Kapitel 20

 

20

 

In Scotland Yard machte man sich die größten Sorgen, weil sich keiner der Bedrohten an die Polizei gewandt hatte. An einem Abend hatten die Polizisten allein acht brennende Kerzen an verschiedenen Fenstern gezählt; die Namen der Wohnungsinhaber waren sorgfältig notiert worden.

 

»Ich wünsche nur«, sagte Terry, »es käme ein Mutiger und sagte: ›Hier ist ein Brief, nun ist es Ihre Sache, mich zu beschützen!‹ Wenn ich morgen einen solchen Brief bekomme, bin ich glücklich.«

 

Am nächsten Morgen um zehn wurde sein Wunsch erfüllt, aber er fühlte sich durchaus nicht glücklich: Leslie Ranger nämlich hatte einen Drohbrief erhalten, in dem man von ihr eine Zahlung von fünfhundert Pfund verlangte …

 

Sie brachte den Brief persönlich ins Präsidium. Sie faßte die Sache mehr von der heiteren Seite auf und war keineswegs ängstlich.

 

Als Terry die blaue Formularfarbe sah, wußte er sofort, was das zu bedeuten hatte. Er wurde bleich und gab Jiggs Allerman das Schreiben.

 

»Haben Sie denn fünfhundert Pfund, Miss Ranger?« fragte Allerman stirnrunzelnd »Aber natürlich: Sie haben ja tausend Pfund geerbt! Sie brauchten also nur die Hälfte abzugeben …«

 

»Lächerlich!« erklärte Leslie. »Die Leute haben sich doch da nur einen Scherz erlaubt!«

 

Die beiden Detektive sahen sich an. »Halten Sie das für einen Scherz, Jiggs?«

 

»Nein, auf keinen Fall. Was werden Sie unternehmen, Terry?«

 

»Das weiß ich noch nicht. Vor allem werde ich dem Chef die Sache mitteilen. Miss Ranger bleibt am besten in Scotland Yard. Wir haben ein Reservezimmer, in dem man ein Bett aufschlagen kann. Ich werde mit der Frau sprechen, die dafür zu sorgen hat.« Er eilte hinaus.

 

»Ist es wirklich so ernst?« fragte sie, als sie mit Allerman allein war.

 

»Ach was, Miss Ranger!« versuchte Jiggs sie zu trösten. »Es ist nicht so schlimm. Aber man darf die Sache natürlich nicht leicht nehmen. Ich kenne einen Mann in London, der es nicht für einen Spaß hält.«

 

Er wartete, bis Terry zurückkehrte, entschuldigte sich dann und ließ sich von einem Polizeiauto zum Berkeley Square bringen.

 

Eddie Tanner wäre zu Hause und wollte ihn auch sofort empfangen, bestellte der untersetzte Diener, der ihn eingehend musterte.

 

»Es tut mir leid, daß ich Sie einen Augenblick habe warten lassen«, empfing ihn Tanner. »Nehmen Sie bitte Platz! Wollen Sie eine Importe rauchen?«

 

Jiggs nahm dankend an. »Gibt es was Neues?« fragte er.

 

»Im Augenblick nicht. Ich dachte schon daran, für eine Woche nach Berlin zu fahren. Man kann diese Rechtsanwälte nicht zur Eile antreiben.«

 

»In London passieren recht aufregende Dinge. Aber, ich habe bis jetzt noch nicht gewußt, daß diese Banden auch gegen Frauen arbeiten!«

 

»Wie meinen Sie das?«

 

»Die junge Dame, die früher hier war, Miss Ranger, hat heute morgen einen Drohbrief bekommen. Fünfhundert Pfund soll sie zahlen …«

 

»Leslie Ranger?« Eddie verlor einen Augenblick die Fassung. »Die hat einen Brief bekommen?« Er nahm langsam eine Zigarette aus seinem goldenen Etui und steckte sie an. »Aber ich nehme nicht an, daß das irgendwelche Folgen hat … Welche Maßnahmen wollen Sie ergreifen?«

 

Jiggs grinste. »Das werden wir heute in den Abendblättern mitteilen. Achten Sie genau darauf!«

 

Eddie lachte. »Das war allerdings eine dumme Frage. Gehen Sie schon wieder?«

 

Jiggs nickte. »Ich bin bloß auf einen Sprung zu Ihnen gekommen.«

 

An diesem Abend ging Kerky Smith um Viertel nach sieben in der großen Eingangshalle seines Hotels nervös auf und ab. Er war in Abendkleidung und trug eine Gardenie im Knopfloch.

 

»Kerky, Sie sehen wirklich großartig aus!«

 

Smith ließ wie von ungefähr die Hand in die Rocktasche gleiten. »Hallo, Eddie!«

 

»Kommen Sie mit in den Palmengarten! Trinken Sie ein Glas mit mir!« Eddie winkte einem Kellner. »Wollen Sie in die Oper?«

 

»Nein, ins Schauspieltheater. Diese verdammten Frauen! Immer muß man auf sie warten … Cora hat heute nachmittag Einkäufe gemacht.« Kerky sah wieder auf die Uhr. »Sie braucht gewöhnlich eine Stunde, um sich schön zu machen.«

 

»Merkwürdig, daß die Freuen einen immer warten lassen!« Ed blies einen Rauchring in die Luft und beobachtete, wie sich dieser zerteilte. »Können Sie sich auf meine Sekretärin besinnen? Miss Leslie Ranger? Ein entzückendes Mädchen! Ich habe den ganzen Nachmittag auf sie gewartet, aber sie ist in Scotland Yard. Irgendein Spaßvogel hat ihr einen Brief geschickt, in dem es heißt: ›Geld oder Leben!‹ Soviel ich weiß, sind Jiggs und Terry Weston sehr aufgeregt darüber. Ich habe ihnen gesagt, sie brauchten sich weiter keine Sorgen zu machen.«

 

»Ganz recht!« entgegnete Kerky, der dauernd den Eingang beobachtete.

 

»Ich werde Ihnen auch mitteilen, warum ich die beiden beruhigen konnte.« Eddie sah auf seine Zigarette, als ob er dort etwas ablesen wollte. »Es wird Miss Ranger nicht mehr geschehen als einer anderen Frau – sagen wir einmal: Cora. Nehmen wir an, man würde morgen Miss Ranger tot auffinden, dann gehe ich die größte Wette ein, daß Sie zum Frühstück auch Coras Kopf in einem Fruchtkorb präsentiert bekämen.«

 

Kerky hörte plötzlich mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Er konnte nicht verhindern, daß seine Lippen zitterten. Er liebte Cora und war sehr stolz auf sie. Aber er wußte auch, daß der Mann, der ihm gegenübersaß und so nachlässig seine Zigarette rauchte, vollkommen gefühllos war. Coras Kopf bedeutete Eddie so viel wie der eines Hammels.

 

»Gut, dann ist das abgemacht, Eddie!« Kerky räusperte sich, denn seine Stimme hatte merkwürdig heiser geklungen.

 

Tanner erhob sich und sah auf die Uhr. »Es tut mir leid, daß Sie Ihr Theater versäumt haben. Ich glaube, Cora ist irgendwo bei dem regen Verkehr in der Stadt aufgehalten worden. Gegen acht wird sie sicher zurückkommen.«

 

Fünf Minuten nach acht erschien Cora wütend, aber auch ein wenig verstört im Hotel. Sie sprach aufgeregt auf Kerky ein, als sie oben in ihren Räumen waren. »Du wirst diesen gemeinen Kerl zur Strecke bringen! Das ist doch die Höhe der Unverschämtheit, mich in ein Zimmer einzusperren! Die Lumpen haben mir vorgelogen, du wärst krank, und ich sollte schnell zu dir kommen …«

 

»Mach endlich den Mund zu, Liebling!« erwiderte Kerky.

 

»Ich habe furchtbare Kopfschmerzen.«

 

Er grinste. »Sei froh, daß du noch einen Kopf hast, in dem du Schmerzen fühlst! Glaube mir, Cora: Der Kerl ist schlau! Ich wünschte nur, er wäre auf unserer Seite.« –

 

Punkt acht wurde Jiggs Allerman ans Telefon gerufen; er erkannte Eddies Stimme.

 

»Sie brauchen sich um Miss Ranger keine Sorge zu machen! Ich halte die Sache bestimmt für einen Scherz!«

 

»Großartig!« sagte Jiggs und brachte Terry die Nachricht.

 

»Man kann sich doch aber auf das Wort eines solchen Menschen nicht verlassen?«

 

»Das kann man schon – glauben Sie mir nur!« entgegnete Jiggs mit Nachdruck.

 

Terry war aber doch nicht ganz überzeugt und ließ Leslie nur ungern wieder in ihre Wohnung zurückkehren. Sie erfuhr nichts von den näheren Umständen und war eigentlich froh, daß sie sich wieder frei bewegen konnte. Sie merkte auch nichts von der Anwesenheit des Detektivs, der die ganze Nacht vor ihrer Wohnung Wache hielt. Ebensowenig wußte sie, daß während derselben Zeit ein Auto ihrer Haustür gegenüberstand, in dem ein Maschinengewehr angebracht war. Jack Summers, der bekannteste Scharfschütze von Chikago, war der Chauffeur. –

 

Am nächsten Nachmittag bekam Leslie Besuch: Jiggs Allerman und Terry Weston erschienen zum Tee. Beide wollten sich die Wohnung genau ansehen, vor allem die Zugänge. Außerdem hätten sie gern erfahren, was sie vor drei Tagen in der City gemacht hatte.

 

Jiggs kam auf die Sache zu sprechen. »Vor ein paar Tagen haben Sie einen guten Bekannten von uns in der Stadt getroffen – Inspektor Tetley?« fragte er.

 

»Ja. Ich kam von Rotherhithe zurück und mußte an einer Straßenecke warten. Er kam ans Auto und sprach mit mir. Ich kannte ihn zuerst nicht …«

 

»Nun, vermutlich wartete er auf Sie. Er hat mindestens zehn Minuten an der Straßenkreuzung gestanden und Ausschau gehalten. Als dann Ihr Wagen kam, ging er sofort auf ihn zu. Wie er allerdings das Taxi herausfand, ist mir ein Rätsel.«

 

Plötzlich dachte Leslie wieder an die weißen Papierfetzen, die an das Auto geklebt waren, und erzählte den beiden davon. »Ich vermutete, daß der Mann auf dem Motorrad das getan hat«, schloß sie ihren Bericht.

 

»Nun müssen Sie uns den Mann und das Motorrad noch genau beschreiben!« verlangte Jiggs lebhaft.

 

Sie erfüllte seinen Wunsch und erwähnte auch, daß sie die Stimme des Betreffenden wieder erkannt hätte, als er sich in Rotherhithe mit einem andern unterhielt.

 

»Sie glauben also, daß es derselbe war, der Sie an jenem Abend nach Decadons Ermordung entführte?« Jiggs rieb sein Kinn. »Und die beiden Kerle trugen Wasserstiefel und blaues Zeug und trieben sich in der Nähe einer Werft herum? Wer hat denn den Möbelspeicher gekauft? Aber das können Sie wohl nicht wissen … Das war alles, was sie sagten?«

 

»Ja, sie machten dann nur noch einen Scherz über ein paar Mädchen. Aber das ist sicher zu unwichtig …«

 

»Nichts ist zu unwichtig! Wie war das denn?«

 

Sie erzählte es ihnen.

 

»Jane und Christabel?« Jiggs runzelte die Stirn. »Das klingt allerdings nach einem Liebesabenteuer.«

 

Er fing einen Blick Terrys auf und änderte das Gesprächsthema. Als sie wieder auf der Straße waren, kam er darauf zurück. »Warum haben Sie mir eigentlich vorhin zugezwinkert?«

 

»Ach, es ist nur eine vage Vermutung«, sagte Terry schnell. »Hierzulande haben alle Schlepper Doppelnamen – gewöhnlich sind es Mädchennamen; und ich möchte behaupten, daß irgendwo auf der Themse eine ›Jane und Christabel‹ fährt, auf der die beiden Kerle beschäftigt sind.«

 

Als sie nach Scotland Yard zurückgekehrt waren, setzte sich Terry mit dem Direktor der Strompolizei in Verbindung, der ein ausgezeichnetes Gedächtnis für Schiffe und Schiffsnamen hatte und alle Fahrzeuge kannte, die auf den Fluten der Themse schaukelten.

 

»Jane und Christabel? Ja, die kenne ich!« erwiderte der Beamte. »Ein großer Schlepper mit zwei Maschinen … Früher gehörte er der Calcraft-Concrete-Company, und als die Gesellschaft in Konkurs ging, wurde er verkauft. Ich werde sofort in den Listen nachschlagen.«

 

Zehn Minuten später meldete er, daß der Dampfer an einen Mister Grayshott aus Queensborough veräußert worden war und daß er gewöhnlich im Pool ankerte. Vor vierzehn Tagen hatte er eine Holzladung nach Teddington gebracht; seit der Zeit wurde ein Maschinendefekt repariert, und der Kapitän hatte infolgedessen alle Angebote zurückgewiesen.

 

»Wo liegt er jetzt?« fragte Terry.

 

»Wahrscheinlich im Pool; vielleicht aber auch bei Greenwich.«

 

Es dauerte noch drei Viertelstunden, bis die genaue Lage des Schiffes festgestellt wurde. Die ›Jane und Christabel‹ war mit eigener Kraft auf dem Strom weitergedampft und hatte bei der Isle of Dogs festgemacht. »Sie ist außerdem schon wieder verkauft und wird nach Amerika gehen«, berichtete der Direktor der Strompolizei. »Es ist auch bereits ein Teil der amerikanischen Besatzung an Bord, doch gibt es noch verschiedene Schwierigkeiten wegen der Schiffspapiere.«

 

 

Am Abend ließ sich Terry Weston in seinem Dienstwagen nach Greenwich bringen. Ein Polizeimotorboot wartete am Ufer schon auf ihn. Gleich darauf fuhr es in weitem Bogen auf den Fluß hinaus und dann stromauf.

 

»Dort ist er!« sagte plötzlich der Sergeant, der das Motorboot steuerte.

 

Terry richtete sein Nachtglas auf den großen, stattlichen Schleppdampfer mit den zwei Schornsteinen, der nahe am Ufer lag. Mit Ausnahme der Lichter, die die Vertäuung anzeigten, war alles dunkel.

 

»Wollen Sie an Bord?«

 

»Nein – ich möchte die Leute in keiner Weise beunruhigen, sie dürfen nicht wissen, daß sie beobachtet werden. Aber Sie, Sergeant, müssen das Schiff Tag und Nacht bewachen! Ich habe mit dem Direktor verabredet, daß er Ablösungsmannschaft in einem Privat-Motorboot herschickt. Wir wollen in diesem Fall alles vermeiden, was nach Polizei aussieht. Wenn etwas mit dem Schiff passiert, muß es sofort dem Präsidium gemeldet werden!«

 

Als Weston in seine Wohnung zurückkehrte, fand er dort Jiggs, der eine Abendzeitung las. Darin stand ein Artikel, der sich mit der augenblicklichen Lage befaßte und in dem die angekündigten Gesetzesvorschriften veröffentlicht wurden.

 

»Die Gangster werden wohl doch aufmerksam werden, wenn sie das lesen«, meinte Jiggs. »Todesstrafe für Bombenattentate; lebenslängliches Zuchthaus für Leute, die im Besitz von Bomben sind; fünfundzwanzig mit der neunschwänzigen Katze für Tragen geladener Feuerwaffen; sieben Jahre Zuchthaus und fünfundzwanzig Hiebe für Verschwörung zum Zweck der Erpressung … Außerdem sind fünfzigtausend Pfund Belohnung ausgesetzt für Mitteilungen, die zur Verurteilung der an den letzten Morden schuldigen Personen führen …« Er faltete die Zeitung. »Na, erst mal muß man die Schufte fangen, bevor man sie bestrafen kann! Das ist eine alte Wahrheit … Die Kerle kriegen meiner Meinung nach jeden Tag vierzigtausend Pfund herein. Überlegen Sie sich das mal, mein Junge! Die Schießerei hat sich gelohnt!«

 

Kapitel 21

 

21

 

Jiggs beschrieb Cora Smith sehr richtig als außergewöhnlich hübsch, aber etwas dumm. Wenn sie nicht so beschränkt gewesen wäre, hätte sie längst bemerkt, daß die Geduld ihres Mannes zu Ende ging. Nachdem sie ihm zum hundertstenmal vorgestöhnt hatte: »Kannst du denn nichts tun?« faltete er die Zeitung sorgfältig und warf sie in den Papierkorb.

 

»Hör zu, Cora! Es kommt nicht oft vor, daß ich über mein Geschäft mit jemand spreche. Das weißt du sehr gut. Sicher war es unangenehm für dich, daß sie dich in ein Zimmer sperrten und dir einschärften, du solltest warten. Soll ich dir sagen, warum das geschah? Jemand muß einen Drohbrief an Leslie Ranger geschickt haben. Du kennst sie, weil du mit ihr gesprochen hast. Sie sollte doch meine Sekretärin werden. Du weißt, was das bedeutet, und brauchst also keine weiteren Fragen zu stellen.«

 

»Was hat das denn mit mir zu tun?«

 

»Nun gut, ich will es dir sagen. Die Leute glaubten, daß ich Einfluß auf die Banden hätte, die hier in London an der Arbeit sind. Deshalb haben sie dich eingesperrt, bis jemand den Brief an Leslie Ranger zurückzog und erklärte, daß es ein Scherz sei. Wenn dieser Jemand den Brief nicht zurückgezogen hätte – willst du wissen, was dann geschehen wäre, Cora? Dann hätten sie dir den Kopf abgeschnitten!«

 

»Mir?« Sie sah ihn entsetzt an.

 

Er nickte ernst. »Ja. Sie wollten ihn mir zum Frühstück schicken.«

 

Sie lachte verächtlich.

