Kapitel 16

 

16

 

Lawley Foß hatte wieder neuen Grund, sich über das Leben zu beklagen, und er sammelte seine Streitkräfte, um sich an dieser Welt zu rächen, die ihn so ungerecht behandelte. Die erste und mächtigste seiner Bundesgenossen war Stella Mendoza. Im Salon der kleinen, schönen Villa, die Stella bezogen hatte, als sie bei der Knebworth-Filmgesellschaft eintrat, wurde ein regelrechter Kriegsrat abgehalten. Der Dritte im Bund war Mr. Reggie Connolly. Da sie alle drei denselben Gegner hatten, verbrüderten sie sich miteinander und schlossen in selbstloser Freundschaft ein Bündnis.

 

»Wir sind von Knebworth niederträchtig behandelt worden, besonders Sie, Mr. Foß. Mit Ihnen verglichen, ist mein Fall nicht von Bedeutung.«

 

»Aber wie er gegen Sie vorgegangen ist, bringt mich wirklich auf«, sagte Foß energisch. »Bedenken Sie doch, eine Künstlerin von Ihrem Rang!«

 

»Vergessen Sie nicht, was Sie alles für ihn getan haben«, sagte Stella wieder. »Und dann Reggie – hat er den nicht wie einen Hund behandelt?«

 

»Persönlich macht mir das ja nichts aus«, sagte Reggie. »Ich kann ja immer wieder in einen neuen Vertrag hineinrutschen. Mir ist es nur um Sie zu tun.«

 

»Wenn es darauf ankommt – jeder von uns kann leicht einen neuen Vertrag bekommen«, unterbrach ihn Stella etwas scharf. »Ich kann meine eigene Gesellschaft aufmachen, wenn ich will. Zwei Direktoren sind wild darauf, mich zu engagieren. Ich habe zwei Verehrer, die sich ein Vergnügen daraus machen würden, ihren letzten Penny herzugeben, um mir mein eigenes Unternehmen zu starten – mindestens würden sie eine Menge Geld aufbringen. Und Chauncey Seiler ist verrückt danach, als mein Partner zu spielen. Sie wissen doch, wie berühmt er ist! Er würde mich in den Vordergrund bringen und selbst mit einer kleineren Rolle zufrieden sein. Er ist ein reizender Mensch und der beste jugendliche Darsteller – nicht nur in England, sondern auf der ganzen Welt!«

 

Mr. Connolly räusperte sich.

 

»Die Frage ist, ob wir das Geld gleich bekommen«, sagte Foß, der die Sache von der praktischen Seite betrachtete. Aber Stella gab ihm keine bindende, direkte Antwort und schien auch durch seinen plötzlichen Eifer in dieser Richtung nicht sehr erfreut.

 

»Sollte das nicht der Fall sein, so glaube ich, daß es mir möglich sein wird, das ganze Geld aufzubringen«, sagte Foß zur Überraschung der beiden anderen. »Ich kann jetzt noch nicht sagen, von wem oder auf welche Art ich das Geld auftreibe. Aber soviel steht fest – ich kann große Summen flüssig machen, und es ist leichter, Kapital für einen bestimmten Plan aufzubringen, als für mich persönlich.«

 

»Sie glauben, das ist mit geringerem persönlichen Risiko verbunden?« meinte Connolly, der nur etwas sagen wollte, um auch an der Unterhaltung teilzunehmen.

 

Aber mit dieser Bemerkung hatte er Pech, um so mehr, als er hiermit den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Foß wurde dunkelrot.. »Was zum Teufel verstehen Sie unter ›mit geringerem Risiko verbunden‹?«

 

Der arme Reggie hatte nichts Besonderes damit sagen wollen und beeilte sich, dies ohne weiteres zuzugeben. Er hatte doch nur helfen wollen und war nun verdrießlich über den Sturm, den er hervorgerufen hatte. Er war überhaupt unzufrieden, denn je weiter die Unterhaltung fortschritt, desto mehr wurde er in den Hintergrund gedrängt. Und nichts kann einen Verschwörer mehr in Wut bringen, als wenn er sieht, daß die Verschwörung ohne ihn gemacht wird. Er war überzeugt, daß er jetzt seine Persönlichkeit zur Geltung bringen müßte.

 

»Das ist alles ganz schön, Stella«, sagte er. »Aber es scheint mir fast so, als ob ich kaltgestellt werden soll. Was nun Chauncey Seiler angeht – natürlich hat er in mehr Filmen gespielt als zwei andere Darsteller zusammen, das weiß ich sehr wohl. Was Sie sonst noch alles von ihm erzählt haben, interessiert mich nicht. Ich weiß schon, Sie halten mich für einen schrecklichen Spielverderber, aber ich muß doch sagen, daß wir dem alten Jack Knebworth allerhand verdanken – denke ich wenigstens. Ihnen zuliebe habe ich meine Stellung aufs Spiel gesetzt. Ich bin auch bereit, alles zu tun, was Sinn und Vernunft hat. Aber wenn Sie Chauncey Seiler vorziehen wollen – nebenbei bemerkt, ein ganz übler Mensch – und wenn Foß mir gleich an die Kehle springt, wenn ich irgendeine Bemerkung mache, so muß ich schon sagen, daß ich mich besser nicht an der Neugründung beteilige.«

 

Die beiden hatten gar kein Interesse daran, ihn zu beruhigen, da sie so mit ihren Plänen für die Zukunft beschäftigt waren, daß sie nicht an die Gegenwart dachten. Reggie war über alle Maßen aufgebracht und verließ das Haus, noch bevor Stella überlegt hatte, daß sie besser getan hätte, ihn zurückzuhalten. Sie hätte dann Knebworth wenigstens dadurch geschädigt, daß er alle die Szenen, in denen Reggie bisher mitgespielt hatte, noch einmal aufnehmen mußte.

 

»Wir wollen uns über Connolly nicht den Kopf zerbrechen«, sagte sie. »Der Film wird sowieso eine böse Katastrophe mit der Statistin in der Hauptrolle, sie kann doch nichts.«

 

»Ich habe einen Freund in London«, erklärte Foß, nachdem das alte Thema wiederaufgenommen wurde, »der das ganze Geld aufbringen kann. Ich habe ihn gewissermaßen in der Hand. Tatsächlich – ich kann ihn sogar dazu zwingen. Heute abend noch werde ich zu ihm gehen.«

 

»Und ich will meinen Freund aufsuchen«, sagte Stella. »Wir werden das Unternehmen die Stella-Mendoza-Filmgesellschaft nennen.«

 

Lawley Foß hatte seine Bedenken dagegen. Ihm schwebte ein anderer Name vor. Schließlich war er bereit, einen Vergleich zu schließen und die Firma Foß-Mendoza- oder F.-M.- Gesellschaft zu nennen. Dieser Vorschlag wurde von Stella unter der Voraussetzung akzeptiert, daß die beiden Namen umgestellt wurden.

 

»Wer ist eigentlich Brixan?« fragte sie, als Foß aufbrechen wollte.

 

»Ein Detektiv.«

 

Sie machte große Augen.

 

»Ein Detektiv? Was tut er denn hier?«

 

Lawley Foß lächelte verächtlich.

 

»Er hat sich eine Aufgabe gestellt, die keiner seines Verstandes lösen wird. Er will nämlich den Kopfjäger ausfindig machen. Ich bin der einzige Mann auf der Welt, der ihm helfen könnte. Statt dessen«, lächelte er wieder, »helfe ich mir selbst.«

 

Mit dieser geheimnisvollen und mystischen Andeutung verließ er sie.

 

Stella Mendoza war eine ehrgeizige Frau, und wenn Ehrgeiz auf Reichtum und Ruhm gerichtet ist, müssen Gewissensskrupel zurücktreten. Um ihr Privatleben und ihren Ruf stand es nicht besser und nicht schlechter als um den tausend anderer Frauen, und ihre Vorliebe für eine luxuriöse Wohnung und teures Essen gehörte nun einmal zu ihrem Beruf. Man kann gewisse Sünden und Vergehen nicht immer einer bestimmten Klasse zuschreiben, denn die Selbsterziehung spielt eine größere Rolle. Die eine Frau würde lieber sterben als ihre Selbstachtung verlieren, die andere wiederum würde gerade das Gegenteil tun, um nicht in Elend und Not zu kommen, und würde sich über Mittel und Wege, die zu ihrem Ziele führen, keine Gedanken machen.

 

Als sich Foß verabschiedet hatte, ging sie nach oben, um sich umzuziehen. Es war noch zu früh, um den Besuch zu machen, den sie vorhatte, denn Sir Gregory wünschte keine Besuche bei Tag. Auf der einen Seite hatte er gar keine Bedenken, Bhag auf ein gefährliches und verbrecherisches Abenteuer auszuschicken, auf der anderen Seite war er bemüht, nach außen hin den guten Anstand nicht zu verletzen.

 

Sie schrieb einige Briefe und brachte sie zur Post. Als sie am Spätnachmittag mit ihrem Auto durch Chichester fuhr, sah sie, Mike Brixan in einer merkwürdigen Situation. Er stand mitten in einer großen Menschenmenge in der Nähe des Marktplatzes. Sogar ein Polizist war dort, sie sah seinen Helm. Sie war einen Augenblick versucht, auszusteigen, um ihre Neugierde zu befriedigen; aber dann änderte sie ihre Absicht. Als sie später wieder an der Stelle vorüberfuhr, war die Menge zerstreut und Mike Brixan verschwunden. Auf der Heimfahrt dachte sie darüber nach, ob der Detektiv dort wohl berufsmäßig zu tun gehabt hatte.

 

Mike war durch Chichester geschlendert und dabei auf eine große Ansammlung von Leuten gestoßen, die sich um einen Polizisten geschart hatte. Dieser bemühte sich vergeblich, sich mit einem kleinen, braunen Eingeborenen zu verständigen. Der Mann sah in seinem schlechtsitzenden, fertiggekauften Anzug furchtbar komisch aus. Auf dem Kopf trug er einen steifen Hut, der viel zu groß für ihn war. In der einen Hand hielt er ein Bündel, das mit einem hell leuchtenden, großen grünen Taschentuch zusammengeknüpft war. Unter dem Arm hatte er einen langen Gegenstand, der in Leinen eingenäht und stark verschnürt war. Mike dachte zuerst, daß er einer von Pennes malaiischen Dienern wäre, aber dann überlegte er sich, daß Sir Gregory nicht zulassen würde, daß einer seiner Leute sich in einem solchen Aufzug im Land umhertriebe.

 

Er bahnte sich einen Weg zu dem Polizisten, der ihn militärisch grüßte.

