliche Rente, die ich Deiner Mutter zahle, sofort zurückziehen, und dann will ich auch weiter nichts mehr mit Euch zu tun haben. Ich wasche meine Hände in diesem Fall in Unschuld.

 

Dein Dich stets liebender Onkel

Alfred Stedman.‹

 

*

 

Marjorie legte den Brief beiseite, nachdem sie ihn zum viertenmal durchgelesen hatte, denn die Buchstaben tanzten vor ihren Augen.

 

Ihr schönes Gesicht hatte sich vor Erregung gerötet, und ihre großen, grauen Augen blitzten ärgerlich auf. Sie erhob sich und ging unruhig im Zimmer auf und ab.

 

Marjorie Stedman hatte eine schlanke, grazile Gestalt, goldblonde Locken und ein feines, zartes Gesicht, das von frischen, roten Lippen belebt wurde.

 

»Wie kann er nur derartig schreiben!« sagte sie laut und zornig. »Es ist doch vollständig ausgeschlossen, daß ich mir in dieser Beziehung etwas diktieren lasse!«

 

Sie hatte also einen Heiratsbefehl bekommen! Und dabei hatte sie bisher überhaupt noch nie ernstlich daran gedacht, sich zu binden. Bisher hatte sie nur ungewisse, vage Vorstellungen von einem Mann, den sie lieben könnte. Sie träumte von einem gottähnlichen Wesen, das in höheren Regionen schwebte, und eine Heirat war für sie noch ein Idealzustand, der nichts mit der rauhen Wirklichkeit zu tun hatte. Und nun hatte Onkel Alfred, den sie sonst so sehr schätzte, ihr den kategorischen Befehl gegeben, zu heiraten! Einen Menschen, der Pretoria-Smith hieß!

 

Sie sprach den Namen verächtlich aus, aber im gleichen Augenblick kam er ihr bekannt vor. Irgendwo mußte sie ihn schon gehört haben. Pretoria-Smith! Seit dreieinhalb Jahren hatte sie durch größte Willensanstrengung jene schreckliche Nacht auf Schloß Tynewood aus ihrer Erinnerung verbannt, obwohl sie selbst nicht weit entfernt von diesem alten Familiensitz wohnte, und obwohl Alma Tynewood durch eine merkwürdige Verkettung des Schicksals fast täglich ins Haus kam. Auch Pretoria-Smith hatte sie vollkommen vergessen. War es derselbe, den sie damals kennengelernt hatte? Aber schließlich gab es doch viele Leute dieses Namens in Pretoria. Vielleicht war er irgendein unkultivierter Mensch mit häßlichen Manieren, den ihr alter Onkel irgendwo in einer wilden Gegend Afrikas aufgetrieben hatte. Sie wußte, daß Mr. Stedman ein bewegtes Leben hinter sich hatte. In seinen früheren Tagen soll er unter Eingeborenen gelebt haben, und sie hatte auch einmal gehört, daß er wegen eines Verbrechens mehrere Jahre im Gefängnis gesessen hatte. Gesehen hatte sie ihn. noch nicht, denn er hatte sich dauernd im Ausland, in Amerika, Australien, Südafrika, aufgehalten. Aber er war immer sehr gut zu ihr gewesen.

 

Auch als er vor vier Jahren zu Geld kam, hatte er zuerst in großzügiger Weise für das Kind seines verstorbenen Bruders gesorgt. Seine reichen Zuwendungen hatten es Marjorie ermöglicht, ihre Stellung als Stenotypistin aufzugeben und ein freies, sorgenloses Leben zu führen. Ihre Mutter brauchte nicht mehr in einer kleinen, engen Vorstadtwohnung zu hausen, da Mr. Stedman das alte Stammhaus der Familie zurückgekauft hatte. Wie glücklich hatte sie doch in den letzten Jahren gelebt! Beinahe hatte sie die traurigen Erinnerungen von damals vergessen… Sie hatte viele Bekannte und Freunde in der Gegend und hatte ihre Zeit wohltätiger Arbeit gewidmet. Und morgen war der Tag, an dem man ihr auch offiziell dafür danken wollte.

 

Diesen günstigen Umschwung in ihrem Schicksal hatte nur das Eingreifen Onkel Alfreds gebracht. Als ihr das wieder klar zum Bewußtsein kam, wurde ihre Stimmung ihm gegenüber wieder ruhiger und versöhnlicher.

 

Sie setzte sich einen Augenblick und schaute wieder auf den Brief.

 

»Es hat lange gedauert, bis ich ihn dazu überredet habe«, las sie. Tränen traten in ihre Augen, denn diese Worte bedeuteten eine furchtbare Demütigung für sie.

 

Onkel Alfred schien überhaupt nicht mehr zu wissen, daß es ein Europa gab, in dem die Menschen über sich selbst bestimmten und keine Sklaven waren. Sie war für ihn nur ein Stück Ware, das verkauft werden sollte. Er kaufte sie mit seinem Geld, um sie dann wieder an seinen Partner zu verkaufen. Und dabei mußte dieser Partner noch ›überredet‹ werden, damit das Geschäft überhaupt zustande kam!

 

Wieder sprang sie erregt auf. Aber nachdem sie einige Male auf und ab gegangen war, ließ sie sich aufs neue in den großen Sessel fallen, bedeckte das Gesicht mit den Händen und weinte still in ihr Taschentuch.

 

Alle Träume von einer herrlichen Zukunft fielen nun in nichts zusammen. Es blieb ihr kein anderer Ausweg, als wieder eine Stellung anzunehmen und für kümmerlichen Wochenlohn zu arbeiten. Sie mußte wieder zurück zu den überfüllten Untergrundbahnen und Autobussen, mußte wieder früh aufstehen und im Nebel durch die häßlichen Straßen der Großstadt eilen, um zur rechten Zeit an ihrer Arbeitsstelle zu sein. Das alte, traurige Dasein würde wieder beginnen, und nach aufreibender Tätigkeit würde sie sich dann höchstens im Jahr vierzehn Tage Urlaub in einer großen Pension eines Badeortes gönnen können.

 

Ich bin nur neugierig, was Mutter dazu sagen wird, dachte sie, als sie ihre Augen wieder trocknete.

 

Müde schaute sie auf den gutgepflegten Rasen hinaus, der vor dem alten, grauen Steinhaus mit den schönen Giebeln und den efeubewachsenen Mauern lag. Sie sah auf die Blumenbeete, die jetzt in voller Farbenpracht standen, und auf den Teich, in dem die Enten schwammen. Die armen Tiere wußten noch nichts davon, daß sich nun bald niemand mehr um sie kümmern würde. Wie oft hatte sie dort auf dem bemoosten Stein an der Uferbefestigung gesessen und ihr Spiegelbild im Wasser betrachtet.

 

Mit einem Seufzer erhob sie sich. Klagen und Jammern half auch nichts. Die Laune dieses reichen, alten Mannes hatte sie plötzlich über Nacht in ein Paradies versetzt, und eine andere Laune vertrieb sie nun eben wieder daraus. Das schwerste war, ihrer Mutter diese Nachricht mitzuteilen. Sie kannte ja den Charakter und die Schwächen der alten Frau, aber sie hatte sie trotzdem gern.

 

Plötzlich kam wieder eine zuversichtliche Stimmung über sie. Dreieinhalb Jahre lang hatten sie doch zweitausend Pfund erhalten, und sie hatten hier ein verhältnismäßig einfaches Leben geführt. Sicher war ein großer Teil des Geldes gespart worden, und wenn sie diese Summe jetzt nur vernünftig einteilten, brauchten sie doch nicht mehr in ganz so traurige Verhältnisse wie früher zurückzukehren.

 

»Diesen Pretoria-Smith heirate ich auf keinen Fall!« sagte sie entschlossen vor sich hin, als sie die Wohnzimmertür öffnete.

 

Sie hatte so laut gesprochen, daß die beiden Damen ihre Worte gehört hatten und sie erstaunt ansahen.

 

Es war allerdings noch keine Besuchszeit, und als Marjorie entdeckte, wer bei ihrer Mutter saß, hätte sie sich am liebsten gleich wieder zurückgezogen. Aber dazu war es jetzt zu spät. Sie zwang sich also zu einem Lächeln und ging auf die hübsche junge Dame zu.

 

»Guten Morgen, Lady Tynewood«, sagte sie höflich.

 

Alma Tynewood hatte ihre Abneigung gegen Marjorie nie ganz verbergen können, aber heute morgen hatte sie besonderen Grund, gegen dieses Mädchen Widerwillen zu empfinden. Ein verächtliches Lächeln spielte um ihre hochrot gefärbten Lippen.

 

Mrs. Stedman war für ihr Alter noch eine ansehnliche Frau, aber ihr schwächlicher Charakter drückte sich in ihren weichen Zügen aus. Bei dem unerwarteten Eintreten ihrer Tochter kam sie in große Verlegenheit.

 

»Ach, ich dachte, du wärst ausgeritten; Liebling.«

 

»Ich reite erst am Nachmittag.«

 

»Lance sagte mir aber doch, du hättest dich für Vormittag mit ihm verabredet?«

 

»Ich war heute morgen zu sehr beschäftigt«, entgegnete Marjorie geduldig. »Wenn er am Nachmittag keine Zeit haben sollte, reite ich eben allein.« Mrs. Stedman seufzte unzufrieden und sagte nichts mehr dazu.

 

»Ich kann mir auch schlecht vorstellen, daß Sie jetzt viel Zeit zum Reiten haben sollten«, sagte Lady Tynewood mit einem boshaften Lächeln. »Sie sitzen doch sicher seit Tagen an der Ausarbeitung der Tischrede, die Sie morgen halten werden.«

 

»Da täuschen Sie sich. Ich halte keine Rede«, erwiderte Marjorie kurz. »Ich bin auch sicher, daß mich niemand hören will. Das Komitee macht viel Lärm um nichts und übertreibt meine Arbeit, die ich in den Dienst des Provinzialhospitals gestellt habe. Es ist wohl wahr, daß ich als Sekretärin des Hilfskomitees fünfzigtausend Pfund gesammelt habe, aber andere Leute hätten in meiner Stellung genau dasselbe tun können.«

 

»Aber niemand hat ein so faszinierendes Äußeres wie Sie«, entgegnete Lady Tynewood spitz. »Wenn ich ein Mann wäre, und ein hübsches Mädchen wie Sie käme in mein Büro und bäte mich um eine Zeichnung für einen wohltätigen Zweck, so würde ich sofort mein Scheckbuch aufschlagen und um Angabe der Summe bitten, die ich Ihrer Meinung nach zeichnen sollte. Außerdem haben Sie ja wohl auch Küsse im Dienst der guten Sache verkauft, wie mir erzählt wurde.«

 

»Das ist eine infame Lüge!«

 

»Marjorie!« protestierte ihre Mutter leise.

 

»Aber meine Liebe, jeder Mensch hier weiß es doch und spricht darüber –«

 

»Sie selbst haben diese böswillige Verleumdung unter die Leute gebracht, Lady Tynewood, ich kenne Sie und Ihre Vergangenheit. Wahrscheinlich war es in Ihren früheren Kreisen üblich, Küsse zu verkaufen und weiter keinen Anstoß daran zu nehmen.«

 

Alma wurde dunkelrot vor Zorn, und ihre Augen funkelten böse. Aber sie beherrschte sich.

 

»Die Kreise, in denen ich mich bewegt habe, waren Ihnen natürlich nicht zugänglich«, sagte sie hochmütig. »Morgen werden Sie ja allerdings in allerhöchster Gesellschaft speisen.«

 

Marjorie biß sich auf die Lippen, um eine heftige Antwort zu unterdrücken. Sie machte sich mit den Papieren zu schaffen, die auf dem Tisch lagen, und ordnete sie, während Mrs. Stedman verzweifelt auf das Tischtuch starrte.

 

»War es eigentlich Ihre Idee, daß morgen abend an besonders kleinen Tischen gespeist werden soll?« fragte Lady Tynewood mit schlecht verhohlenem Ärger. »Warum wurde ich denn nicht auch an die Ehrentafel gesetzt, wo Seine Königliche Hoheit den Vorsitz führt? Sie thronen ja vermutlich an seiner rechten Seite!«

 

»Das ist möglich«, erwiderte Marjorie kühl. »Aber ich kann Ihnen die tröstliche Versicherung geben, daß nicht ich diesen Vorschlag machte, sondern Lord Wadham. Ich hatte mit der Platzverteilung nichts zu tun, und es geht mich nichts an, ob Sie an der Ehrentafel sitzen oder nicht.«

 

»Das sagen Sie jetzt«, entgegnete Lady Tynewood pikiert.

 

»Ich nehme nicht an, daß Sie sich von mir überzeugen lassen, aber ich pflege die Wahrheit zu sagen und lüge nicht. Eine einflußreichere Persönlichkeit als ich hat die Plätze verteilt, wie ich Ihnen schon erklärte, und wenn Sie von der Ehrentafel ausgeschlossen sind, kann ich nichts dafür.«

 

»Und wohin hat man mich denn gesetzt?« fragte Alma erregt. »Natürlich zwischen kleine Landbarone, Ärzte und so weiter!«

 

Marjorie zuckte die Schultern.

 

»Aber Liebling, du kennst doch verschiedene Mitglieder des Komitees so gut. Kannst du nicht mit ihnen sprechen, daß Lady Tynewood doch noch einen Platz an der Ehrentafel erhält? Bedenke doch, die Tynewoods sind die älteste und angesehenste Familie in Droitshire.«

 

Marjorie schwieg.

 

»Nun, wollen Sie Ihrer Mutter nicht eine Antwort geben?« fragte Alma scharf.

 

»Das werde ich tun, wenn ich mit ihr allein bin. Dann soll sie auch erfahren, aus welchen guten Gründen Sie unter die Landjunker gesetzt werden.«

 

Lady Tynewood preßte die Lippen aufeinander.

 

»Ich verstehe schon. Die ganze Geschichte ist eine gemeine Intrige gegen mich – weiter nichts!« »Davon ist mir nicht das geringste bekannt«, erwiderte Marjorie zornig, die allmählich die Ruhe verlor. Ihr Gesicht hatte sich gerötet, und ihre Augen blitzten gefährlich. »Ich kann Ihnen nur das eine sagen, Lady Tynewood: Wenn man Sie an die Ehrentafel gesetzt hätte, dann wäre ich an dem Abend nicht erschienen und hätte überhaupt auf die Teilnahme verzichtet.«

 

Alma atmete hörbar. Sie nickte Mrs. Stedman kurz zu und ging kerzengerade zur Tür.