 

»Hör auf zu lachen, mein Kind! Glaube mir – die hätten es wirklich getan!«

 

Sie kochte vor Wut. »Und das alles wegen dieser verdammten Stenotypistin? Was weißt du sonst noch von der Sache, Kerky? Du sitzt hier herum und tust, als ob das gar nichts wäre …«

 

»Es wird etwas geschehen – früher, als du glaubst. Das laß ich dem Jungen nicht durchgehen – darauf kannst du dich verlassen!«

 

»Und von dem Mädel darfst du dir das auch nicht gefallen lassen!« rief sie wild.

 

Kerky lächelte. – »Warte nur!« sagte er bedeutungsvoll.

 

Aber am nächsten Morgen trat ein Ereignis ein, das den Gedanken an Leslie Ranger bei ihm ausschaltete. –

 

 

Cuthbert Drood war ein Forschungsreisender von internationalem Ruf. Er galt als ein tüchtiger Jäger und hatte schon manche Expedition nach Afrika und Indien unternommen – ein Mann jedenfalls, dessen Mut über jeden Zweifel erhaben war. Außerdem gehörte er zu den wenigen Colonels, die ihren Titel nicht führten. Er war groß und schlank und hatte blonde Haare, eine verhältnismäßig helle Gesichtsfarbe, verstand ausgezeichnet zu boxen, war einer der besten Pistolenschützen und Junggeselle.

 

Cuthbert Drood wandte sich nicht sofort an die Polizei, als er eines Morgens gleich zwei Drohbriefe erhielt, einen blauen und einen grünen. Etwas Besseres konnte ihm nicht passieren: Die Sache machte ihm ungeheuren Spaß, und er rief sofort eine Nachrichtenagentur an. »In der letzten Zeit scheinen sich die Leute, die Drohbriefe erhalten, nicht mehr vorzuwagen«, sagte er. »Lieber zahlen sie. Die Polizei hat auch eine Heidenangst und sucht die Geschichte zu vertuschen. Deshalb möchte ich Ihnen, bevor ich mich an Scotland Yard wende, davon Mitteilung machen, daß ich sogar zwei Drohbriefe zu gleicher Zeit bekommen habe.«

 

Ein paar Minuten später hatte er sich mit Terry Weston verbinden lassen und erklärte dein Chefinspektor, was sich zugetragen hatte. Er verschwieg auch nicht, daß er die Presse verständigt habe. »Meiner Meinung nach kann die Öffentlichkeit gar nicht genug davon erfahren!« erklärte er.

 

Terry machte Drood später einen Besuch und wurde in die Bibliothek geführt, wo der Colonel mit einem halben Dutzend sonnengebräunter Männer von verschiedenem Alter saß. Vor jedem stand ein Glas Whisky. Terry wurde vorgestellt und erfuhr, daß die Herren Jagdgefährten des mutigen Cuthbert waren.

 

»Wir wollen diese Kerle schon in die Flucht schlagen, wenn sie ihr Geld holen kommen!« meinte Drood. »Meine Freunde werden hier schlafen. Dem Personal habe ich so lange Urlaub gegeben. Wir freuen uns schon auf eine tüchtige Schießerei!«

 

Als Terry ihn verließ, hatte er eine interessante Tatsache festgestellt. Der blaue Brief war einen Tag früher abgeschickt als der grüne. Weil er aber an eine andere Wohnung Droods adressiert war, die dieser zur Zeit vermietet hatte, wurde er gleichzeitig mit dem grünen Brief ausgetragen.

 

Terry holte Jiggs ab und erzählte ihm alles.

 

»Ich habe«, sagte Allerman, »schon in den Abendblättern davon gelesen. Es wird jetzt Komplikationen geben. Eines ist gewiß: Die Blauen und die Grünen haben ein Abkommen getroffen – vermutlich kurze Zeit nach der Ermordung Decadons. Sie haben das wohlhabende London unter sich aufgeteilt und ausgemacht, daß die eine Bande der anderen nicht in die Quere kommen darf. Die doppelte Adresse erklärt, warum Drood zwei Aufforderungen erhielt. Die Blauen haben ihren Brief in die Ebury Street geschickt, weil sie glaubten, daß er dort wohne; und die Grünen sandten ihre Drohung in die Park Street. Die Frage dreht sich jetzt nicht darum, ob Herr Drood und seine Freunde mit den Gangstern fertig werden, sondern darum, wie sich die Grünen zu den Blauen stellen und umgekehrt. Ich würde viel Geld dafür geben, wenn ich jetzt die Telefongespräche belauschen könnte, die zwischen den beiden Lagern geführt werden!«

 

Der Captain hatte nur zu recht: Kerky Smith sprach eben von seinem Hotel aus mit Eddie Tanner, der sich in Leslies früherem Büro befand. Drei sehr gut aussehende junge Leute saßen ihm gegenüber und hielten die Hüte auf dem Schoß.

 

»Ganz gewiß«, sagte Eddie gerade, »ich habe es in der Zeitung gelesen … Jemand hat Briefe von beiden Parteien bekommen.«

 

»Ja«, entgegnete Kerky freundlich. »Die Blauen haben fünftausend Pfund verlangt; der kleine Gangster, der die Grünen befehligt, wäre mit zweitausend zufrieden gewesen. Ich glaube, daß der Größere hier den Vorrang hat.«

 

Eddie lächelte. »Nein, das haben Sie falsch verstanden! Der größere Mann ist nicht derjenige, der das Maul am weitesten aufreißt!«

 

Kerky dachte eine Weile nach, bevor er antwortete: »Nun, auf jeden Fall wird keiner etwas bekommen. Dieser Drood ist ein alter Kriegsveteran, und Revolver sind für ihn nichts Außergewöhnliches.«

 

»Das stimmt!« pflichtete Eddie bei. »Vielleicht könnten sich die Blauen und die Grünen die Sache überlegen und einen geheimen Beschluß fassen?«

 

»Möglich«, meinte Kerky. »Aber ich glaube das kaum. Sie können doch nicht von weitblickenden Geschäftsleuten erwarten, daß sie sich mit kleinen Pinschern abgeben?«

 

»Betrachten Sie die Sache von dem Standpunkt, Kerky?«

 

»Ja, durchaus!« Smith legte den Hörer auf.

 

Er blieb weiterhin in schlechter Stimmung. Die Frage nach den Grenzen zwischen den Gebieten der zwei Banden war noch nicht zur Zufriedenheit gelöst. Und nun mußte vor allem Cuthbert Droods Herausforderung beantwortet werden. Alle Leute wußten, daß er gegen beide Banden kämpfen wollte, und er durfte auf keinen Fall straflos ausgehen. Es war sogar notwendig, ihn möglichst auffällig und eindringlich zu bestrafen. Beide Banden hatten sich vorbereitet, aber keine wußte etwas von den Methoden der anderen.

 

Kerky war ärgerlich. Eddie wurde, seiner Meinung nach, immer unverschämter; er hatte sich bereits unverzeihliche Übergriffe zuschulden kommen lassen. Dazu kam nun obendrein noch diese neue Geschichte mit Drood. Für zwei Banden war nicht genügend Raum in London. Entweder mußte man zu einer Verständigung kommen, oder eine Partei mußte aus, dem Geschäft ausscheiden. Und Kerky wußte, welche Partei das sein würde.

 

Schließlich besuchte er einen kleinen Friseurladen in Soho. In einem Privatsalon wurden dort bevorzugte Kunden bedient, und ein Friseur machte sich daran, Kerky die Haare zu schneiden. Dabei hatten sie aber eine sehr eingehende Unterredung.

 

Wenn Kerky die Tätigkeit in einer neuen Stadt aufnahm, so erschien zunächst jemand und kaufte einen Friseurladen. Ein Innenraum wurde dann durch eine Safetür abgeschlossen, und man stellte zwei Gehilfen an. Dieser Friseurladen diente als Zentrale für seinen Nachrichtendienst. Im oberen Stockwerk richtete er stets ein Wettbüro für Rennen ein. Es gab darin ein Dutzend Telefonapparate, die von zwei bis drei Angestellten bedient wurden.

 

Kerky hatte die Unterredung beendet, fuhr mit der Bürste noch einmal übers Haar und verließ den Laden. Sein Wagen, der in einer kleinen Seitenstraße gewartet hatte; fuhr geräuschlos vor. Kerky stieg ein, und das Auto fuhr an. Im selben Augenblick glitt ein anderes Auto vorüber.

 

Kerky witterte Gefahr und duckte sich, bevor drüben das Maschinengewehr ratterte. Er hörte, wie die Glasscheiben zerklirrten. Sein Chauffeur brach am Steuerrad zusammen.

 

Die Leute auf der Straße schrien; Signalpfeifen schrillten. Ein Polizist rannte herbei und half Kerky aus dem Wagen.

 

Er war ziemlich verstört, aber unverletzt. »Meinen Chauffeur haben sie erschossen!« knurrte er.

 

Man legte den Toten aufs Pflaster. Jemand telefonierte nach einem Krankenwagen.

 

Kerky gab die Sache zu denken: Er bekam nun doch Respekt vor einem Feind, den er unterschätzt hatte …

 

»Ein bißchen Feuerwerk mit grünen und blauen Raketen, und Kerky Smith ist nicht mehr so sicher, wie er war«, faßte Jiggs das Ergebnis zusammen. »Er wird etwas Bedeutendes unternehmen müssen, um seine Selbstachtung zurückzugewinnen.«

 

»Glaub‘ ich auch«, entgegnete Terry. »Ich bin nicht mehr so zuversichtlich wie heute nachmittag.«

 

»Denken Sie dabei an Drood?«

 

»Nun … Wer seine Nase da hineinsteckt, wird einen unangenehmen Empfang haben!«

 

Kapitel 22

 

22

 

Leslie Ranger hatte in der Zeitung auch von Droods Herausforderung gelesen. Sie interessierte sich besonders für diesen Fall, weil der Colonel ihr gegenüber auf der anderen Straßenseite wohnte und sie von ihrer hochgelegenen Wohnung aus sein Hausdach übersehen konnte.

 

Die Dunkelheit brach herein. Die Regenwolken verzogen sich, die Luft war merkwürdig klar, und man hatte eine gute, weite Sicht. Leslie saß am Fenster, als sie plötzlich drüben auf einem Dach eine Gestalt bemerkte, die vorsichtig hinter einem Schornstein hervorkam und dann wieder verschwand. Von dort aus konnte man auf das flache Dach des Droodschen Hauses gelangen. Vielleicht ein Polizist? Sie nahm an, daß die Polizei alle nur möglichen Vorsichtsmaßregeln ergriffen und überall in der Gegend Posten aufgestellt hatte. Der Mann erschien aber nicht mehr, obwohl sie noch eine Weile Ausschau hielt.

 

Sie folgte dann einer plötzlichen Eingebung und rief Terry Weston an. »Meine Frage klingt vielleicht etwas komisch – aber haben Sie irgendwelche Posten bei Mr. Droods Haus aufgestellt?«

 

»Ja, wir haben ein paar Beamte hingeschickt«, entgegnete er überrascht. »Warum fragen Sie?«

 

»Ich kann das Haus von meinem Fenster aus beobachten, auch das Dach, und es kam mir so vor, als ob ich einen Mann auf dem Hausdach gesehen hätte. Ob das ein Polizist war?«

 

Sie hörte, wie Weston mit jemand sprach, der gleich darauf fluchte. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mit Captain Allerman zu Ihnen komme?«

 

Ein halbe Stunde später stellten die beiden sich ein. »Es« muß wohl Tetley gewesen sein«, erklärte Terry. »Er ist schon den ganzen Abend hier in der Gegend, und wahrscheinlich haben Sie ihn da oben gesehen.«

 

»Hat er auch die Lichter auf dem Dach angebracht?«

 

»Was sagen Sie da?« fragte Jiggs schnell. »Lichter …?«

 

Leslie führte ihn zum Fenster. Auf dem gegenüberliegenden flachen Dach brannten drei rote Lichter.

 

»Merkwürdig!« meinte Jiggs nachdenklich. »Zum Teufel – was soll das nun wieder bedeuten?«

 

»Wahrscheinlich hat Tetley einige seiner Leute da oben und will ihnen dadurch ihre Aufgabe erleichtern. Er sagte mir, er habe in den umliegenden Gebäuden ein halbes Dutzend Scharfschützen verteilt, die Droods Behausung bewachen sollen.«

 

»Gewiß«, erwiderte Jiggs langsam, das ist eine sehr annehmbare Idee.« Plötzlich schlug er sich mit der Hand aufs Knie. »Wer sollte es wagen, in dieses Haus einzudringen und die Leute niederzuknallen? Es wimmelt da von todsicheren Schützen, und ehe sie Drood erledigen, verlieren sie bestimmt ein halbes Dutzend Leute. Kommen Sie, Terry!« Ohne sich zu verabschieden, stürmte er aus der Wohnung.

 

Terry eilte hinter ihm her. Wenige Sekunden später klopfte Jiggs an Droods Portal.

 

Zu seinem Erstaunen öffnete sich eine Füllung in der Tür, und ein Gesicht erschien dahinter. »Was wollen Sie?« Am Nachmittag hatte der unternehmungslustige Colonel das Schiebefenster anbringen lassen. »Sie können nicht herein! Herr Drood will keine Polizei im Haus! Er hat seine Freunde hier und kann sich schon selber verteidigen!«

 

»Aber es ist sehr wichtig! Ich muß aufs Dach …!«

 

»Sie können weder aufs Dach noch in den Keller! Es ist alles abgesperrt!« Krachend schloß sich die Türfüllung.

 

»Das ist allerdings verteufelt unangenehm«, meinte Terry und klopfte aufs neue.

 

Wieder öffnete sich der Schieber, und diesmal zeigte sich der Lauf eines Armeerevolvers. »Ich weiß, wer Sie sind, Mr. Weston; aber ich habe strikten Befehl, Sie abzuweisen. Sie können nicht vor morgen früh hier herein! Colonel Drood hat seine eignen Pläne und braucht keine Polizei!«

 

»Da wären wir also abgefertigt«, sagte Terry, als sie die Stufen wieder hinunterstiegen. Er war teils ärgerlich, teils belustigt und fragte einen Detektiv an der Ecke, wo Inspektor Tetly zu finden sei. Von einer Telefonzelle aus rief er ihn dann an.

 

»Geht alles in Ordnung, Weston! Ich habe Herrn Drood erlaubt, sich auf seine Weise zu verteidigen.«

 

»Sind Sie heute nachmittag oder abend auf dem Dach gewesen?«

 

Eine Pause entstand. »Nein … Wie kommen Sie darauf?«

 

»Haben Sie angeordnet, daß auf dem Dach Lampen angebracht werden?«

 

Wieder folgte ein ungewöhnlich langes Schweigen.

 

»Nein … Vielleicht ist der Colonel auf den Einfall gekommen? Er scheint sehr erfinderisch zu sein.«

 

Terry legte auf.

 

»Haben Sie was dagegen, wenn ich das Präsidium anläute und mir ein Gewehr kommen lasse?« fragte Jiggs. »An welche Abteilung muß ich mich dazu wenden?«

 

Terry gab ihm erstaunt Antwort und stand neben dem Apparat, während Jiggs mit dem Beamten sprach.

 

»Schicken Sie mir ein tadellos, genau schießendes Gewehr! Ich habe verschiedene gesehen, als mich Mr. Brown in die Waffenkammer führte … Ja: mit Zielfernrohr und Schalldämpfer. Senden Sie es sofort nach Cavendish Square 174! Großes Haus mit vielen Wohnungen … Es soll bei Miss Ranger abgegeben werden! Inspektor Terry wird dort sein … Also gut: Chefinspektor Terry – wenn Sie so pinselig mit den Titeln sind!«

 

»Was haben Sie denn vor?« fragte Terry, als sie über den Platz wieder zu Leslies Haus gingen.

 

»Ach, ich habe da nur eine Idee …«

 

Leslie war überrascht, als die beiden zurückkamen, fühlte sich aber erleichtert.

 

»Also – was wollen Sie nun machen?« fragte Terry.

 

»Ich hätte Scotland Yard noch um ein Fernglas bitten sollen«, erwiderte Jiggs unwirsch. »Mein Verstandesapparat funktioniert anscheinend nicht mehr richtig.«

 

»Ich habe ein Fernglas«, sagte Leslie. Sie ging in ihr Schlafzimmer und kehrte mit einem alten Feldstecher zurück, den sie von ihrem Vater geerbt hatte.

 

Jiggs stellte ihn auf das gegenüberliegende Dach ein. »Großartig! Nun sehe ich auch, daß ein Geländer um das Dach gezogen ist. Das konnte ich vorher nicht richtig erkennen. Schaun Sie mal, Terry, wie grell die Lichter in der Dunkelheit herauskommen! Sie wirken doppelt so hell, wenn man sie von oben sieht … Das eine an der Ecke wirft einen Schein auf das nächste Haus.« Er sah seufzend auf die Uhr. »Wie lange wird es wohl dauern, bis die Leute von Scotland Yard hier sein können?«

 

»Zwanzig Minuten … Was haben Sie denn bloß für ein Geheimnis, Mensch? Reden Sie doch endlich! Was wollen Sie mit dem Gewehr?«

 

»Ich bin ein vorzüglicher Schütze – ein verdammt tüchtiger Kerl, wenn ich so sagen darf … Ich werde die Lichter dort drüben ausblasen!«

 

»Aber Jiggs, das können Sie doch nicht mitten in London machen?«

 

»Wenn der Schalldämpfer was taugt, wird London davon nicht aufwachen!«

 

Der Bote kam, und Jiggs befestigte sachkundig den Schalldämpfer auf der Schußwaffe.

 

»Ich nehme meinen Hut ab vor der Polizei. Ich habe nicht um Patronen gebeten, aber sie haben mir freiwillig ein Paket mitgeschickt. Die Beamten von Scotland Yard haben wirklich Verstand …«

 

Er lud das Magazin und zielte. Man konnte den Schuß kaum hören, aber eins der roten Lichter ging aus.

 

Terry sah zum Fenster hinaus: Die Leute auf der Straße gingen ruhig weiter; niemand schien etwas bemerkt zu haben.