 

»Beim besten Willen kann ich den Kerl nicht verstehen«, sagte er. »Er will etwas wissen, aber ich kann nicht herausbringen, was er will. Gerade eben ist er in die Stadt gekommen.«

 

Der braune Mann wandte seine dunklen Augen auf Brixan. Er sagte etwas, was der Detektiv nicht verstand. Der Fremde hatte etwas Vornehmes in seinem Wesen, das selbst die lächerlich wirkende Kleidung nicht ganz verwischen konnte. Seine Haltung war aufrecht. Die unbeschreibliche Würde, die in seinem Benehmen lag, zog sofort Mikes Aufmerksamkeit auf sich. Plötzlich kam ihm ein guter Gedanke. Er redete den Mann auf Holländisch an. Die Augen des Eingeborenen leuchteten auf.

 

»Ja, Mynheer, ich spreche Holländisch.«

 

Mike vermutete mit Recht, daß er aus dem Malaiischen Archipel kam, wo die besseren Klassen der Eingeborenen Holländisch und Portugiesisch sprechen.

 

»Ich komme von Borneo und suche einen Mann, der Truji heißt. Er ist Engländer. Nein, Mynheer, ich will nur sein Haus sehen. Er ist ein großer Mann in meinem Lande. Wenn ich sein Haus gesehen habe, kehre ich nach Borneo zurück.«

 

Mike beobachtete ihn, als er sprach. Wenn man von der großen, langen, häßlichen Narbe absah, die von seiner Stirn bis zum Kinn reichte, hatte er ein schönes Gesicht.

 

Der Detektiv dachte sich, daß er ein neuer Diener für Gregory Penne sei, und beschrieb ihm den Weg dorthin.

 

Er beobachtete den merkwürdigen Fremden, bis er mit seinem Bündel verschwunden war.

 

»Eine seltsame Sprache«, sagte der Polizist. »Für mich war es dasselbe, als ob er Holländisch gesprochen hätte.«

 

»Für mich auch«, sagte Mike und lächelte. Dann setzte er seinen Weg zum Hotel fort.

 

Kapitel 17

 

17

 

Helen Leamington saß auf ihrem Bett. Neben ihr stand eine Schachtel Konfekt. Sie hatte die Knie hochgezogen und war eifrig mit ihrem Filmmanuskript beschäftigt. Aber obgleich sie sich die größte Mühe gab, war es ihr doch unmöglich, die komplizierten Anweisungen zu verstehen, die Foß an den Rand der Seiten geschrieben hatte. Sie runzelte die Stirn. Für gewöhnlich fiel es ihr nicht allzu schwer, ein Filmmanuskript durchzuarbeiten. Aber heute wanderten ihre Gedanken, sie beschäftigten sich nicht mit dem Film. Und obwohl sie im Manuskript las, erfaßte sie doch nicht dessen Sinn. Es wäre dasselbe gewesen, wenn sie leere Seiten vor sich gehabt hätte.

 

Wer war Mike Brixan eigentlich? Sie stellte sich einen Detektiv ganz anders vor. Warum hielt er sich hier in Chichester auf? War es möglich, daß er ihretwegen…? Sie gab diesen Gedanken sofort wieder auf und ärgerte sich über sich selbst. Es war doch ganz unmöglich, daß ein Mann, der ein schreckliches Verbrechen aufklären wollte, sich nur hier aufhielt, um ihr nahe zu sein. Ob der Mörder, der Kopfjäger, in der Nähe von Chichester wohnte? Bei dieser Vorstellung legte sie das Manuskript gedankenvoll auf ihre Knie.

 

Die Stimme ihrer Wirtin störte sie auf.

 

»Wollen Sie Mr. Foß empfangen?«

 

Sie sprang vom Bett und öffnete die Tür.

 

»Wo ist er?«

 

»Ich habe ihn ins Empfangszimmer gebeten«, sagte die Wirtin, die jetzt schon etwas mehr Respekt vor ihr bekommen hatte. Wenn eine Statistin zu einer Filmdiva avancierte, so wußte man dies natürlich in der Kleinstadt. Die Bewohner nahmen überhaupt regen Anteil an den Schicksalen der Filmschauspieler, die für sie von größter Bedeutung waren.

 

Lawley Foß stand am Fenster und schaute hinaus, als sie in das Zimmer trat.

 

»Guten Tag, Helen!« sagte er in guter Laune. Früher hätte er sie nie bei ihrem Vornamen genannt, selbst wenn er ihn gekannt hätte.

 

»Guten Tag, Mr. Foß«, sagte sie lächelnd. »Zu meinem Bedauern habe ich gehört, daß Sie nicht mehr in unserer Gesellschaft tätig sind.«

 

Foß zuckte gleichgültig die Achseln.

 

»Die Firma war zu klein, als daß ich mich dort hätte richtig entfalten können«, sagte er. Er war gespannt, ob Brixan ihr etwas von dem runden, weißen Papier auf ihrem Fenster erzählt hatte, und freute sich, als er fand, daß sie nichts davon wußte. Foß selbst maß der Sache keinerlei Bedeutung bei. Er war nur zu sehr geneigt, Gregorys Erklärung anzunehmen, der ihm gesagt hatte, daß er Miss Leamington sehr verehre und ihr einen Blumenstrauß durch das Fenster schieben wolle. Durch dieses Geschenk hoffe er, sie zu besänftigen. Foß hatte ihn bei sich einen liebestollen Narren genannt und hatte ihm seinen Wunsch erfüllt. Was Knebworth ihm mitgeteilt hatte, wollte er nicht glauben und lehnte es als phantastische Übertreibung ab.

 

»Helen, Sie sind noch sehr jung und unerfahren. Sie tun sehr unrecht, wenn Sie einen Mann wie Gregory Penne ablehnen«, sagte er. Aber er sah an ihrem Gesichtsausdruck sofort, daß er auf diese Weise keinen Erfolg haben würde. »Es hat doch keinen Zweck, daß Sie etwas Besonderes für sich haben wollen. Wir sind nun einmal alle Menschen. Es ist doch nichts dabei, wenn Sie Gregory Penne einmal treffen. Niemand kann etwas dabei finden! Hunderte von jungen Damen speisen mit einem Herrn zu Abend, ohne daß irgend etwas Schlimmes geschieht. Ich bin ein Freund von ihm und besuche ihn heute abend in einer wichtigen persönlichen Sache – wollen Sie mit mir kommen?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Es ist möglich, daß nichts dabei ist, aber mir macht es eben keinen Spaß.«

 

»Er ist reich und hat großen Einfluß«, sagte Foß eindringlich. »Seine Bekanntschaft könnte Ihnen viel nützen.«

 

Aber sie schüttelte den Kopf.

 

»Ich brauche keine andere Hilfe als meine Begabung«, sagte sie, »beinahe hätte ich Kunst gesagt, aber das klingt zu hochtrabend. Ich brauche die Befürwortung eines reichen Mannes nicht. Wenn ich ohne diese keinen Erfolg haben sollte, dann habe ich eben nicht das Zeug zur Filmdiva und will mich damit abfinden.«

 

Foß dachte nach, »Ich glaube, daß ich es auch ohne Sie kann, aber ich wäre sehr froh gewesen, wenn Sie mir geholfen hätten. Er mag Sie sehr gern. Wenn Stella Mendoza das wüßte, würde sie Sie umbringen.«

 

»Miss Mendoza?« fragte das Mädchen erstaunt. »Warum? Kennt sie ihn denn?«

 

Er nickte.

 

»Ja, aber nur sehr wenig Leute wissen darum. Es gab einmal eine Zeit, wo er alles für sie getan hätte, und sie war in ihrer Art sehr klug und wies seine Hilfe nicht zurück. Die Mendoza hat jetzt so viel Geld, daß sie es zum Fenster hinauswerfen könnte, und Diamanten genug, um die Schatzkammer im Tower zu füllen.«

 

Helen horchte erschreckt auf. Sie konnte es nicht glauben. Foß beeilte sich deshalb, dafür zu sorgen, daß Stella nichts von seiner Indiskretion erfahren würde.

 

»Sie brauchen ihr das nicht zu sagen, das war nur eine ganz vertrauliche Mitteilung. Auch möchte ich mich mit Penne nicht gern überwerfen.« Er schüttelte sich. »Der Mann ist ein Teufel.«

 

Sie biß sich auf die Lippen. »Und trotzdem wollen Sie mich dazu veranlassen, mit ihm zu speisen? Und wollen mich dazu mit Miss Mendozas Diamanten ködern?«

 

»Ich vermute, daß Sie von ihr nicht viel Gutes denken?« sagte er höhnisch.

 

»Sie tut mir leid«, sagte das Mädchen ruhig. »Aber ich möchte mir selbst nicht leid tun!«

 

Schweigend öffnete sie die Tür, und er ging ohne Gruß fort. Nach allem, dachte er, würde er auch ohne fremde Hilfe sein Ziel erreichen.

 

Denn in seiner Brieftasche lag ein Stück Papier, das mit der Schreibmaschine des Kopfjägers geschrieben war, und das war viele tausend Pfund wert, wenn er dem Verbrecher mit seinen Enthüllungen drohte.

 

Kapitel 1

 

1

 

Captain Mike Brixan litt manchmal an gelinden abergläubischen Anwandlungen. Wenn er des Morgens durch die Felder ging und eine junge Krähe vor ihm aufflog, hatte er die bestimmte Überzeugung, daß er an diesem Tage noch eine zweite sehen würde.

 

Als er nun auf der Durchreise in Aachen an der Bahnhofsbuchhandlung vorbeiging, fiel ihm der Titel eines Buches auf, und er kaufte den Roman »Statistin in Hollywood«. Das Wort »Statistin« übte eine fast magische Wirkung auf ihn aus. Die Geschichte handelte, wie er gleich darauf feststellte, von einer unbedeutenden Filmschauspielerin. Aber schon hatte er die dunkle Ahnung, daß dieses Wort für ihn eine schicksalsschwere Bedeutung haben würde.

 

Der Roman interessierte ihn gar nicht. Er las einige Seiten des Buches, aber der schwülstige Stil ärgerte ihn so, daß er seine Zuflucht zu dem belgischen Kursbuch nahm. Wenn ihn auch der Titel fasziniert hatte, so reichte sein Interesse doch nicht aus, um die ganze sensationelle Laufbahn der Heldin von den bescheidensten Anfängen bis zu Berühmtheit, Ansehen und Reichtum zu verfolgen.

 

Das Wort »Statistin« hatte sich Mike Brixan aufgedrängt, und es war ihm, als ob ihm in den nächsten Tagen unbedingt eine Statistin begegnen würde.

 

Er war nicht nur bei seinen Freunden als der tüchtigste Agent des Nachrichtendienstes im Auswärtigen Amt bekannt. Obwohl er in seinem Beruf vollständig aufging, interessierte er sich für Kriminalfälle. Er spielte gut Golf, aber ebenso gern las er Berichte über aufsehenerregende Verbrechen. Seine dienstliche Beschäftigung bestand hauptsächlich darin, daß er merkwürdige Leute, die vom Kontinent herüberkamen, in obskuren Kneipen traf und mit ihnen lange und geheimnisvolle Unterredungen hatte. Zu diesem Zweck trat er in den verschiedensten Verkleidungen und Rollen auf. So blieb er in Kontakt mit den geheimen unterirdischen Strömungen, die nur zu oft das Schifflein der Diplomatie unerwünschten Zielen zutrieben. Zweimal war er als Tourist, der sich nur für schöne Landschaften und Sehenswürdigkeiten zu interessieren schien, durch ganz Europa gestreift. Viele hundert Meilen fuhr er mit einem Paddelboot durch die Stromschnellen der Donau. In den kleinsten Schenken am Ufer übernachtete er, um die Stimmung der Bevölkerung kennenzulernen. Wenn es solche Aufgaben zu lösen galt, war er ganz bei der Sache.