 

»Das soll Ihnen eines Tages noch leid tun. Dafür werde ich sorgen!« zischte sie zwischen den Zähnen und schlug die Tür heftig hinter sich zu.

 

Kapitel 9

 

9

 

Mrs. Stedman sah nervös zu ihrer Tochter hinüber.

 

»Aber Marjorie, du hast dir Lady Tynewood zur Feindin gemacht!« sagte sie vorwurfsvoll.

 

Die alte Frau besaß keinen starken Willen und war eigentlich nicht befähigt, ein Kind zu erziehen und ihre Mutterpflichten zu erfüllen. Aber es gibt viele Frauen, die ihrer Aufgabe in dieser Beziehung nicht gewachsen sind, ihre Kinder nicht verstehen und nur neben ihnen herleben.

 

»Das ist doch sehr gleichgültig«, erwiderte Marjorie hoffnungslos. »Die Feindschaft von Lady Tynewood ist die geringste meiner Sorgen.

 

»Sie war aber gut mit uns befreundet, und ich bin sicher, daß Onkel Alfred es nicht gern sehen würde, daß du eine Dame von Adel derartig beleidigst.«

 

»Ach, Mutter, ich kümmere mich nicht um solche Damen von Adel.« Marjorie war den Tränen nahe. »Sie hat ihren Titel doch nur durch Heirat erhalten, und ihr Mann hat ihn auch nur geerbt, weil sich seine Vorfahren Verdienste erworben haben. Adel hat doch nur dann Wert, wenn er durch persönliche Tüchtigkeit erlangt wird.«

 

»Das klingt ja wie Hochverrat«, erklärte Mrs. Stedman streng. »Ich wünschte nur, du würdest nicht derartig sozialistische Ideen äußern.«

 

Marjorie mußte trotz ihrer unglücklichen Stimmung lachen.

 

»Wir wollen uns nicht über Adelstitel streiten, Mutter. Ich habe so viele andere Dinge mit dir zu besprechen, die weit wichtiger sind.« Sie wußte nicht, wie sie am besten beginnen sollte. »Wohnst du eigentlich gern in diesem Haus?« fragte sie schließlich nach einer Pause.

 

»Selbstverständlich!« Mrs. Stedman hielt diese Frage für einen ungeschickten Versuch Marjories, das Thema zu wechseln. »Aber ich sage dir, daß Lady Tynewood –«

 

»Wir wollen vorläufig einmal nicht über diese Dame reden«, entgegnete Marjorie geduldig. »Aber gibt es nicht wertvollere Dinge, die du mehr liebst als das Leben in diesem Hause, wo du von allem Komfort umgeben bist?«

 

»Ich glaube schon«, erwiderte die alte Frau unsicher. »Wenn man zum Beispiel daran denkt, daß man in nicht allzu langer Zeit sterben wird –«

 

»Nein, das meinte ich nicht«, sagte Marjorie ernst. »Ich wollte über sehr reale, lebenswichtige Dinge mit dir sprechen über das Glück und die Ehre deiner Tochter.«

 

Mrs. Stedman sah plötzlich auf, und ihre Mundwinkel senkten sich.

 

»Was meinst du damit – die Ehre deiner Tochter?« fragte sie bestürzt. »Du hast doch nicht am Ende etwas von dem Geld für dich gebraucht, das du für das Hospital gesammelt hast?«

 

Marjorie erhob sich und trat zum Fenster.

 

»Ich weiß wirklich nicht mehr, ob ich lachen oder weinen soll.«

 

»Dann lache, bitte.« Mrs. Stedman rückte ihre Brille zurecht und griff nach einer illustrierten Zeitung. »Meine Stimmung ist schon trüb genug.«

 

»Mutter, nehmen wir einmal an, daß wir von hier fortziehen müßten.« Marjorie wandte sich wieder um. »Und daß wir vielleicht wieder so leben müßten wie früher.«

 

»Wie kommst du nur auf so absurde Ideen!« Mrs. Stedman schauderte zusammen. »Das würde ich keine Woche überleben! Die Großzügigkeit und Güte deines lieben Onkels Alfred hat uns doch glücklicherweise diese Sorge abgenommen.«

 

»Aber nimm doch einmal an, daß wir trotzdem dazu gezwungen würden«, erwiderte Marjorie verzweifelt.

 

»Nicht einmal im Traum würde ich das annehmen«, entgegnete ihre Mutter ärgerlich. »Du regst mich in der letzten Zeit wirklich furchtbar auf, Kind. Mit keinem Gedanken denkst du daran, daß du eine herzleidende Frau vor dir hast. Willst du mich denn durchaus krank machen und mich unter die Erde bringen? Ich hoffte schon, daß du heute wenigstens etwas teilnehmend und rücksichtsvoll zu mir wärst. Ich muß dir nämlich etwas mitteilen.«

 

»Du mußt mir etwas mitteilen?« wiederholte Marjorie langsam. Eine ungewisse Furcht befiel sie. »Aber es ist vielleicht besser, daß ich zuerst erzähle, was ich dir zu sagen habe. Wieviel Geld haben wir eigentlich in den letzten Jahren gespart, Mutter?«

 

»Gespart?« rief Mrs. Stedman mit schriller Stimme. »Wovon hätten wir denn sparen sollen? Du bist wohl ganz von Sinnen?«

 

Marjorie sah sie verstört an.

 

»Was, du hast gar nichts gespart? Aber wir haben doch jährlich zweitausend Pfund von Onkel Alfred bekommen – das sind vierzigtausend Shilling! Und brauchten keine Miete zu zählen und hatten Gemüse und Obst aus dem Garten! Es blieben doch nur die Löhne für die Dienstboten und die Rechnungen für den Haushalt übrig – da mußt du doch gespart haben!«

 

Mrs. Stedman schüttelte den Kopf, und zwei Tränen liefen über ihre Wagen.

 

»Nein, ich habe kein Geld sparen können«, entgegnete sie weinerlich. »Ich habe mein Konto auf der Bank sogar schon um fünfhundert Pfund überzogen – und – und –« Sie schluchzte heftig auf.

 

»Und?« fragte Marjorie mit schwerem Herzen. Sie war blaß geworden und strich mit zitternden Händen über ihr Haar. »Sage mir die volle Wahrheit, Mutter.«

 

»Ich habe auch noch über tausend Pfund Schulden«, stieß Mrs. Stedman hervor. Marjorie sank in den nächsten Stuhl.

 

»Sieh mich doch nicht so schrecklich an! Ach, ich wünschte manchmal, ich hätte überhaupt kein Kind. Du hast mich niemals richtig getröstet, wenn ich es am meisten nötig hatte!«

 

Marjorie faßte sich nur mühsam, und es gelang ihr kaum, ein Wort über die Lippen zu bringen.

 

»Wem schuldest du denn das Geld?«

 

»Lady Tynewood«, erwiderte ihre Mutter jetzt gereizt und beleidigt. »Ich weiß gar nicht, was dir eigentlich einfällt, mich derartig auszufragen. Ich bin deine Mutter, und du solltest Achtung vor mir haben. Aber die modernen jungen Mädchen denken ja immer nur an sich selbst und niemals an ihre Eltern!«

 

Marjorie sah zum Fenster hinaus. Nun wurde ihr plötzlich klar, was die stundenlangen Besuche ihrer Mutter in der Villa der Lady Tynewood bedeuteten. Sie wunderte sich jetzt auch nicht mehr darüber, daß Alma Mrs. Stedman stets im Auto abholen ließ.

 

»Du hast das Geld wohl beim Bridgespiel verloren?« fragte sie leise. »Mr. Javot hat sicher auch mitgespielt?«

 

»Ja.« Mrs. Stedman war wieder kleinlaut geworden und schluchzte. »Marjorie, ich hatte in der ersten Zeit so fabelhaftes Glück! Ungefähr tausend Pfund habe ich gewonnen. Später habe ich dann dauernd verloren. Aber Alma war sehr liebenswürdig und nett zu mir. Du mußt sie nicht falsch beurteilen. Sie hat sich wirklich wie eine Freundin mir gegenüber benommen und niemals ihr Geld verlangt, obwohl ich weiß, daß ihr eigenes Einkommen ziemlich klein ist.«

 

Marjorie ging auf ihre Mutter zu und legte freundlich den Arm um ihre Schulter.

 

»Gib mir das Versprechen, daß du nie wieder spielst. Wir können uns das nicht leisten.«

 

»Nein, so darfst du nicht sprechen. In den nächsten Tagen werde ich alles wieder zurückgewinnen – und noch mehr dazu«, erklärte Mrs. Stedman eifrig. »Du hast keine Ahnung, was für entsetzliche Karten ich bekommen habe.«

 

»Das kann ich mir schon vorstellen, wenn du gegen Alma Tynewood gespielt hast«, sagte Marjorie mit einem bitteren Auflachen.

 

Konnte sie ihrer Mutter unter diesen Umständen überhaupt von dem Brief erzählen, den sie erhalten hatte? Es hatte ja gar keinen Zweck, die Sache mit ihr zu besprechen. Welche Hilfe oder welchen Trost sollte sie in ihrer schweren Lage von dieser Frau erwarten, die jede Hilfe und jeden Trost für sich selbst in Anspruch nahm wie trockener Sand, der das Wasser aufsaugt und nicht zurückgibt? Ihre Mutter hatte mehr als tausend Pfund Schulden gemacht, und in der nächsten Woche hörten ihre Einnahmen auf. Dieser Schlag mußte die alte, selbstsüchtige Frau zu schwer treffen. Marjorie biß sich auf die Lippen und schaute auf ihre Mutter nieder, die gekrümmt in dem großen Sessel saß und hemmungslos weinte.

 

»Gräme dich nicht so sehr«, sagte sie tröstend. »Wir werden schon fertig werden und durchkommen. Das Haus ist ja schließlich auch noch etwas wert.«

 

»Was redest du da? Das Haus ist auch noch etwas wert?« fuhr Mrs. Stedman plötzlich auf. In ihrer Entrüstung vergaß sie, die Rolle der bekümmerten, alten Frau weiterzuspielen. »Du glaubst doch nicht etwa, daß wir das Haus verkaufen oder eine Hypothek aufnehmen sollten? – Außerdem habe ich bereits mehrere Hypotheken darauf genommen«, fügte sie halb trotzig hinzu.

 

Marjorie hatte geglaubt, daß sie nichts mehr aus der Fassung bringen könnte, aber bei dieser Mitteilung brach sie doch beinahe zusammen.

 

»Du hast Hypotheken auf das Haus eintragen lassen?« fragte sie mit schwacher Stimme. »Aber Mutter, es gehört dir doch gar nicht! Du kannst doch nicht ohne Einwilligung von Onkel Alfred Hypotheken aufnehmen! Darüber hat doch nur er zu bestimmen!«

 

»Er hat uns das Haus doch geschenkt«, erwiderte Mrs. Stedman gekränkt. »Er hat es mir direkt übergeben, und ich kann damit machen, was ich will. Marjorie, du regst mich ganz entsetzlich auf! Und gerade jetzt dachte ich, daß du an Onkel Alfred schreiben würdest. Er hat dich so gern, und du könntest ihn doch tatsächlich bitten, daß er uns mit Geld aushilft. Schreibe ihm, daß du heiraten möchtest, oder so etwas Ähnliches …«

 

»Daß ich heiraten möchte!« wiederholte Marjorie und lachte hysterisch auf.

 

Dann eilte sie plötzlich ohne ein weiteres Wort aus dem Zimmer.

 

Mrs. Stedman sah ihr verblüfft nach und hörte noch, daß ihre Tochter die Treppe hinaufstürmte, die Tür ihres Schlafzimmers hinter sich zuschlug und den Schlüssel umdrehte.

 

Kapitel 4

 

4

 

Auf die Bitte des Rechtsanwalts blieb Marjorie bis zum Spätnachmittag im Büro. Schreibarbeiten hatte sie nicht zu erledigen, aber sie vermutete, daß ihre Dienste früher oder später benötigt würden, und diese Vermutung stimmte auch.

 

Um fünf Uhr klingelte Mr. Vance, der gerade im Begriff war, einen großen Briefumschlag zu versiegeln. Allem Anschein nach hatte er das umfangreiche Schreiben am Nachmittag selbst verfaßt. Erst als er mit dem Siegeln fertig war, schrieb er die Adresse auf das Kuvert. Aber plötzlich hielt er unentschlossen inne.

 

»Hm, das ist allerdings unangenehm«, meinte er und schrieb erst nach einem kurzen Zögern weiter.

 

»Sir James Tynewood, Baron«, las sie über seine Schulter und war enttäuscht. Sie nahm an, daß sie diesen Brief wieder selbst überbringen sollte, und nach den Erfahrungen des vergangenen Abends war ihr ein solcher Auftrag wenig willkommen.

 

Zu ihrem größten Erstaunen nahm er einen noch größeren Umschlag aus der Schublade und steckte den ersten Brief hinein. Die neue Adresse lautete auf einen Namen, der ihr fremd war: »Dr. Fordham, Schloß Tynewood, Tynewood.«

 

Einen Augenblick saß Mr. Vance noch in Gedanken versunken, dann schaute er sie durch seine großen Brillengläser an und lächelte.

 

»Miss Stedman, ich möchte Sie bitten, in meinem Auftrag eine kleine Tour aufs Land zu machen. Kennen Sie Tynewood?«

 

Sie nickte.

 

»Es liegt in Droitshire«, erklärte er. »Sie haben einen Zug um fünf Uhr vom Bahnhof Paddington aus, mit dem sind Sie noch vor acht dort. Die nächste Station liegt allerdings fünf Kilometer von Schloß Tynewood entfernt, aber ich werde dem Gasthaus zum Roten Löwen in Tynewood telegrafieren, daß man Ihnen ein Auto an die Bahn schickt. Die Leute sind dort ziemlich modern eingerichtet. Auf keinen Fall werden Sie Schwierigkeiten haben, nach dem Schloß zu kommen. Gegen elf Uhr heute abend sind Sie wieder hier. Sie haben einen guten, schnellen Zug, der um neun dort abfährt. Diesen Brief müssen Sie Doktor Fordham persönlich übergeben.«

 

Sie nickte.

 

»Ich muß Ihnen aber noch etwas sagen, Miss Stedman«, fuhr er ein wenig verlegen fort. »Seit Sie meine Privatsekretärin sind, haben Sie eine ganze Reihe zum Teil recht unangenehmer Dinge erfahren, und ich weiß, daß Sie stets alles für sich behalten haben. Aber das Geheimnis um Sir James Tynewood ist unangenehmer als alles andere. Ich kann nur hoffen, daß Sie nichts Neues darüber hören. Sollte das trotzdem der Fall sein, so muß ich Sie dringend bitten, als unverbrüchliches Geheimnis zu betrachten, was Sie heute abend erfahren und was Sie gestern erlebt haben.«

 

»Das ist selbstverständlich, Mr. Vance. Aber –«

 

Sie zögerte.