 

Jiggs zielte aufs neue, man hörte das Pfeifen des Geschosses. Prompt erlosch die zweite Lampe. »Das dritte ist am leichtesten!« Wieder hob er das Gewehr, und gleich darauf verschwand drüben die letzte Flamme. Jiggs nahm den Schalldämpfer vom Gewehr und grinste zufrieden. »Es ist gut, Miss Ranger! Sie können die Beleuchtung wieder einschalten!«

 

»Aber bereits im nächsten Augenblick verbesserte er sich: »Oder – halt: Lassen Sie es bitte noch! Terry, hören Sie nichts?«

 

Terry lehnte sich zum Fenster hinaus und lauschte.

 

»Ein Flugzeug …«

 

Jiggs atmete erregt. »Da haben wir die Lichter ja gerade noch rechtzeitig gelöscht!« Er lud aufs neue.

 

Jetzt konnte man das Geräusch der Maschine schon deutlicher hören; sie kam auf den Cavendish Square zu: ein kleines, schwarzes Flugzeug, das so niedrig flog, daß es fast die Dächer zu streifen schien. Es senkte sich noch tiefer, hielt auf die nördliche Seite des Platzes zu, flog darüber hinweg, drehte und kam zurück.

 

»Der kann seine drei roten Lichter nicht finden!« lachte Jiggs.

 

Er riß das Gewehr an die Backe. Diesmal war kein Schalldämpfer auf der Mündung. Der Schuß fiel schnell und unvermutet, und Leslie taumelte, halb betäubt, zurück. Im nächsten Augenblick hatte Jiggs durchgeladen und feuerte aufs neue.

 

Das Flugzeug war gerade über dem Cavendish Square, als es absackte. Der Schwanz senkte sich und krachte mitten in die Gartenanlagen des Platzes.

 

»Den haben wir erwischt!« rief Jiggs triumphierend.

 

Ein großer Baum milderte den Aufprall beim Sturz der Maschine. Polizeipfeifen schrillten von allen Seiten.

 

»Um Himmels willen, was haben Sie da gemacht?« fragte Terry erschrocken.

 

»Ich habe den Kerl heruntergeschossen, der, eine Bombe auf Colonel Droods Haus geworfen hätte, wenn er die Lichter hätte finden können. Die waren nur angebracht, um ein sicheres Ziel zu geben. Diese Burschen haben eben ihre besonderen Methoden; sie sind nicht nur auf ihre Revolver angewiesen!«

 

Die Polizeibeamten, die über das Geländer des Platzes geklettert waren, fanden mitten unter den Trümmern einen Verwundeten, der kläglich stöhnte. Als sie weitersuchten, entdeckten sie auch eine zentnerschwere Bombe, die mit hochexplosivem Alanit geladen war.

 

Der Verletzte wurde zum nächsten Hospital transportiert. Jiggs und Terry begleiteten ihn. Er nannte seinen Namen nicht. Ein Geschoß hatte ihm den Arm durchschlagen; außerdem hatte er ein Bein gebrochen.

 

»Es ist gleichgültig, ob Sie sagen, wer Sie sind, oder nicht«, erklärte Jiggs. »Ich kenne Sie sehr gut. Sie sind Stunts Amuta, mein Junge! Haben früher Kunstflüge gemacht und unterhielten später eine Luftverbindung von Kanada nach den Staaten. Sie flogen für Hymie Weiss. Der ist inzwischen abgekratzt; aber niemand weint ihm eine Träne nach. Sie stammen aus Indiana.«

 

Der Mann warf ihm einen bösen Blick zu, erwiderte aber nichts.

 

»Stunts, Sie stecken tief in der Patsche. Wenn Sie nur einen Funken Vernunft haben, dann gestehen Sie!«

 

»Ich habe Ihnen nichts zu sagen!« stöhnte der Mann.

 

»Wollen abwarten. Vielleicht hab‘ ich die Kugel in Knoblauchsaft gekocht …«

 

Stunts‘ Züge verzerrten sich vor Entsetzen.

 

Der Arzt kam und erklärte, daß man den Verwundeten jetzt allein lassen müsse.

 

»Was haben Sie da vorhin von Knoblauchsaft geredet?« fragte Terry, als sie aus dem Hospital traten.

 

»Ich wollte ihn damit ein bißchen aufmuntern. Die Kerle haben nämlich den Aberglauben, daß man mit Knoblauch Geschosse vergiften könne.«

 

Der Inhalt des Flugzeuges war zum Scotland Yard gebracht worden, und die Bombe wurde bereits von Sachverständigen untersucht. Was Stunts in den Taschen gehabt hatte, lag auf einem Tisch in Wemburys Büro. Darunter befanden sich ein Paß, von einem südamerikanischen Staat auf den Namen Thomas Filipo ausgestellt, und eine Fahrkarte von Paris nach Cadiz. Ferner hatte man einen Lederkoffer gefunden, der im Innern des Flugzeugs festgeschnallt war. Er enthielt einen Anzug, Wäsche und dergleichen, außerdem eine Brieftasche mit sechstausend Francs, dreitausend Pesetas und Reiseschecks im Wert von zweitausend Pfund. Den Heimatflugplatz der Maschine konnte man nicht feststellen; die Nummer war übermalt. Man gab sie dem Luftamt an, aber auch dort konnte man nichts weiter herausfinden. Der angebliche Besitzer hieß Jones.

 

»Wir können keine Anklage wegen Mordversuchs erheben«, sagte Terry, nachdem er sich mit Wembury beraten hatte. »Denn es läßt sich nicht beweisen, daß er die Absicht hatte, das Haus zu bombardieren. Höchstens könnten wir ihn zur Rechenschaft ziehen, weil er eine Bombe bei sich führte. Wir fanden auch zwei Revolver; das wäre eine weitere Gesetzesübertretung. Aber Wembury glaubt, daß es kaum Wert hat, ihn vor Gericht zu stellen.«

 

»Das Interessante an der Sache ist, daß die Blauen den Bombenangriff planten«, meinte Jiggs. »Heute abend werden sie keinen weiteren Versuch mehr machen, gegen Drood vorzugehen. Kerky wird schon gehört haben, daß wir das Flugzeug herunterholten, und er wird sich ruhig verhalten. Stunts ist der erste seiner Leute, der in unsre Hände fiel. Übrigens würden Sie gut daran tun, ein halbes Dutzend Polizeibeamte zum Spital zu schicken, die Stunts bewachen.«

 

»Ich habe mit Wembury darüber gesprochen; aber wenn er keine Anklage gegen den Mann erheben kann, darf er ihn auch nicht bewachen lassen.«

 

»Kerky wird abwarten, was Sie unternehmen. Wenn er vermutet, daß Stunts vor Gericht gestellt wird, holt er ihn aus dem Krankenhaus, bevor Sie nur mit den Augen zwinkern können.«

 

Kapitel 23

 

23

 

Den ganzen Abend hatte die Polizei erfolglos nach dem Wagen gesucht, von dem aus Kerky Smith beschossen worden war. Die schöne Limousine von Kerky war von Kugeln durchlöchert, der Chauffeur war tot.

 

Inzwischen hatte das Innenministerium einen Ausschuß zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit gebildet. Man überlegte dort, ob man Mr. Smith ausweisen und an Bord des ersten Schiffes bringen sollte, das nach den Staaten fuhr.

 

Auch Jiggs wurde um seinen Rat gefragt. Aber er sprach sich entschieden gegen einen derartigen Schritt aus. »Kerky ist darauf vorbereitet, England zu verlassen, und wenn Sie ihn ausweisen, geht er nach Paris. Daran können Sie ihn nicht hindern. Nein, lassen Sie ihn nur in London! Er wird schon zu gegebener Zeit verschwinden. Und glauben Sie mir: In der nächsten Woche haben wir Ruhe! Die Blauen und die Grünen müssen zunächst ihre eignen Streitigkeiten austragen. Und wenn sie sich nicht einigen können, kratzen sie sich gegenseitig die Augen aus.«

 

Jiggs hatte seine Erfahrungen mit den Methoden der Gangster, und die folgenden Ereignisse gaben ihm recht.

 

Am Morgen nach dem Angriff auf Kerkys Auto fand ein Polizist in der Seven-Sisters-Road, einer belebten Verkehrsstraße, im Vorgarten eines besseren Hauses einen Mann, der drei Schußwunden hatte und schon seit einiger Zeit tot war. Der Polizeiarzt wurde gerufen und erklärte, daß der Mann an einer anderen Stelle ermordet und später in den Garten geschleppt worden war.

 

Beinahe gleichzeitig hörten drei Arbeiter, die an einem der Abzugskanäle im Norden der Stadt beschäftigt waren, zwei schwere Plumpse im Wasser. Sie gingen dem Schall nach und fanden im Kanal zwei Tote. Als sie in die Höhe sahen, bemerkten sie gerade noch, wie oben der Deckel auf den Einstiegschacht geschoben wurde. Die beiden waren mit Gummiknüppeln niedergeschlagen und dann durch den Kopf geschossen worden. Man fand keine Papiere in ihren Taschen, aber als man die Kleider durchsuchte, entdeckte man bei dem einen die Firmenmarke eines Schneiders in Cincinnati.

 

Terry besah sich die Toten am nächsten Morgen im Schauhaus. Eines der beiden grauen Gesichter kam ihm merkwürdig bekannt vor. Wenige Stunden vorher hatte man die Leute fotografiert, und mit den Abzügen ging er zu Leslie.

 

Als er eintrat, hatte sie gerade ihr Frühstück beendet. »Vielleicht können Sie mir helfen – das heißt: falls es Ihnen möglich ist, die Fotografie eines Mannes zu betrachten, der gestern erschossen wurde?«

 

Sie verzog das Gesicht, nahm aber den Abzug.

 

Terry sah sofort, daß sie den Toten wiedererkannte.

 

»Wer ist es?«

 

»Einer der neuen Dienstboten, die ich in Mr. Tanners Haus sah. Vor zwei Tagen war ich dort, um einige Bücher zurückzubringen, die Mr. Decadon mir geliehen hatte.«

 

»Etwas Ähnliches habe ich erwartet.«

 

Sie schauderte. »Das sind ja fürchterliche Zustände! Gestern abend wurde mit einem Maschinengewehr auf Albuquerque Smith geschossen …«

 

»Deshalb würde ich mir keine grauen Haare wachsen lassen«, sagte Terry.

 

Er brachte die Fotos zum Berkeley Square.

 

Eddie Tanner identifizierte die beiden Leute, ohne zu zögern: »Sie waren bei mir angestellt und gingen gestern abend frühzeitig fort. Als ich heute erfuhr, daß sie die Nacht ausgeblieben waren, wollte ich sie entlassen. Wo hat man sie gefunden?«

 

Terry erzählte es ihm.

 

»Tut mir leid«, bedauerte Eddie. »Es waren willige Leute, arbeitsam und zuvorkommend. Aber keine Engländer. Wahrscheinlich hatten sie einen Streit mit Landsleuten? Ich möchte nur wissen, wann es der Polizei gelingt, diesen Bandenkrieg in London zu stoppen.«

 

»Wir wollen lieber fragen, wann Sie damit aufhören«, sagte Terry geradezu.

 

Eddie lächelte. »Ich fürchte, Jiggs Allerman hat Ihnen eine falsche Meinung von mir beigebracht.«

 

Terry verabschiedete sich.

 

»Ich möchte Sie nicht zum Portal begleiten«, erklärte Tanner. »Auf der anderen Seite irgendwo – wo, weiß ich selber nicht – lauert jemand mit einem Maschinengewehr, das genau auf meine Haustür eingestellt ist … Aber ich werde die Tür vorher weit öffnen lassen, damit der Bursche genau sieht, wer Sie sind, und Ihnen nicht ein paar Bleibrocken entgegenschickt.«

 

Terry begab sich sofort zur benachbarten Polizeistation und sprach dort mit dem Bezirksinspektor.

 

»Irgendwo am Berkeley Square hat sich ein Kerl mit einem Maschinengewehr eingenistet. Nehmen Sie alle Leute, die Ihnen zur Verfügung stehen, und suchen Sie jedes leere Haus, alle Dächer und die Gartenanlagen ab! Ich glaube zwar nicht, daß Sie ihn fangen; aber wir dürfen nichts außer acht lassen. Berichten Sie mir telefonisch nach Scotland Yard!« –

 

An diesem Tag jagten sich die Ereignisse in wildem Tempo. In der Park Lane brach plötzlich ein Mann blutend zusammen. Er war erschossen worden, obwohl kein Mensch eine Detonation gehört hatte und der Täter nicht zu entdecken war.

 

In einem italienischen Restaurant trafen sich vier Leute und ließen sich ihre Getränke in ein Privatzimmer bringen; sie gaben an, daß sie eine halbe Stunde geschäftlich miteinander zu sprechen hätten. Als der Inhaber später nach oben ging, weil er den Raum anderweitig vergeben wollte, antwortete ihm niemand auf sein Klopfen; und bei seinem Eintritt fand er zu seinem Entsetzen zwei der Leute ermordet vor. Die beiden anderen waren verschwunden.

 

Terry hörte von den Verbrechen, als er von einer fruchtlosen Reise zurückkam. Er hatte den Eigentümer eines verdächtigen Flugzeugs einem Verhör unterworfen.

 

»Die Sache verläuft durchaus normal«, erklärte Jiggs. »Genau nach den alten Spielregeln: Ein Mörder wird seinerseits von einem anderen ermordet.« –

 

Noch vor Mitternacht erlebte London eine neue Aufregung. Zwei Autos rasten in schnellster Fahrt Piccadilly entlang, fuhren auf der falschen Seite und sausten durch den regen Verkehr in die Coventry Street. Direkt dem Eckhaus gegenüber eröffnete ein Mann, der neben dem Chauffeur des zweiten Wagens saß, das Maschinengewehrfeuer auf den ersten, von dem es sofort erwidert wurde. Beide Fahrzeuge bogen, ständig feuernd, in den Leicester Square ein. Aus dem Empire-Theater kamen gerade die letzten Besucher. Sie ergriffen die Flucht, und es entstand eine wüste Panik. Die Wagen jagten zum Trafalgar Square, dann die Northumberland Avenue hinunter zum Themseufer. Plötzlich geriet das erste Auto ins Schleudern, prallte krachend gegen einen Laternenpfahl und ging in Flammen auf. Das zweite raste weiter; aber Zeugen wollen gesehen haben, daß der Maschinengewehrschütze noch in den brennenden Wagen hineinschoß.

 

Vorüberkommende Chauffeure bemühten sich, die Flammen zu löschen. Ein Polizist riß die brennende Autotür auf und versuchte, die Leute, die in dem Wagen zusammengebrochen waren, herauszuziehen; aber erst als die Flammen mit einem Feuerlöscher erstickt waren, gelang es. Drei Männer hatten auf dem Rücksitz gesessen. Die Geschosse hatten sie wahrscheinlich schon niedergemäht, bevor der Wagen in Brand geriet. Der Lenker atmete noch, aber auch er war siebenmal getroffen worden. –

 

Am nächsten Morgen Heß sich Kerky Smith sehr frühzeitig mit Berkeley Square verbinden. »Sind Sie dort, Eddie? Darf ich Sie vielleicht heute zum Essen einladen?«

 

»Hoffentlich gibt es was Anständiges?«

 

»Alles, was Sie nur haben wollen, Eddie! Die schönsten Pfirsiche, echt russischen Kaviar und so weiter. Kommen Sie ruhig, alter Junge.«

 

»Ich werde mir die Sache überlegen.«

 

Eine halbe Stunde später wurde Eddie in Kerkys Privaträume geführt. Mr. Smith war allein; der Tisch war für zwei gedeckt.

 

»Was wollen Sie trinken: Kaffee oder Tee?« fragte Kerky vergnügt, »Ich mache Sie höflichst darauf aufmerksam, daß beides vergiftet ist … Sie hätten Ihren Privatchemiker mitbringen sollen! Na, es freut mich, daß wir endlich mal zusammensitzen und uns aussprechen können. – In der letzten Zeit ist allerhand Verschwendung in London getrieben worden. Das muß aufhören!«

 

»Dafür wird vermutlich die Polizei sorgen«, meinte Eddie Tanner und warf zwei Stück Zucker in seine Kaffeetasse.

 

»Glaub‘ ich auch … Vorige Nacht hatte ich übrigens einen merkwürdigen Traum, Eddie, und zwar: daß sich die Leute mit den grünen und den blauen Briefen auf einer Basis von vierzig zu sechzig verständigten und dann nur noch eine Art von Warnungen ausschickten – rot gedruckt …«

 

»Ich halte nichts von sechzig und vierzig. Das sind meine Unglückszahlen. Ich bin Mitglied eines Fünfzig-Fünfzig-Klubs … Und wenn ich diesen verdammten Burschen trauen könnte, die mir ›Fünfzig-Fünfzig!‹ in die Ohren schreien, wäre ich bestimmt für die rote Farbe.«

 

»Also: abgemacht!« grinste Kerky. »Von jetzt ab werden nur noch rote Briefe versandt … Wer ist eigentlich im Augenblick Ihr Adjutant? Wie ich hörte, hat man Tomaso in einem Abzugskanal gefunden … Wirklich schade!«

 

»Ich wiederum«, lächelte Eddie, »habe gehört, daß der Junge, der ihn hineingeworfen hat, gestern in einem Auto verbrannte … Wirklich schade!«

 

Smith reichte ihm die Hand über den Tisch, und Tanner schüttelte sie. Mit einem bedeutungsvollen, harten Griff wurde der Friede besiegelt.