 

Gerade jetzt rief man ihn von Berlin ab, als der wichtige Vertrag zwischen zwei Mächten kurz vor dem Abschluß stand. Er ärgerte sich gewaltig darüber, denn es war ihm unter Aufwand nicht geringer Geldsummen gelungen, eine Abschrift der wesentlichen Punkte des Vertrages zu beschaffen.

 

»Wenn ich noch vierundzwanzig Stunden auf meinem Posten geblieben wäre, hätte ich die fotografischen Aufnahmen der Originaldokumente bekommen«, erklärte er seinem Vorgesetzten, Major George Staines, als er sich am nächsten Morgen in Whitehall zum Dienstantritt meldete.

 

»Schade«, antwortete dieser etwas ironisch. »Aber wir hatten gerade eine vertrauliche Aussprache mit dem Ministerpräsidenten der betreffenden Macht, der uns den Text des Vertrages mitzuteilen versprach. Übrigens hat die ganze Sache mit hoher Politik nichts zu tun, sondern betraf nur die Handelsbeziehungen zu einem anderen Staat. – Mike, kannten Sie Elmer?«

 

Der Detektiv setzte sich auf die Tischkante, während er eine Zigarette rauchte.

 

»Haben Sie mich deswegen von Berlin geholt, damit ich Ihnen diese Frage beantworten soll?« sagte er ärgerlich. »Haben Sie mich deswegen aus meinem Café ›Unter den Linden‹ weggeholt, damit ich mich mit Ihnen über Elmer unterhalte? Er ist doch Sekretär im Regierungsdienst?«

 

Major Staines nickte.

 

»Er war es«, sagte er. »Er war in der Oberrechnungskammer angestellt. Vor drei Wochen verschwand er plötzlich. Man kontrollierte seine Bücher, und es stellte sich heraus, daß er systematisch größere Summen unterschlagen hatte.«

 

Mike Brixan verzog sein Gesicht. »Tut mir leid, das zu hören«, meinte er. »Er schien doch ein ganz ruhiger und ehrlicher Mensch zu sein. Aber Sie wollen doch damit nicht etwa sagen, daß das mein neuer Auftrag sein soll? Solche Aufgaben gehören Scotland Yard.«

 

»Ich will auch gar nicht, daß Sie ihm nachspüren sollen«, sagte Staines langsam, »weil – nun gut, man hat ihn schon gefunden.«

 

Er sagte dies mit einem düsteren, bedeutungsvollen Unterton. Bevor er das kleine Papier aus seiner Mappe nehmen konnte, wußte Mike Brixan schon, was kommen würde.

 

»Der Kopfjäger hat doch nicht seine Hand im Spiel?« fragte er interessiert. Selbst er im Ausland hatte von den grausigen Taten dieses Mannes gehört.

 

Staines nickte. »Lesen Sie.«

 

Er reichte seinem Untergebenen ein Blatt, das mit Maschine geschrieben war, über den Tisch.

 

»Sie werden in der Hecke an der Eisenbahnunterführung bei Esher eine Kiste finden. Der Kopfjäger.«

 

»Der Kopfjäger«, wiederholte Mike mechanisch und pfiff leise.

 

»Wir haben natürlich sofort nachsuchen lassen und fanden die Kiste, darin lag der scharf vom Rumpf getrennte Kopf des unglücklichen Elmer«, sagte Staines. »Das ist nun der zwölfte Kopf innerhalb von sieben Jahren. Und jedesmal handelt es sich – allerdings mit Ausnahme zweier Fälle – um Leute, die sich der Gerichtsbarkeit entzogen hatten. – Selbst wenn die Vertragsfrage noch nicht geklärt wäre, Mike, hätte ich Sie zurückgerufen.«

 

»Aber das ist doch gar nicht meine Sache – das geht doch nur die Polizei an«, sagte der junge Beamte etwas aufsässig.

 

»Sie dienen der Regierung doch in Wirklichkeit als Detektiv«, unterbrach ihn sein Chef, »und der Sekretär des Außenministeriums wünscht, daß Sie diesen Fall aufklären. Ich möchte noch hinzufügen, daß dies außerdem der Wunsch des Innenministers ist, dem Scotland Yard untersteht. Bis jetzt wurde der Tod Francis Elmers und die grauenvolle Entdeckung seines Kopfes zur Veröffentlichung durch die Presse noch nicht freigegeben. In der letzten Zeit gab es an und für sich schon so viel Unruhe und Angriffe gegen die Regierung, daß die Polizei diese Sache vorläufig geheimhalten muß. Man hielt die Leichenschau ab – ich vermute, daß die Mitglieder der Kommission besonders ausgesucht wurden. Aber es würde Hochverrat sein, darüber in der Öffentlichkeit etwas zu sagen. Letzten Endes ist dann auch das übliche Gutachten erstattet worden. Leider kann ich Ihnen nur wenig Informationen geben. Das einzige, was uns weiterhelfen kann, ist die Tatsache, daß Elmer vor einer Woche in Chichester von seiner Nichte gesehen worden sein soll. Das junge Mädchen heißt Helen Leamington und ist bei der Knebworth-Filmgesellschaft beschäftigt, die ihre Ateliers in Chichester hat. Der alte Knebworth kam aus Amerika und ist ein famoser Kerl. Sie ist so eine Art Statistin –«

 

Mike atmete schwer.

 

»Statistin! Ich wußte doch, daß dieses verteufelte Wort mir wieder begegnen würde. Nun gut, was soll ich unternehmen?«

 

»Besuchen Sie zuerst einmal die junge Dame. Hier ist ihre Adresse.«

 

»War Elmer eigentlich verheiratet?« fragte Mike, während er den Papierstreifen in seine Tasche steckte.

 

Der andere nickte.

 

»Ja, aber seine Frau weiß über die Angelegenheit nichts. Sie ist übrigens die einzige, die von seinem Tod unterrichtet wurde. Sie hatte ihren Mann seit einem Monat nicht mehr gesehen. Anscheinend lebten die beiden in den letzten Jahren mehr oder weniger getrennt. Für sie war sein Tod in gewissem Sinne eine Wohltat, da er zu ihren Gunsten hoch versichert war.«

 

Mike nahm das Papier wieder aus der Tasche und las die grauenvolle Nachricht des Kopfjägers noch einmal.

 

»Wie erklären Sie sich diese Sache?« fragte er seinen Vorgesetzten interessiert.

 

»Man könnte denken, daß es sich um einen Wahnsinnigen handelt, der sich berufen fühlt, Verbrecher zu bestrafen. Und diese Annahme würde auch stimmen, wenn nicht die beiden Ausnahmen wären, die diese Hypothese über den Haufen werfen.«

 

Staines lehnte sich in seinen Stuhl und zog die Stirn kraus. »Nehmen Sie den Fall von Willitt. Man fand seinen Kopf vor zwei Jahren in Clapham Common. Willitt war ein Mann in guten Verhältnissen, ein Beispiel von Ehrenhaftigkeit, überall beliebt, und nach seinem Tod wurde bekannt, daß er große Guthaben auf der Bank hatte. Die zweite Ausnahme macht Crewling, der eines der ersten Opfer des Kopfjägers wurde. Er war ein über jeden Zweifel erhabener Charakter; allerdings stellte sich heraus, daß er einige Wochen vor seinem Tod seelisch nicht mehr im Gleichgewicht war.

 

Die Briefe des Kopfjägers sind offensichtlich alle mit derselben Maschine geschrieben. Jedesmal haben sie das halbverwischte ›u‹, dann achten Sie bitte auf die schwachen ›g‹ und die außergewöhnliche Linienführung. Wir haben natürlich diese Umstände genau untersuchen lassen, und die Sachverständigen sind sich darin einig, daß die Schrift von einer alten, jetzt nicht mehr hergestellten Kost-Maschine herrührt. Wenn Sie den Mann ausfindig machen, der eine solche Maschine benützt, dann haben Sie vermutlich den Mörder gefunden. Aber wahrscheinlich wird man ihm nicht auf diesem Weg beikommen können. Die Polizei hat bereits Fotografien dieser eigentümlichen Schrift veröffentlicht und eine hohe Belohnung ausgesetzt. Und ich glaube nicht, daß der Kopfjäger die Maschine noch zu anderen Zwecken gebraucht als dazu, den Tod seiner Opfer anzuzeigen.«

 

Mike ging in seine Wohnung. Dieser sonderbare Auftrag hatte ihn etwas aus der Fassung gebracht. Er bewegte sich für gewöhnlich in den Sphären der hohen Politik! Die Finessen der Diplomatie waren seine Spezialität. Diebe, Mörder und Straßenräuber, mit denen sich doch sonst nur die Polizei zu beschäftigen hatte, gehörten nicht zu seinem Wirkungskreis.

 

»Bill«, sagte er zu seinem kleinen Terrier, der auf einer Decke vor dem ungeheizten Kamin im Wohnzimmer lag, »diese Sache bringt mich noch zu Fall. Aber ob ich nun Erfolg habe oder nicht – ich werde eine Statistin kennenlernen. Ist das nicht großartig?«

 

Bill wedelte freudig mit dem Schwanz.

 

Kapitel 10

 

10

 

Die Dynamomaschine surrte, als er den Gehweg entlangging. Zischend und funkensprühend sprang das grelle Licht an und beleuchtete plötzlich die Fassade des Landhauses. Auf der Straße hielt ein Motorradfahrer erstaunt an und betrachtete das ungewöhnliche Schauspiel.

 

»Was ist denn hier los?« fragte er neugierig.

 

»Hier werden Filmaufnahmen gemacht«, sagte Mike.

 

»Ach so, daher das Licht. Sicher gehört die Ausstattung Mr. Knebworth.«

 

»Wo fahren Sie hin?« fragte Mike plötzlich. »Entschuldigen Sie meine Frage, aber wenn Sie nach Chichester unterwegs sind, könnten Sie mir einen sehr großen Dienst erweisen, wenn Sie mich bis dahin mitnehmen.«

 

»Sitzen Sie hinten auf«, sagte der Mann. »Ich fahre nach Petworth, aber es macht mir nichts aus, wenn ich Sie erst nach der Stadt bringe.«

 

Brixan stieg nahe am Markt ab und ging zu dem Haus eines seiner früheren Lehrer, der sich in Chichester niedergelassen hatte. Er wußte, daß dieser eine ausgezeichnete Bibliothek besaß. Nachdem er die Einladung zum Abendessen strikt abgelehnt hatte, trug er sein Anliegen vor, und sein alter Lehrer lachte.