 

»Was wollten Sie denn sagen?«

 

»Ach, es hat mit der Sache selbst nichts zu tun. Ich möchte nur meiner Mutter noch mitteilen, daß ich erst spät nach Hause komme. Sie erwartete mich heute nachmittag schon um zwei.

 

»Ich werde einen Boten hinschicken – oder besser ein Telegramm.«

 

Marjorie lachte.

 

»Ein Telegramm bringt meine Mutter immer in Aufregung.« Sie erklärte ihm nicht näher, daß Mrs. Stedman sich durch ihr optimistisches Temperament verleiten ließ, bei jedem Klingeln der Hausglocke ein Wunder zu erwarten. Natürlich war die alte Dame dann jedesmal sehr enttäuscht, wenn nicht irgendeine angenehme Nachricht kam.

 

Die Fahrt wollte für Marjorie kein Ende nehmen, obgleich sie sich ein Buch und Zeitschriften gekauft hatte. Erleichtert atmete sie auf, als sie endlich an ihrem Ziel ankam und auf den nassen Bahnsteig treten konnte. Mr. Vances Telegramm hatte tatsächlich den gewünschten Erfolg gehabt, denn ein altes, etwas geräuschvolles Auto wartete am Stationsausgang auf sie.

 

Glücklicherweise war es ein geschlossener Wagen, denn es regnete in Strömen. Während er mit großem Lärm über die dunkle Landstraße fuhr, dachte sie daran, daß sie in kurzer Zeit auch hier in der Nähe wohnen würde. Das Auto kroch nur langsam die Anhöhe hinauf und rollte mit unglaublicher Geschwindigkeit bergab. Trotzdem kam es im allgemeinen gut vorwärts und fuhr bald darauf durch die Hauptstraße eines Dorfes. Marjorie schaute durch die triefenden Fensterscheiben und sah einige hellerleuchtete Läden. Sie vermutete, daß dies das Dorf Tynewood war, und sie hatte recht.

 

Einige Minuten später hielt der Wagen, und als sie das Fenster herunterließ, erkannte sie die großen, eisernen Tore des Schloßparks. Der Chauffeur hupte mehrere Male laut, und nach einiger Zeit zeigte sich eine dunkle Gestalt in einem Regenmantel.

 

»Wer ist da? Ich kann Sie nicht hereinlassen.«

 

Marjorie lehnte sich aus dem Fenster.

 

»Ich komme von Rechtsanwalt Vance und soll Doktor Fordham einen wichtigen Brief übergeben.«

 

Ohne weitere Widerrede wurde nun das Tor geöffnet, und das Auto rollte die lange, gewundene Zufahrtsstraße entlang, die auf beiden Seiten von hohen Bäumen flankiert war. Dann hielt der Wagen aufs neue.

 

Nur das halbkreisförmige Fenster über der Haustür war erleuchtet, sonst lag das große Haus vollkommen im Dunkeln.

 

Marjorie stieg aus und bat den Chauffeur zu warten. Erst nach einigem Suchen entdeckte sie den altmodischen Klingelzug. Das Läuten tönte schwach nach außen, aber es dauerte geraume Zeit, bis jemand zur Tür kam. Dann hörte sie plötzlich schnelle Schritte und Kettenrasseln. Die Tür wurde aufgeschlossen, und der eine Flügel öffnete sich eine Handbreit.

 

Der Herr, der den Kopf durch den Türspalt steckte, war ihr unbekannt.

 

»Wer ist da?« fragte er barsch.

 

»Ich komme von Rechtsanwalt Vance und bringe einen wichtigen Brief für Doktor Fordham«, wiederholte Marjorie.

 

»Das bin ich selbst. Treten Sie bitte näher.«

 

Er schloß die Tür auf und nahm ihr den Brief ab.

 

»Nehmen Sie Platz.«

 

Sie ging zu einem der großen Eichensessel hinüber und setzte sich.

 

»Er ist aber doch für Sir James bestimmt«, sagte er, als er den einen Umschlag geöffnet hatte. »Warten Sie bitte einen Moment.«

 

Er hatte den Weg zur nächsten Tür halb zurückgelegt, als er sich noch einmal nach ihr umsah.

 

»Es ist zwar nicht angenehm hier, aber ich kann Sie im Augenblick in kein anderes Zimmer führen. Hoffentlich haben Sie schon zu Abend gegessen, denn ich kann Ihnen leider nichts anbieten. Es ist niemand von der Dienerschaft im Schloß.«

 

Marjorie hatte noch nichts gegessen, und es wäre ihr sehr lieb gewesen, wenn sie sich hätte stärken können. Aber sie lächelte und schüttelte den Kopf.

 

»Ach, das macht nichts. Ich bin nicht hungrig«, log sie.

 

»Bleiben Sie bitte hier in der Halle und gehen Sie nicht weiter.«

 

»Selbstverständlich spioniere ich hier nicht herum«, erwiderte sie etwas verletzt. »Ich kann auch jetzt schon zum Bahnhof zurückfahren, mein Wagen wartet draußen.«

 

»Nein, bitte bleiben Sie«, entgegnete Doktor Fordham und verschwand durch die Tür.

 

Aber in der Eile machte er sie nicht ordentlich zu, so daß das Schloß nicht faßte. Sie öffnete sich von selbst langsam immer weiter, und Marjorie konnte deutlich hören, was im Nebenzimmer gesprochen wurde.

 

»Ich bin auf jeden Fall ruiniert«, sagte Sir James Tynewood. »Wie furchtbar töricht bin ich doch gewesen!«

 

»Du hast nun aber eine Gelegenheit, ein neues Leben zu beginnen«, antwortete eine Stimme, die Marjorie bekannt vorkam. »Ich gebe dir die Möglichkeit dazu, und es wäre wirklich sehr unklug von dir, mein Anerbieten abzulehnen.«

 

»Aber wie soll ich denn das machen?« rief Sir James erregt. »Das ist doch ganz ausgeschlossen! Glaubst du denn, ich könnte nach London zurückgehen, wo all die anderen sind? Meinst du, ich könnte ihnen ruhig entgegentreten und ihnen sagen –«

 

Ein anderer mischte sich ein, offenbar Doktor Fordham. Ein Briefumschlag wurde aufgerissen – wahrscheinlich war es das Kuvert, das sie selbst gebracht hatte. Papier raschelte, dann folgte tiefes Schweigen, das nur ab und zu durch das Umblättern der Bogen unterbrochen wurde.

 

»Du bist ja wahnsinnig gewesen!« sagte dann jemand.

 

»Was meinst du denn?« fragte Sir James nach einer kurzen Pause leise.

 

Wieder Schweigen. Der Brief war inzwischen wohl weitergegeben worden. Mehrere Minuten lang wurde kein Wort gesprochen.

 

»Gut, ich will meine Rechnung mit dir begleichen«, sagte Sir James dann plötzlich.

 

Ein Schuß krachte.

 

Marjorie sprang totenbleich auf. Wieder folgte eine tödliche Stille, dann hörte das junge Mädchen die verzweifelten Worte: »Mein Gott, ich habe ihn getötet!«

 

Sie eilte zur Tür und stieß sie ganz auf. Sir James Tynewood lag auf dem Boden, und aus einer häßlichen Wunde in seiner linken Schläfe sickerte das Blut. Ein Mann beugte sich über ihn, und ein Revolver blitzte in seiner Hand. Als sich die Tür öffnete, erhob er sich langsam.

 

Es war Pretoria-Smith!

 

Kapitel 5

 

5

 

Im nächsten Augenblick hatte Doktor Fordham Marjorie aus dem Zimmer gedrängt. Er faßte sie am Arm und zog sie zur Tür.

 

»Sie haben doch einen Wagen hier?«

 

»Was – was ist – denn geschehen?« fragte sie fassungslos.

 

Er antwortete nicht, sondern schob sie in die stürmische Nacht hinaus. Nachdem die große, schwere Eichentür hinter ihm zugefallen war, gab er dem Chauffeur eine Weisung, die sie nicht verstehen konnte.

 

»Steigen Sie doch ein«, sagte er dann ungeduldig zu ihr.

 

»Was ist passiert?« fragte sie wieder. »Gehen Sie zur Polizei?«

 

Er gab ihr auch diesmal keine Auskunft und stieg hinter ihr in den Wagen.

 

Schweigend fuhren sie durch das Dorf, und erst als sie am äußersten Ende hielten, begann er zu sprechen.

 

»Sie müssen jetzt zu Mr. Vance zurückkehren. Bis dahin dürfen Sie keinem Menschen erzählen, was Sie hier erlebt haben. Verstehen Sie mich?«

 

Sie sah ihn entsetzt an. Ihre Lippen zitterten, und sie war den Tränen nahe.

 

»Nein, ich werde niemandem etwas sagen«, erwiderte sie leise.

 

»Ich rufe Mr. Vance an. Er wartet in seinem Büro auf Sie, das hat er auch schon in seinem Brief erwähnt.«

 

»Ist Sir James tot?«

 

»Hoffentlich nicht«, entgegnete Doktor Fordham kurz.

 

Nach diesen Worten stieg er aus, schlug die Tür zu, und der Chauffeur fuhr weiter.

 

Als Marjorie in Paddington ankam, war sie erstaunt, Mr. Vance auf dem Bahnsteig zu finden. Die Rückreise war ihr schneller vergangen als die Hinfahrt. Ihre Gedanken hatten sich unausgesetzt mit den schrecklichen Ereignissen in Schloß Tynewood beschäftigt, und erst bei ihrer Ankunft in London kam ihr wieder zum Bewußtsein, wie hungrig sie war.

 

»Doktor Fordham hat mir am Telefon gesagt, daß er Ihnen leider nichts anbieten konnte. Sie müssen jetzt sofort etwas essen, und dann habe ich noch mit Ihnen zu sprechen.«

 

»Haben Sie schon alles erfahren?«

 

Er nickte.

 

»Ist – ist – Sir James –«

 

»Wir wollen nicht über die Sache sprechen, bis Sie gegessen haben«, sagte Mr. Vance liebenswürdig und anscheinend gut gelaunt, obwohl er in Wirklichkeit sehr verstört war. »Sie kommen jetzt mit mir in meine Wohnung.«

 

Erst als sie sich gestärkt und ein Glas Portwein getrunken hatte, erwähnte er Sir James Tynewood und die Tragödie wieder, die sich auf dem Schloß abgespielt hatte.

 

»Zunächst muß ich Ihnen eines ausdrücklich sagen«, begann er. »Sir James Tynewood ist nicht tot.«

 

»Gott sei Dank!« Sie atmete erleichtert auf. »Ich bin so entsetzlich erschrocken, als ich das Blut sah …«

 

»Es war nur eine Fleischwunde, und er hat sich wieder erholt. Sein Zustand hat sich sogar so weit gebessert«, sagte er mit großem Nachdruck, »daß er morgen England mit einem Schiff verlassen wird.«

 

Sie starrte ihn verständnislos an.

 

»Will Sir James ins Ausland gehen?«

 

Er nickte.

 

»Begleitet ihn Lady Tynewood?«

 

»Nein, sie bleibt hier.«

 

»Aber – ich verstehe das alles nicht.«

 

»Sie werden die Sache auch niemals ganz verstehen können. Aber glauben Sie mir nur. Der Baron fährt morgen nachmittag mit dem Schiff ›Carisbrooke Castle‹ nach Kapstadt.«

 

Sie schüttelte ratlos den Kopf.

 

»Ich kann diese Rätsel nicht lösen. Was macht denn Mr. Smith von Pretoria? Fährt er auch nach Afrika?«

 

Er nahm die Zigarre aus dem Mund und betrachtete sie kritisch.

 

»Er begleitet Sir James«, erklärte er dann langsam. »Aber jetzt werde ich Sie in meinem Auto nach Hause schicken.«

 

*

 

Wenn Marjorie schon am Morgen nicht sehr mitteilsam gewesen war, so glich sie einer Sphinx, als sie spät abends nach Hause kam. Mrs. Stedman wollte natürlich zu gerne wissen, warum ihre Tochter so lange ausgeblieben war und was sie so ungewöhnlich erregt hatte. Aber nach einiger Zeit gab sie ihr Fragen verzweifelt auf.

 

Die geheimnisvollen Vorgänge auf Schloß Tynewood wurden noch rätselhafter für Marjorie, als sie am Montagmorgen wie gewöhnlich im Büro erschien und Mr. Vance traf. Er sah so aus, als ob er von all den Dingen, die am Sonnabend passiert waren, nichts wüßte. Nach ihren Erlebnissen in Tynewood erschien ihr die alltägliche Arbeit langweilig und uninteressant. Von ihrem Chef sah sie an diesem Tag wenig. Im allgemeinen klingelte er ihr, wenn er sie brauchte, da er nicht gern gestört wurde. Hatte sie eine Frage oder brauchte sie eine Auskunft von ihm, so mußte sie sich von ihrem Zimmer aus telefonisch mit ihm in Verbindung setzen.

 

Aber der Rechtsanwalt hatte die Angewohnheit, ab und zu mit der elektrischen Klingel zu spielen, wenn er in Gedanken war, und es kam fast jeden Tag vor, daß sie auf sein Zeichen hin in seinem Büro erschien, ohne daß er die Absicht gehabt hatte, sie zu rufen.

 

Spät am Montagnachmittag, als sie sich gerade zum Fortgehen fertigmachte, klingelte es in ihrem Zimmer. Sie legte den Mantel wieder ab, nahm Stenoblock und Bleistift und öffnete die Tür zu dem Arbeitszimmer ihres Chefs.

 

Dr. Fordham saß Mr. Vance am Schreibtisch gegenüber. Erschrocken blieb Marjorie stehen, denn sie erkannte sofort, daß der Rechtsanwalt sie nicht brauchte und wieder in einem Augenblick der Zerstreutheit auf den Knopf gedrückt hatte.

 

Die beiden Herren unterhielten sich lebhaft und kümmerten sich nicht um sie. Keiner sah sich nach der Tür um.

 

»Dann ist er also tatsächlich tot. Es tut mir wirklich leid um den armen Jungen!« sagte Mr. Vance gerade, als sich Marjorie lautlos entfernte.