 

Dann sprach Kerky über andere Dinge. »Ich habe heute morgen von Ihrem Onkel in der Zeitung gelesen. In dem Artikel steht, er hätte starke Geschäftsinteressen in Amerika gehabt. Ich möchte nur wissen, wie viele Leute eine Ahnung davon haben, daß er Alkoholschmuggelbanden finanzierte und daß er damals das Geld dafür gab, als sie Al Capone in Cicero beinahe erwischten …«

 

»Ja, er war ein unternehmungslustiger alter Herr! Aber warum reden Sie eigentlich von diesen Geschichten? Sie scheinen nur daran zu denken, wie die Grünen und die Blauen die Sache teilen, weil Sie meinen, das Teilen beginne schon beim Tod des Alten. Ausgeschlossen, mein Lieber! Wir ziehen einen Strich unter alles, was bisher war, und fangen von vom an. Einverstanden?«

 

Kerky nickte. »Ich mußte die Sache doch nur mal zur Sprache bringen«, entschuldigte er sich.

 

Von diesem Zeitpunkt an wurden nur noch rote Briefe gedruckt. Man nahm die besten Ausdrücke und Wendungen aus den blauen und grünen Formularen und setzte den Text neu.

 

Und es wäre sicherlich ein glattes, glänzendes Geschäft geworden, wenn nicht – Leslie Ranger gewesen wäre …

 

Kapitel 24

 

24

 

Leslie Ranger war an dem Morgen in froher Stimmung in ihre Wohnung zurückgekehrt. Sie hatte eine Besprechung mit dem Personalchef einer sehr vornehmen alten Finanzfirma gehabt, und halb und halb hatte man ihr den Posten einer Sekretärin mit einem Jahresgehalt von siebenhundert Pfund schon zugesagt.

 

Als sie in den Vorraum trat, sah sie, daß ein Brief unter der Tür durchgeschoben worden war. An der Handschrift erkannte sie, daß die Nachricht von Eddie Tanner kam.

 

Würden Sie so liebenswürdig sein und mich um elf Uhr dreißig besuchen? Ich glaube, ich habe eine gute Sache für Sie.

 

Sie atmete erleichtert auf bei dem Gedanken, daß sie bereits eine Stellung gefunden hatte. Eddie Tanner war ihr sympathisch, aber sein Wesen beunruhigte sie. Sie hätte ihn anrufen und ihm sagen können, daß sie bereits bei der Firma Dorries untergekommen war. Aber das wäre zu unhöflich gewesen. So machte sie sich also zum Berkeley Square auf.

 

Ein livrierter Diener begrüßte sie lächelnd, und sie folgte ihm in ihr früheres kleines Büro, das Eddie sich jetzt als Arbeitszimmer eingerichtet hatte.

 

Er schob einen Stuhl an den Schreibtisch. »Nehmen Sie Platz, Miss Ranger, und erzählen Sie mir, was es Neues gibt!«

 

»Das ist nett, daß Sie mich zuerst erzählen lassen. Ich habe nämlich eine Stelle in Aussicht. Bei Dorries, einer der ältesten Firmen der City …«

 

Er lächelte. »Ja, alt ist die Firma, aber bißchen in Verfall geraten. Früher hatte sie viele Niederlassungen in Indien. Neulich sagte mir jemand, sie sei wieder saniert. Ich kann mir vorstellen, daß das eine gute, anständige Stellung ist.« Er sah sie merkwürdig an. »Aber hören Sie deshalb doch ruhig an, was ich Ihnen anzubieten habe!« Er stand am Schreibtisch und klopfte mit den Fingern leise auf die polierte Fläche. »Haben Sie schon mal daran gedacht, zu heiraten?«

 

Sie war so erstaunt, daß sie nicht gleich antworten konnte.

 

»Eine komische Frage – nicht wahr? Aber haben Sie nicht etwa doch an eine Ehe gedacht, und zwar im Zusammenhang mit mir? Sie könnten an meiner Seite ein glänzendes Leben führen …«

 

Endlich fand sie die Sprache wieder. »Sie wollen – Sie haben doch nicht die Absicht … Sie möchten mir einen Antrag machen, Mr. Tanner?«

 

»Sie können ruhig ›Eddie‹ sagen, wenn Sie nichts dagegen haben! Das verpflichtet Sie zu nichts, und es klingt viel freundlicher. Als Terry Weston Sie zum erstenmal traf, hat er Sie auch, ihn beim Vornamen zu nennen … Stimmt das nicht?«

 

Woher wußte er das nur?

 

»Es kommt nicht darauf an, woher ich das weiß.« Er lächelte über, ihre Verwirrung. »Manchmal kann ich Gedanken lesen … Ich habe Sie wirklich gern, und das ist mehr wert als eine uferlose Leidenschaft. Sie würden es gut bei mir haben …«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Nein?« fragte er. Merkwürdigerweise war er nicht verletzt über ihre Ablehnung; er schien nicht einmal enttäuscht zu sein. »Können Sie sich nicht dazu entschließen …? Wirklich schade!« Er lächelte sie wieder freundlich an.

 

»Es tut mir so unendlich leid«, erwiderte sie stockend. »Es ist eine große Ehre …«

 

»Nein, es ist keine Ehre!« unterbrach er sie. »Glauben Sie mir! Ich bin schon dreimal verheiratet gewesen … Es ist wirklich keine Ehre für eine Frau, mich zu heiraten.« Er steckte die Hände in die Taschen und schritt im Zimmer auf und ab. »Sie hätten meinen Antrag ja auch nur angenommen, weil Sie wissen, daß ich Ihnen ein angenehmes Leben verschaffen kann; nicht, weil Sie mich lieben. Ich weiß genau, wann eine Frau mich liebt. Ich fühle das. Nur ein einziges Mal habe ich das erlebt. Drei Wochen nach der Hochzeit kam die Frau ins Irrenhaus. Sie hatte sich falsche Vorstellungen vom Leben gemacht – Illusionen. Auch über mich … Nach der Scheidung wurde sie geheilt, heiratete aufs neue und hatte drei Kinder. Jetzt ist sie Erste Vorsitzende des Frauenverbandes gegen den Alkohol. Seit vielen Jahren bezieht sie eine jährliche Unterstützung von mir, obwohl sie weiß, daß ich mein Geld mit Alkoholschmuggel verdiene …«

 

Leslie starrte ihn an. »Waren Sie – Alkoholschmuggler?«

 

Er nickte. »Das war auch der Alte – ich meine meinen Onkel Decadon. Sie glauben nicht, was der alles gemacht hat!« Er lachte. Zum erstenmal sah sie ihn so vergnügt. »Onkel Elijah hat mehr Alkohol nach den Staaten verfrachtet als irgendein andrer Bürger von England. Er war Eigentümer der beiden ersten heimlichen Kneipen in Chikago, finanzierte den berüchtigten Dean O’Banion und gab eine Million Dollar aus, um dessen Gegner Scarface über den Haufen zu knallen. Ja, ich glaube wohl, daß Sie das nicht geahnt haben. Und doch hat er alles von London aus dirigiert; er war in seinem ganzen Leben nur dreimal in Chikago. Ich war sein Agent und Hauptvertreter dort, und oft hat er versucht, mich übers Ohr zu hauen. Deshalb kam ich auch so häufig nach London.«

 

»Wer hat Mr. Decadon erschossen?« fragte Leslie ernst.

 

Eddie schien nicht im geringsten verwirrt oder verlegen. »Er hat sich selber umgebracht«, entgegnete er kühl. »Vergießen Sie nur keine Träne um Onkel Elijah! Er war ein ganz hartgesottener Sünder!«

 

»Aber jetzt haben Sie es nicht mehr nötig, Ihr Geld mit Schmuggel zu verdienen?«

 

Er lächelte belustigt. »Nein. Ich lasse mich jetzt als Landjunker in England nieder, kaufe ein Gut und verbringe meine Tage in Frieden.«

 

Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube, das liegt, Ihnen nicht.«

 

»Sie beurteilen mich richtig!« Er reichte ihr die Hand. Sehr bedauerlich, daß wir nicht zu einer Verständigung gekommen sind! Meiner Meinung nach ist es töricht von Ihnen, mein Angebot nicht anzunehmen; aber ich muß Sie trotzdem bewundern … Ich begleite Sie nicht bis zur Haustür, und zwar aus Gründen, die ich Ihnen nicht näher erklären kann. Alberto wird Ihnen ein Taxi besorgen; er ist tapfrer als ich.«

 

Sie wunderte sich über diese sonderbare Bemerkung.

 

Als sie später am Vormittag Terry sah, sagte sie ihm nichts von Eddies Angebot und ihrem Besuch am Berkeley Square. Er war mit einem Ingenieur zum Cavendish Square gekommen, um den Absturz des Flugzeugs noch genauer zu untersuchen. Nachher versäumte er natürlich nicht, bei ihr vorzusprechen.

 

Als er von der guten Stellung hörte, die sie in Aussicht hatte, war er begeistert. »Dorries? Gute, alte Firma … Und Sie haben wirklich Glück, daß man Ihnen ein derartiges Gehalt bietet! Wie sind Sie denn dazu gekommen?«

 

»Wahrscheinlich durch die Vermittlungszentrale. Ich erhielt eine telefonische Aufforderung, mich vorzustellen. Die Büroräume liegen in einem ruhigen, stillen Haus in Austin Friars. Es gehört eine kleine Bank dazu und ein Exportgeschäft. Morgen trete ich meine Stellung hoffentlich schon an.« –

 

Und am nächsten Tag war sie pünktlich um neun bei der Firma und wurde fest angestellt.

 

Als man ihr das Büro zeigte, in dem sie arbeiten sollte, glaubte sie zu träumen. Es war ein vornehmer, mit dunklem Eichenholz getäfelter Raum. An den Wänden hingen die Bilder der großen Dorries, die früher einmal die Firma geleitet hatten.

 

»Ja, es stimmt, Miss Ranger!« erwiderte der Prokurist auf ihre Frage. »Mr. Dorries hat ausdrücklich Anweisung gegeben, daß Sie in diesem Hauptbüro arbeiten sollen.«

 

»Ist er hier?«

 

»Nein, er kommt niemals her. Er wohnt in Kent. Unser Geschäft geht nicht mehr so flott wie früher und hat leider nicht mehr seine einstige Bedeutung.«

 

Der alte Prokurist unterhielt sich eine Stunde lang mit ihr und erklärte ihr die bei Dorries üblichen Geschäftsmethoden. Sie erkannte sofort, daß die Firma bei diesem Betrieb allmählich sanft entschlummern würde. Ein deprimierender Gedanke!

 

Am Nachmittag hatte sie eine Unterredung mit dem Leiter der Bankabteilung. Dabei entdeckte sie zu ihrem Erstaunen, daß sie gewissermaßen die Leiterin der Firma geworden war. Sie hatte Vollmacht, Schecks in jeder Höhe zu zeichnen und rechtsgültige Verträge zu schließen, Sie unterstand nur der etwas undeutlich umschriebenen Kontrolle Dorries und seines Partners Pattern.

 

»Für eine junge Dame Ihres Alters eine außerordentlich große Verantwortung!« meinte der Bankleiter freundlich. »Wir haben ein offenes Kontokorrent von achtzigtausend Pfund, außerdem ein Deposit von über hunderttausend.«

 

Auch den übrigen Angestellten wurde sie vorgestellt. Unter ihnen war auch ein energischer, verhältnismäßig junger Mann, ein Mr. Morris. Er erregte sofort ihr Interesse, denn er war verschlossen und schweigsam. Bei dem Prokuristen und den älteren Angestellten war er höchst unbeliebt, obwohl er erst seit drei Monaten als Kassierer in der Firma arbeitete.

 

 

Leslie hatte noch nicht einen Tag in der Firma verbracht, als sie schon herausfand, daß dieser wenig beliebte Kassierer der einzige Tüchtige im Haus war. Er leitete das im Augenblick wieder ziemlich bedeutende Importgeschäft und entschied über Kredite, die die Firma gab. In allen Dingen wußte er Bescheid, verabredete die Besprechungen, die Leslie mit den Vertretern anderer Firmen führen mußte, hielt sie auf dem laufenden über den Bankkredit und beriet sie bei allen Transaktionen.

 

Als sie abends das Büro verließ, bat sie der Prokurist noch um eine Unterredung. »Ich muß Ihnen noch etwas mitteilen, was ich heute morgen vergessen habe, Miss Ranger. Unser Mr. Dorries läßt Sie bitten, unter keinen Umständen die Geschäfte der Firma mit irgend jemand Außenstehendem zu besprechen.«

 

»Die Warnung ist überflüssig!« erwiderte sie, fast ein wenig verletzt. –

 

Die ersten drei Tage vergingen ihr sehr schnell. Sie versuchte, neuere Methoden einzuführen, den Geschäftsgang zu verbessern und Vorurteile beiseite zu räumen. Aber dadurch machte sie sich natürlich ebenso unbeliebt wie der Kassierer.

 

Am Sonnabend erhielt sie einen Brief von dem Rechtsanwalt der Firma. Darin wurde ihr mitgeteilt, daß ihre Chefs mit ihrer Tätigkeit außerordentlich zufrieden wären und ihr Gehalt auf zweitausend Pfund jährlich erhöht hätten.

 

Als sie fortging, kam der Prokurist zu ihr und rieb sich vergnügt die Hände.

 

»Sie haben uns wirklich Glück gebracht! In der letzten Woche haben wir achtzehn neue Konten eröffnet!«

 

Leslie kam ihren Instruktionen getreulich nach und sprach auch mit Terry nicht über geschäftliche Angelegenheiten. Er wußte nur, daß sie sich in ihrer neuen Stellung außerordentlich wohl fühlte.

 

Kapitel 12

 

12

 

Am Nachmittag wurde eine Konferenz in Scotland Yard abgehalten. Alle hatten unrecht mit Ausnahme von Jiggs Allerman, der von Zeit zu Zeit kurze Bemerkungen in die Debatte einwarf. Schließlich fragte der Polizeidirektor ihn nach seiner Meinung.

 

»Sie wollen meine Meinung ja gar nicht hören!« erwiderte der Amerikaner. »Sie wollen nur, daß ich Ihnen zustimmen soll! Aber ich sage Ihnen: Das ist nicht die richtige Art und Weise, wie Sie es anfangen! Sie wissen noch nicht, mit wem Sie’s da zu tun haben. Wenn Sie sich einbilden, die Erpresser heute fassen zu können, so irren Sie sich schwer! Diese Burschen schicken doch nicht einen von ihrer Bande, um das Geld abzuholen, sondern irgend jemand, dem sie einen Dollar Trinkgeld geben und der keine Ahnung hat, welche Gefahr er auf sich nimmt.«

 

Einer der Anwesenden konnte Jiggs durchaus nicht leiden, und zwar Inspektor Tetley, der selbst übrigens sehr unbeliebt war. Er zeigte wenig Begabung für seinen Beruf und war auch Jiggs unsympathisch, schon wegen seiner äußeren Erscheinung: Der Mann trug einen aufgezwirbelten Schnurrbart und klebte die Haare mit Pomade an den Kopf.

 

»Was schlagen Sie denn vor?« fragte er. »Ich weiß, daß die amerikanische Polizei sehr tüchtig ist, und ich möchte Sie gern um Rat fragen – zumal, da ich heute abend bei der großen Sache das Kommando führe.«

 

»Mein Rat ist furchtbar einfach«, erklärte Jiggs kurz. »Stecken Sie Mr. Salaman ins Gefängnis oder sonstwohin, wo diese Kerle nicht an ihn herankommen können! Wenn Sie das tun, erschüttern Sie das Prestige der Erpresserbande, deren Erfolg nur von schnellen Ergebnissen abhängt. Falls Sie Mr. Salaman zwei oder drei Wochen lang gegen Angriffe schützen können, ist es aus mit den Leuten!«

 

»Sie reden ja, als ob dieser Salaman tatsächlich in Lebensgefahr wäre«, entgegnete Tetley verächtlich. »Ich werde ihn von zwanzig Beamten schützen lassen …«

 

»Dann sagen Sie den Leuten nur, daß sie nicht zu dicht an ihn herangehen sollen!« –

 

Tetley hatte Befehl erhalten, die Verhaftung des Boten am Abend durchzuführen, und als die verabredete Stunde heranrückte, erschien eine beträchtliche Anzahl von Männern in der Gegend des Treffpunktes. Zum Teil waren es Arbeiter, aber auch Angestellte oder Händler in weißen Schürzen.

 

»Vom künstlerischen Standpunkt aus betrachtet – großartig!« bemerkte Terry, der sie inspizierte, bevor sie fortgingen. »Aber es wird wahrscheinlich recht heiß hergehen. Sie sind ausgewählt worden, weil Sie mit einer Schußwaffe umzugehen verstehen, und weil sie unverheiratet sind. Was auch immer geschehen mag: Sie dürfen vor allem nicht den Kopf verlieren! Sobald sich der Mann mit der roten Blume Mr. Salaman nähert, müssen Sie ihn fassen! Ein Auto des Überfallkommandos mit vier Beamten wartet in der Nähe. Dorthin bringen Sie den Mann, und damit ist Ihre Aufgabe erfüllt. Falls es zu einer Schießerei kommen sollte, so zielen Sie gut! Es handelt sich nicht um einen Spaß.«

 

Er selber wartete auf der anderen Straßenseite. Drei Minuten vor der abgemachten Zeit fuhr Salaman in seiner Limousine vor und stieg aus. Außer den Polizeidetektiven waren nur wenig Leute in der Nähe. Der Platz schien außerordentlich geschickt ausgewählt.

 

Terry stand neben Allerman an der Bordschwelle, las eine Zeitung und beobachtete dabei verstohlen die Vorgänge.

 

»Da kommt unser Freund!« flüsterte Jiggs.

 

Ein Mann in mittleren Jahren, eine flammendrote Nelke im Knopfloch, näherte sich aus Richtung Piccadilly. Einen Augenblick hielt er an, sah nach der Uhr und setzte dann seinen Weg fort. Er schlenderte an der Stelle vorbei, an der er Salaman treffen sollte, kehrte dann um und blieb einen Meter vor dem vereinbarten Treffpunkt stehen.

 

Auch Salaman hatte ihn nun entdeckt und ging langsam auf ihn zu. Der Fremde faßte an den Hut und richtete eine Frage an Salaman. Darauf nahm der junge Mann einen Briefumschlag aus der Tasche und reichte ihn dem Boten.