 

»Ich kann mich nicht darauf besinnen, daß Sie sehr fleißig waren, als Sie noch zur Schule gingen«, sagte er dann. »Aber meinetwegen können Sie ruhig die Bibliothek benützen. Haben Sie einen Vers von Vergil vergessen? Dann könnte ich Ihnen vielleicht das Nachschlagen ersparen.«

 

»Nein, um Vergil handelt es sich nicht, großer Meister«, antwortete Mike lächelnd. »Es handelt sich um etwas viel Greifbareres.«

 

Er hatte etwa zwanzig Minuten in der Bibliothek zu tun, und als er wieder zum Vorschein kam, lag ein zufriedener Zug auf seinem Gesicht.

 

»Kann ich einen Augenblick bei Ihnen telefonieren?« fragte Er bekam die Verbindung mit London sofort. Ungefähr zehn Minuten lang sprach er mit Scotland Yard, dann ging er ins Speisezimmer, wo sein Lehrer, ein alter Junggeselle, allein sein Abendbrot einnahm.

 

»Sie können mir noch einen großen Dienst erweisen«, sagte er zu ihm. »Haben Sie eine Schnellfeuerpistole im Haus, die ein größeres Kaliber hat als diese?«

 

Bei diesen Worten zog er seine eigene Waffe aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. Mike wußte, daß Mr. Scott als Offizier beim Heer gedient hatte und sogar Lehrer bei dem Offiziersausbildungskurs gewesen war. Deshalb schien die Erfüllung seiner Bitte nicht so unmöglich, wie es aussehen mochte.

 

»Ja, ich kann Ihren Wunsch erfüllen. Was wollen Sie denn schießen – etwa Elefanten?«

 

»Etwas viel Gefährlicheres«, sagte Mike.

 

»Ich bin noch nie neugierig gewesen«, meinte Mr. Scott, verließ das Zimmer und kam mit einer schweren Browningpistole wieder. In der anderen Hand hatte er eine Schachtel mit Patronen.

 

Fünf Minuten reinigten sie die Pistole, die lange Zeit nicht in Gebrauch gewesen war. Und mit dieser neuen Waffe, deren Gewicht seinen Rock bedenklich herunterzog, nahm Mike Abschied.

 

Sein Herz war jetzt leichter und sein Verstand klarer als bei seiner Ankunft. Er nahm in der Stadt ein Auto und fuhr wieder nach Dower House. Kurz vor dem Ziel stieg er aus und schickte den Wagen zurück. Jack Knebworth hatte nicht einmal gemerkt, daß er verschwunden war. Aber der alte Mr. Longvale, der einen langen Rock mit einem Cape und eine seidene Kappe mit einer langen Troddel trug, kam gleich auf ihn zu, als er den Garten betrat.

 

»Kann ich Sie sprechen, Mr. Brixan?« fragte er leise. Sie gingen zusammen in das Haus.

 

»Erinnern Sie sich, daß Mr. Knebworth sehr bestürzt war, weil er glaubte, daß jemand zum Fenster hereinschaute – ein Geschöpf mit einem Affengesicht?«

 

Mike nickte.

 

»Es ist merkwürdig«, sagte der alte Herr nachdenklich. »Es war vor einer Viertelstunde – ich machte meinen gewöhnlichen Spaziergang in dem hinteren Teil meines Gartens und schaute über die Hecke auf das Feld hinaus. Plötzlich sah ich, wie sich eine riesenhafte Gestalt erhob, die wie aus dem Erdboden wuchs. Sie bewegte sich auf jenes Gebüsch zu.« Er zeigte durch ein Fenster auf eine Gruppe von Bäumen und Sträuchern, die jenseits der Straße stand. »Sie wollte sich wohl heimlich entfernen.«

 

»Können Sie mir den Platz zeigen?« fragte Mike schnell.

 

Er ging mit dem anderen quer über die Straße zu dem Gebüsch, aber in dem Gehölz war nichts zu entdecken. Um besser sehen zu können, kniete er nieder und suchte den ganzen Horizont ab, aber keine Spur von Bhag. Er war überzeugt, daß es der Affe von Griff Towers war. Vielleicht hatte die ganze Sache nichts zu bedeuten, denn Gregory hatte ihm selbst erzählt, daß sich das Tier nachts umhertrieb und daß es völlig harmlos war, vorausgesetzt…

 

Der Gedanke war zu phantastisch, zu absurd – aber der Affe war so außergewöhnlich vernünftig und besaß fast menschlichen Verstand, daß keine Vermutung über ihn unmöglich gewesen wäre.

 

Als er zum Garten zurückkehrte, sah er Helen stehen. Sie hatte ihre Szene zu Ende gespielt und beobachtete nun die vorsichtigen Bewegungen zweier Filmbanditen, die in dem abgeblendeten Licht der Bogenlampen an der Mauer entlangkrochen.

 

»Entschuldigen Sie eine aufdringliche Frage, Miss Leamington. Haben Sie andere Kleider und Wäsche bei sich?«

 

»Warum wollen Sie das wissen?« fragte sie erstaunt. »Ja, ich habe andere Kleider mitgenommen. Das tue ich immer, für den Fall, daß wir einmal in den Regen kommen.«

 

»Nun noch etwas, haben Sie etwas verloren, als Sie in Griff Towers waren?«

 

»Ich vermisse meine Handschuhe«, sagte sie schnell. »Haben Sie sie gefunden?«

 

»Nein. Wann haben Sie sie verloren?«

 

»Ich habe sie gleich vermißt. Einen Augenblick dachte ich…« Sie hielt plötzlich inne. »Aber das war nur eine dumme Idee –« »Was dachten Sie?« fragte er.

 

»Das möchte ich Ihnen lieber nicht sagen, das ist eine rein persönliche Sache.« – »Sie dachten, daß Sir Gregory sie sich als Andenken angeeignet hat?«

 

Selbst in dem Halbdunkel sah er, wie sie die Farbe wechselte.

 

»Ja, das dachte ich«, sagte sie verwirrt.

 

»Dann ist die Frage, ob Sie noch andere Kleider mitgebracht haben, ziemlich belanglos.«

 

»Worüber sprechen Sie denn eigentlich?«

 

Sie sah ihn argwöhnisch an, und er fühlte, daß sie ihn vielleicht für etwas angetrunken hielt. Aber er konnte ihr im Augenblick unmöglich seine unzusammenhängenden Fragen erklären.

 

»Jetzt müssen alle zu Bett gehen«, sagte Jack Knebworth vernehmlich. »Legen Sie sich jetzt schlafen. Mr. Foß hat allen Räume angewiesen. Morgen früh um vier Uhr müssen wir wieder an der Arbeit sein. Deshalb muß jeder sehen, soviel wie möglich zu schlafen. – Foß, haben Sie die Räume bezeichnet?«

 

»Ja«, sagte der Dramaturg. »Ich habe die Namen an jede Tür geschrieben. Miss Leamington habe ich einen Raum für sich gegeben – ist das recht so?«

 

»Vielleicht«, sagte Knebworth in zweifelndem Ton. »Na, sie ist ja nicht lange genug dort, um sich daran zu gewöhnen.«

 

Helen sagte dem Detektiv gute Nacht und ging direkt in ihr Zimmer. Es war ein kleiner Raum, in dem ein etwas muffiger Geruch herrschte. Die bescheidene Einrichtung bestand aus einer Bettstelle auf Rollen, einer Kommode mit beweglichem Spiegel, einem kleinen Tisch und einem Stuhl. Bei dem Licht ihrer Kerze konnte sie sehen, daß der Fußboden erst kürzlich gescheuert worden war. In der Mitte des Zimmers lag ein abgenützter, quadratischer Teppich.

 

Sie schloß. die Tür, löschte das Licht, entkleidete sich im Dunkeln, ging zum Fenster und öffnete einen Flügel. Dabei bemerkte sie, daß in der Mitte der einen Scheibe ein kreisrundes weißes Papier aufgeklebt war. Zuerst wollte sie es abreißen, aber sie vermutete, daß es ein Merkzeichen für die Filmaufnahmen am nächsten Morgen sei, das Knebworth hatte anbringen lassen.

 

Sie konnte nicht gleich einschlafen. Ihre Gedanken beschäftigten sich mit Mike Brixan, auf den sie sehr ärgerlich war. Sie wußte nicht, ob sie ihn bewundern oder sich über ihn lustig machen sollte. Er war ein sympathischer Mensch, das stimmte. Der sechste Sinn, den Frauen hierfür entwickeln, hatte ihr bereits diese Gewißheit gegeben. Sicherlich hatte er viel Mut. Schließlich siegte der Humor über ihre Gefühle, und sie schlief lächelnd ein.

 

Kaum hatte sie zwei Stunden geruht – ihr schien es nur ein kurzer Augenblick zu sein –, da erwachte sie voller Entsetzen. Das Gefühl einer unmittelbar drohenden Gefahr weckte sie. Sie richtete sich im Bett auf. Ihr Herz schlug heftig. Ängstlich sah sie sich im Zimmer um. In dem blassen Mondlicht war jede Ecke zu erkennen. Nichts rührte sich. Niemand befand sich außer ihr im Zimmer. War vielleicht jemand vor der Tür, der sie aufgestört hatte? Sie stand auf und drückte den Griff leise nieder. Aber die Tür war noch verschlossen. Das Fenster? Es lag nicht sehr hoch über dem Erdboden, wie sie sich erinnern konnte. Sie ging zum Fenster, um den einen Flügel zu schließen. Als sie auch den anderen zumachen wollte, kam plötzlich aus dem Dunkeln ein haariger langer Arm, und fünf Finger legten sich wie ein Schraubstock um ihr Handgelenk.

 

Sie schrie nicht. Sie stand atemlos vor Schrecken, ihr Herz setzte aus. Kalte Todesfurcht faßte sie. Was war das – was konnte das sein? Sie nahm all ihren Mut zusammen und schaute aus dem Fenster. Sie sah ein schreckliches, tierisches Gesicht, aus dem ihr zwei runde, grüne Augen entgegenfunkelten.

 

Kapitel 11

 

11

 

Das unheimliche Wesen gab ein vögelähnliches, sanftes Zwitschern von sich, als ob es mit ihr sprechen wollte. Als sie näher hinschaute, erblickte sie seine weißen Zähne in der Dunkelheit. Es zog nicht an ihrer Hand, es umspannte sie nur fest. Mit einer Hand hielt es sich an den Efeuranken, an denen es emporgeklettert war. Wieder fing das Wesen an zu zwitschern, und jetzt zog es an ihrem Arm. Sie versuchte, ihn zurückzuziehen, aber ebensogut hätte sie versuchen können, einen Maschinenkolben anzuhalten. Plötzlich schwang sich ein großes haariges Bein über das Fensterbrett, und jetzt kam auch die zweite Hand und bedeckte ihr Gesicht, so daß ihr Schrei erstickte. Und doch hatte ihn jemand gehört. Von unten herauf kam ein blitzartiger Feuerschein und der betäubende Knall eines Pistolenschusses. Ein Geschoß pfiff durch die Luft und schlug zwischen den Efeuranken in die Mauer ein. Sofort ließ der große Affe sie los, sprang auf den Boden und verschwand. Halb ohnmächtig fiel sie auf das Fensterbrett, sie war unfähig, sich zu bewegen.