 

»Ja, es ist sehr traurig«, entgegnete Fordham. »Aber ich dachte, ich hätte Ihnen am Telefon schon gesagt, daß nicht die geringste Hoffnung bestand, ihn zu retten.«

 

Schnell trat Marjorie in ihr Zimmer zurück und schloß die Tür leise hinter sich. Noch eine geraume Weile hielt sie die Klinke in der Hand, ohne sich dessen bewußt zu werden.

 

Sir James war also doch tot! Warum hatte Mr. Vance sie nur belogen? Und weshalb war dieser Mann wohl ermordet worden?

 

Kapitel 6

 

6

 

Bei einem Wasserloch am Rande der Wüste Kalahari saßen ein Fingomann und Jan, ein Halbblut. Sie sprachen eifrig miteinander über Alfred Stedman, der einige Schritte von ihnen entfernt im heißen Sonnenbrand lag. Seine Lippen waren blau, sein Atem ging schwer, und von Zeit zu Zeit röchelte er unheimlich. Er konnte das Wasserloch sehen, das ihn gerettet hätte, aber er besaß nicht mehr die Kraft, sich dorthin zu schleppen.

 

Seine beiden Diener unterhielten sich in Afrikaans, einer Abart des Holländischen, das in Südafrika von allen Leuten gesprochen und verstanden wird.

 

»Wenn die Sonne untergeht, wird der Baas wohl sterben«, meinte der Fingomann zufrieden. »Dann bringen wir seine merkwürdigen Instrumente zum Regierungsbeamten in Vrykloof, und das Geld behalten wir für uns. Die kleine Goldmine, die er gefunden hat, nehmen wir auch, und dann werden wir reiche Leute. Wenn ich genug Geld habe, gehe ich nach T’simo zurück und kaufe mir Rinder und Weiber.«

 

»Du bist verrückt«, entgegnete Jan. »Eingeborene dürfen doch in diesem Lande keine Goldminen besitzen. Aber wir wollen ihn ruhig liegen lassen, bis er stirbt, und dann nehmen wir sein Geld.«

 

Der alte Stedman konnte alles hören und verstehen. Wütend schaute er auf seine treulosen Diener.

 

»Ich bin durchaus nicht verrückt«, brauste der Fingomann auf. »Was bildest du dir denn eigentlich ein? Ich bin ein Christ und kann meinen Namen schreiben! Auch kenne ich einen armen weißen Mann in Mafeking, der die Konzession für mich erwerben kann. Er lebt mit einer Matabele-Frau zusammen, die ich sehr gut kannte.«

 

Ihre Unterhaltung wurde plötzlich unterbrochen, denn Pretoria-Smith erschien auf der Bildfläche. Auch sein Ziel war das Wasserloch, dessen Lage er genau kannte, da er schon früher durch dieses Gebiet gekommen war. Er war dunkelbraun gebrannt von der Tropensonne und hatte sich mindestens eine Woche lang nicht rasiert. Aber seine äußere Erscheinung war ihm gleichgültig, seitdem er vor sechs Monaten lebensmüde nach Südafrika zurückgekehrt war. Der Marsch über die einsamen Sanddünen hatte ihn müde gemacht, und er war sehr durstig geworden. Er warf das schwere Bündel ab, das er auf dem Rücken trug, aber die schwere Last, die er mit sich herumschleppte, wurde nicht leichter. In den Nächten konnte er nicht schlafen, denn böse Träume verscheuchten seine Ruhe. Immer sah er einen Toten vor sich auf dem Boden liegen, und er konnte die furchtbare Szene in Schloß Tynewood nicht vergessen.

 

In seinem breiten Ledergurt hingen zwei gefährliche Schnellfeuerpistolen. Die dunklen Metallteile glänzten in der Sonne.

 

Einen Augenblick betrachtete er die beiden Leute, die im Schatten eines Strauches saßen, und dann entdeckte er auch den sterbenden Weißen.

 

»Was fällt euch Halunken ein, daß ihr den Baas dort liegen laßt?« fragte er wild. »Ihr seht doch, daß er verdurstet!«

 

Seine Stimme klang heiser, denn er war zwanzig Kilometer weit durch den salzigen Sand gewandert, dessen Eintönigkeit nur ab und zu durch einen Busch unterbrochen wurde.

 

Jan war ein Halbblut und feige. Der Fingomann zeigte sich dem Weißen gegenüber unterwürfig und kriechend. Die beiden erkannten, daß es ihnen schlecht gehen würde, und gaben sich alle Mühe, das Schlimmste abzuwenden.

 

»Baas«, sagte der Eingeborene, »dieser Mann hat eine Mine gefunden, die so offen zutage liegt, daß man das Golderz mit einem Messer aus dem Geröll kratzen kann.«

 

Im nächsten Augenblick hob er entsetzt die Hände in die Höhe, denn Pretoria-Smith hielt ihm einen Revolver unter die Nase. Mit einem furchtbaren Aufschrei sprangen die beiden auf, trugen Mr. Stedman zum Wasser und legten ihn so ans Ufer, daß seine trockenen Lippen das ersehnte Naß erreichen konnten.

 

Es dauerte aber noch zwei Stunden, bevor sich Alfred Stedman wieder so weit erholt hatte, daß er sprechen konnte. Dann schimpfte er zehn Minuten lang über alle Buschleute, Kaffern, Neger und Halbblute, die sich in Südafrika herumtrieben.

 

Pretoria-Smith hatte inzwischen ein Feuer angezündet und schnitt mit einem Messer kleine Würfel getrockneten Büffelfleisches in seinen Kochtopf. Er lächelte stillvergnügt, als er den kräftigen Wutausbruch hörte.

 

Nach und nach beruhigte sich Mr. Stedman, kam zu Pretoria-Smith, setzte sich ans Feuer und legte die Hand auf das Knie des Mannes.

 

»Wenn Sie nicht gekommen wären, mein Junge, wäre ich jetzt tot, und ein anderer Prospektor hätte später die Goldmine gefunden. Sie sind doch nicht etwa auch auf der Suche nach Gold?« fragte er plötzlich argwöhnisch.

 

»Hierzulande tun wir das ja alle mehr oder weniger. Aber von Beruf aus bin ich kein Goldsucher. Darüber können Sie beruhigt sein.«

 

»Nein, Sie sind kein Goldsucher. Sie sind ein Gentleman. Aber trotzdem müssen Sie schon viele Jahre lang in dieser Gegend leben. Darauf gehe ich die größte Wette mit Ihnen ein.«

 

»Na, so ganz stimmt das nun doch nicht.« Pretoria-Smith öffnete eine Konservenbüchse mit Gemüse und schüttete den Inhalt ebenfalls in einen Kochtopf.

 

»Ich bin nur seit meinem achtzehnten Jahr häufig zur Jagd hierher gekommen.«

 

Pretoria-Smith war sonst nicht so mitteilsam, aber Alfred Stedman verstand es in seiner rauhen, aber herzlichen Art, ihn zum Sprechen zu bringen.

 

»Während des Krieges war ich in Deutsch-Südwest- und Deutsch-Ostafrika«, fuhr Smith fort. »Seit meiner Jugend bin ich nie länger als sechs Monate von hier fort gewesen.«

 

»Wohin wollen Sie denn jetzt gehen?« fragte Stedman und betrachtete ihn neugierig.

 

Smith zuckte die Schultern.

 

»Irgendwohin, um eine Abwechslung zu haben«, entgegnete er ausweichend.

 

Während der folgenden Mahlzeit schwieg der alte Mann nachdenklich. Er saß am Feuer, rauchte seine Pfeife und schaute in die tanzenden Flammen. Nach einiger Zeit klopfte er die Asche aus dem Pfeifenkopf und wandte sich an seinen Gefährten.

 

»Wollen Sie Ihr Glück machen?«

 

Pretoria-Smith schrak aus seinen düsteren Gedanken auf und sah Mr. Stedman scharf an.

 

»Wie meinen Sie denn das?«

 

»Nun, ich habe die Kalahari-Goldmine gefunden!«

 

»Donnerwetter!« sagte Pretoria-Smith jetzt interessiert. »Ich dachte immer, die gäbe es nur in den afrikanischen Legenden. Die Leute haben allerdings, solange ich denken kann, von einer reichen Goldmine in der Wüste Kalahari gefaselt. Aber bis jetzt hatte sie noch niemand entdeckt.«

 

»Mir ist es aber geglückt«, entgegnete Stedman triumphierend. »Was sagen Sie nun?«

 

»Wozu?«

 

»Ich mache Ihnen den Vorschlag, sich bei mir zu beteiligen. Ich brauche einen starken, jüngeren Mann, und ich bin Ihnen großen Dank schuldig.«

 

»Aber übertreiben Sie doch nicht! Es ist selbstverständlich, daß man einem Mann Wasser gibt, wenn er am Verdursten ist. Nein, ich will keinen Dank dafür, und nach einem großen Vermögen sehne ich mich auch nicht. Ich habe schon genug, um davon leben zu können.«

 

»Sie sind der erste Mensch, der mir erzählt, daß er kein Geld braucht!« Er lachte laut. »Nun, so leicht ist es bei mir auch nicht zu verdienen, sonst würde ich Ihnen nicht ohne weiteres einen Anteil anbieten. Ich kenne zwar die Lage der Mine, aber sie muß erst noch genau untersucht werden. Und das bedeutet mindestens ein Jahr harte Arbeit. Nachher muß ich das Kapital aufbringen, um sie in Gang zu setzen, und das ist auch nicht so einfach.«

 

Pretoria-Smith fuhr mit der Hand über seine Bartstoppeln.

 

»Die Arbeit interessiert mich allerdings mehr als der Reichtum und das Gold«, sagte er lächelnd.

 

Alfred Stedman betrachtete diese Worte als eine Annahme seines Angebots.

 

Er sprach dann noch über sein eigenes Leben und erzählte von den vielen Kämpfen und Widerwärtigkeiten, die er in Afrika hatte durchmachen müssen. Pretoria-Smith hörte ihm zu, aber er schwieg nun über sich selbst.

 

»Eins möchte ich Ihnen noch sagen«, erklärte Stedman. »Selbst wenn ich durch diese Mine reich werde, habe ich doch keine näheren Verwandten, denen ich mein Vermögen hinterlassen könnte. Da ist allerdings so ein junges Mädchen in England, die Tochter meines Bruders. Sie ist die einzige Verwandte, die ich auf der Welt habe. Sie heißt Minnie oder so ähnlich – nein, Margaret – warten Sie, das stimmt auch nicht.« Er suchte in seiner Brieftasche und nahm schließlich ein Blatt heraus. »Sehen Sie, Marjorie heißt sie«, sagte er, nachdem er eine etwas verbogene Brille aufgesetzt hatte. »Sie muß ein ganz liebes Mädchen sein. Schon als sie noch ein kleines Kind war, hat sie mir geschrieben.«

 

Pretoria-Smith hörte höflich zu und nickte. Er interessierte sich nicht besonders für die Verwandten Mr. Alfred Stedmans, aber zu dem alten, zähen Mann selbst fühlte er sich hingezogen.

 

»Sie hat eine gute Erziehung gehabt. Mein Bruder war früher auch auf der Universität, aber er hat später nicht viel mit seinem Wissen anfangen können und war immer in Schwierigkeiten. Er gab stets zehn Prozent mehr aus, als er verdiente. Haben Sie in England nicht schon einmal von den Stedmans gehört?«

 

»Nein, ich kann mich nicht entsinnen«, erwiderte Smith und lächelte wieder. »Aber es gibt natürlich viele Leute dort, die ich nicht kenne, und ich bin auch nur mit wenigen Menschen zusammengekommen.«

 

»Die Witwe meines Bruders unterhalte ich nun schon seit vielen Jahren«, erklärte Mr. Stedman selbstzufrieden. »Sogar als es mir schlecht ging, habe ich ihr jeden Monat ein paar Pfund geschickt, um sie über Wasser zu halten. In letzter Zeit war ich allerdings in der Lage, ihr mehr zu geben, und wenn wir erst die Mine in Gang haben, mein Junge –« Er richtete sich auf, und seine Augen glänzten, als er an den kommenden Erfolg dachte.

 

*

 

Mr. Stedman hatte die Schwierigkeiten und die harte Arbeit nicht übertrieben, die die Durchführung des Unternehmens erforderte. Sechs Monate lang arbeiteten die beiden angestrengt in der glühenden Sonne, gruben tiefe Einschnitte in den sandigen Boden und sammelten Erdproben, die sie dann über dreißig Kilometer weit zum nächsten Wasserloch bringen mußten, um dort das Gold auszuwaschen.

 

Pretoria-Smith erholte sich bei dieser Beschäftigung, denn die traurige Vergangenheit verblaßte allmählich.

 

Die Arbeiten gingen schließlich nach Wunsch; Lage und Ausdehnung der Mine wurden festgestellt, und Stedman erhielt die Konzession. Spezialingenieure und Experten kamen von Johannesburg, später auch Beamte des Bergbauamtes aus Kapstadt. Stedman zahlte die bedeutenden Stempelkosten und Konzessionsgelder, und zwölf Monate nach seiner ersten Begegnung mit Smith wurde unter schwierigen Umständen der erste Viertaktmotor in Gang gesetzt, und zwar an derselben Stelle, an der Pretoria-Smith ihn gerettet hatte.

 

Mit der Zeit hatte sich eine enge Freundschaft zwischen den beiden Männern entwickelt. Stedman hatte nichts über die Vergangenheit seines Partners erfahren, aber gerade die Schweigsamkeit und Zurückhaltung von Pretoria-Smith trugen viel dazu bei, die zwei noch fester miteinander zu verbinden.

 

Monate vergingen; die Anzahl der Maschinen wuchs, und bei der Mine entstand die kleine Ortschaft Stedmansville. Nach und nach wurde eine große Pumpstation errichtet, um das Wasser direkt zur Mine zu schaffen, und später überwachte Pretoria-Smith den Bau einer elektrischen Kraftstation. Der Erfolg nach der schweren Arbeit machte auch ihn stolz und glücklich.

 

*

 

Zwei Jahre waren ins Land gegangen, als Stedman seinem Teilhaber eines Tages eine Neuigkeit erzählte.

 

»Erinnerst du dich noch an meine Schwägerin?« Mr. Stedman hatte das Alter erreicht, in dem sich die Leute in ihren Gesprächen gern wiederholen, und Pretoria-Smith hatte daher keine Gelegenheit gehabt, Mrs. Stedman und ihre Tochter Marjorie zu vergessen. Sein Partner sprach von ihr immer als von »der Frau, die nicht wirtschaften konnte und zu nichts taugte«.