 

In diesem Augenblick kamen die Detektive auf ihn zu. Sie waren dicht bei ihm, als plötzlich von irgendwoher aus der Höhe ein Maschinengewehr zu feuern begann. Der Mann mit der roten Blume und Salaman stürzten zu gleicher Zeit nieder – darin sank einer der Detektive um, ein zweiter fiel auf den Fahrdamm.

 

»Das Maschinengewehr ist in diesem Häuserblock!« rief Jiggs. Der Eingang lag unmittelbar hinter ihm. Die Tür zum Fahrstuhl stand offen. »Schnell – nach oben!«

 

Der Lift glitt empor.

 

Während der Fahrt prägte sich Terry die Namen der Hausbewohner ein. »Ist eine leere Wohnung hier?« fragte er den Fahrstuhlführer. »Ja? Sicher wurde von dort aus geschossen … Haben Sie einen passenden Schlüssel?«

 

Zufällig hatte der Mann einen bei sich, aber sie brauchten ihn nicht, denn die Wohnungstür stand weit offen. Als sie nach innen eilten, machte sich Korditgeruch bemerkbar.

 

Jiggs stürmte in das vordere Zimmer. Das Fenster war weit geöffnet und der Raum leer. Nur in der Nähe des Fensterbretts stand ein Stuhl, und auf dem Boden lag ein kleines Maschinengewehr.

 

»Die erste Massenattacke!« sagte Jiggs. »Ich möchte wissen, wie viele von den armen Beamten daran glauben mußten. Auf Salaman kommt es weniger an. Leute, die ein derartiges Leben führen, kann ich nicht leiden.«

 

Terry sprach mit dem Portier, der auch den Lift bediente. Der Mann hatte niemand die leere Wohnung gezeigt und nicht gewußt, daß jemand ins Haus eingedrungen war. Er bestätigte, daß man von den Agenten leicht eine Erlaubnis zur Besichtigung erhalten konnte. In den letzten Tagen waren verschiedene Leute dagewesen und hatten die Wohnung angesehen.

 

Wie an allen Häusern, war auch hier eine Feuerleiter angebracht. Sie befand sich an dem Ende eines kurzen Ganges, der vom Hauptkorridor abzweigte.

 

»Auf diesem Weg sind sie entkommen!« meinte Terry und schaute nach unten.

 

Später sah er vom Vorderfenster auf die Menschenmenge, die inzwischen zusammengeströmt war und die Toten und Sterbenden neugierig betrachtete. Krankenwagen erschienen, Signalpfeifen schrillten durch die Stille des Abends, und von allen Seiten eilten Polizisten herbei. Auch zwei berittene Beamte tauchten auf und trieben die Menge zurück.

 

Terry ließ Tetley rufen.

 

Bleich und zitternd kam der Inspektor zu ihm.

 

»Salaman ist erschossen worden – ebenso der Bote mit der roten Blume und einer meiner besten Sergeanten«, berichtete er. »Ich selber bin mit knapper Not entronnen …«

 

»Sie sind mit heiler Haut davongekommen«, erwiderte Jiggs, »weil Sie nicht auf der Straßenseite drüben waren. Weshalb blieben Sie auf unserer Seite?«

 

Tetley warf ihm einen bösen Blick zu. »Ich wollte eben die Straße kreuzen –«, begann er.

 

»Das haben Sie leider zwei Minuten zu spät getan! Ich möchte wissen, warum Sie auf unsrer Seite geblieben sind. Das interessiert mich außerordentlich!«

 

Der Inspektor wandte sich ihm wütend zu, aber seine Erregung bestand zum größten Teil aus Furcht. »Wenn Sie den Polizeipräsidenten morgen fragen, sagt er es Ihnen vielleicht!« rief er hitzig.

 

Der letzte Krankenwagen war fortgefahren, bevor Terry den Inspektor hatte rufen lassen. Die Menschenmenge hatte sich zerstreut, und schon waren zwei Straßenkehrer dabei, die letzten Spuren des unglückseligen Ereignisses zu beseitigen.

 

»Das hat gerade noch gefehlt!« sagte Jiggs. »Jetzt ist die Katze ja im Taubenschlag: Nun werden die Leute, besonders die Reichen, die Ohren spitzen! Bin gespannt, wie die Sache wirkt …«

 

Terry blieb schweigsam, während sie nach Scotland Yard zurückfuhren. Die Verantwortung lastete schwer auf ihm, obwohl nicht allein auf seinen Rat hin Salaman blindlings in die Falle gegangen war.

 

Das Maschinengewehr wurde untersucht, ergab aber keinerlei Anhaltspunkte. Es war in Amerika hergestellt, und Jiggs stellte fest, daß dieser Typ meistens bei den Überfällen der Gangster in Chikago verwendet wurde.

 

»Das waren die Grünen!« erläuterte er. »Ich meine die Bande, die die grünen Briefe schickt! Nun kommen die Blauen dran … Es bleibt uns nur die eine Hoffnung, daß die beiden Banden aneinandergeraten.«

 

»Sind Sie tatsächlich davon überzeugt, daß zwei Banden zu gleicher Zeit in London arbeiten?«

 

»Nach meinen Chikagoer Erfahrungen bin ich meiner Sache vollkommen sicher. Die Blauen haben Decadon ermordet, die Grünen sind, meiner Meinung nach, noch smarter. Wie werden sich die Dinge nun weiterentwickeln? Hoffentlich leben wir noch so lange, daß wir es sehen können!«

 

Eine Untersuchung des Häuserblocks brachte keine weiteren Ergebnisse. Die leere Wohnung wurde von mehreren Agenten angeboten. Keiner hatte einen Schlüssel fortgegeben, aber alle hatten in den letzten Tagen persönlich Interessenten die Wohnung gezeigt. Die letzten, ein Herr und eine Dame, hatten noch am Morgen des Unglückstages die Zimmer besichtigt.

 

»Während sie oben waren und durch die Wohnung gingen«, erklärte Jiggs, »stand die Tür weit auf, und jeder Fremde konnte ungehindert hereinkommen.«

 

Der Portier erinnerte sich an einen Mann, der einen schweren Koffer getragen hatte. Er hatte ihn angehalten, aber der Fremde erklärte, er solle den Koffer persönlich im obersten Stock abgeben. Das war zur selben Zeit, als der Herr und die Dame die Räume besichtigten. Der Mann war im Lift nach oben gefahren; aber der Portier konnte sich nicht besinnen, ihn später noch einmal gesehen zu haben.

 

»Da haben wir die Erklärung!«, meinte Jiggs. »Es war sehr einfach, die Treppe hinauf- und herunterzugehen, während der Fahrstuhl in Bewegung war. Ebensoleicht konnte man es einrichten, der Beobachtung des Liftführers zu entgehen. Wahrscheinlich waren zwei Mitglieder der Bande in der Wohnung. Einer hatte sich vermutlich schon oben versteckt, bevor das Paar, das die Wohnung besichtigte, wieder ging.«

 

 

Ganz London wurde in dieser Nacht durchsucht, besonders die Teile der Hauptstadt, in denen die Fremden wohnten. Schießsachverständige prüften das Maschinengewehr. Terry Weston entdeckte bei einer Untersuchung des Unglücksplatzes, daß der Bürgersteig an zwei Stellen weiß markiert war.

 

»Das hab‘ ich leider übersehen«, knurrte Jiggs, »und gerade danach hätte ich doch ausschauen sollen! Die Kerle haben die Entfernung gemessen und das Ziel genau markiert … Unglaublich …!«

 

Kapitel 13

 

13

 

Am nächsten Morgen erhielt Terry einen unerwarteten Anruf von Eddie Tanner:

 

»Haben Sie vielleicht Zeit, mich mal aufzusuchen? Es handelt sich um eine rein persönliche Angelegenheit. Ich würde gern nach Scotland Yard kommen, aber ich halte das im Augenblick nicht für ratsam.«

 

Terry folgte der Aufforderung und fand Tanner an dem Schreibtisch, an dem vor kurzem sein Onkel so kaltblütig erschossen worden war.

 

Eddie rauchte eine Zigarette und hatte eine aufgeschlagene Zeitung vor sich liegen. »Eine böse Sache!« meinte er und zeigte auf die fettgedruckten Zeilen. »Sie müssen zur Zeit sicher allerhand zu tun haben in Scotland Yard?«

 

Terry war ihm nicht gerade freundlich gesinnt, aber selbst jetzt konnte er noch nicht glauben, daß Tanner seinen Onkel an dieser Stelle mitleidlos erschossen hatte. »Möchten Sie mit mir über den Feuerüberfall sprechen?«

 

»Nein – das geht mich ja gar nichts an!« Eddie schob die Zeitung zur Seite. »Miss Ranger wird in einer halben Stunde kommen, und ich habe die Absicht, sie zu entlassen.«

 

Tanner wartete, aber Terry machte keine Bemerkung.

 

»Ich habe mir die Sache eingehend überlegt und bin zu der Überzeugung gelangt, daß die Stellung ziemlich gefährlich für sie ist. Einige Stunden nach dem Tod meines Onkels ist sie von einer Bande verschleppt worden, die wahrscheinlich mit den Mördern unter einer Decke steckt oder sogar mit ihnen identisch ist. Der Schreck über dieses Erlebnis hat sie stark mitgenommen. Allem Anschein nach sind die Leute, die für diese Morde verantwortlich sind«, er tippte auf die Zeitung, »mir nicht sonderlich gut gesinnt. Und ich wünsche nicht, daß Miss Ranger noch einmal in eine so unglückliche Lage kommt. Sie sind ein Freund von ihr – wenigstens sind Sie gut mit ihr bekannt, und ich bitte Sie, mir in dieser Angelegenheit zu helfen.«

 

»In welcher Weise?«

 

Eddie warf den Rest der Zigarette in eine Vase und steckte sich eine neue an. »Die junge Dame wohnt in einer abgelegenen Gegend in einem billigen Quartier und hat kein Telefon. Das halte ich für gefährlich, falls diese Leute glauben, noch wichtige Nachrichten aus ihr herausholen zu können. Deshalb wäre es mir lieb, wenn die junge Dame in einer besseren Gegend im Westen wohnte. Es ist schwierig, ihr diesen Vorschlag zu machen, da ich bereit bin, die Mietzahlung für diese Wohnung zu übernehmen. Sie ist ein hübsches Mädel und wird über dieses Ansinnen natürlich empört sein. Denn ich will nicht nur ihre Miete zahlen, sondern ihr auch die Wohnung einrichten …«

 

»Warum wollen Sie das tun?«

 

Tanner zuckte die Schultern. »Es ist eine verhältnismäßig geringe Ausgabe, und ich wäre dann beruhigt«, erwiderte er lächelnd. »Mit anderen Worten: Ich möchte nicht schuld daran sein, wenn ihr etwas passiert.«

 

»Ein sehr großzügiges Angebot! Ich verstehe Ihren Standpunkt vollkommen – obwohl Sie vielleicht eine Nebenabsicht damit verbinden, die Sie mir verschwiegen haben.«

 

»Nein, Sie irren sich! Ich habe keine Hintergedanken. Ich habe die junge Dame gern – damit ist nicht gesagt, daß ich sie etwa liebe oder näher mit ihr bekannt werden möchte. Sie gehört zu den seltenen Frauen, denen ich unter allen Umständen vertrauen würde; obwohl sie Ihnen gegen meinen Willen eine bestimmte Mitteilung gemacht hat. Aber da die Umstände so außergewöhnlich waren, kann ich das begreifen. Soweit als irgend möglich möchte ich sie vor neuen Zwischenfällen bewahren … Überreden Sie also bitte Miss Ranger, mein Anerbieten anzunehmen!«

 

»Aber ich habe doch keinen Einfluß auf sie!«

 

Wieder glitt ein flüchtiges Lächeln über Eddies Züge. »Meiner Meinung nach haben Sie einen größeren Einfluß auf sie, als Sie selber ahnen. Wollen Sie mir helfen, wenn meine Annahme stimmt?«

 

»Das muß ich mir erst überlegen.« –

 

Als Leslie eine Viertelstunde später erschien, fand sie Eddie Tanner an ihrem Schreibtisch.

 

»Heute habe ich keine Arbeit für Sie«, sagte er vergnügt. »Und ich werfe Sie hiermit in aller Freundschaft hinaus!«

 

Sie sah ihn betroffen an, »Soll das heißen, daß Sie mich nicht mehr brauchen können?«

 

»Nein, es ist noch sehr viel zu tun. Aber ich mußte mich zu diesem Schritt entschließen, weil die Stellung bei mir für Sie zu gefährlich ist.« Er wiederholte nun alles, was er schon Terry gesagt hatte. »Chefinspektor Weston kam auf meine Bitte heute morgen hierher«, erklärte er offen. »Ich bat ihn, Ihnen die Lage in meinem Sinn klarzumachen.«

 

»Aber ich kann doch kein Geld von Ihnen annehmen für –«

 

»Ich weiß, was Sie sagen wollen. Das habe ich übrigens erwartet: Eine anständige junge Dame kann sich nicht gut eine möblierte Wohnung von einem Herrn einrichten lassen. Ich bin Ihnen jetzt sogar zu Dank verbunden, daß Sie nicht böse und ausfallend gegen mich werden. Doch das, was ich Ihnen gesagt habe, ändert sich dadurch in keiner Weise, Miss Ranger, und Sie würden mir eine große Sorge abnehmen, wenn Sie auf meinen Vorschlag eingingen. Ich schulde Ihnen sowieso fünfzigtausend Pfund …«

 

»Sie schulden mir fünfzigtausend Pfund?« wiederholte sie verblüfft. Sie hatte sein Versprechen vergessen.

 

Er nickte. »Im Augenblick bin ich nicht in der Lage, Ihnen die Summe zu geben. Es wird verhältnismäßig lange dauern, bis ich das Vermögen meines Onkels in die Hand bekomme.«

 

»Mr. Tanner, Sie wissen genau, was Mr. Weston denkt, und ich fürchte, ich werde der gleichen Ansicht sein müssen. Sie haben das Testament irgendwie an sich gebracht und es nachher absichtlich in das Lexikon gelegt, damit ich es an der betreffenden Stelle finden sollte. Da Sie, meiner Meinung nach, das Testament vor mir gefunden haben, sind Sie von Ihrem Versprechen –«

 

»Nein, durchaus nicht!« unterbrach er sie. »Selbst wenn Westons phantastische Theorie zutreffen sollte. Jedenfalls bin ich aber der Testamentsvollstrecker meines Onkels. Er hat Ihnen tausend Pfund hinterlassen, die ich Ihnen baldigst auszahlen werde. Aber ich möchte Sie bitten, mich auch noch in der angedeuteten Weise für Sie sorgen zu lassen.«

 

Sie schüttelte den Kopf, »Ich hatte sogar die tausend Pfund vergessen«, erwiderte sie mit einem schwachen Lächeln. »Diese Summe bedeutet eine beachtliche Unterstützung für mich. Ich verspreche Ihnen auch, in eine andere Gegend zu ziehen, in der ich mich sicherer fühlen kann. Ich hatte beinahe selbst schon den Entschluß gefaßt. Aus dem Nachlaß meiner Mutter besitze ich einige Möbel und kann mir ein gemütliches Heim einrichten. Daß ich Ihr Anerbieten nicht annehmen kann, werden Sie hoffentlich verstehen?«

 

»Ich achte Sie um so mehr!« entgegnete er. Er zahlte ihr für zwei Wochen Gehalt aus, als Ausgleich für die Kündigung.

 

Eine halbe Stunde später war sie bereits in ihrer Wohnung und packte für den Umzug. Sie hatte den ganzen Tag für sich und nahm sich vor, ein paar Einkäufe zu machen, dann in der Stadt zu Mittag zu essen und nachher den Möbelspeicher aufzusuchen, in dem ihre Sachen aus dem Nachlaß der Mutter seit drei Jahren untergebracht waren. Allerdings war dieser Speicher sehr unbequem zu erreichen. Unangenehm, daß sie zu diesem Zweck bis nach Rotherhithe hinausfahren mußte! Aber dann entschloß sie sich, das Unangenehme zuerst zu erledigen, verschob die Einkäufe auf den Nachmittag, nahm ein Taxi und befand sich eine Weile später in der traurigen Umgebung von Rotherhithe.

 

Sie wußte nicht mehr genau, wo der Speicher lag, und ließ deshalb den Chauffeur halten, um einen Polizisten zu fragen.

 

»Zaymens Möbellager?« wiederholte der Beamte und gab dann die genaue Richtung an. »Wollen Sie etwa Ihre Sachen dort abholen? Da kommen Sie gerade noch zur rechten Zeit! Seit einer Woche annonciert die Firma, daß sie das Möbellager auflöst. Der alte Herr ist vor zwei Jahren gestorben, und der junge Zaymen …« Er zuckte die Schultern. »Manche Leute sagen, die Firma wäre bankerott … Aber wie es auch sein mag – stimmen tut die Geschichte nicht!«

 

Nach einiger Zeit fand der Chauffeur den Speicher. Auf dem Grundstück herrschte rege Tätigkeit. Leslie meldete sich im Büro und legte den Empfangsschein für die Möbel und alle Quittungen für die Aufbewahrung vor.

 

Ein Angestellter prüfte die Papiere umständlich. »Na, das langt ja gerade noch«, sagte er. »Morgen sollte das Möbeldepot versteigert werden.«

 

»Das wäre Ihnen schlecht bekommen!« entgegnete Leslie.

 

Gleich darauf erschien ein anderer junger Angestellter, der äußerst liebenswürdig war. Mit seiner Hilfe konnte sie auch ihre Möbel herausfinden, Sie gab den Auftrag, die Sachen abzutransportieren.