 

Unten löste sich aus dem Schatten des Lorbeergebüsches eine Gestalt, und sie erkannte den mitternächtlichen Schützen. Es war Mike Brixan.

 

»Sind Sie verletzt?« fragte er leise.

 

Sie konnte nur den Kopf schütteln, die Sprache versagte ihr.

 

»Habe ich ihn getroffen?«

 

Unter Aufbietung all ihrer Kräfte versuchte sie zu sprechen.

 

»Nein, ich glaube nicht«, flüsterte sie heiser. »Er ließ sich hinunterfallen.«

 

Mike leuchtete mit seiner elektrischen Taschenlampe den Boden ab.

 

»Ich kann keine Blutspuren finden. Er war sehr schwer zu treffen – ich war besorgt, Sie zu verletzen.«

 

Ein Fenster wurde aufgerissen, und man hörte Knebworths Stimme rufen.

 

»Was bedeutet diese Schießerei? Sind Sie es, Brixan?«

 

»Ja, ich bin es. Kommen Sie herunter in den Garten, ich werde Ihnen alles erklären.«

 

Mr. Longvale schien durch den Lärm nicht aufgewacht zu sein, ebenso keiner der Filmleute. Als Knebworth in den Garten kam, fand er nur Mike Brixan.

 

Mit ein paar Worten erzählte Mike alles, was geschehen war.

 

»Der Affe gehört unserem Freund Penne. Ich habe ihn heute morgen selbst gesehen.«

 

»Was halten Sie davon? Sind Sie der Ansicht, daß er hier umherstreifte und dabei das offene Fenster sah?«

 

Mike schüttelte den Köpf.

 

»Nein«, sagte er ruhig. »Er kam mit einer ganz bestimmten Absicht hierher. Er wollte Ihre Diva entführen. Das klingt zwar hochdramatisch und scheint fast unmöglich zu sein, aber ich bin zu dem Schluß gekommen, daß dieser Affe nahezu menschlichen Verstand hat.«

 

»Aber er kannte Helen doch gar nicht – hatte sie nie gesehen!«

 

»Er hatte aber ihre Witterung«, sagte Mike. »Sie hat in Griff Towers heute ein Paar Handschuhe verloren, und es ist sehr wahrscheinlich, daß sie der edle Gregory Penne gestohlen hat, um Bhag eine unfehlbare Witterung zu geben.«

 

»Das kann ich nicht glauben, das ist unmöglich. Aber ich gebe gern zu«, sagte Jack Knebworth gedankenvoll, »daß diese großen Affen Erstaunliches leisten können. Haben Sie ihn angeschossen?«

 

»Nein, ich habe ihn nicht getroffen, aber ich kann Ihnen versichern, daß dieses Tier früher einmal einen Schuß abbekam, denn sonst wäre es ohne weiteres auf mich losgegangen und wäre jetzt sicher tot.« – »Wie kamen Sie eigentlich hierher?«

 

»Ich war hier auf Wache«, sagte der andere gleichgültig. »Ein Detektiv, der es ernst meint, muß so viele Dinge beobachten, daß er nicht schlafen kann wie gewöhnliche Menschen. Ich hatte auch nie die Absicht, den Garten zu verlassen, weil ich Bhag nämlich erwartete – wer ist da?«

 

Die Tür öffnete sich, und eine schlanke Gestalt, in einen Morgenrock gehüllt, trat heraus.

 

»Liebes Fräulein, Sie werden sich fürchterlich erkälten«, warnte Knebworth. »Was ist Ihnen passiert?«

 

»Ich weiß nicht.« Sie strich über ihr Handgelenk. »Ich hörte plötzlich ein Geräusch und ging zum Fenster. Dann kam dieses schreckliche Wesen und hielt mich fest. Was war eigentlich, Mr. Brixan?«

 

»Weiter nichts Besonderes, nur ein Affe«, sagte er mit gekünstelter Gleichgültigkeit. »Es tut mir leid, daß Sie so geängstigt wurden, Ich glaube, der Schuß hat Sie am meisten erschreckt.«

 

»Das dürfen Sie nicht denken, Sie wissen doch ganz genau, daß ich über den Schuß nicht erschrak. Aber es war schrecklich, ganz schrecklich.« Sie bedeckte ihr Gesicht mit den zitternden Händen.

 

Jack brummte.

 

»Ich glaube schon, daß sie recht hat. Aber, liebes Fräulein, Sie sind unserem Freund hier zu Dank verpflichtet. Offenbar erwartete er diesen Besuch und blieb deshalb im Garten.«

 

»Sie erwarteten ihn?« fragte sie starr vor Staunen.

 

»Mr. Knebworth hat die Rolle, die ich spielte, übertrieben«, sagte Mike. »Und wenn Sie vermuten, daß es die Bescheidenheit eines Helden ist, so sind Sie auf dem falschen Weg. Ich wartete auf diesen Burschen, weil er von Mr. Longvale auf dem Felde gesehen wurde. Sie sahen ihn doch auch, Mr. Knebworth?«

 

Jack nickte.

 

»Wir haben ihn tatsächlich alle gesehen«, fuhr Mike fort. »Und da ich nicht wünschte, daß die Karriere eines neu entdeckten Filmstars durch das Erscheinen eines blöden Affen gestört wird, habe ich im Garten Wache gehalten.«

 

Mit einer plötzlichen Bewegung streckte sie ihre kleine Hand aus, und Mike drückte sie.

 

»Ich danke Ihnen, Mr. Brixan, ich hatte Sie in falschem Verdacht.«

 

»Wem passiert das nicht«, sagte Mike und zuckte die Schultern.

 

Sie ging in ihr Zimmer zurück, und diesmal schloß sie das Fenster fest zu. Aber bevor sie sich zum Schlafen niederlegte, trat sie nochmals ans Fenster, schaute durch die Gardinen und sah einen kleinen, glühenden Punkt. Es war Mikes Zigarre. Dann legte sie sich ruhig wieder zu Bett, um noch möglichst viel zu schlafen, bevor Foß an die Türen klopfen und die ganze Gesellschaft wecken würde.

 

Der Dramaturg war der erste, der unten im Freien war. Der Garten begann langsam im fahlen Morgendämmerlicht sichtbar zu werden. Er wünschte Mike Brixan ein unfreundliches guten Morgen, Mike erwiderte den Gruß.

 

»Da ich Sie gerade treffe, Mr. Foß – warum blieben Sie gestern in Griff Towers zurück, um mit Penne zu sprechen?«

 

»Das geht Sie doch nichts an«, brummte er und wollte vorbeigehen. Mike trat ihm in den Weg.

 

»Aber etwas geht mich sehr wohl an. Ich möchte Sie nämlich fragen, was diese weiße Marke am Fenster von Miss Leamington zu tun hat?« Dabei zeigte er auf das runde Papier, das Helen in der vorigen Nacht auch bemerkt hatte.

 

»Darüber weiß ich nichts«, sagte Foß ärgerlich. Aber es drückte sich Furcht in seiner Stimme aus.

 

»Wenn Sie es nicht wissen, wer soll es dann wissen? Ich habe doch selbst gesehen, wie Sie es gestern anbrachten, kurz bevor es dunkel wurde.«

 

»Nun gut, wenn Sie es durchaus erfahren wollen – es ist eine Marke, die dem Operateur die Grenze des Gesichtsfeldes angibt.«

 

Diese Erklärung klang glaubwürdig. Brixan hatte gesehen, wie Jack Knebworth im Garten die Grenzen abgesteckt hatte, um sicher zu sein, daß die Schauspieler auch auf den Filmstreifen kämen. Bei der ersten Gelegenheit, als er Knebworth sah, fragte er ihn wagen der Sache.

 

»Nein, ich habe niemals Anweisungen gegeben, solche Marken anzuheften. Wo ist sie denn?«

 

Mike zeigte sie ihm.

 

»Da oben würde ich niemals ein Markierungszeichen anbringen, gerade mitten im Fenster. Was mag das zu bedeuten haben?«

 

»Ich glaube, daß Foß eine bestimmte Absicht damit verfolgte. Ich nehme an, daß er es auf Gregorys Wunsch getan hat.«

 

»Aber warum denn?« fragte Knebworth verblüfft.

 

»Um das Zimmer Helen Leamingtons für Bhag kenntlich zu machen. Das ist der Grund«, sagte Mike, und er war von dem, was er sagte, vollkommen überzeugt.

 

Kapitel 12

 

12

 

Mike Brixan wartete nicht, um sich die Filmaufnahmen am frühen Morgen anzusehen. Er hatte selbst etwas vor und verließ Dower House, sobald es, ohne den Anstand zu verletzen, möglich war. Er ging querfeldein und erreichte die Straße, die nach Griff Towers führte. Er hatte sich den Feldweg, der an der Grenze von Gregory Pennes Grundstück entlanglief, genau gemerkt. Wenn er den benutzte, konnte er einen ziemlichen Umweg vermeiden. Als er zehn Minuten gewandert war, kam er zu der Stelle, wo sich der Fußweg von der Fahrstraße trennte. Er schritt schnell und beobachtete den Boden scharf, um womöglich Bhags Fährte zu finden. Aber es hatte lange nicht geregnet, und wenn das Tier nicht verwundet war, konnte er kaum hoffen, seine Spur zu entdecken.

 

Er kam zu der hohen Steinmauer, die die südliche Grenze der Besitzung des Barons bildete. Hier ging er entlang, bis er an einen hinteren Ausgang kam. Vor kurzem mußte jemand hier durchgegangen sein, denn die Tür war nur angelehnt, wie er zu seiner Befriedigung feststellte.

 

Als er eingetreten war, stand er am Rand eines großen Feldes, das anscheinend als Küchengarten benützt wurde. Er konnte niemanden sehen. In der frühen Morgendämmerung machte der Turm einen häßlichen und abschreckenden Eindruck. Kein Rauch kam aus dem Kamin. Griff Towers schien wie ausgestorben. Vorsichtig ging er weiter. Aber er wagte sich nicht aufs offene Feld, sondern hielt sich im Schatten der Mauer, bis er die hohe Hecke erreicht hatte, die im rechten Winkel abbog und den Küchengarten von dem wundervoll angelegten alten Park trennte, den Jack Knebworth gestern als Hintergrund für seine Filmaufnahmen benützt hatte.

 

Immer noch spähte er scharf nach Bhag aus. Er war darauf vorbereitet, diese häßliche Gestalt jeden Augenblick auftauchen zu sehen. Schließlich erreichte er das Ende der Hecke, nur noch wenige Schritte trennten ihn von dem grauen viereckigen Turm, der dem Haus den Namen gab.