 

»Also, denke dir, sie hat einen Neffen, und den hat sie uns hierhergeschickt.«

 

»Großartig!« erwiderte Smith. »Woher kommt er denn?«

 

»Direkt aus England. Nächste Woche ist er schon hier. Meine Schwägerin hat geschrieben, daß er sich mit dem Mädchen verloben will, mit dieser Lily – Margaret –«

 

»Sie heißt Marjorie«, sagte Smith grinsend. »Du hast aber auch wirklich ein zu schlechtes Gedächtnis. Wie kommt das?«

 

»Meinst du? Na, ich wollte nur erzählen, daß meine Nichte und dieser junge Mann kolossal ineinander verschossen sind.«

 

»Stedman, Stedman, auf deine alten Tage wirst du noch vulgär. Warum sollen sich denn die beiden jungen Leute nicht gern haben? Das ist doch nun einmal das Vorrecht der Jugend. Wir beide sind schon viel zu bejahrt, um so etwas zu verstehen.«

 

»Hör mal, du bist doch nicht alt«, erwiderte Stedman vorwurfsvoll. »Du bist doch selbst erst noch ein junger Mann. Also, ich wollte nur sagen – der Junge heißt –«, er holte den Brief heraus und suchte darin nach dem Namen – »Lance Kelman«.

 

»Der Name klingt ja ganz gut«, meinte Smith und schlug seinem Partner leicht auf die Schulter. »Soll ich den jungen Herrn in unserem Familienford hierherbringen, oder kommt er zu Fuß?«

 

Stedman war eigentlich der Ansicht, daß man nach Kimberley fahren sollte, um den Besuch dort abzuholen. Aber dagegen verwahrte sich Pretoria-Smith entschieden, und er freute sich über seine Weigerung, als er Kelman zum erstenmal sah. Der junge Mann reiste mit sechs großen Koffern und sah sich verzweifelt auf dem einsamen Bahnhof um. Seine Kleider waren allerdings nach dem neuesten und besten Schnitt gefertigt, und er hatte sich für diese Afrikafahrt auch besonders ausgerüstet. Die bauschigen Breeches saßen vorzüglich, sein Seidenhemd war blendend weiß und sein Rock auf Taille gearbeitet.

 

Der einzige Zuschauer bei dieser glorreichen Ankunft war Pretoria-Smith, der auf dem langen Bahnhof stand und mit Staunen und Ehrfurcht beobachtete, wie sich Koffer auf Koffer türmte.

 

Lance Kelman bemerkte den großen Mann und winkte ihn zu sich.

 

»Sagen Sie mal, wie komme ich von hier aus zur Mine von Mr. Stedman? Ich bin nämlich sein Neffe.«

 

»Sie können mit einem einfachen, aber brauchbaren Auto hinkommen. Später schicke ich dann einen Ochsenwagen, der Ihr Gepäck holt.«

 

»Ach, Sie sollen mich wohl abholen?« erwiderte Mr. Lance Kelman gnädig und herablassend. »Dann sagen Sie doch den Kerlen auf dem Bahnhof hier, daß sie meine Koffer solange in Verwahrung nehmen sollen, bis Ihr Wagen kommt. Meine Handtasche muß ich allerdings mitnehmen.«

 

»Na, soviel Platz haben wir ja auch noch im Wagen«, entgegnete Smith belustigt, griff nach dem kleinen Koffer und führte Mr. Kelman zum Auto. »Das andere Zeug haben Sie wahrscheinlich am Abend auch schon.«

 

Mr. Kelman sah ihn von der Seite an, um zu erforschen, ob sich dieser große, breitschultrige Mann über ihn lustig machte.

 

»Ich bin der Neffe von Mr. Stedman«, erklärte er dann noch einmal nachdrücklich.

 

»Das haben Sie mir schon erzählt«, erwiderte Smith kühl. »Wollen Sie damit sagen, daß Sie lieber auf den Ochsenwagen warten wollen? Ich kann ja auch allein mit dem Auto vorausfahren.«

 

»Werden Sie nur nicht unverschämt, mein Freund«, rief Kelman aufgeregt.

 

Smith lachte.

 

Auf der Fahrt zur Mine schwieg Lance beleidigt. Er hielt es für unter seiner Würde, mit seinem Begleiter zu sprechen, und selbst als er später Pretoria-Smith in aller Form von Mr. Stedman vorgestellt wurde und bei der Gelegenheit erfuhr, daß er den Partner des alten Herrn vor sich habe, änderte er seine ablehnende Haltung nicht.

 

»Nun, was denkst du von dem jungen Mann, der sich mein Neffe nennt?« fragte Stedman, als Mr. Kelman in das kleine Wellblechhaus gebracht worden war, das ihm während seines Aufenthalts als Wohnung dienen sollte.

 

»Er sieht sehr gut aus«, sagte Pretoria-Smith vorsichtig. »Und er ist also mit deiner Nichte verlobt?«

 

»Na, verlobt sind sie ja gerade noch nicht«, entgegnete Stedman zögernd. »Magst du ihn eigentlich?«

 

»Ich kenne keinen Menschen, der mir unsympathischer wäre als dieser Geck!«

 

Kapitel 7

 

7

 

Von Mr. Kelmans dreimonatigem Aufenthalt auf der Mine ist nicht viel Rühmliches zu erzählen. Er sprach dauernd und manchmal etwas überflüssigerweise von der alten Heimat, von dem guten Leben dort, von den Vorteilen der Zivilisation und von dem geringen Komfort in dieser Wüstenei.

 

Die beiden hörten ihm meistens schweigend zu.

 

»Ich muß nächstens doch einmal nach England fahren«, meinte Smith eines Tages, als sie bei Tisch saßen. »Es scheint ein unheimlich interessantes Land zu sein. Habe schon viel davon gehört.«

 

»Sie würden sich dort allerdings wohl kaum zurechtfinden«, entgegnete Mr. Kelman gönnerhaft. »Aber wenn Sie mich vorher benachrichtigen, führe ich Sie herum und zeige Ihnen die wichtigsten Dinge.«

 

»Ach, kennen Sie England auch?« fragte Smith ironisch.

 

Mr. Lance Kelman wußte begreiflicherweise nicht, was er darauf antworten sollte.

 

Auch von Marjorie sprach er in einer etwas anmaßenden Art, so daß Pretoria-Smith ihn manchmal am liebsten beim Kragen gepackt und verprügelt hätte. Er nannte sie nur »Marje« oder »mein nettes, kleines Mädchen«.

 

Wenn Marjorie Stedman ihn gehört hätte, hätten ihr die Haare zu Berge gestanden.

 

Einen Monat nach seiner Ankunft machte er Andeutungen über den eigentlichen Zweck seiner Reise. Da er seiner Meinung nach mit Stedman eng verwandt war, glaubte er, Anspruch auf einen Teil seines Vermögens zu haben. Aber seine dahinzielenden Bemerkungen wurden von dem alten Herrn mit eisigem Schweigen aufgenommen. Mr. Kelman erklärte dann, daß er sogar damit zufrieden wäre, wenn man ihm eine gutbezahlte Anstellung bei der Company gäbe. Aber auch davon wollte Mr. Stedman nichts wissen.

 

Schließlich wurde Lance obendrein noch krank und behauptete, nur durch Genuß von Treibhausfrüchten wieder gesund werden zu können. Pretoria-Smith ging wenigstens hierauf ein und sorgte dafür, daß er genügend Bananen erhielt.

 

*

 

»Gott, sei Dank, daß er wieder abgedampft ist«, sagte der alte Stedman.

 

Pretoria-Smith kam eben mit dem Ford von dem Bahnhof zurück, wohin er Kelman mit seinen sechs Koffern gebracht hatte.

 

Er lachte laut und unbekümmert, aber Stedman fand nichts Vergnügliches an der Angelegenheit. Kelmans Besuch hatte ihm viel zu denken gegeben, und während der nächsten Monate blieb er schweigsam und in sich gekehrt.

 

An einem bitterkalten Tag im Mai – zu der Zeit ist es in jener Gegend Südafrikas Winter – saß Mr. Stedman in seinem einfachen Büro. Viele Pläne und Blaupausen hingen an den Wanden, andere lagen auf den Tischen umher oder waren in großen Mappen verwahrt. Er hatte die buschigen Augenbrauen zusammengezogen und strich dauernd mit seiner fleischigen Hand über das Kinn. Die äußere Veranlassung seiner offensichtlichen Verwirrung war der Brief, den er las.

 

Schließlich legte er ihn auf den Tisch und kratzte sich den Kopf.

 

Gerade in diesem Augenblick kam Pretoria-Smith herein. Er hatte eine schön polierte Buchsbaumpfeife im Mund und rauchte. Nur die Goldnadel in seinem Schlips verriet, daß es ihm gut ging.

 

»Hallo, Smith, komm herein!«

 

»Bin ja schon hier«, entgegnete der andere lakonisch.

 

Der alte Mann brummte.

 

»Setz dich mal zu mir an den Tisch. Ich habe einen Brief von meiner Nichte bekommen.«

 

»Ich glaube kaum, daß du anständige Verwandte hast, nachdem ich diesen Mr. Kelman genossen habe!«

 

»Sie ist die Tochter meines jüngeren Bruders«, erklärte Stedman zum soundsovielten Male, ohne sich um die Bemerkung zu kümmern. »Mein Bruder ist nun schon viele Jahre tot, und das ist wohl auch gut für ihn. Und Margaret – Marjorie hat mir schön als kleines Mädchen geschrieben. Marjorie ist eben Marjorie.«

 

»Das gebe ich allerdings zu«, sagte Pretoria-Smith geduldig. »Wolltest du sonst noch etwas erzählen?«

 

»Also, sieh mal, Smith, sie ist doch nun die einzige Verwandte, die ich auf der Welt habe.«

 

Stedman machte eine Pause und rieb sein Kinn.

 

»Du entsinnst dich doch noch an den Bengel, der voriges Jahr hierherkam?«

 

Smith nickte. Er war auf Lance Kelman noch immer schlecht zu sprechen, da ihn dessen anmaßendes Wesen besonders geärgert hatte.

 

»Na, was soll ich denn von dem eleganten Lance hören? Du bist wieder einmal sehr gesprächig – komm doch endlich zur Sache.«

 

»Ja, also das war Lance Kelman.«

 

Pretoria-Smith lachte resigniert, während er die Asche aus seiner Pfeife klopfte.

 

»Also, das war Lance Kelman«, wiederholte er. »Was ist denn nun mit ihm los?«

 

»Du weißt doch, daß sie ihn gern hat. Das habe ich allerdings nicht aus ihren Briefen erfahren – ihre verrückte Mutter hat mir das geschrieben. Und dabei gebe ich ihr doch jährlich zweitausend Pfund. Sie schreibt also etwas von einem tapferen Jungen … Lebensgefahr … grauenvolle Wanderung durch die Wüste … na, und noch mehr solchen Blödsinn.«

 

»So? Der Mensch kam doch im Bulawayo-Luxuszug! Er hat auf der Fahrt Stachelbeermarmelade zum Frühstück bekommen und wer weiß, was sonst noch. Dann habe ich ihn persönlich in unserem neuen Wagen von der Station abgeholt! Zu Bett habe ich ihn nicht gebracht, das muß ich zugeben. Aber es kommt ja auch nicht darauf an, er ist ja wieder glücklich zu Hause angekommen.«

 

Mr. Stedman hatte eine glänzende Idee. Pretoria-Smith erkannte das bereits an den äußeren Symptomen.

 

»Smith«, sagte der alte Mann plötzlich, »sieh mal, wir beide sind doch eigentlich recht gute Kameraden und Freunde. Ich hab‘ dir immer noch nicht vergessen, daß du mich damals an dem Wasserloch gerettet hast.«

 

»Ach, rede doch nicht immer wieder davon. Ich wäre doch einfach ein Mörder gewesen, wenn ich das nicht getan hätte.«

 

»Nun schimpfe einmal nicht, Smith. Wir sind auf jeden Fall gute Freunde geworden«, wiederholte Stedman.

 

Sein Partner nahm diese fundamentale Tatsache als schweigende Voraussetzung für das Kommende.

 

»Du bist reich, und ich bin reich. Ich habe noch einen Winter hier zu leben, vielleicht auch noch zwei, wenn mich der Doktor in Kimberley nicht angelogen hat. Und das hatte der Mann ja schließlich nicht nötig, nachdem ich ihn so glänzend für seine Reise hierher bezahlt habe. Du kannst dir wohl denken, daß ich mir nun den Kopf zerbreche, was aus der Mine und meinem Vermögen werden soll, wenn ich einmal sterbe.«

 

»Du bist ein verrückter, alter Teufel«, erklärte Smith und klopfte ihm vertraulich auf die Schulter. »Erst solltest du dich doch mal darum kümmern, was aus dir selbst wird, ehe du stirbst. Außerdem stirbt es sich überhaupt nicht so schnell. Wir wollen uns in zehn Jahren einmal wieder über den Fall unterhalten.«

 

»Na, darüber brauchen wir uns ja nicht zu streiten. Irgendwie, irgendwo, irgendwann werde ich schon abkratzen. Nein, es ist mein Vermögen, das mir Sorge macht. Ich könnte es ja einfach dir überlassen oder dem Hospital in Kimberley. Aber das möchte ich nicht. Du hast selbst über sechshunderttausend Pfund. Nun komme ich auf einen wichtigen Punkt zu sprechen. Bist du eigentlich verheiratet?«

 

Eine solche Frage hatte er früher noch nie an Pretoria-Smith gerichtet, und er machte ein ängstliches Gesicht, als er sah, daß sein Partner die Stirn runzelte.

 

»Nein. Frauen interessieren mich nicht, und ich habe sie auch schon früher nicht leiden können. Ich wollte dir eigentlich auch schon lange sagen, daß ich nicht Smith heiße.«

 

»Der Name ist allerdings so außergewöhnlich, daß ich mir das selbst an meinen zehn Fingern abzählen konnte. Du hast dich wohl einmal eine Zeitlang in Pretoria aufgehalten?«

 

Smith nickte.

 

»Was wolltest du mir denn nun vorschlagen?«

 

Mr. Stedman steckte umständlich ein Stück Kaugummi in den Mund und starrte dann wie versteinert zum Fenster hinaus.

 

»Geh nach England und heirate Marjorie!« sagte er schließlich.

 

Eine Weile herrschte Totenstille in dem Raum.