 

»Ein Skandal, daß die alte Firma Zaymen so enden muß!« bedauerte der junge Mann. »Aber wahrscheinlich war das Angebot zu verlockend. Die Firma ist eine der bedeutendsten hier am Fluß, hat eine eigene kleine Werft, sehr schöne Kaimauern …«

 

»Ja, ich verstehe. Es ist ein massives Lagerhaus, das man zu vielem verwenden kann.«

 

»Nur der junge Zaymen ist daran schuld!« Er seufzte schwer und erzählte dann, daß Mr. Zaymen leichtsinnig spiele und dadurch in Schulden geraten sei.

 

Leslie beobachtete, wie ihre Möbel auf ein Lastauto geladen wurden, und gab dem Chauffeur die Adresse an, obgleich sie die in Aussicht genommene kleine Wohnung noch nicht fest gemietet hatte. Als sie die Arbeiter bezahlt hatte und gerade gehen wollte, hörte sie zwei Männer, die miteinander sprachen. Es mußten Amerikaner sein.

 

»Man kann dieses Wässerchen doch nicht mit dem Hudson vergleichen! Der ist mindestens sechsmal so breit wie die Themse.«

 

Leslie erkannte die Stimme des Mannes, der sie neulich entführt hatte …! Er machte noch eine Bemerkung über die Farbe des Wassers, und nun war sie ihrer Sache sicher. Unauffällig sah sie sich um, denn sie wünschte nicht, daß die Leute sie wiedererkannten. Sie trugen saubere Pullover, blaue Hosen und Wasserstiefel, die bis zu den Knien reichten.

 

»Wir wollen uns beeilen, Junge! Wenn wir fertig sind, holen wir Jane und Christabel, und dann gehen wir ins Kino!«

 

Der andere lachte rauh und abgerissen. Die beiden mittelgroßen Männer waren schlank und sahen ungewöhnlich aus. Sie gingen an den Arbeitern vorbei, die die Möbel aufluden, und verschwanden hinter einem Lastauto.

 

Leslie ging zu ihrem Wagen zurück und war unschlüssig, was sie tun sollte. Ob sie sich etwa doch täuschte? Eine Amerikanerin hatte ihr einmal gesagt, daß alle englischen Stimmen ihr gleich vorkämen, daß sie aber eine amerikanische Stimme unter Tausenden heraushören könne. Leslie erschien im Augenblick das Gegenteil richtig: Alle amerikanischen Stimmen ähnelten einander, und nur eine rein englische schien ihr deutlich erkennbar.

 

Wer mochte Jane und Christabel sein? Sie dachte darüber nach, als sie in den Wagen stieg und auf dem unebenen Weg zur Hauptstraße zurückfuhr. Als sie dort ankam, mußte ihr Chauffeur halten, um einen Lastwagen vorbeizulassen.

 

Plötzlich hörte sie neben sich das Geräusch eines Motorrads, das unmittelbar neben dem Fenster ihres Autos zum Stehen kam. Der Fahrer stützte sich mit der Hand an den Wagen und sah herein. Es war der Mann, den sie eben hatte sprechen hören. Er sah sie durchdringend an, und sie erwiderte seinen Blick. »Was wollen Sie?« fragte sie. Er murmelte etwas Unverständliches und blieb zurück, als das Taxi wieder anfuhr.

 

Sie suchte sich sein Verhalten zu erklären. Wahrscheinlich hatte er vor dem Speicher ihren Namen gehört, als die Möbel aufgeladen wurden, und war ihr nachgefahren, um sich zu vergewissern, ob sie es auch wirklich sei. In dem Fall war sie also wiedererkannt worden. Was machte der Mann nur auf dem Grundstück am Fluß? Vielleicht war er ein Matrose, auf einem kleineren Handelsdampfer beschäftigt?

 

In der Nähe der Victoria Street wurde ihr Auto durch den Verkehr aufgehalten. Zu ihrem Erstaunen hörte sie plötzlich ihren Namen. Als sie sich umsah, entdeckte sie einen Mann neben dem offenen Fenster.

 

Er hatte ein schmales Gesicht mit auf gezwirbeltem Schnurrbart und zog den Hut besonders höflich.

 

»Sie kennen mich nicht, Miss Ranger, aber ich weiß, wer Sie sind. Ich bin Inspektor Tetley von Scotland Yard, Kollege von Mr. Weston.« Er grinste, als er das sagte. »Was hatten Sie denn in diesem Teil der Welt zu tun?«

 

»Ich habe meine Möbel abtransportieren lassen. Sie waren in einem Speicher untergestellt.«

 

»Wo lag denn der Möbelspeicher? Ach, in Rotherhithe? Eine entsetzliche Gegend! Haben Sie nicht zufällig einen Bekannten dort gesehen?«

 

»Nein. Das hätte ich auch nicht erwartet.«

 

»Ich weiß nicht«, sagte er mit merkwürdiger Betonung und beobachtete sie scharf. »Es ist sonderbar, aber in Rotherhithe trifft man immer Leute, die man vorher mal gesehen hat. Das ist direkt sprichwörtlich.«

 

»Ich kann das nicht bestätigen«, entgegnete sie kühl.

 

Im nächsten Augenblick fuhr ihr Auto an. Sie erinnerte sich nun dunkel, Tetley schon gesehen zu haben: Er war nach Decadons Ermordung ins Haus gekommen. Sie überlegte, ob sie Terry ihr Erlebnis berichten sollte, wurde sich aber nicht schlüssig.

 

Am Cavendish Square stieg sie aus. Auch der Chauffeur verließ seinen Sitz, um sich ein wenig zu bewegen. »Hallo, was ist denn das?« rief er plötzlich.

 

Sie folgte seinem Blick. An den beiden Seitenteilen und an der Rückseite des Wagens waren runde weiße Zettel aufgeklebt.

 

Als der Chauffeur sie abriß, sahen die beiden, daß der Leim noch feucht war. »Das war noch nicht daran, als wir Rotherhithe verließen«, meinte er. »Vielleicht hat dieser Motorradfahrer –«

 

Ein kalter Schauer überlief Leslie.

 

Nachdem sie den Mietvertrag für ihre neue kleine Wohnung abgeschlossen hatte, war sie in größter Versuchung, Terry anzurufen. Sie glaubte jetzt, einige gute Entschuldigungsgründe dafür zu haben.

 

Kapitel 14

 

14

 

Terry Weston kehrte auf schnellstem Weg nach Scotland Yard zurück, um an der geheimen Besprechung teilzunehmen, die am Vormittag abgehalten wurde.

 

Zu jener Zeit war Sir Jonathan Goussie Polizeipräsident von London, ein Mann, der aus der militärischen Laufbahn hervorgegangen war und sich sein ganzes Leben lang nach Vorschriften und Verordnungen gerichtet hatte. Zu dem hohen Posten war er gekommen, weil er es sorgfältig vermied, irgendwie aufzufallen oder eine Verantwortung auf sich zu nehmen. Er war ein nervöser Mensch, der die Kritik der Presse fürchtete. Durch die letzte Entwicklung der Dinge hatte er einigermaßen den Kopf verloren.

 

Sir Jonathan saß am Ende des langen Konferenztisches in einem Armsessel. »Wir befinden uns augenblicklich in einer entsetzlichen Situation!« dozierte er erregt. »Die tüchtigste Polizeitruppe der Welt wird plötzlich von einer Verbrecherbande lahmgelegt und geblufft …«

 

»Was sollen wir denn tun?« fragte Polizeidirektor Wembury, ein Mann von Selbstbeherrschung und Energie.

 

»Ich will nicht sagen, daß wir es an Vorsichtsmaßregeln hätten fehlen lassen«, fuhr Sir Jonathan fort. »Ich bin sicher, daß Tetley alles getan hat, was zu tun war.«

 

»Ja, ich habe alles getan!« bemerkte Tetley unnötigerweise. Er war ein Liebling des höchsten Vorgesetzten, und obwohl er eigentlich kein Recht hatte, an der Sitzung teilzunehmen, hatte Wembury ihn unter diesen Umständen doch zugezogen.

 

»Ich will niemand einen Vorwurf machen«, ergriff der Präsident wieder das Wort, »aber es ist doch allerhand geschehen, was besser unterlassen worden wäre.« Er warf einen mißbilligenden Blick auf Jiggs Allerman. »Amerikanische Methoden mögen in ihrer Art ja ganz gut sein, aber amerikanische Polizeibeamte begreifen eben doch nicht so recht, wie man bei uns in London arbeitet …«

 

»Wie meinen Sie das?« fragte Terry unliebenswürdig. »Captain Allerman hat uns in jeder Weise unterstützt …«

 

»Wir wollen uns hier nicht streiten! Dazu ist keine Zeit. Wir müssen jetzt Maßnahmen treffen, um derart unerhörte Vorfälle in Zukunft zu verhüten. Und ich glaube, daß der Vorschlag Inspektor Tetleys dazu sehr geeignet ist.«

 

Terry und Wembury sahen einander an. Sie hörten zum erstenmal, daß Tetley und der Präsident einen Plan ausgearbeitet hatten. »Ich nehme jede Anregung gern an«, erklärte Wembury, »aber ich weiß nicht, ob es richtig ist, daß Inspektor Tetley bei dieser Geheimsitzung eine so ausschlaggebende Rolle spielt. Was für eine Idee hat er denn?«

 

»Mr. Tetley schlägt vor, eine ansehnliche Geldbelohnung für die Leute auszusetzen, deren Angaben zur Verhaftung der Mörder führen. Diese Belohnung soll nicht, wie gewöhnlich, nur auf Zivilpersonen beschränkt bleiben.«

 

»Ich halte diesen höchst originellen Einfall für wertlos«, erwiderte Wembury kühl. »Wir müssen jeden Erpressungsversuch individuell behandeln, und ich bin davon überzeugt, daß London in Bälde mit diesen gedruckten Drohbriefen überschwemmt wird. Alle reichen Leute werden vermutlich früher oder später vor die Wahl gestellt, zu zahlen oder erschossen zu werden.«

 

»Einer ist heute früh bereits gekommen«, erklärte der Präsident etwas ernüchtert. »Ich habe den Brief in der Tasche.« Er zog ein blaues Blatt Papier heraus. »Das Schreiben wurde einem meiner besten Freunde geschickt – oder vielmehr dem Neffen eines meiner besten Freunde. Er bat mich, selbst meinen Kollegen seinen Namen nicht zu nennen.«

 

Terry sah seinen Vorgesetzten erstaunt an. »Soll das heißen, daß Sie uns den Namen wirklich nicht sagen wollen?«

 

»Ich erkläre, daß ich weder Ihnen noch sonst jemand den Namen verraten werde!« erwiderte der alte Herr steif. »Ich habe am Telefon mein Wort gegeben.«

 

Jiggs lehnte sich zurück und sah zur Decke hinauf.

 

»Werden Sie seinen Namen auch nicht nennen, wenn die Totenschau für ihn abgehalten wird?« fragte er.

 

Der Präsident streifte ihn mit einem finsteren Blick.

 

»Dazu kommt es überhaupt nicht!« versetzte er heftig. »Wenn unsere Polizei ihre Pflicht tut und wenn unser Freund aus Amerika tatsächlich die Methoden unserer Gegner so durchschaut, wie wir bisher angenommen haben –«

 

»Auf mich können Sie sich in jeder Beziehung verlassen!« unterbrach ihn Jiggs.

 

Wembury war bleich vor Ärger. »Ich glaube, Sie wissen nicht, Sir, was Sie da eben gesagt haben! Der Empfänger des Briefes – einerlei, wer es sein mag – muß geschützt werden! Und wir können ihn nicht beschützen, wenn wir ihn nicht kennen. Ich muß darauf bestehen, daß ich seinen Namen und seine Adresse erfahre!«

 

Sir Jonathan Goussie richtete sich auf. Der alte Soldat blitzte Wembury wütend an. »Niemand hat mir hier etwas vorzuschreiben oder auf Forderungen zu bestehen, solange ich meinen Posten innehabe!« erklärte er kategorisch.

 

Terry seufzte. Wenn der Präsident den Offizier herauskehrte, war die Lage hoffnungslos.

 

Kurz darauf wurde die Konferenz aufgehoben. Goussie machte vorher noch eine geheimnisvolle Andeutung, daß er den Tatbestand der Presse bekanntgeben würde.

 

Nach dieser Sitzung fand noch eine Privatbesprechung in Wemburys Büro statt.

 

»Wir müssen unter allen Umständen verhindern, daß eine Mitteilung an die Presse gelangt, bevor wir den Wortlaut gelesen haben«, riet Wembury. »Der Chef ist in solchen Dingen unerfahren, und die Ereignisse der letzten Tage haben ihn aus dem Gleichgewicht geworfen. Ich werde mich direkt an das Innenministerium wenden, obwohl ich damit riskiere, meinen Posten zu verlieren, weil ich hinter dem Rücken meines Vorgesetzten handle.«

 

Aber dazu kam es nicht; denn der Innenminister war nicht in London. Es war allerdings ein Telegramm eingelaufen, daß er in aller Eile in die Hauptstadt zurückkehren wollte. Wembury suchte daraufhin noch einmal um eine vertrauliche Unterredung mit Sir Jonathan nach, wurde aber abschlägig beschieden.

 

Um vier Uhr nachmittags brachten dann die Zeitungen die offizielle Mitteilung des Polizeipräsidenten, die er über Mittag in seinem Klub sorgfältig aufgesetzt hatte:

 

In den letzten Tagen sind in London zwei bedauerliche Verbrechen geschehen. Es sei dahingestellt, ob sie miteinander in Zusammenhang stehen. Wohlhabende Leute wurden in Erpresserbriefen aufgefordert, große Summen zu zahlen, widrigenfalls sie ermordet werden sollten. Es ist mit Bestimmtheit anzunehmen, daß die Ermordung Mr. Salamans auf solche Drohbriefe zurückzuführen ist. Die Schreiber betonen ausdrücklich, daß ihre Opfer ermordet werden, falls sie sich direkt oder indirekt an die Polizei wenden. Trotzdem ersucht der Polizeipräsident alle Leute, die derartige Mitteilungen erhalten, sich sofort mit Scotland Yard in Verbindung zu setzen. Wenn eine bedrohte Person ihren Namen nicht angeben möchte, wird dieser Wunsch berücksichtigt. Es wäre allerdings ratsam, der Polizei Namen und Adresse zu nennen. Der Polizeipräsident ist leider nicht in der Lage, allen Leuten persönliche Sicherheit zu garantieren, aber er versichert, daß alles getan wird, was in den Kräften der Polizei steht, um die Bürger gegen derartige Übergriffe einer Bande zu schützen.

 

Der Aufruf war mit dem Namen und allen Titeln des Polizeipräsidenten unterzeichnet.

 

Jiggs Allermann war der erste, der eine Zeitung nach Scotland Yard brachte. Er eilte damit in Wemburys Büro, wo er auch Terry Weston traf. »Hier – lesen Sie!«

 

Wembury überflog den Absatz. »Zum Donnerwetter«, fluchte er leise. »Sie wissen doch, was das bedeutet? Dieser verrückte alte Kerl erklärt damit der Welt, daß Scotland Yard nicht mehr in der Lage sei, das Leben bedrohter Staatsbürger zu schützen!« Wembury nahm das Blatt hastig auf und stürmte in das Büro des Präsidenten.

 

Sir Jonathan wollte gerade mit Inspektor Tetley das Zimmer verlassen. »Nun, was gibt es denn?« fragte er.

 

»Ist das die Mitteilung, die Sie der Presse zukommen ließen?« erwiderte Wembury scharf.

 

Der alte Herr setzte seinen Klemmer auf und las die Verlautbarung von Anfang bis zu Ende durch, während Wembury sich auf die Zunge biß, um nicht ausfallend zu werden. »Ja, das ist der Text meiner Mitteilung!«

 

»Dann werde ich dies sofort dem Herrn Innenminister vorlegen!« erklärte Wembury energisch. »Sie haben allen Mördern einen Freibrief erteilt – Sie haben diesen Verbrecherbanden klar und deutlich gesagt, daß sie ruhig ihre Pläne ausführen können, da wir nicht in der Lage sind, ihre Opfer zu schützen.«

 

»Ich habe das alles nach reiflicher Überlegung geschrieben«, begann der Präsident, als das Telefon klingelte. »Gehen Sie hin, Tetley, und melden Sie sich!« Er wandte sich wieder an Wembury. »Sie wissen, daß ein derart aufsässiges Benehmen eine schwere Verletzung Ihrer Dienstpflichten ist? Ich muß diese Sache an höchster Stelle melden.«

 

Tetley erschien in der Tür. »Sir, Sie werden persönlich gewünscht!«

 

Goussie begab sich in das Büro. Wembury hörte, daß er kurze, respektvolle Antworten gab, und wußte, daß der Innenminister sprach. Der Präsident wollte eine Erklärung geben, die aber abgeschnitten wurde. Als er wieder herauskam, war er bleich.

 

»Ich gehe zum Innenminister. Wir wollen die Sache bis zu meiner Rückkehr verschieben.«

 

Aber der Polizeipräsident kehrte nicht mehr zurück. Er blieb nur zehn Minuten beim Minister, und die späten Abendausgaben der Zeitungen verkündeten, daß Sir Jonathan Goussie seines Amtes enthoben worden war …

 

Man hat ihm nicht mal die Möglichkeit gegeben, selber seinen Abschied einzureichen«, meinte Terry.

 

»Versteh‘ ich vollkommen«, brummte Jiggs. »Warum hätten sie ihm auch noch diese Annehmlichkeit zubilligen sollen?«

 

Die beiden saßen bei einer Tasse Tee in Terrys Büro. Der Chefinspektor erinnerte sich an die Unterredung, die er am Morgen mit Eddie Tanner gehabt hatte, und erzählte seinem Freund davon.