 

Von seinem Standpunkt aus konnte er alles überschauen; die zugezogenen weißen Vorhänge und die Totenstille, die in Griff Towers herrschte, hätten einen weniger kritischen Mann als Mike Brixan überzeugt, daß sein Verdacht unbegründet sei.

 

Er zögerte und wußte nicht recht, ob er in das Haus gehen sollte oder nicht. Da hörte er, wie eine Fensterscheibe eingeschlagen wurde. Vom obersten Turmzimmer fielen Glasscheiben herunter. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, die Erde lag noch im dämmerigen Morgenlicht, so daß die Hecke ein gutes Versteck bildete.

 

Wer mochte zu so früher Morgenstunde ein Fenster einstoßen? Jedenfalls konnte das nicht der vorsichtige Bhag sein… So weit war er in seinen Überlegungen gekommen, als plötzlich ein greller, entsetzlicher Schrei die Stille des Morgens zerriß. Er kam vom Turmzimmer und war scharf abgerissen, als ob jemand dem Unglücklichen den Mund mit der Hand geschlossen hätte.

 

Mike packte ein kaltes Grauen. Er verließ sein Versteck, lief schnell über den geschotterten Platz und klingelte am Haupteingang, der sich unmittelbar neben dem Turm befand. Mit einem schnellen Blick ringsum vergewisserte er sich, daß nicht Bhag oder einer der farbigen Diener hinter ihm war.

 

Eine Minute verging und noch eine. Soeben hob er seine Hand, um noch einmal zu läuten, als er schwere Schritte in dem Gang und gleich darauf das Schlürfen von Pantoffeln auf den Fliesen der Halle hörte.

 

»Wer ist da?« fragte eine rauhe Stimme.

 

»Mike Brixan.«

 

Er hörte ein heiseres Räuspern, dann Rasseln von Ketten. Es wurde aufgeschlossen, und die schwere Tür öffnete sich eine Handbreit.

 

Gregory Penne erschien hinter der Tür. Er trug graue Flanellhosen und ein Hemd, dessen Ärmel am Handgelenk nicht geschlossen waren. Sein düsterer Blick erhellte sich, als er Mike Brixan sah. »Was wünschen Sie?« fragte er verwundert und öffnete die Tür etwas weiter.

 

»Ich möchte Sie besuchen«, sagte Mike.

 

»Machen Sie Ihre Besuche immer bei Tagesanbruch?« brummte Gregory und schloß die Tür hinter Brixan.

 

Mike antwortete nicht, sondern folgte Gregory. Die Bibliothek mußte die ganze Nacht benützt worden sein. Die Fensterläden waren fest geschlossen, das elektrische Licht brannte, und vor dem Kamin stand ein Tisch mit zwei Whiskyflaschen. Eine davon war leer.

 

»Wollen Sie ein Glas trinken?« fragte Penne mechanisch und schenkte sich selbst ein. Mike sah, daß seine Hand sehr unsicher war.

 

»Ist Ihr Affe zu Hause?« fragte der Detektiv, indem er die angebotene Erfrischung mit einer Handbewegung ablehnte.

 

»Meinen Sie Bhag? Ich glaube, er ist in seinem Raum. Er geht und kommt, wann er will. Möchten Sie ihn sehen?«

 

»Nein, jetzt nicht«, sagte Mike. »Ich habe ihn die letzte Nacht schon einmal zu Gesicht bekommen.«

 

Penne steckte sich seine ausgegangene Zigarre wieder an, während er sprach. Mit einem schnellen Blick sah er sich im Raum um.

 

»Sie haben ihn vorhin gesehen? Was meinen Sie damit?«

 

»Ich sah ihn in Dower House, als er versuchte, in Miss Leamingtons Zimmer einzudringen, und beinahe hätte er dabei seinen Tod gefunden.«

 

Gregory ließ das brennende Streichholz fallen und stand erregt auf.

 

»Haben Sie auf ihn geschossen?« fragte er.

 

»Ich habe auf ihn geschossen.«

 

Gregory nickte.

 

»So, so«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Deshalb kommen Sie, also. Warum haben Sie das getan? Er ist doch vollkommen harmlos.«

 

»Ich hatte nicht den Eindruck, daß er so harmlos ist«, sagte Mike kühl. »Er versuchte, Miss Leamington aus ihrem Zimmer zu zerren.«

 

Gregory machte große Augen. »Hat er das getan?«

 

Eine Pause entstand.

 

»Sie haben ihn ausgeschickt, um das Mädchen zu holen«, sagte Mike. »Sie haben auch Foß bestochen, ein Zeichen am Fenster anzubringen, so daß Bhag wußte, wo das Mädchen schlief.«

 

Gregory kniff die Lider so weit zusammen, daß man seine Augen nicht mehr sehen konnte. Sein Gesicht war noch eine Schattierung dunkler geworden.

 

»Darauf wollen Sie hinaus?« sagte er. »Ich dachte, Sie meinen es gut mit mir.«

 

»Ich kann nichts dafür, wenn Sie sich falsche Vorstellungen machen«, entgegnete Mike. »Ich sage Ihnen nur«, und dabei berührte er die Brust des anderen mit seinem Finger, »wenn Helen Leamington auch nur das geringste passiert, das mit Ihnen oder Ihrem scheußlichen Affen zusammenhängt, dann werde ich nicht nur Mr. Bhag erschießen, dann komme ich auch hierher und jage Ihnen eine Kugel durch den Kopf. Verstehen Sie mich? Und jetzt sagen Sie mir gefälligst, was bedeutete der Schrei, den ich soeben aus Ihrem Turmzimmer hörte?«

 

»Was zum Teufel bilden Sie sich denn ein, mich so zu verhören?« polterte Penne los. Er war furchtbar wütend. »Sie niederträchtiger, elender kleiner Filmmensch!«

 

Mike nahm eine Karte aus seiner Tasche und reichte sie seinem Gegenüber.

 

»Wenn Sie dies lesen, werden Sie sehen, daß ich das Recht habe, Sie zu fragen.«

 

Gregory las die Karte beim Licht der Tischlampe. Er war vollständig erschlagen. Sein Kinn sank herab, und seine Hand zitterte so heftig, daß die Karte zu Boden fiel.

 

»Ein Detektiv?« sagte er stockend. »Sie – Sie sind ein Detektiv? Was wollen Sie denn von mir?«

 

»Ich habe hier jemanden furchtbar schreien hören«, sagte Mike.

 

»Das war vielleicht einer der Dienstboten – das ist schon möglich. Wir haben eine Papuafrau im Hause, die krank und nicht ganz bei Sinnen ist. Sie soll morgen von hier fortkommen. Ich will einmal nach ihr sehen, wenn Sie gestatten.«

 

Er sah zu Brixan hinüber, als ob er seine Erlaubnis einholen wolle. Seine ganze Haltung war gedrückt, und sein blasses Gesicht und seine Bestürzung genügten Mike, um seinen Verdacht zur Gewißheit werden zu lassen. In diesem Haus ging etwas vor. Er wollte der Sache auf den Grund kommen.

 

»Kann ich gehen und nachsehen?« fragte Penne.

 

Mike nickte. Der große, starke Mann verließ den Raum, als ob er sich fürchtete. Brixan hörte, wie er den Schlüssel umdrehte. Im Nu war er an der Tür und drückte die Klinke herunter. Er war eingeschlossen. Rasch sah er sich im Zimmer um, eilte zu einem Fenster, zog den Vorhang zurück und wollte die Fensterläden öffnen. Aber die waren auch verschlossen. Als er sie genauer untersuchte, entdeckte er, daß sie wie eine Tür versperrt werden konnten. Er fand das kleine Schlüsselloch. Plötzlich gingen alle Lichter im Zimmer aus. Nur die dunkelrote Glut des Kamins verbreitete noch spärliches Licht.

 

Kapitel 7

 

7

 

Joan begab sich gleich in ihr Zimmer. Sie wollte nicht noch einmal mit dem Mann zusammentreffen, in dessen Augen sie vorhin die Abgründe menschlicher Leidenschaften entdeckt hatte. Sie fühlte sich körperlich krank, als sie sich die schrecklichen Augenblicke auf dem Rasen ins Gedächtnis zurückrief.

 

Müde setzte sie sich vor dem Spiegel nieder und ließ alle Eindrücke noch einmal an sich vorüberziehen. Hamons Enthüllungen über James Morlake hatten den größten Sturm der Entrüstung in ihr wachgerufen. Das konnte nicht wahr sein – und doch hätte Hamon nicht gewagt, eine derartige Anklage auszusprechen, wenn er keine Beweise dafür hatte.

 

Sie stand auf, öffnete eine der breiten Türen und trat auf den Steinbalkon über der Einfahrt hinaus. Grell leuchtende Blitze zerrissen den dunklen Nachthimmel. Sie hörte langhinrollende Donner, aber sie achtete nicht auf die düster drohenden Wolken. Aus der Ferne schimmerte ein schwaches, gelbliches Licht zu ihr herüber, das die Lage von Wold House anzeigte.

 

Wußte dieser sonderbare einsame Mann, daß man ihn verdächtigte? Mußte er nicht gewarnt werden? Sie wurde ungeduldig. Es war offenbar heller Wahnsinn, überhaupt an ihn zu denken. Sie kannte ihn nicht und hatte nur um sein ungewöhnlich anziehendes Gesicht allerhand phantastische Träume gesponnen. In der Nähe würden diese Illusionen sicher in nichts zerfließen. Und gerade jetzt wünschte sie das und haßte doch zugleich auch Hamon, weil er den ersten Argwohn in ihrem Herzen geweckt hatte.

 

Wenn dieser Mensch die Wahrheit gesprochen hatte, schwebte Morlake in unmittelbarer Gefahr. Und wenn Hamon gelogen hatte, so führte er doch bestimmt Böses gegen ihn im Schilde.

 

Mit schnellem Entschluß ging sie zum Schrank, nahm einen Regenmantel und einen Hut und legte beides auf ihr Bett.

 

In Creith House zog man sich bald zur Ruhe zurück, aber erst um halb elf hörte sie, wie Stephens die Haustür verschloß. Nach einer weiteren Viertelstunde lag das Haus in tiefem Schweigen.

 

Wieder trat sie auf den Balkon hinaus. Das Licht in Wold House brannte noch immer. Ohne Zögern nahm sie nun den Mantel über den Arm, den Hut in die Hand und schlich sich vorsichtig die breite Treppe zur Halle hinunter.

 

Der Hausschlüssel hing an der Wand. Er war groß und unhandlich, so daß sie ihn kaum in ihre Tasche stecken konnte. Sie schob die Riegel leise zurück und schloß die Tür auf.

 

Sie hatte keine Schwierigkeit, den Weg zu finden, denn die Blitze zuckten unaufhörlich am nächtlichen Himmel. Ihr Herz klopfte wild, als sie im Schatten der rauschenden Walnußbäume den Fahrweg entlangschritt. Bald befand sie sich auf der Hauptstraße.