 

»Was denkst du dir denn eigentlich, du alte Strandhaubitze?« erwiderte Smith dann verblüfft. »Willst du ein Heiratsbüro aufmachen? Und was soll denn aus unserem guten Lance Kelman werden? Soll ich den etwa als Nebenbuhler vergiften oder im Zweikampf erdolchen?«

 

»Ach, von dem Bengel brauchen wir doch überhaupt keinen Ton mehr zu reden«, rief der alte Stedman ärgerlich.

 

Smith lachte.

 

»Und dann müßte doch vor allem noch etwas anderes überlegt werden.« Pretoria-Smith war merkwürdigerweise nicht abgeneigt, die Sache zu besprechen, da dieses Thema den Reiz der Neuheit für ihn bot. »Glaubst du denn, daß deine Nichte Marjorie so ohne weiteres einverstanden ist, wenn ich nach England komme und ihr sage: ›Onkel Alfred hat befohlen, daß wir beide heiraten sollen‹?«

 

Mr. Stedman schenkte sich erst einen Brandy ein, bevor er antwortete.

 

»Ach, Marjorie wird schon vernünftig sein. Um die brauchen wir uns weiter nicht zu sorgen. Die tut alles, wenn sie weiß, daß sie mir damit eine Freude macht. Ich werde ihr heute noch einen langen Brief schreiben.«

 

Pretoria-Smith hatte sich auf den hohen Drehstuhl gesetzt, auf dem sonst der technische Zeichner saß, und schaute düster auf den alten Mann hinunter.

 

»Ich fürchtete schon, sie würde mich wegen meines hübschen Aussehens, meiner blendenden Jugend und anderer angenehmer Eigenschaften wählen.«

 

»Du siehst doch wirklich ganz gut aus«, protestierte Stedman.

 

»Ich bin aber entschieden zu alt, um dich Onkel nennen zu können«, erklärte Smith entschieden.

 

»Du bist doch noch nicht über dreißig – wenigstens nicht viel. Mach du mir doch keine Schwierigkeiten, Smith. Ich dachte immer, mit dir könnte man ein vernünftiges Wort reden. Auf jeden Fall wollte ich dir sagen, daß es mein Wunsch ist. Das ist alles. Ich habe das Gefühl, daß ich dafür mein ganzes Leben lang gearbeitet habe. Und es gibt einem doch schließlich eine kolossale Genugtuung, wenn man weiß, daß die Lebensarbeit auch einen Zweck gehabt hat. Wenn ich so sterben müßte, wie ich jetzt bin, käme ich mir vor wie ein Halbkreis, dessen eines Ende nicht wieder zum Anfang zurückgefunden hat.«

 

»Aber nun einmal allen Scherz beiseite. Jetzt ist es genug mit den dummen Witzen. Es ist doch nicht tatsächlich dein Ernst? Das Mädchen lacht mich doch aus, wenn ich ihr einen solchen Unsinn erzähle. Und mir ist es wirklich ziemlich egal, ob ich mich verheirate oder nicht. Ich würde ihr die Verwaltung der Farm und der Felder überlassen und sie weiter nicht stören.«

 

»So war die Sache allerdings nicht gemeint, mein Junge.« Mr. Stedman zog die buschigen Augenbrauen in die Höhe und sah Pretoria-Smith durchdringend an. »Damit ist es nicht getan, daß du dich mit Marjorie trauen läßt. Du sollst meine Familie weiterführen. Marjorie muß Kinder haben.«

 

»Mein lieber Stedman, du bist mir denn doch zu gründlich und energisch. Wir wollen jetzt einmal über Schacht Nummer drei sprechen. Da haben wir einen Erdrutsch gehabt, und ich wollte dir eigentlich vorschlagen –«

 

»Ach, laß doch den verdammten Schacht Nummer drei! Und ebenso Nummer eins, zwei, vier und fünf. Du hast mir noch nicht auf meine Frage geantwortet. Willst du nach England fahren, Marjorie aufsuchen und sie fragen, ob sie deine Frau werden will? Wenn sie nein sagt, dann ist es ja gut, dann hast du wenigstens getan, was du tun konntest. Aber ich kann es wirklich nicht mitansehen, daß sie so einen geschniegelten Modeaffen wie diesen Kelman heiratet!«

 

Smith stopfte seine Pfeife und steckte sie umständlich in Brand.

 

»Schön, ich werde deinen Wunsch erfüllen«, erklärte er resigniert. »Aber mir wäre es lieber gewesen, wenn du dein Geld einem Waisenhaus überlassen hättest.«

 

»Bedenke doch, daß du sie vor diesem Lance Kelman rettest. Das ist wirklich eine gute Tat.«

 

»Das ist allerdings beinahe die Reise wert. Außerdem könnte es ja auch sein, daß ich Lance Kelman vor ihr rette.«

 

»Aber erlaube mal, Marjorie ist meine Nichte!« rief Stedman aufgebracht.

 

»Gerade deshalb kam ich ja auf den Gedanken.«

 

Pretoria-Smith erhob sich und ging zur Tür.

 

»Aber sag mal, wo wohnt denn eigentlich deine unvergleichbare Nichte?«

 

»In Tynewood.«

 

»Um Himmels willen!« Pretoria-Smith nahm die Pfeife aus dem Mund und setzte sich in den nächsten Stuhl. Sein Gesicht wurde fahl.

 

Stedman sah ihn betroffen an, denn er wußte nicht, wie er sich das veränderte Verhalten seines Partners erklären sollte.

 

»Das nützt dir jetzt alles nichts mehr – und wenn du ohnmächtig hinfällst! Du hast dein Wort gegeben.«

 

Smith nickte langsam.

 

Schließlich kannte man ihn ja in Tynewood nicht als Pretoria-Smith. Dieser Gedanke beruhigte ihn ein wenig.

 

Kapitel 30

 

30

 

In der Nacht schlief Marjorie sehr schlecht. Vielleicht quälte sie der Gedanke an ihren Mann und seine baldige Abreise.

 

Sie würde dann auch eine Lady Tynewood sein, eine Frau ohne Mann. Noch vor einer Woche hätte sie dieser Gedanke glücklich und zufrieden gemacht, aber heute sah sie nur die Nachteile ihrer Lage und war sehr bedrückt.

 

Sie schaltete das Licht wieder ein und versuchte zu lesen. Aber immer wieder kehrten ihre Gedanken zu ihren eigenen Sorgen und Nöten zurück. Sollte sie hier immer mit ihrer Mutter weiterleben und nur dem Namen nach mit einem Mann verheiratet sein, der sie nicht zu sehen wünschte?

 

Auch diese Aussichten erschienen ihr nicht mehr so angenehm wie noch vor zwei Wochen. Sie hatte ihm vorschlagen wollen, ihn nach Südafrika zu begleiten, und sich eingeredet, daß ihr die Reise gut bekommen würde. Außerdem hatte sie auch den Wunsch, fremde Länder kennenzulernen. Sie konnte ja in Kapstadt oder auch in Kimberley bleiben, und sie brauchten nicht viel voneinander zu sehen. Natürlich wollte sie auch Onkel Stedman besuchen, der sie zu dieser merkwürdigen Heirat gezwungen hatte.

 

Marjorie war ganz tief in Gedanken, als sie plötzlich ein Geräusch im Gang hörte, und ging zur Tür. Sie sah noch gerade, wie Pretoria-Smith in seinem Zimmer verschwand.

 

Erstaunt sah sie zu seiner Tür hinüber, die am anderen Ende des Korridors lag. Vielleicht konnte er auch nicht schlafen? Sie ging leise den Gang entlang und klopfte an seiner Tür.

 

»Wer ist da?« hörte sie seine Stimme.

 

»Marjorie«, entgegnete sie schnell. Sie glaubte ein »Verflucht!« zu hören, aber sie hoffte, daß sie sich getäuscht hatte.

 

»Oh! Was treibst du denn noch zu so früher Morgenstunde?«

 

Sie blickte ihn voll Interesse an. »Sonderbare Frage!« erwiderte sie lachend. »Bist du spazierengegangen?«

 

»Ja, ich war noch ein wenig draußen.«

 

Sein Regenmantel lag auf dem Bett.

 

»Ich hoffe, daß du schlafen kannst«, sagte sie etwas verlegen.

 

»Es sieht nicht so aus. Glaubst du, daß wir deine Mutter stören, wenn wir uns bei dir ein wenig unterhalten?«

 

»Nein.« Sie freute sich über das Zutrauen, das er zu ihr hatte. »Wir stören sie sicher nicht. Sie hat einen sehr gesunden Schlaf.«

 

Er ging den Korridor entlang und wunderte sich, daß sie so schnell vorauseilte. Als er in ihr Zimmer trat, sah er, daß sie die Bettdecke glattstrich.

 

Er schloß die Tür, setzte sich, stand aber sofort wieder auf, weil er ein unangenehmes Gefühl hatte, und steckte die Hand in die Hüfttasche. Zu Marjories Verwunderung zog er einen Revolver heraus und legte ihn neben den Stuhl auf den Teppich.

 

»Du brauchst keine Angst zu haben, er ist nicht geladen. In diesem Land trage ich niemals Patronen in der Schußwaffe. Hier leben nämlich so viele Leute, denen ich gern das Lebenslicht ausblasen möchte, daß ich dauernd in Versuchung käme, es wirklich zu tun.«

 

»Aber warum trägst du dann überhaupt eine Waffe bei dir? Hast du etwa einen Einbruch begangen?« scherzte sie.

 

Als er nickte, sah sie ihn verblüfft an.

 

»Ja, ich habe mich eben als Amateureinbrecher betätigt«, sagte er ruhig. »Das ist heute nacht schon das zweite Schlafzimmer einer Dame, das ich betrete.«

 

»Ist das dein Ernst?« fragte sie verwundert.

 

»Ich habe Lady Tynewood besucht. Ein offenes Geständnis erleichtert das Gewissen. Außerdem kann eine Frau vor Gericht nicht als Zeugin gegen ihren Mann aussagen.«

 

»Ist das wirklich wahr, was du eben sagtest?«

 

»Ich lüge niemals, besonders nicht um drei Uhr morgens. Um diese Zeit ist man gewöhnlich sehr korrekt.« Er machte eine Pause. »An einem der nächsten Tage werde ich dir auch erzählen, warum ich hingegangen bin. Der Besuch hat sich gelohnt. Ich habe heute nacht über manches nachgedacht, und auf dem Heimweg ist es mir schwer auf die Seele gefallen, daß ich dir einen sehr schlechten Dienst erwiesen habe, Marjorie.«

 

»Wieso?«

 

»Durch diese Heirat. Selbst um dem alten Stedman einen Wunsch zu erfüllen, hätte ich es nicht tun dürfen. Es muß doch schrecklich für dich sein.«

 

»Und für dich nicht?«

 

»Für mich macht es keinen großen Unterschied. Nur schleppe ich die unangenehme Gewißheit herum, daß ich dir wahrscheinlich dein Leben verdorben habe.«

 

»Darüber brauchst du dir nicht den Kopf zu zerbrechen«, erwiderte sie mit einer Gelassenheit, die in größtem Widerspruch zu ihrer eigentlichen Stimmung stand. »Es hat allerdings manche Unannehmlichkeiten mit sich gebracht, aber es macht auch für mich keinen großen Unterschied. Sicher hätte ich in aller Ruhe in Tynewood weitergelebt, bis ich eine alte Jungfer geworden wäre. Und zu Weihnachten hätte ich gestrickte Röcke und Westen an die Armen verteilt.«

 

»Das glaube ich nicht! Natürlich wärst du gut und liebevoll zu armen Leuten gewesen, aber eine alte Jungfer wärst du unter keinen Umständen geworden. Aber Marjorie, mache dir keine Sorgen über deine unglückliche Lage, denn vielleicht – vielleicht kommt es nicht zu einer Scheidung.«

 

»Wie meinst du das?« fragte sie und sah ihn gespannt an.

 

»Wenn ich nach Afrika zurückkehre, werde ich mich mit Stedman aussprechen und dann in das Massai-Land ziehen, vielleicht auch in das Barotse-Land am belgischen Kongo. Ich habe mir schon immer gewünscht, einmal Okapi zu jagen. Ich will nicht mit voller Absicht Selbstmord begehen«, sagte er mit einem leichten Lächeln, »aber das sind merkwürdige Gebiete, die selbst für erfahrene Reisende große Gefahren bergen.«

 

»Dann darfst du nicht dorthin gehen«, sagte sie impulsiv. »Noch einen Augenblick. Das klingt so, als ob ich den Versuch machen wollte, deine Sympathie auf diese Weise zu erringen, aber das stimmt nicht«, sagte er jetzt ernster. »Mit neunzig. Prozent Wahrscheinlichkeit gehöre ich zu den fünfundsiebzig Prozent, denen weiter nichts passiert, als daß die Sonne ihnen die Nase braunbrennt. Ich kenne dich und weiß, daß du meinen Tod nicht wünschst, selbst wenn du dadurch deine Freiheit wiedergewinnen könntest. Aber es ist immer, die Möglichkeit vorhanden, und Leute wie ich werden nicht alt.«

 

»Nun, eine ähnliche Chance hast du auch«, entgegnete sie.

 

»Wie meinst du denn das?«

 

»Ich habe ein schwaches Herz und eine angegriffene Lunge.«

 

»Stimmt das?« fragte er aufgeregt. »Aber mein liebes Kind, dann solltest du doch morgen sofort mit mir nach London gehen und einen Spezialisten aufsuchen. Ich kenne einen erstklassigen Arzt, dem du dich anvertrauen kannst …«

 

Er hielt plötzlich an, weil sie ihn auslachte, bis ihr die Tränen in die Augen kamen.

 

»Du läßt dir aber auch wirklich alles weismachen. Meinetwegen kannst du ganz unbesorgt sein. Ich bin die gesündeste Frau, die du dir denken kannst, und ich bin davon überzeugt, daß du meinen Tod nicht wünschst, und mit neunzig Prozent Wahrscheinlichkeit –«

 

Er neigte sich zu ihr und faßte sie am Ohrläppchen.

 

»Du kleiner Teufel!« Weiter sagte er nichts, steckte seinen Revolver wieder ein und ging in sein Zimmer zurück.

 

Ein wenig traurig blieb Marjorie zurück.

 

Kapitel 31

 

31

 

»Sie kennen ja Lady Tynewood«, sagte Mrs. Stedman.

 

Diesmal gab Pretoria-Smith der Dame die Hand.