 

»Möglicherweise war es ernst gemeint?« entgegnete Jiggs. »Eddie ist manchmal merkwürdig großzügig.«

 

Terry schüttelte den Kopf. »Ich kann und kann nicht glauben, daß er seinen Onkel mit Vorbedacht über den Haufen geschossen hat …«

 

»Sie verstehen eben die Mentalität dieser Halunken nicht. Die bewahren immer und überall kaltes Blut – kennen keinerlei Gefühle. Sie behandeln die Menschen, die sie in ein besseres Jenseits befördern, wie die Fleischer ihr Vieh auf dem Chikagoer Schlachthof. Einen Hammel haßt man nicht, wenn man ihn absticht. Hassen Sie etwa eine Mücke, wenn Sie sie totschlagen? Nein. Die Tatsache, daß Decadon sein Onkel und ein hinfälliger Greis war, machte für Eddie nicht den geringsten Unterschied. Wenn die jemand niederknallen, so ist das für sie dasselbe, als ob sie sich den Rock abbürsten oder ihre Krawatte geraderücken.« Er dachte einen Augenblick nach. »Mir ist es ganz klar, daß er die junge Dame aus dem Haus haben will. Die Dienstboten müssen auch gehen. Ich wette, daß er jetzt seine eigenen Leute dort hat. Er kann keine Angestellten brauchen, die er nicht ganz genau kennt.«

 

»Meinen Sie, daß Bandenmitglieder bei ihm wohnen?«

 

»Nein. Das würde uns die Sache zu sehr erleichtern. Er wird Leute nehmen, die nur tagsüber im Haus sind und nachts in ihrer eigenen Wohnung schlafen. Möglich, daß er wieder eine Sekretärin anstellt. Aber wenn Sie an Ort und Stelle nach ihm fragen, dann erhalten Sie sicher die Antwort, er sei eben ausgegangen. Ein paar Elektriker werden sich vielleicht im Haupthaus aufhalten, die Klingelleitungen und dergleichen legen. Die werden häufig dort sein; aber wenn Sie sich nach denen erkundigen, so sind sie gerade zum Essen gegangen … Die einzige, der er nicht gekündigt hat, ist die Köchin.«

 

»Warum das?«

 

»Weil sie an und für sich nicht im Haus wohnt und sich tagsüber im Souterrain aufhält; sie kommt nie nach oben. Außerdem kocht sie gut … Aber ich wollte Ihnen noch etwas über die junge Dame sagen, in die Sie sich verliebt haben …«

 

»Ich habe mich durchaus nicht in sie verliebt!« widersprach Terry entrüstet.

 

»Sie haben aber rote Ohren bekommen! Und das verrät genug … Wie heißt sie doch gleich? Ach ja: Leslie Ranger. Es mag allerhand für sich haben, was Eddie gesagt hat. Immerhin möglich, daß die Burschen sie eines Abends wieder entführen und alles aus ihr herauszuholen trachten, was sie wissen wollen.«

 

»Das heißt, wenn sie es ihnen sagt!«

 

Jiggs lächelte grimmig. »Sie wird es ihnen schon sagen … Sie kennen diese Schurken nicht, Terry. Man spricht manchmal von Menschen, die vor nichts haltmachen; diese Gangster gehören dazu. Wissen Sie nicht, daß man im Mittelalter die Leute gefoltert hat, um sie zum Sprechen zu bringen? Diese Verbrecher können das noch viel besser; und besonders raffinierte Methoden wenden sie an, wenn sich’s um eine Frau handelt … Schade dann um das hübsche Mädel – diese Leslie! Ich hab‘ sie zweimal getroffen; sie ist wirklich sehr schön … Wo steckt nun eigentlich der Alte?«

 

»Meinen Sie den Präsidenten? Der ist nach Haus gegangen. Wembury hat noch mit ihm gesprochen und versucht, den Namen des Bedrohten zu erfahren, aber Goussie hat nur gesagt, er hätte dem Mann den Rat gegeben, sich ruhig zu verhalten und heute abend zum Scotland Yard zu kommen.«

 

Jiggs stöhnte. »Es müssen doch noch andere solche Briefe in London ausgetragen worden sein. Haben Sie was davon gehört?«

 

»Nein, es wurde nichts gemeldet. Übrigens haben alle unsere Wachleute Befehl erhalten, jedes Haus zu melden, in dem man eine brennende Kerze sieht.«

 

»Es wird sich kein Licht zeigen. Es war doch ein blauer Brief!«

 

»Ebensogut können grüne ausgeschickt worden sein«, meinte Terry. Jiggs erhob sich. »Ich ziehe heute in ein anderes Hotel. In mein jetziges Quartier kann man zu leicht eindringen, und wenn einer von diesen Burschen erfährt, daß ich jetzt so intensiv für euch tätig bin, kann ich damit rechnen, daß sie mich außer Gefecht setzen wollen. Wenn in den nächsten Tagen nicht der Versuch gemacht wird, mich niederzuknallen oder mich sonstwie um die Ecke zu bringen, würde ich mich geradezu beleidigt fühlen.«

 

Er verließ Scotland Yard und ging zu Fuß Whitehall hinunter. Er hatte die Hände in den Rocktaschen und eine Zigarre im Mund, die verwegen nach oben ragte. Den Hut hatte er etwas schief aufgesetzt, und so sah er aus wie jemand, der sich seines Lebens freut. Aber jede Hand hielt in der Tasche einen Revolver gepackt, und unter dem nach unten gebogenen Hutrand war ein Spiegel befestigt …

 

Um diese Zeit kehrten die Beamten aus den Ministerien nach Hause zurück, und am Trafalgar Square herrschte ungeheurer Verkehr. An der Ecke überquerte Jiggs die Straße und sprang auf einen Autobus, der nach Westen fuhr. Fünf Minuten später kam er in seinem Hotel an.

 

Er hatte Terry Weston nicht mitgeteilt, daß er seine Wohnung bereits geändert hatte; nur seine neue Telefonnummer war der Zentrale im Präsidium bekannt. Er fuhr zum ersten Stock hinauf, wo seine Räume lagen, schloß die Tür auf, streckte die Hand nach innen und schaltete das Licht an.

 

Im nächsten Augenblick erzitterte der ganze Hotelbau unter einer schweren Explosion, Jiggs wurde zu Boden geschleudert und lag halb bewußtlos unter Putz und Trümmern. Als er sich langsam wieder erhob, schmerzten ihm alle Glieder. Die Tür zu seinem Zimmer hing nur noch in den Angeln, und erstickende Rauchwolken qualmten aus dem Raum. Seine rechte Hand, mit der er das Licht angedreht hatte, war wunderbarerweise unverletzt geblieben; nur ein paar geringfügige Abschürfungen zeigten sich.

 

Das Hotel lag fünf Minuten im Dunkel. Von unten her ertönten Rufe und Stimmengewirr. Laute Gongschläge meldeten Feueralarm.

 

Jiggs leuchtete mit seiner Taschenlampe das Zimmer ab. Alles lag in Trümmern: Teile der Decke waren eingebrochen, die Fenster auf die Straße gestürzt, die Möbel in Stücke gerissen … Er starrte verstört um sich. »Also auch hier Bomben!«

 

Offenbar hätte man die Bombe auf den Tisch gestellt und die Zündung mit dem elektrischen Lichtschalter in Verbindung gebracht. Wäre Jiggs ins Zimmer getreten und hätte erst dann den Schalter gedreht, so wäre auch er in Stücke gerissen worden …

 

Als er den Korridor entlangging, hörte er die Alarmglocken der Feuerwehrwagen. An der Treppe traf er den bleichen Hoteldirektor, der vor Schreck kaum sprechen konnte.

 

»Es war nur eine Bombe«, erklärte Jiggs. »Sehen Sie bitte nach, ob jemand in den anderen Zimmern verletzt worden ist!«

 

Glücklicherweise standen zu dieser Tageszeit fast alle Räume leer. Jiggs‘ Wohnzimmer lag unmittelbar über einer Hotelgarderobe, deren Decke zum Teil eingestürzt war. Wie durch ein Wunder war niemand etwas geschehen.

 

Nachdem die Feuerwehr einen unbedeutenden Brand gelöscht hatte, inspizierte Jiggs sein Schlafzimmer. Die Trennungswände waren vollständig zusammengebrochen. Ein großes Loch zeigte die Stelle an, wo früher der Kleiderschrank gestanden hatte. »Ich brauche nun wenigstens nicht viel zu packen«, sagte er in philosophischer Ruhe.

 

Er versuchte mit Scotland Yard zu telefonieren, aber die Fernsprechleitung funktionierte nicht.

 

Vorm Hotel war eine große Menschenmenge zusammengeströmt, und Ansammlungen waren im Augenblick gefährlich. Jiggs verließ deshalb das Gebäude durch einen hinteren Ausgang und fand auch bald eine Telefonzelle, von der aus er Terry anrief.

 

»Würden Sie einem heimatlosen Chikagoer Polizisten Obdach gewähren, der nur noch einen halbverbrannten Schlafanzug und eine von Pulverdampf geschwärzte Zahnbürste besitzt?«

 

Terry sagte selbstverständlich zu. »Ich komme zum Hotel und hole Sie ab!«

 

»Wählen Sie vorsichtigerweise den Hintereingang!« warnte Jiggs. »Vorm Frontportal lauern innerhalb der Menge sicher ein paar Gangster – mit gezückten Pistolen, um Sie niederzuknallen!«

 

Das war natürlich übertrieben, aber es hätte auch genügt, wenn nur einer der amerikanischen Pistolenhelden auf ihn gewartet hätte.

 

Die beiden fuhren dann mit dem geringen Gepäck, das Jiggs aus dem Schiffbruch gerettet hatte, nach Scotland Yard.

 

»Ich dachte mir schon, daß sie hier auch Bomben verwenden würden«, meinte Allerman unterwegs. »Solch eine Bombe gehört zur Ausrüstung jedes Gangsters.« Schließlich heiterten sich seine Züge wieder auf. »Auf alle Fälle kann man’s als eine Art Kompliment für mich auffassen: Die edlen Herren halten mich für so gefährlich, daß sie mir in erhöhtem Maße ihre Aufmerksamkeit schenken. Wer hat übrigens die Affäre zu bearbeiten?«

 

»Tetley. Der Präsident hat ihn nach Scotland Yard gebracht, damit er bestimmte Spezialfragen erledigt. Er ist ein ganz schlauer Kerl, steht aber in keinem besonders guten Ruf. Er hat mir zu viel Geld, als daß ich damit einverstanden sein könnte. Möglich allerdings, daß er’s auf ehrliche Weise erwarb …«

 

»Das wäre sicher möglich«, erwiderte Jiggs ironisch. »Aber was er jetzt hat, ist wenig im Vergleich zu dem, was er in drei Monaten auf der Bank haben wird … Das heißt: wenn er seinen Mammon in Sicherheit bringen kann! Was ich kaum glaube …«

 

Kapitel 15

 

15

 

Später, am Abend, wurden Teile der Bombe zum Scotland Yard gebracht und von Spezialisten genau untersucht.

 

»Gutes Material!« bemerkte Jiggs. »Vermutlich haben sie irgendwo in London eine Fabrik für Bomben eingerichtet. Diese hier ist allerdings in Amerika hergestellt worden; das werden Ihre Chemiker bei eingehender Untersuchung feststellen.«

 

Inspektor Tetley, der die Bombenstücke gebracht hatte, erstattete einen kurzen, wenig aufschlußreichen Bericht. Es war niemand beobachtet worden, der Allermans Zimmer betreten hätte. Drei Viertelstunden vor der Katastrophe war das Stubenmädchen in den Räumen gewesen und hatte nichts Außergewöhnliches entdeckt. »Hier ist eine Liste aller Hotelgäste!« Tetley legte einen beschriebenen Bogen auf den Tisch. »Wie Sie sehen, hab‘ ich die Namen nach den Stockwerken zusammengestellt. Auf der Etage, in der unser Jiggs …«

 

»Für Sie bin ich immer noch Captain Allerman!«

 

»Verzeihung …! Also: Auf der Etage von Captain Allerman wohnten Lady Kensil und ihre Zofe, ferner Mr. Braydon aus Bradford, der amerikanische Filmschauspieler Charles Lincoln und Mr. Walter Harman mit Familie aus Paris.«

 

Jiggs beugte sich über den Tisch und warf einen Blick auf die Liste. »Mr. John Smith aus Leeds scheinen Sie vergessen zu haben, Inspektor?«

 

Tetley sah ihn unsicher an. »Das ist die Liste, die mir von der Hotelleitung gegeben wurde.«

 

»Ja – und wie steht’s mit diesem John Smith aus Leeds?« beharrte Jiggs. »Ich habe mit dem Hoteldirektor telefoniert und mir die Namen der Leute durchsagen lassen, die auf meinem Stock wohnten. Darunter befand sich auch …«

 

»Das hat er mir nicht gesagt!« entgegnete Tetley schnell.

 

»Das hat er Ihnen nicht nur gesagt, sondern er hat Ihnen sogar ausdrücklich mitgeteilt, daß er diesen Mr. Smith für stark verdächtig hielte, weil der Mann mit einem merkwürdigen Akzent spräche.«

 

Peinliches Schweigen …

 

»Hm – ich besinne mich jetzt«, erwiderte Tetley dann gleichgültig. »Der Hotelier redete derartig konfus über ihn, daß ich’s wohl vergessen haben mag, den Namen aufzuschreiben.« Er nahm einen Bleistift aus der Tasche und holte das Versäumte nach.

 

»Hat er auch darauf hingewiesen«, fuhr Jiggs fort, »daß Mr. John Smith der einzige war, den er seit der Explosion nicht gesehen hat, und daß sich kein Gepäck in seinem Zimmer befand, als es geöffnet wurde?«

 

»Nun?« forschte Wembury, als Tetley mit der Antwort zögerte.

 

»Er hat, glaube ich, mir gegenüber nichts davon erwähnt«, entgegnete der Inspektor kühl. »Möglich, daß er mit Captain Allerman darüber gesprochen hat, aber nicht mit mir. Im übrigen hab‘ ich meine Nachforschungen noch nicht abgeschlossen. Ich dachte, Sie brauchten die Bombenstücke dringend; deshalb kam ich so schnell als möglich her.«

 

»Gut! Dann gehen Sie jetzt!« sagte Wembury kurz. »Und machen Sie sich auf die Suche nach John Smith aus Leeds!«

 

Jiggs wartete, bis sich die Tür hinter dem Inspektor geschlossen hatte. »Ich möchte nichts gegen die Londoner Untersuchungsmethoden sagen – aber mir scheint doch, daß er das hätte melden müssen …«

 

Wembury nickte. »Ich bin ganz Ihrer Ansicht.«

 

»Nehmen wir mal an, es käme jemand in Verdacht –: Wie würde er dann nach den Regeln von Scotland Yard behandelt? Nehmen Sie ihn höflich vor und stellen ein paar Fragen an ihn? Oder gehen Sie etwas handgreiflicher und – hm – wirksamer mit ihm um?«

 

Wemburys Augen blitzten auf. »Wir behandeln solche Leute wie anständige Menschen, Wenn wir allzu peinliche Fragen wegen ihres Vorlebens an sie richten, dann steht nachher ein Mann im Parlament auf und richtet seinerseits ein paar unangenehme Fragen an den Innenminister. Woraufhin der kühne Beamte entlassen wird …«

 

Jiggs nickte. »Wenn Sie einen von der Bande fangen, wird Ihnen hoffentlich klarwerden, mit wem Sie’s zu tun haben. Das sind die ausgekochtesten Verbrecher, die es jemals gab. Ich jedenfalls werde mich nicht an dieses blöde Gesetz halten – und ich hoffe, auch hier in London einen Platz zu finden, wo ich meine Methoden anwenden kann!«

 

Jiggs fuhr dann mit Terry nach Hause und übernachtete in dessen Gastzimmer.

 

Beide hatten einen sehr gesunden Schlaf. Jiggs hörte die Telefonglocke erst, nachdem sie zehn Minuten Stürm geläutet hatte. Als er auf den Gang hinaustrat, erschien auch Terry.

 

»Wieviel Uhr?« fragte Jiggs.

 

»Halb drei.«

 

»Wo ist das Telefon?«

 

»Im nächsten Zimmer!«

 

Terry folgte Jiggs und stand neben ihm, als der Amerikaner den Hörer abnahm.

 

Jiggs hörte eine Zeitlang schweigend zu, dann sah er auf. »Scotland Yard … Der Name des Mannes, den uns der Präsident nicht verraten wollte, ist George Gilsant!«

 

»Woher wissen Sie das?« fragte Terry erstaunt.

 

»Er wurde um Mitternacht am Bahndamm gefunden, und zwar im Pyjama. Die Kerle haben ihm etwas Blei in den Körper gepumpt …«

 

Terry riß ihm den Hörer aus der Hand.

 

»Mehr kann ich Ihnen auch nicht sagen«, erklärte der Beamte am anderen Ende. »Wir erhielten die Nachricht erst vor ein paar Minuten von der Polizei in Hertfordshire. Man hat ihn auf der Böschung neben den Geleisen gefunden … Offenbar hatte er ein Schlafabteil belegt, und zwar im Expreßzug nach Schottland. Eine halbe Stunde nachdem der durchgefahren war, entdeckte der Bahnmeister den Toten …«

 

»Danke!« erwiderte Terry. »Ich komme dann gleich ins Büro!«

 

Jiggs Allerman setzte sich in einen Stuhl, stützte die Ellbogen auf den Tisch und legte den Kopf in die Hände. »Der Alte hat ihm natürlich den Rat gegeben, nach Schottland zu fahren!« knurrte er wütend. »Und der Mann hat es auch tatsächlich getan. Wer ist denn eigentlich dieser Gilsant?«

 

Terry konnte Auskunft geben: Sir George Gilsant war ein wohlhabender Gutsbesitzer und Teilhaber an einem Stahlwerk im Norden Englands; er besaß ein Haus in Aberdeen.