 

Sie war doch eine Närrin, sentimental und verrückt, sie benahm sich wie ein romantisch veranlagtes Schulmädchen. Ihre Vernunft suchte sie zurückzuhalten, aber ein starkes Gefühl, das nichts mit Verstand oder Überlegung zu tun hatte, ein Instinkt, der stärker war als jede Hemmung, trieb sie vorwärts.

 

Was würden wohl die Nachbarn denken und sagen, wenn sie wüßten, daß sich Lady Joan Carston aufgemacht hatte, nachts einen amerikanischen Verbrecher zu warnen, der verhaftet werden sollte – einen Mann, den sie nicht einmal kannte und mit dem sie noch nie gesprochen hatte! Sie überdachte das alles mit kritischer Selbstironie.

 

Inzwischen war sie zu der hohen Ziegelmauer gekommen, die Wold House umgab. Nur mit Mühe fand sie die Klinke des schmiedeeisernen Tores und drückte sie nieder. Das Licht, das sie bis dahin im Haus gesehen hatte, erlosch plötzlich, und das Gebäude lag nun in vollkommener Dunkelheit vor ihr.

 

Sie hatte gerade einen Schritt auf das Haus zu getan, als sich, die Tür unerwartet öffnete. Ein breiter Lichtschein fiel auf den Weg, und im Rahmen der Haustür sah sie die Silhouette einer Männergestalt. Blitzschnell zog sie sich in den Schutz der Bäume zurück. Hinter dem Fremden tauchte James Morlake auf, der leise auf ihn einsprach. Mit einer gewissen Genugtuung erkannte sie, daß er eine warme, sympathische Stimme besaß.

 

»Fühlen Sie sich jetzt besser?« fragte Morlake.

 

»Ja, ich danke Ihnen.«

 

»Sie werden das Haus an der Straße sicher finden. Ich weiß nichts von einer Mrs. Cornford, aber ich glaube, daß neuerdings eine Dame dort wohnt.«

 

»Es ist ganz unangebracht und unpassend von mir, daß ich hierherkomme … aber ich bin vorhin eingekehrt … dieses schreckliche Gewitter drohte … ich fürchte, ich bin betrunken.«

 

»Das fürchte ich auch.«

 

Es war also Mrs. Cornfords Patient, der Trinker. Die beiden stiegen zusammen die Treppe herunter. Der jüngere Mann schwankte ein wenig, und Morlake stützte ihn.

 

»Ich bin Ihnen sehr verbunden – ganz gewiß –, mein Name ist Fairringdon – Ferdie Farringdon …«

 

Plötzlich sah Joan bei einem aufleuchtenden Blitz das hagere, unrasierte Gesicht des Mannes. Sie mußte sich auf die Lippen beißen, um einen Aufschrei zu unterdrücken, und sie klammerte sich entsetzt an einen Zweig des Lorbeerbusches, der sie deckte. Starr schaute sie den beiden nach, bis sie in der Dunkelheit verschwanden, und sie stand noch reglos, als James allein zurückkehrte.

 

Sie beobachtete ihn genau, als er in das Haus ging und die Tür schloß. Dann wartete sie noch einige Zeit. Große Regentropfen begannen zu fallen, und die Blitze leuchteten greller.

 

Die gespenstische Erscheinung des Betrunkenen mitten in der Nacht hatte sie furchtbar erschreckt, und sie dachte nicht länger daran, Morlake zu warnen. Unter Aufbietung all ihrer Kräfte riß sie sich zusammen und eilte den Fahrweg entlang.

 

Sie versuchte, die großen, eisernen Tore zu öffnen, aber zu ihrer Bestürzung blieben ihre Anstrengungen vergeblich. Morlake mußte zugeschlossen haben, nachdem er Farringdon auf den Weg gebracht hatte. Was sollte sie nun tun?

 

Vorsichtig schlich sie über den Rasen, doch auf dieser Seite war der Fluß. Sie wäre über die Mauer gestiegen, wenn sie nur eine Leiter hätte finden können.

 

Plötzlich öffnete sich die Haustür abermals, und Joan verbarg sich aufs neue im Schatten, als Morlake heraustrat. Er ging schnell den Pfad hinunter, und sie hörte, wie das Tor hinter ihm zuschlug. Sie eilte hin, er hatte nicht abgeschlossen. Mit einem Seufzer der Dankbarkeit und Erleichterung schlüpfte sie hinaus.

 

Nach wenigen Schritten war sie schon vollständig durchnäßt, denn der Regen strömte mit ungewöhnlicher Heftigkeit nieder. Das Rollen und Dröhnen des Donners betäubte sie, und das anhaltende Wetterleuchten und Blitzen blendete ihre Augen. Aber sie kämpfte sich vorwärts, und schließlich konnte sie die Tore von Creith House sehen. Sie fühlte in ihrer durchnäßten Handtasche nach dem Schlüssel und stellte zu ihrer Beruhigung fest, daß sie ihn noch bei sich hatte.

 

Schnell durcheilte sie die Allee und war beinahe am Ziel, als sie entsetzt stehenblieb. Ihre Augen öffneten sich weit. Dicht vor sich sah sie im Licht der Blitze die Gestalt eines schwarzgekleideten Mannes, der bewegungslos mitten auf dem Weg stand. Sie konnte sein Gesicht unter dem breiten Rand des weichen Filzhutes nicht erkennen.

 

»Wer sind Sie?« fragte sie mit zitternder Stimme.

 

Bevor er antworten konnte, war plötzlich alles in Helligkeit getaucht, und ein furchtbarer Donnerschlag folgte unmittelbar. Joan wurde fortgeschleudert.

 

Einen Augenblick war der Mann starr vor Schrecken, dann sprang er mit einem unterdrückten Ausruf vorwärts, hob sie auf und trug sie von dem brennenden Baum fort. In einem der Fenster des Herrenhauses erschien Licht. Die Bewohner waren erwacht – der große, brennende Walnußbaum mußte sie bald ins Freie locken.

 

Der Mann schaute sich um und entdeckte eine Gruppe von Rhododendronsträuchern. Er konnte das bewußtlose Mädchen gerade noch hinter dieses Gebüsch tragen, bevor der Butler heraustrat.

 

Der Fremde wußte nicht, wer Joan war. Er hielt sie für ein Dienstmädchen, das verspätet aus dem Dorf zurückkam, und er nahm sich auch nicht die Mühe, sie genauer zu betrachten. Dadurch wäre er wahrscheinlich auch nicht klüger geworden, denn Joans Gesicht war mit weicher Erde beschmutzt, in die sie glücklicherweise gefallen war.

 

Sie kam bald wieder zu sich, öffnete die Augen und sah verzweifelt um sich. Jemand hielt ihren Kopf auf den Knien, ihr Gesicht war naß, und über ihr bewegten sich Zweige und Äste – wie mochte sie wohl hierhergekommen sein?

 

»Ich glaube, es wird Ihnen bald wieder bessergehen.«

 

Sie erkannte Jim Morlakes Stimme und starrte ihn betroffen an.

 

»Was ist denn geschehen?« fragte sie. Dann entdeckte sie den schwelenden Baum und zitterte. Der Blitz hatte dort eingeschlagen, und nur durch ein Wunder war sie entkommen.

 

»Ich danke Ihnen so sehr –« begann sie, als der Himmel wieder grell aufleuchtete.

 

In dem hellen Schein sah sie, daß Morlakes Gesicht von den Augenbrauen bis zum Kinn von einer schwarzseidenen Maske verhüllt war …

 

Kapitel 8

8

»Es ist also doch wahr – wirklich wahr«, sagte sie atemlos. Er hörte das Entsetzen in ihrer Stimme und schaute auf sie nieder. »Was soll wahr sein? Aber bitte sprechen Sie nicht zu laut, man wird Sie hören.« Sie versuchte, die Herrschaft über sich wiederzugewinnen. »Sie sind ein Einbrecher«, sagte sie endlich. »Glauben Sie … etwa wegen der Maske? Aber eine Maske macht noch keinen Einbrecher, so wenig wie eine Schwalbe einen Sommer macht. In einer so feuchten Nacht wie dieser muß sich ein Mann, der auf seinen Teint hält, natürlich gegen die Witterung schützen …« »Ach, machen Sie doch jetzt nicht so dumme Scherze!« Gleich darauf wurde ihr klar, daß ihre Entrüstung nicht mit ihrer hilflosen Lage in Einklang stand. Sie lag auf dem feuchten Gras, ihr Gesicht … Sie hoffte, daß er es nicht sehen konnte, und wischte heimlich den dicken Lehm mit einem Zipfel ihres Regenmantels ab, den sie trotz des Unwetters in ihrer Aufregung über dem Arm getragen hatte. »Würden Sie so liebenswürdig sein, mir aufzuhelfen?« Er neigte sich über sie und hob sie ohne jede Anstrengung auf. »Wohnen Sie im Herrenhaus?« fragte er höflich. »Ja, ich wohne dort. Sind Sie … waren Sie im Begriff, hier einzubrechen?« Er lachte leise: »Sie würden es mir ja doch nicht glauben, daß ich kein Einbrecher bin –« »Also sind Sie – ein Dieb?« »Ja, das bin ich.« Sie wäre bitter enttäuscht gewesen, wenn er etwas anderes gesagt hätte. Ein Räuber und Einbrecher mochte er sein – aber daß er ein Lügner gewesen wäre, hätte sie nicht ertragen. »Bei uns gibt es nichts zu rauben, Mr. –« sie brach plötzlich ab. Ob er wohl wußte, daß sie ihn erkannt hatte? »Nun, Mr. –?« wiederholte er und wartete auf den Namen. »Sie sagten doch vorhin: ›Es ist also doch wahr‹ – meinten Sie damit, daß ich ein Einbrecher sei? Erwarteten Sie denn heute abend einen solchen Besuch?« »Ja«, erwiderte sie ohne die geringsten Gewissensbisse. »Mr. Hamon sagte, daß bei uns eingebrochen werden könnte.« Es war freie Erfindung von ihr, aber sie hatte nicht gedacht, daß ihre Worte so großen Eindruck auf ihn machen würden. »Ach, Sie sind zu Besuch hier? Ich bitte Sie vielmals um Verzeihung – ich dachte, Sie seien … nun ja, ich wußte nicht genau, was ich aus Ihnen machen sollte. Sehen Sie doch bitte einmal nach dem Hause hin.« »Warum denn?« »Bitte –« Sie gehorchte und wandte ihm den Rücken. Es kam eben ein Mann heraus und näherte sich dem brennenden Baum. Er trug eine Sturmlaterne in der Hand und kam nur zögernd näher. »Das ist Stephens«, sagte sie und drehte sich wieder um. Aber sie war allein, der Mann mit der schwarzen Maske war verschwunden. In der allgemeinen Aufregung gelang es ihr, unbemerkt nach oben in ihr Zimmer zu kommen. Sie war Frau genug, vor allem ihre äußere Erscheinung in Ordnung zu bringen, und erst als sie ein Bad genommen hatte und in ihrem Bett lag, dachte sie wieder an ihr Abenteuer. Nun hast du deine Illusionen wohl endlich verloren, Joan Carston, sagte sie ernüchtert zu sich. Dein Wunderprinz ist ein Einbrecher, und für Einbrecher kannst du dich doch nur interessieren, wenn du krankhaft bist. Laß es dir eine Lektion sein und benimm dich in Zukunft wieder vernünftig. Nach diesem Selbstgespräch stand sie auf und schaute zwischen den großen Baumgruppen des Parks nach Wold House hinüber. Das schwache Licht brannte – Mr. Morlake war heimgegangen. Sie seufzte dankbar und legte sich wieder hin.