 

»Ja, ich kenne sie, und ich fürchte, daß ich das letztemal etwas unhöflich zu ihr war. Hoffentlich hat sie es mir inzwischen verziehen.«

 

Alma lächelte. »Ich habe gehört, daß Sie einen schweren Malariaanfall hatten, Mr. Smith. Das entschuldigt alles.«

 

»Ja, es hatte mich ziemlich gepackt.«

 

Mrs. Stedman konnte es kaum erwarten, ihre Neuigkeit anzubringen, und ließ Alma deshalb gar nicht zu Wort kommen.

 

»Wissen Sie schon, daß Lady Tynewood vorige Nacht einen Einbrecher im Hause hatte?«

 

»Einen Einbrecher?« fragte er. »Das klingt ja interessant! Haben Sie ihn auch gleich über den Haufen geschossen?«

 

»Unglücklicherweise ist er entkommen. Mein Sekretär, Mr. Javot, hat ihn verfolgt.«

 

»Sicher hat er ihm einen Denkzettel gegeben. Das ist fein.«

 

»Nein, das ist ihm nicht gelungen«, erwiderte Alma gereizt. »Im Dunkeln hat sich der Mensch davonmachen können.«

 

»Vermissen Sie etwas?« fragte er.

 

»Nicht das mindeste. Wir haben ihn bei der Arbeit gestört.«

 

»Wie sah er denn aus?«

 

»Recht gewöhnlich und roh«, entgegnete sie und zuckte die Schultern. »Sein Gesicht konnte ich allerdings nicht sehen, weil er ein Taschentuch um die untere Hälfte gebunden hatte. Aber seine Stimme würde ich auf jeden Fall wiedererkennen.«

 

Bei den letzten Worten sah sie ihn scharf an.

 

»Nun, das ist wenigstens etwas. Was hätte er denn Ihrer Meinung nach stehlen wollen – etwa Ihren Schmuck?«

 

Darüber war sie sich selbst nicht klar. Sie hatte nur den Verdacht, daß Pretoria-Smith der Einbrecher war. Über diese Möglichkeit hatte sie den ganzen Morgen mit Mr. Javot gesprochen, aber der wollte nichts davon hören.

 

»Es mag ein Mann gewesen sein«, sagte sie mit Nachdruck, »gegen den ich Material sammle. Vielleicht vermutete er das und wollte meine Beweisstücke stehlen.«

 

»In diesem Fall hätte er doch bei der Polizeistation oder in Scotland Yard oder in der Kirche von St. Giles in Camberwell einbrechen sollen«, warf er leicht hin.

 

Lady Tynewood verfärbte sich. Sie antwortete ihm nicht und wandte sich an Mrs. Stedman. »Ich gehe jetzt zur Post. Diese Sendung muß ich nämlich eingeschrieben aufgeben.«

 

Sie hatte ein kleines Päckchen in der Hand.

 

»Ach, ist etwa die Fotografie darin, von der Sie mir schon erzählten?« fragte Mrs. Stedman.

 

»Ja, es ist das Bild«, bestätigte Alma. »Es wird mir endlich die Stellung verschaffen, die mir gebührt.«

 

»Das klingt ja ganz romantisch«, meinte Smith. »Ist es das Bild eines Freundes, Lady Tynewood?«

 

»Es ist das Bild meines Mannes!«

 

Pretoria-Smith runzelte die Stirn und machte ein ungläubiges Gesicht. Das genügte, um sie zum Äußersten zu reizen.

 

Sie riß die Schnur von dem Päckchen ab, entfernte die Siegel und wickelte die Fotografie aus dem Papier. »Kennen Sie den Mann?« fragte sie herausfordernd und hielt ihm das Bild hin.

 

Er betrachtete es, nahm es ihr dann plötzlich aus der Hand, und ehe sie wußte, was geschah, zerriß er es in kleine Stücke. Mit einem Wutschrei sprang sie auf ihn zu, aber sein starker Arm hielt sie zurück. Er wandte sich um und warf die einzelnen Stücke ins Kaminfeuer. »Ich kenne ihn sehr gut«, sagte er ruhig. »Aber er ist nicht Ihr Mann, Lady Tynewood!«

 

Marjorie hatte die Szene verstört beobachtet. Sie konnte sich weder sein kühnes Handeln noch Almas Wut erklären. Ihre Mutter war in heller Verzweiflung, aber Pretoria-Smith lächelte nur kalt.

 

Lady Tynewood trat einen Schritt zurück.

 

»Das soll Ihnen noch teuer zu stehen kommen!« sagte sie.

 

»Es hat mich schon viel mehr Mühe und Ärger gekostet als Sie, obgleich Sie eine harte Strafe verdienten«, erwiderte er ernst.

 

Der nächste Augenblick brachte eine dramatische Unterbrechung. Die Tür wurde aufgerissen, und Lance Kelman trat herein.

 

Marjorie hatte ihn seit ihrer Trauung nicht wiedergesehen und erschrak über die Veränderung, die mit ihm vorgegangen war. Seine Gesichtszüge hatten einen gewöhnlichen, fast rohen Ausdruck bekommen.

 

»Alma, ich hörte, daß Sie hier wären –«, begann er, vollendete aber den Satz nicht, als er sie näher ansah. »Was ist denn geschehen? Sie haben doch das Bild Ihres Mannes?«

 

Sie antwortete nicht, und sein Blick fiel nun auf Pretoria-Smith. »Und ich habe Sie jetzt!« rief er frohlockend. »Sie sind Norman Garrick, der Halbbruder von Sir James Tynewood, den Sie vor vier Jahren ermordet haben!«

 

Kapitel 32

 

32

 

Pretoria-Smith brach schließlich das lange, peinliche Schweigen, das diesen Worten folgte.

 

»Nachdem Sie nun Ihre kleine Rolle hergesagt und die nötige Sensation hervorgerufen haben, können Sie machen, daß Sie wieder verschwinden, sonst packe ich Sie am Kragen und werfe Sie hinaus! Und Sie können mit ihm gehen«, wandte er sich an Lady Tynewood.

 

Sie zitterte vor Wut.

 

»Er ist tot – das ist wahr!« stieß sie hervor und legte die Hand auf Kelmans Arm. »Kommen Sie.«

 

Die beiden entfernten sich zusammen.

 

Pretoria-Smith trat ans Fenster und sah ihnen nach, bis sie durch das Gartentor verschwanden, dann drehte er sich lachend um. »Nun, Mrs. Stedman, was sagen Sie zu alledem?«

 

Die alte Dame wußte nicht mehr, was sie denken sollte.

 

Es ist ganz schrecklich«, erwiderte sie nur.

 

»Ja, entsetzlich!« pflichtete er ihr bei.

 

Sie sah ihn pikiert an.

 

»So etwas ist noch nie in unserer Familie passiert!«

 

»Das ist wirklich schade. In unserer Familie sind viel schlimmere Dinge vorgekommen. Zwei meiner Vorfahren wurden gehenkt, und einem wurde der Kopf mit dem Schwert abgeschlagen. Sie können also ruhig sagen, daß es in der Familie liegt.«

 

»Schrecklich, schrecklich!« jammerte Mrs. Stedman wieder und schüttelte den Kopf. »Das kommt nun in alle Zeitungen!«

 

»Das ist weiter nicht schlimm. Wenn es nur nicht in die Magazine und Zeitschriften kommt. Aber im Ernst, Mrs. Stedman, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Es ist wirklich nichts passiert, was Ihnen Grund dazu gäbe.«

 

»Ich bin mit Lady Tynewood eng befreundet«, erklärte sie aufgebracht. »Und es ist mir furchtbar peinlich –«

 

»Regen Sie sich deshalb nicht auf. Sie sollen Ihr ganzes Leben lang eine enge Freundin von Lady Tynewood bleiben«, erwiderte Smith vergnügt. »Grämen Sie sich bitte deshalb nicht.«

 

Aber die alte Dame wollte nicht so leicht auf ihre böse Stimmung verzichten und ging auf ihr Zimmer.

 

»Was bedeutet das denn alles? Bist du wirklich Norman Garrick?« fragte Marjorie leise.

 

»Nein. Aber es gibt manchmal Augenblicke«, entgegnete er mit einem seltsamen Lächeln, »in denen ich wirklich nicht mehr weiß, wer oder wo ich bin.« Er holte tief Atem. »Ich glaube, es ist gut, wenn ich so bald wie möglich nach Südafrika fahre.«

 

*

 

Merkwürdigerweise sprachen Alma Tynewood und Lance Kelman im gleichen Augenblick auch über die Abreise von Pretoria-Smith. Javot nahm widerwillig an dieser Beratung teil.

 

»Sie müssen den Haftbefehl beantragen, bevor sich der Mensch aus dem Staube macht«, sagte Lance. »Ich kenne diese Art Leute. Ich habe ihn durch meine Worte gewarnt, und er wird auch prompt darauf reagieren. Die nächste Nachricht von ihm lautet sicher, daß er geflohen ist.«

 

»Einen Augenblick«, erwiderte Javot. »Wir wollen doch erst einmal Klarheit schaffen. Sie behaupten, daß er Norman Garrick, der Halbbruder von Sir James, ist. Wie haben Sie denn das eigentlich herausgebracht?«

 

»Das war allerdings sehr schwer«, sagte Lance Kelman und streifte Lady Tynewood mit einem zärtlichen Blick. Aber sie war jetzt nicht in der Stimmung, mit ihm zu flirten. »Wenn Sie so wollen, war es direkt eine Inspiration, zu der mich diese Dame hier veranlaßte. Ich wurde durch sie gewissermaßen zu meinen Erfolgen angespornt. Die Überzeugung, daß meine Bemühungen dazu beitrugen, sie in den Augen der Welt wieder zu rehabilitieren, trieb mich an, Tag und Nacht zu arbeiten –«

 

»Also, schwätzen Sie keinen Kohl«, entgegnete Javot kühl. »Sagen Sie uns lieber, was Sie eigentlich herausgebracht haben.«

 

Mr. Kelman sah ihn betroffen an und schluckte ein paarmal.

 

»Ich habe Doktor Fordhams Reisen nachgeforscht« fuhr er dann etwas kleinlaut fort. »Er kam in derselben Woche in England an, in der Sie Sir James heirateten«, wandte er sich an Alma. »Ich konnte allerdings die Passagierliste nicht mehr einsehen. Aber er kam mit einem anderen Herrn an, der ein paar Tage später mit einem anderen Schiff nach Übersee ging. Die Nacht vor seiner Abreise logierte dieser Herr im Grand Western Hotel in Southampton, weil die Abfahrt des Schiffes um einen Tag verschoben wurde. Er war allein und schrieb sich als Norman Garrick in das Fremdenregister ein. Ich habe die Eintragung selbst gelesen.«

 

»Das war also zwei Tage nach meiner Hochzeit?«

 

»Schwören kann ich allerdings nicht auf das Datum, aber auf einen oder zwei Tage kommt es doch wirklich nicht an. Auf jeden Fall wohnte er als Mr. Norman Garrick in dem Hotel und mietete einen Wagen, in dem er an demselben Abend nach Schloß Tynewood fuhr. Das konnte ich noch in der Garage feststellen. Soviel wußte ich, als ich heute zurückkam, und dann habe ich noch die frühere Haushälterin Doktor Fordhams aufgesucht. Wie Sie wissen, kam ich zuerst hierher, und Sie erzählten mir, daß Lady Tynewood schon bei der Frau war.«

 

Javot nickte.

 

»Ich stellte meine Nachforschungen bei ihr allerdings ganz anders an als Sie, Alma«, sagte Lance jetzt in herablassendem Ton. »Ich fragte nicht nach Dokumenten, sondern ging direkt auf mein Ziel los und erkundigte mich, ob sie sich auf etwas Wichtiges besinnen könnte, das vor vier Jahren passierte. Und da erzählte sie mir –«, er machte eine Pause, um seinen Worten mehr Ausdruck zu geben, »daß auf dem Schloß ein Herr erschossen worden sei!«

 

»Woher wußte sie denn das?« fragte Alma schnell.

 

»Sie erinnerte sich, daß der Doktor Verbandstoffe und Medikamente aus seinem Hause holte. In der ersten Aufregung erzählte er ihr, daß jemand erschossen worden sei. Als er dann aber später heimkam und sie ihn nochmals nach dem Unglücksfall fragte, sagte er, daß er sich versprochen hätte. Der betreffende Herr wäre unerwartet gestorben. Es handelte sich um den Bruder von Sir James. Und dabei hatte sie keine Ahnung, daß der Mann überhaupt krank gewesen war. Damals war nur der alte Pförtner im Schloß, denn Sir James kam nur selten nach Tynewood.«

 

»Das klingt ja alles ganz gut«, erwiderte Mr. Javot nachdenklich. »Aber was haben Sie denn vorhin für einen Unsinn gefaselt von einem Haftbefehl gegen Garrick?«

 

»Nun, es ist doch ganz klar«, sagte Kelman unangenehm berührt. »Wenn Sie Ihre Angaben bei der Polizei machen, wird der Haftbefehl sicher morgen früh ausgestellt.«

 

»Die ganze Sache ist Quatsch«, erklärte Javot. »In diesem Fall wird kein Haftbefehl ausgestellt, glauben Sie mir. Was sagte doch Pretoria-Smith über die Kirche St. Giles in Camberwell?«

 

Lady Tynewood wiederholte die Worte, und Javot nickte.

 

»Ich würde dir den Rat geben, einmal hinaufzugehen und in deinem Schmuckkasten nachzusehen«, sagte er ernst. »Vielleicht fehlt doch etwas.«

 

Sie ging nach oben und kam nach wenigen Minuten bestürzt zurück.

 

»Es ist also tatsächlich fort!« sagte Javot böse, als er einen Blick auf ihr Gesicht geworfen hatte. »Na, dann bist du ja in einer ebenso schlimmen Lage wie Pretoria-Smith. Und wenn ich ehrlich sein soll, würde ich bei einer Wette eher auf ihn als auf dich setzen. Mir dämmert allmählich der wahre Sachverhalt.«

 

Er sah zu Lance hinüber, der verständnislos zugehört hatte.

 

»Vielleicht kommen Sie heute abend wieder, Mr. Kelman. Ich muß jetzt verschiedene Privatangelegenheiten mit Lady Tynewood besprechen.«

 

»Wenn ich im Wege bin, gehe ich natürlich«, erwiderte Lance.

 

»Ja, Sie sind ein wenig im Wege«, sagte Javot gelassen. »Vergessen Sie nicht, wir speisen um halb acht.«

 

Der junge Mann wartete darauf, daß Lady Tynewood ihn zum Bleiben aufforderte, aber als sie sich nicht rührte, ging er und fühlte sich ausgenützt und betrogen.