Kapitel 9

 

9

 

Joan kam am nächsten Morgen frühzeitig herunter, denn sie wollte mit dem Frühstück fertig sein, bevor Mr. Hamon aufstand. Sie hatte ihre Mahlzeit auch beinahe beendet, als er in das Zimmer stürzte. Sein Anblick war jedoch nichts weniger als gesellschaftsfähig. Er trug nur Strümpfe, eine Hose, von der die Träger herabhingen, und eine lebhaft gestreifte Pyjamajacke. Außerdem war er nicht rasiert, und Wut und Ärger entstellten seine Züge.

 

»Wo ist Stephens?« rief er wild. Aber plötzlich erkannte er, daß weder sein Ton noch seine äußere Erscheinung den Regeln des Anstands entsprachen, und er wurde sehr höflich. »Entschuldigen Sie bitte, Lady Joan, aber ich bin furchtbar aufgeregt – ich bin bestohlen worden!«

 

Sie schaute ihn mit großen Augen an.

 

»Hat man Ihnen vielleicht die Schuhe oder den Rock weggenommen?« fragte sie ironisch.

 

Er wurde rot.

 

»Ich entdeckte es gerade im Augenblick – ich meine den Diebstahl. In der vergangenen Nacht ist jemand in mein Zimmer eingebrochen und hat meine Brieftasche mit dreitausend Pfund gestohlen – das kann kein anderer gewesen sein als dieser Hund – dieser Morlake! Ich habe diesem Schwein auch noch eine Chance gegeben –«

 

»Es ist sehr schade, daß der Einbrecher nicht auch Ihren Wortschatz gestohlen hat«, erwiderte sie kühl.

 

Sie war durchaus nicht so gleichgültig, wie sie vorgab. Morlake war also doch zurückgekommen!

 

Sie hatte sich durch den Lichtschein in dem Zimmer von Wold House irreführen lassen. Aber vielleicht war James Morlake auch gar nicht dafür verantwortlich? Nach den etwas verworrenen Angaben Hamons, den Aussagen Stephens‘ und den Überlegungen ihres Vaters war offensichtlich in den frühen Morgenstunden irgendein Unbekannter durch eines der Fenster eingedrungen und hatte unter dem Kopfkissen Ralph Hamons eine Brieftasche entwendet, die etwa drei- bis viertausend Pfund enthielt. Auch hatte er sich den Scherz erlaubt, den Revolver, der auf einem Tisch an Hamons Bett lag, zu entladen.

 

»Also, mein Lieber«, sagte Lord Creith, der durch die dauernde Wiederholung der Geschichte und die Aufzählung der Einzelheiten gelangweilt wurde, »es ist doch das Einfachste von der Welt, wenn Sie sich an die allerdings etwas langsame Polizei wenden und der alles berichten. Die Leute sind unten im Garten und trampeln meine Blumenbeete kaputt. Die interessieren sich viel mehr als ich dafür, daß Sie Mr. Morlake im Verdacht haben. Als Ortsvorsteher werde ich gern den Haftbefehl gegen ihn unterschreiben oder, was in diesem Fall bedeutend wichtiger wäre, sein Haus durchsuchen lassen. Wenn er Ihr Geld gestohlen hat, wird man es ja auch bei ihm finden.«

 

»Nein, das möchte ich nicht«, entgegnete Hamon etwas kleinlaut. »Ich habe keine Beweise.«

 

»Aber Sie haben doch behauptet, daß die Polizei ihn dauernd beobachtet«, mischte sich Joan in die Unterhaltung. Sie erkannte jedoch sofort, daß ihre Bemerkung vielleicht dazu beitragen könnte, den Dieb zu fangen, und es lief ihr heiß und kalt den Rücken hinunter.

 

»Mein Freund, Inspektor Marborne, überwacht ihn seit Jahren. Nein, ich will diesen Fall nicht der Ortspolizei übergeben, die würde die ganze Sache verpfuschen. Außerdem ist ein Mann wie Morlake viel zu schlau, das gestohlene Geld in seinem Haus aufzubewahren. Ich gehe später hin und spreche selbst mit ihm.«

 

Er sah böse zu Joan hinüber, als sie lachte.

 

»Es tut mir leid«, entschuldigte sie sich, »aber das klingt mir doch sehr komisch, daß der Bestohlene selbst mit dem Dieb verhandelt. Wollen Sie das tatsächlich tun?«

 

»Auf alle Fälle war es grenzenlos töricht, so viel Geld in der Tasche herumzuschleppen«, mischte sich Lord Creith ein. »Dreitausend Pfund bringt man auf die Bank, mein Lieber! Wozu gibt es denn Safes und Stahlkammern?« Er schaute auf die Uhr. »In einer halben Stunde fahre ich in die Stadt. Leider kann ich Sie nicht einladen, mitzukommen, weil in meinem Auto nur zwei Personen Platz haben.«

 

»Ach, Sie fahren in die Stadt?« fragte Hamon enttäuscht. »Ich dachte, Sie würden den Rest der Woche noch hier verbringen.«

 

»Ich habe es Ihnen doch schon am Montag gesagt«, erwiderte der Lord, obgleich das nicht stimmte. »Bei Tattersall ist morgen eine große Auktion, bei der ich zugegen sein will, und Joan muß zu ihrem Zahnarzt … Wenn es Ihnen beliebt, können Sie ruhig hierbleiben, ich möchte Sie in Ihren Plänen durchaus nicht stören.«

 

»Wann kommen Sie zurück?«

 

»Wahrscheinlich in einem Monat.«

 

Ralph Hamon überlegte sich, daß es auch für ihn besser war, in die Stadt zu fahren. Er bemerkte, daß sein Wagen groß genug sei, alle mitzunehmen, aber man achtete nicht auf seinen Vorschlag.

 

»Die Sache hätten wir nun also glücklich hinter uns«, meinte Lord Creith mit einem Seufzer der Erleichterung, als sein Auto durch das Tor auf die Hauptstraße fuhr. »Hamon ist ja sonst eine ganz hervorragende Persönlichkeit, aber er fällt mir doch auf die Nerven.«

 

Kapitel 54

 

54

 

Zwei Schüsse fielen zu gleicher Zeit. Sadi Hafis stürzte mit einem Schrei in die Knie und brach zusammen.

 

»Schnell aufs Pferd!« sagte Jim und hob Joan in den Sattel.

 

In der nächsten Sekunde hatte er sich hinter sie geschwungen. Das starke Tier holte weit aus, obwohl es doppelte Last zu tragen hatte. Jim schaute über die Schulter zurück und sah, daß Sadis Gefolgsleute anhielten, um ihrem gefallenen Häuptling zu helfen.

 

»Zehn Minuten Vorsprung! Wenn wir Glück haben, entkommen wir ihnen!«

 

Er überließ die Richtung dem Pferd, das die Gegend genau kannte und dessen Augen in der Dunkelheit etwaige Hindernisse erkennen konnten. Von den Verfolgern war noch nichts zu sehen, aber Jim gab sich keinen falschen Hoffnungen hin. Wenn Sadi Hafis noch imstande war, einen Befehl zu geben, würden seine Leute bald hinter ihnen her sein.

 

Nachdem sie eine Stunde geritten wären, merkte Jim, daß das Pferd müde wurde. Er sprang ab und klopfte ihm die Mähne.

 

»Hier an der Küste war früher ein Wachthaus«, sagte er. »Aber ich weiß nicht, ob uns eine maurische Wache freundlicher gesinnt ist als Sadi Hafis.«

 

Sie schaute auf ihn nieder und versuchte, in den häßlichen Zügen eine Spur von dem Gesicht zu entdecken, das ihr so lieb und vertraut war.

 

»Bist du es wirklich, Jim?«

 

»Ja, natürlich!« erwiderte er lachend. »Ist meine Maske nicht gut? Es ist die alte Verkleidung, die ich früher immer trug. Wenn Sadi nur den Verstand eines Kaninchens gehabt hätte, würde er sich daran erinnert haben. Die Nase ist allerdings die größte Schwierigkeit, denn das Wachs wird in der Sonne warm und muß immer wieder nachmodelliert werden. Das andere ist dafür sehr einfach.«

 

»Aber du hast ja keine Zähne«, sagte sie, als sie die schwarze Höhle in seinem Mund sah.

 

»Doch, sie sind alle noch an ihrer Stelle! Eine Zahnbürste entfernt die Schwärze wieder.«

 

Vor Tagesanbruch hielten sie in der Nähe eines Baches, sattelten das Pferd ab und gaben ihm zu trinken.

 

»Ich fürchte, ich kann dir nichts zu essen anbieten«, sagte Jim. »Das einzige, was ich tun kann –«

 

Er streifte den Fellab ab, löste das schmutzige Hemd ein wenig, zog einen kleinen, wasserdichten Beutel hervor und ging zu dem naheliegenden kleinen Bach. Er ging als alter, häßlicher Mann und kam als Jim Morlake wieder zurück.

 

»Ich glaube, ich träume«, sagte sie leise. »Und wenn ich aufwache –« Sie zitterte.

 

»Du warst noch nie so wach wie in diesem Augenblick. Wir sind zwei Meilen von der Küste entfernt, und wenn Sadi nicht sehr dringliche Befehle gegeben hat, folgen seine Leute uns nicht bis hierher.«

 

Jims Vermutung war richtig. Sie sahen nichts mehr von den Verfolgern und erreichten das kleine Gebäude. Es stand unter dem Befehl eines spanischen Offiziers.

 

»Von hier aus müssen wir nun an der Küste entlangreiten und versuchen durchzukommen«, sagte Jim, nachdem er mit dem Offizier gesprochen hatte. »Die Spanier können uns nicht begleiten, denn die Franzosen sind eifersüchtig darauf bedacht, daß sie die Grenze nicht überschreiten. Aber ich glaube nicht, daß wir noch einmal belästigt werden.«

 

Am Abend schlugen sie an der Küste ein Lager auf und sahen die Lichter von Tanger beinahe vor sich. Jim hatte von dem spanischen Posten Tücher und Decken geliehen und breitete sie unter den Ruinen eines alten maurischen Wachthauses aus. Dann zog er sich zurück, um Wache zu halten.

 

Als Joan sich zum Schlafen niedergelegt hatte, dachte sie darüber nach, ob die Trauung wohl gesetzlich und bindend gewesen war, und sie hoffte mit aller Inbrunst, daß es so sein möchte.