 

»Nun wollen wir einmal vernünftig miteinander reden und uns keine Illusionen machen«, begann Javot, als Kelman verschwunden war. »Wir müssen der Wahrheit ins Auge sehen.«

 

»Was meinst du denn?« fragte sie, aber sie wußte sehr gut, was er wollte.

 

»Pretoria-Smith hat deinen Trauschein. Unglücklicherweise ist es nicht das Dokument, das deine Verheiratung mit Sir James Tynewood bestätigt. Das wäre auch nicht schlimm, denn für ein paar Shilling kann man sich eine Kopie davon machen lassen. Er hat die Urkunde, in der die Trauung von Augustus Javot und Alma Trebizond Johnson in der Kirche St. Giles in Camberwell bescheinigt wird. Der Teufel mag wissen, wo du den Namen Trebizond aufgelesen hast. Es klingt, als ob dein Vater ein Armenier wäre.«

 

»Aber er darf es nicht wagen, mich wegen Bigamie anzuzeigen. Wir haben ihn in der Hand.«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Meine liebe Alma, glaube mir, dieser Pretoria-Smith ist ein ganz gewitzter Junge. Den kannst du nicht so leicht fassen. Du hast ihn gar nicht in der Hand. Am besten gehst du morgen zu ihm und sprichst dich einmal richtig mit ihm aus.«

 

»Ich soll mich mit ihm aussprechen?« rief sie wütend. »Hältst du mich denn für verrückt?«

 

»Du wärst jedenfalls verrückt, wenn du es nicht tätest. Und ich möchte dir noch eins sagen. Ich liebe diese Gegend und ziehe nicht gern von hier fort. Aber wir kommen natürlich nicht um die Tatsache herum, daß wir – oder vielmehr du in seiner Macht bist, denn ich habe ja kein Verbrechen begangen. Ich habe die Bigamie nur schweigend geduldet und verziehen.«

 

»Nein, das tue ich nicht«, erklärte sie etwas ruhiger als vorher. »Ich muß mir alles noch reiflich überlegen, Javot. Für mich bedeutet es viel mehr als für dich.«

 

Sie überlegte die ganze Nacht, und am nächsten Morgen kam sie im Jagdkostüm schon zeitig zum Frühstück.

 

Javot sah sie erstaunt an.

 

»Du bist ja heute schon sehr früh aufgestanden?«

 

»Ja, ich will Kaninchen schießen.«

 

»Was haben dir denn die Karnickel getan?« fragte er.

 

»Ich brauche Zerstreuung, und ich bin in einer Stimmung, daß ich morden könnte.«

 

»Na, dann Heil und Sieg für die Kaninchenjagd«, erwiderte er belustigt.

 

Sie vermied die Hauptstraße und ging über den Feldweg, der sie zur hinteren Gartentür des Stedmanschen Anwesens brachte.

 

Pretoria-Smith, der im Schatten eines großen Baumes eine Pfeife rauchte, sah sie und beobachtete, wie sie ihr Gewehr an die Mauer lehnte, bevor sie ins Haus ging.

 

Zehn Minuten später kam er auch ins Wohnzimmer.

 

Mrs. Stedman strahlte, denn Alma war in einer versöhnlichen Stimmung. Auch Pretoria-Smith reichte sie lächelnd die Hand.

 

»Es tut mir unendlich leid, daß ich gestern so heftig gegen Sie war. Es war natürlich ein Irrtum. Hoffentlich verzeihen und vergessen Sie die dumme Angelegenheit.«

 

Er übersah ihre Hand, erwiderte aber ihr Lächeln.

 

»Nun, ich muß mich auch bei Ihnen entschuldigen«, sagte er.

 

Marjorie fühlte einen Schauder, als sie das Spiel beobachtete, das die beiden miteinander trieben.

 

Sie hatte keine Ahnung, was das alles zu bedeuten hatte, denn ihr Mann und Alma waren in fröhlicher Laune und scherzten. Er neckte sie wegen ihrer früheren Bühnentätigkeit. Als sie nachher in den Garten gingen, folgte sie ihnen und sah, wie Lady Tynewood ihr Gewehr aufnahm.

 

»Warum denn solche Mordwaffen?« fragte er.

 

»Ich will Kaninchen schießen. Die ärgern mich.«

 

Dann bemerkte Marjorie entsetzt, daß Lady Tynewood ihr Gewehr sehr unvorsichtig handhabte. Die Mündung zeigte direkt auf das Herz von Pretoria-Smith, und beide Hähne waren gespannt.

 

Er sah es auch, aber er rührte sich nicht.

 

»Ich kann Kaninchen nicht leiden« erklärte Alma heftig und drückte ab.

 

Sie hörte das Knacken, senkte erschreckt die Waffe und starrte ihn wild an. Er schaute in ihr verstörtes Gesicht und lächelte.

 

»Ich habe mir erlaubt, die beiden Patronen herauszunehmen, bevor ich ins Wohnzimmer kam, Lady Tynewood.«

 

»Es war ein Zufall«, sagte sie und atmete schwer.

 

»Beinahe ein Zufall. Sie tun mir im Augenblick wirklich leid. Sie sind in die Enge getrieben, Alma Javot, und Sie wissen keinen Ausweg mehr.«

 

Ihre Lippen zuckten nervös. Sie hatte sich nicht mehr in der Gewalt. »Ich bin nicht schlimmer daran als Sie«, erwiderte sie.

 

»Besprechen Sie die Sache mit Javot«, entgegnete er leise, wandte sich um und ging fort.

 

Marjorie folgte ihm wieder ins Wohnzimmer.

 

»Sie wollte dich erschießen«, sagte sie betroffen. »Sicher kam sie schon mit dieser Absicht hierher!«

 

»Ach nein.« Er klopfte ihr freundlich auf die Schulter. »Du machst dir unnötig Kummer und Sorgen.«

 

»Das sagst du, um mich zu ärgern und wieder zur Vernunft zu bringen. Aber sie hat es doch wirklich versucht?«

 

»Ja, das hat sie getan. Sie ist eine arme Frau. Ich müßte eigentlich furchtbar böse auf sie sein, aber es ist nicht meine Art, zu hassen oder anderen Menschen etwas nachzutragen. Bedenke doch, wie groß die Versuchung für sie war. Ich meine nicht, mich zu erschießen, sondern den armen Jungen zu heiraten.«

 

»Du nanntest sie vorhin Alma Javot –?«

 

»Sie ist Javots Frau, und als sie meinen Bruder heiratete, beging sie Bigamie.«

 

»Er war dein Bruder?«

 

Er nickte. »Ich bin bereit, ihr die Rente weiterzuzahlen, und es ist vielleicht besser, daß ich ihr das möglichst bald schreibe, damit sie nicht noch mehr Dummheiten macht.«

 

»Du bist bereit – wie soll ich das verstehen?« fragte sie.

 

»Ich bin James Tynewood.«

 

Sie schwankte leicht. Er dachte, sie würde ohnmächtig werden und legte den Arm um sie. »Das ist ja heute ein aufregender Tag«, sagte sie. »Ich glaube, ich muß mich setzen.«

 

»Fühlst du dich nicht wohl? Du wirst doch nicht schwach werden?« fragte er ängstlich.

 

»Wenn du mich hältst, wird es schon vorübergehen.«

 

Er neigte sich über sie. »Und wenn ich dir jetzt einen Kuß gäbe, würdest du dann entsetzt davonlaufen, oder würdest du ohnmächtig werden?«

 

»Das möchte ich gern wissen. Willst du es nicht versuchen?«

 

Kapitel 33

 

33

 

»Seit meiner Jugend bin ich stets auf Reisen gewesen«, sagte Pretoria-Smith. »Mit siebzehn Jahren erbte ich den Titel. Ich war damals auf der Schule in Eton, bin von dort aus direkt nach Afrika gegangen und nur selten nach England zurückgekommen. Ich war ein begeisterter Jäger und hielt mich lieber in den Dschungeln Afrikas auf als zu Hause. Meine Mutter heiratete nach dem Tod meines Vaters zum zweitenmal, und zwar Sir John Garrick. Aus dieser Ehe stammte ein Sohn – Norman.

 

Der Junge war immer sehr wild, aber ich hatte ihn gern. Als meine Mutter starb, nahm sie mir das Versprechen ab, daß ich mich um ihn kümmern und ihn vor Unglück bewahren sollte. Ihr Mann war schon ein Jahr früher gestorben. Leider habe ich das Versprechen nicht gehalten. Ich sagte schon, daß ich ein leidenschaftlicher Jäger war und nur selten nach England kam. Der Junge blieb sich also selbst überlassen.

 

Norman war eitel und verkehrte viel in Schauspielerkreisen. Wurde er von anderen so vorgestellt, oder nannte er sich selbst Sir James Tynewood? Ich weiß es nicht. Er konnte es ja auch ruhig tun, weil mich nur wenige Leute kannten. Norman war in Frankreich erzogen worden und früher ebensowenig zu Hause wie ich. Er hatte einen schwachen Charakter und gab immer mehr aus, als sein Einkommen betrug. Er – er hat auch meinen Namen gefälscht.« Er zögerte einen Augenblick, bevor er weitersprach. »Es ist besser, daß ich dir die volle Wahrheit sage. Er hat fast hunderttausend Pfund Schulden gemacht. Ein großer Teil dieser Summe floß in die Taschen von Alma Trebizond.

 

Mr. Vance entdeckte die Sache und erfuhr auch, daß Norman unter meinem Namen auftrat. Er schickte deshalb durch dich einen Brief an ihn und teilte ihm mit, daß ich am nächsten Morgen nach England zurückkehren würde; er gab ihm den guten Rat, sich von seinen Freunden zu trennen und einige Zeit aufs Land zu gehen. Aber Mr. Vance hatte ihn früher schon öfter gewarnt, ohne daß ich zurückkam. Norman dachte deshalb, daß es sich wieder um einen falschen Alarm handelte.

 

Ich weiß nicht, wie Alma Trebizond es fertigbrachte, aber seine Ehe mit ihr wurde auf dem Standesamt geschlossen.

 

Ich kam damals mit Doktor Fordham, meinem besten Freund, von einer Reise nach Südafrika zurück. Er las in der Abendzeitung einen Artikel, in dem von der Heirat Sir James Tynewoods die Rede war, und zeigte ihn mir. Wir vermuteten, was geschehen war, und ich wußte zunächst nicht, was ich tun sollte. Wir wohnten im Grand Western Hotel in Southampton, und ich trug mich unter dem Namen meines Bruders in die Fremdenliste ein. Hätte ich meinen richtigen Namen gebraucht, so wäre ein Skandal entstanden, weil damals die Geschichte in allen Zeitungen stand.

 

Ich kam direkt nach London – du sahst mich damals im Büro von Mr. Vance. Am nächsten Nachmittag fuhr ich nach Schloß Tynewood. Alma hatte natürlich jenen Artikel gelesen, in dem auch das berühmte Brillantkollier aus dem Familienschmuck der Tynewoods erwähnt war. In ihrer Habgier verlangte sie von meinem Bruder, daß er es ihr sofort beschaffen sollte. Der Schmuck befindet sich im Gewahrsam der Bank, aber Norman glaubte, daß er ihn in dem Geldschrank meines Arbeitszimmers in Tynewood finden würde. Er fuhr also dorthin und war gerade dabei, die Holztür zu zertrümmern, die den Safe verdeckt, als Fordham und ich dahinkamen. Ich glaube, daß er den verzweifelten Plan gefaßt hatte, das Brillanthalsband zu stehlen und mit Alma zu fliehen.

 

Wir hatten eine Auseinandersetzung. Ich versuchte, so sachlich wie möglich zu bleiben, und ich bin jetzt noch beruhigt darüber, daß ich damals einen klaren, kühlen Kopf bewahrte. Norman brach schließlich zusammen und erzählte die Wahrheit. Er sprach von seinen Fälschungen, von seiner Heirat und allen übrigen Torheiten, die er begangen hatte. Während der Unterredung wurden wir plötzlich durch ein Klingeln gestört, und da keine Diener im Schloß waren, ging Fordham und ließ dich herein.

 

Als er zurückkam, hatte Norman die Arme auf den Tisch gelegt und das Gesicht darin vergraben. Er mußte den Revolver schon in der Hand haben. Wir wechselten nur noch ein paar Worte, dann fiel der verhängnisvolle Schuß. Bevor ich wußte, was geschehen war, fiel Norman zu Boden.

 

Ich hatte damals den Eindruck, daß meine Vorhaltungen ihn zu dieser verzweifelten Tat getrieben hatten, und darauf bezogen sich die Worte, die du hörtest. Fordham handelte wirklich als mein Freund. Er setzte alles aufs Spiel und bescheinigte in seiner Eigenschaft als Arzt, daß der Tod auf natürliche Weise eingetreten wäre. Mein Bruder wurde dann in der Schloßkapelle beigesetzt.

 

Um Normans Geheimnis zu hüten, blieb mir nichts anderes übrig, als das Land sofort wieder zu verlassen. Von jenem Tage an war ich für die Welt gestorben. Ich veranlaßte Mr. Vance, der Frau eine Rente zu zahlen, jedoch nur unter der Bedingung, daß sie das Schloß und den Park nicht betreten durfte. Am nächsten Tag fuhr ich nach Südafrika. Nun weißt du alles.«

 

Sie sah ihn mit strahlenden Augen an und holte tief Atem.

 

»Sir James Tynewood! Wie herrlich! Aber wer ist denn eigentlich Jot?«

 

»Das bin ich auch«, erwiderte er lächelnd. »Der Name ist aus meinen Anfangsbuchstaben zusammengesetzt: James Oliver Tynewood. Meine Freunde in Eton nannten mich so, und auch Norman gebrauchte nur diesen Namen. Du hättest eigentlich vermuten sollen –«

 

»Daß du Sir James warst? Aber wie hätte ich denn darauf kommen sollen?« fragte sie erstaunt.

 

»Weißt du nicht, daß nach Familientradition nur ein Tynewood in der Schloßkapelle getraut werden darf?«

 

Sie nickte.

 

»Ach, es ist zu schön. Ich kann es kaum für möglich halten.«

 

»Früher oder später wirst du dich doch von der Wahrheit überzeugen, Lady Tynewood.«

 

Sie errötete leicht. »Ach ja, natürlich, ich bin jetzt –«

 

»Du bist Lady Tynewood.«

 

»Ich glaube, es ist doch alles nur ein Traum.«

 

»Vielleicht findest du schneller zur Wirklichkeit zurück, wenn ich dir jetzt noch einen Kuß gebe?«

 

»Ich weiß nicht«, sagte sie leise. »Aber probiere es doch mal.«.