 

Jiggs nickte. »Wahrscheinlich wäre er in Sicherheit gewesen, wenn er bis dorthin gekommen wäre«, sagte er zu Terrys Erstaunen. »Der Alte war zwar ein arger Dummkopf, aber wenn es uns gelingen sollte, einen der Bedrohten aus London hinauszubringen – ich meine aufs flache Land –, dann werden wahrscheinlich die Gangster von einer Verfolgung ablassen; das würde sonst zu gefährlich für sie. Die offenen Landchausseen kann man leicht überwachen. Wenn man freilich versucht, die Leute aus London im Zug fortzuschaffen, enden sie bestimmt im Leichenschauhaus. Wir müssen unter allen Umständen die Namen und Adressen der Bedrohten herausbringen, und zwar sofort, wenn solche Briefe sie erreichen. Dann allenfalls könnte man sie vor dem Schlimmsten bewahren; wenigstens läge es im Bereich der Möglichkeit.« Er sah auf die Uhr, die auf dem Kamin tickte. »Ist es schon zu spät für eine Sensation in den Morgenzeitungen?«

 

Terry schüttelte den Kopf. »Nein, die letzten gehen um vier Uhr in die Maschine. Die Geschichte steht bestimmt in den Morgenblättern – daran läßt sich nichts mehr ändern.«

 

Wie sich dann herausstellte, hatte Gilsant sein Haus kurz nach zehn in Begleitung seines Kammerdieners verlassen. Er hatte zwei Schlafabteile für den Zug belegt, der um zehn Uhr dreißig nach Schottland fuhr. Zehn Uhr zehn waren sie am King’s Cross-Bahnhof angekommen. Sir George ging in sein Abteil und schloß sich, wahrscheinlich auf den Rat des Polizeipräsidenten, darin ein.

 

Das Abteil des Dieners lag am Ende des Zuges. Er wartete bis zur Abfahrt, kam dann in das Abteil seines Herrn und war ihm beim Auskleiden behilflich. Fünf Minuten vor elf verließ er es und wartete auf dem Gang, bis Sir George die Tür von innen verschlossen hatte.

 

Eine Tür führte von Sir Georges Abteil zum nächsten Raum; sie war aber fest verschlossen. Dieses Nebenabteil hatte eine ältere Dame auf den Namen Dearborn belegt. Sie war anscheinend sehr krank und konnte sich nur mühsam mit Hilfe einer Krücke bewegen. Eine bejahrte Krankenschwester, die eine Brille trug, begleitete sie.

 

Nach der Entdeckung des Toten hatten, auf telegrafische Benachrichtigung hin, die Stationsbeamten mit Hilfe der Polizei den Zug sorgfältig durchsucht. Das Abteil der alten Dame war leer. Der Schaffner erklärte, sie habe, samt ihrer Krankenschwester, den Wagen in Hitchin verlassen, wo der Zug besonders angehalten worden war.

 

Sir Georges Abteil war von innen verschlossen, ebenso die Verbindungstür. Das Bett zeigte Spuren des Verbrechens, das sich in dem Raum abgespielt hatte. Kissen, Decken, Betttücher und auch die Fensterrahmen wiesen Blutspuren auf. Das Fenster war geschlossen, und die Jalousien waren heruntergelassen. Besonders wurde in dem Bericht noch erwähnt, daß das Reservelaken aus dem Schrank genommen und über das Bett gedeckt war. Die Beamten, die das Abteil betraten, bemerkten deshalb zuerst nichts von dem Verbrechen.

 

Die Eisenbahnbeamten von Hitchin bestätigten, daß dort zwei Frauen den Zug verlassen hatten. Eine große, schwarze Limousine wartete auf die beiden. Der Fahrkartenkontrolleur an der Sperre war erstaunt, daß sie kein Gepäck bei sich hatten.

 

Der Bericht über das Verbrechen war so spät in Scotland Yard eingetroffen, daß es keinen Zweck mehr hatte, Straßensperren zu verhängen. Erst andern Tags erhielt man glaubwürdige Nachrichten über den Verbleib der schwarzen Limousine.

 

Kapitel 16

 

16

 

»Die Sache kommt allmählich in Fluß«, sagte Jiggs am nächsten Morgen. »Ich bin gespannt, was es heute geben wird.«

 

»Glauben Sie denn, daß noch mehr Leute Erpresserbriefe erhalten haben? Und meinen Sie wirklich, daß die davon Betroffenen auf so plumpe Manöver reagiert und Geld bezahlt haben?«

 

»Sicher! Die Bande jedenfalls, die die grünen Formulare ausschickt, handelt psychologisch richtig. Die geforderte Summe ist nicht zu groß; ein- oder zweitausend Pfund sind nicht zwanzig- oder fünfzigtausend. Nach zwei Monaten freilich werden die Leute, die bezahlt haben, natürlich zum zweitenmal zur Ader gelassen. Das ist eine Grundregel bei der Kunst des Erpressens. Einmal zahlt schließlich fast jeder; erst wenn die Geschröpften zehnmal geblecht haben, werden sie aufsässig. Nachdem nun wieder dieser Mord im Zug passiert ist, werden die Drohbriefe wahrscheinlich zu Hunderten in die Stadt hinausflattern … Aber die verdammten Burschen sollen mich trotzdem auf dem Posten finden!«

 

Jiggs Allerman hatte ein paar Helfer an der Hand, die allerdings nicht offiziell im Dienst der Polizei standen, aber doch mehr oder weniger Zubringerdienste leisteten. Der amerikanische Detektiv war ursprünglich nach England gekommen, um an einer internationalen Polizeikonferenz teilzunehmen. Man wollte den Falschspielerbanden und Betrügern beikommen, die planmäßig zwischen den Vereinigten Staaten und Europa hin und her reisten. Jiggs war unterwegs mit allerhand Landsleuten in Fühlung getreten, die Verbindung zu Verbrecherkreisen unterhielten, und von denen bekam er mitunter brauchbare Nachrichten.

 

Zu einem gewissen Joe Lieber, der in einem Hotel an der Euston Road wohnte, lud er sich an diesem Morgen zum Frühstück ein. Lieber war ein untersetzter, etwas korpulenter Herr mit rotem Gesicht und kahlem Kopf. Er hatte Sinn für Humor, aber sein Hauptvorzug bestand darin, daß er über Gangster genau Bescheid wußte.

 

Jiggs trat unangemeldet in sein Zimmer. »Was, Sie schlemmen hier bei Eier und Schinken?« fragte er. »Das bekäme mir auch gut, Joe. Ist irgend etwas los?«

 

Joe Lieber sah ihn ernst an. »Haben Sie die Morgenzeitungen nicht gelesen? Übrigens hatten die Kerle doch gestern eine Bombe in Ihr Zimmer gesetzt … Ob das dieselbe Bande ist, die diesen Sir Sowieso geschnappt hat?«

 

Jiggs nickte. »Für einige von uns wird es in nächster Zeit heiß werden …«

 

»Ich glaube, Mr. Allerman, es wäre besser, Sie betrachteten mich nicht mehr als Informationsquelle …«

 

»Sie haben wohl kalte Füße bekommen?« Jiggs zog sich einen Stuhl heran.

 

»Nein, das gerade nicht – aber sie sollen warm bleiben. Ich hätte nicht gedacht, daß die Kerle hier so scharf ins Zeug gehen. Sie haben es da mit den ausgekochtesten Burschen zu tun!«

 

»Haben Sie jemand gesehen?«

 

»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen überhaupt etwas sagen soll; bin eigentlich nie Polizeispitzel gewesen … Aber Eddie Tanner ist hier – und ebenso Kerky Smith. Doch das wissen Sie natürlich schon?«

 

»Ja. Ist Ihnen nicht einer von den weniger Prominenten über den Weg gelaufen?«

 

»Doch: Hick Molasco. Seine Schwester ist mit Kerky verheiratet.«

 

»Sie führt wenigstens seinen Namen. Sonst noch wer?«

 

Joe lehnte sich im Stuhl zurück. »Ich überlege, ob sich’s lohnt, es Ihnen mitzuteilen. Es sind feige Halunken, die ich zum Teufel wünsche … Aber Sie müssen bedenken, daß ich verheiratet bin und Familie habe!« Er sah sich um. »Schauen Sie doch mal zur Tür hinaus, Jiggs, ob jemand lauscht!«

 

In dem Augenblick trat ein Kellner ein.

 

»Bestellen Sie sich bitte, was Sie wollen!« sagte Joe. Und, als sich die Tür hinter dem Kellner geschlossen hatte: »Ich kann diese schleicherischen Sizilianer nicht leiden … Aber bitte, setzen Sie sich doch wieder!« Er lehnte sich über den Tisch und dämpfte die Stimme. »Können Sie sich noch auf Bomben-Pouliski besinnen, der in Chikago zu zehn Jahren Zuchthaus verknackt wurde?«

 

Jiggs nickte. »Ich kannte ihn, weil er früher zu den Kartenspielern gehörte, die den Atlantik bereisten. Das muß so vor fünfzehn Jahren gewesen sein. Später hörte ich, daß er mit einer Bande in Chikago zusammenarbeitete, und traf ihn dann auch. Als der große Vieharbeiterstreik ausbrach, hatte er ebenfalls seine Hand im Spiel …«

 

»Er hat eine Bombe in das Haus eines Staatsanwalts geworfen; deshalb wurde er doch nachher verurteilt.« Joe sah sich wieder um und flüsterte dann: »Er ist hier!«

 

»In diesem Hotel? Oder in London?«

 

»In London. Eine merkwürdige Sache … Ich sah ihn in einem Laden an der Oxford Street, als er Kleider für seine alte Mutter kaufte. Er hat mich nicht bemerkt; aber ich hörte, wie er mit der Verkäuferin sprach.«

 

»Hat er Sie wirklich nicht erkannt?« Jiggs war ganz Ohr für diese neue Nachricht.

 

»Nein.«

 

»Können Sie sich auf den Laden besinnen?«

 

Joe fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Nein. Es war nicht eigentlich in der Oxford Street, sondern in einer Nebenstraße, wo man billige Kleider kaufen kann. Ich war auch dort, um für meine Frau eine – eine …« Er stockte verlegen.

 

»Kommt es darauf an?« versetzte Jiggs liebenswürdig. »Sie erinnern sich nicht daran, was er gekauft hat?«

 

»Nein. Er hatte seine Wahl noch nicht getroffen, als ich fortging.« Joe konnte dann wenigstens ungefähr beschreiben, wo der Laden lag.

 

»Wo er hier wohnt, wissen Sie nicht?«

 

»Nein!« entgegnete Joe ungeduldig. »Ich hab‘ Ihnen nun alles erzählt, was ich weiß, Mr. Allerman. Und, weiß Gott, ich möchte mit der Sache weiter nichts zu tun haben, denn sie sieht bedenklich gefährlich aus. Gestern die Bombe in Ihrem Hotelzimmer … Es sind gemeine, feige Kerle! Meinen Schwager haben sie seinerzeit auch mit einer Bombe erledigt, weil er nicht in ihre Bande eintreten wollte, und ich bin alles andere als ihr Freund.« Plötzlich fügte er inkonsequent hinzu: »Bomben-Pouliski trug eine Brille, und ein gelbes Taxi mit grünen Rädern wartete draußen …« Er schlug sich mit der Hand auf den Mund. »Das hätt‘ ich nicht sagen sollen!« brummte er ärgerlich. »Es kann auch das Taxi von einem anderen gewesen sein; aber der Wagen wartete, und der Chauffeur hatte ausdrücklich das Schild herumgedreht.«

 

Jiggs kehrte in Terrys Wohnung zurück, rief ihn im Amt an und erzählte kurz, was er gehört hatte – natürlich ohne Liebers Namen zu erwähnen.

 

»Sie haben doch in Scotland Yard eine Abteilung, die die Taxis überwacht? Wär‘ es nicht möglich, herauszubringen, ob es in London ein solches gelbgrünes Monstrum gibt? Dann noch eins, Terry! Melden Sie bitte ein Ferngespräch mit dem Polizeipräsidium in Chikago an! Ich muß mit den Leuten reden … Ich komme dann in Ihr Büro!«

 

Kaum hatte er den Hörer aufgelegt, als es wieder läutete.

 

»Hallo, sind Sie am Apparat, Jiggs?«

 

Allerman hatte überhaupt noch nicht gesprochen.

 

»Kerky! Können Sie Gedanken lesen? Oder befassen Sie sich mit Fernsehen?«

 

»Nein!« Kerky Smith lachte. »Die Sache ist nicht so geheimnisvoll. Ich versuchte, mit Ihnen in Verbindung zu kommen, und dabei muß etwas in Unordnung geraten sein, so daß ich den letzten Teil Ihres Gesprächs mit Scotland Yard hörte … Alles in Ordnung in Chikago? Niemand krank von unseren Lieblingen?«

 

»Das werde ich bald herausfinden. Woher wissen Sie übrigens, daß ich hier bin?«

 

»Der Telefonist von Scotland Yard hat mir das gesagt. Ich möchte nur fragen, ob Sie nicht im Carlton oder sonst in einem netten Lokal mit mir zu Mittag speisen wollen … Für Sie ist mir nichts zu teuer, Jiggs! Auch wäre es mir lieb, wenn Sie meine Frau kennenlernten.«

 

»Welche meinen Sie denn?«

 

»Na, hören Sie! – So dürfen Sie doch nicht reden! Also: Nehmen Sie meine Einladung an?«

 

»Abgemacht!«

 

Wenn irgend etwas feststand, so war es die Tatsache, daß der Telefonist von Scotland Yard Kerky Smith nicht die Privatnummer von Chefinspektor Weston gegeben hatte.

 

Jiggs machte sich die Mühe, im Präsidium nachzufragen, und seine Vermutung wurde vollauf bestätigt. »Sie scheinen mich also dauernd zu überwachen«, meinte Jiggs nachdenklich. »Sonst hätten sie nicht wissen können, wo ich bin.«

 

Als er von Joe Lieber fortging, hatte er beobachtet, daß der italienische Kellner aus dem nächsten Zimmer herauskam. Er wagte nun einen kühnen Handstreich, ließ sich zwei Beamte geben und begab sich mit ihnen zu dem Hotel in der Euston Road.

 

Joe Lieber war ausgegangen, aber Jiggs sah den Sizilianer, der ihn am Morgen bedient hatte. Der Hoteldirektor war bei der Unterhaltung zugegen, die in Joes Zimmer stattfand.

 

»Ich verhafte diesen Mann, weil er unter Verdacht steht! Bitte, führen Sie einen meiner Beamten zu seinem Zimmer!«

 

Jiggs handelte auf gut Glück, aber er hatte Erfolg. Der Kellner, der sich zuerst gleichgültig gestellt hatte, machte plötzlich einen Fluchtversuch und beging dann eine vom Standpunkt der Polizei aus unverzeihliche Sünde: Er zog nämlich eine Pistole, um auf den Detektiv zu schießen, der ihn festhielt. Jiggs schlug ihm aber die Waffe aus der Hand und ließ ihm dann Handschellen anlegen.

 

In seinem Zimmer fand man einen halbvollendeten Brief, der englisch geschrieben war und ohne Adresse und Datum begann:

 

Jiggs kam und besuchte Joe Lieber. Sie hatten eine lange Unterredung. Joe sagte etwas von Bomben-Pouliski. Ich konnte nichts Genaues hören; sie sprachen sehr leise.

 

Jiggs las den Brief und steckte ihn in die Tasche.

 

»Bringen Sie den Mann nicht nach Scotland Yard, sondern in Mr. Westons Wohnung! Durchsuchen Sie erst seine Taschen – dann nehmen Sie ihm – die Eisen ab! Wir wollen nicht die Aufmerksamkeit der Leute erregen.«

 

Der Detektiv ging Arm in Arm mit seinem Gefangenen und brachte ihn ohne weiteren Zwischenfall in Terrys Wohnung. »Sie beide können draußen warten, während ich mich mal ein bißchen mit dem Mann unterhalte!« sagte Jiggs und sah, daß sich im Blick des Gefangenen Schrecken und Angst zeigten.

 

Die zwei Beamten machten Einwendungen, zogen sich dann aber zurück.

 

»Nun, mein Liebling«, begann Jiggs, »ich habe nicht viel Zeit, die Wahrheit aus Ihnen herauszuholen, aber ich möchte gern erfahren, wohin Sie den Brief schicken wollten.«

 

»Das werde ich Ihnen nicht sagen!«

 

»Haben Sie schon mal vom dritten Grad gehört? Sie werden jetzt gleich erleben, wie er angewandt wird … An wen war der Brief gerichtet?«

 

»Scheren Sie sich zum Teufel!« rief der Italiener leidenschaftlich.

 

Jiggs packte ihn mit einem harten Griff am Kragen.

 

»Wir wollen freundlich, wie Brüder, miteinander reden. Ich möchte Sie nicht unnötig quälen. Aber ich muß wissen, an wen der Brief gerichtet war!«

 

Der Mann zitterte. »Nun gut!« sagte er düster. »An eine junge Dame – namens Leslie Ranger …« Und er nannte, zum Erstaunen des Detektivs, ihre genaue Adresse.

 

»Schicken Sie die Briefe persönlich?«

 

»Nein, ein Junge kommt und holt sie ab.«

 

Jiggs seufzte erleichtert auf. »Ach so! Was für ein Junge ist das? Und wann kommt er?«

 

Der Kellner konnte weiter nichts sagen. Er hatte seine Instruktionen erst am Abend vorher erhalten: ein Landsmann hatte ihm den Namen einer Geheimgesellschaft genannt, und daraufhin hatte er gehorcht.

 

»Eine hübsche kleine Geschichte!« meinte Jiggs. »Nun erklären Sie mir vielleicht noch, warum Sie eine Pistole geladen bei sich tragen und warum Sie den Beamten damit bedrohten, der Sie verhaftete? Wovor fürchteten Sie sich denn?«

 

Zehn Minuten später hatte er den Italiener so weit, daß er alles gestand. Er brachte ihn zum Scotland Yard und berichtete später Wembury über den Fall.

 

»Die Bande hat Vertrauensleute in jedem großen Hotel, und zwar in jedem Stockwerk einen Mann. Dieser Rossi, den ich mir eben vorgenommen habe, kommt aus New Orleans. Es ging ihm dort nicht gut, und er erhielt den Tip, daß er in England viel Geld verdienen könne. Daraufhin meldete er sich bei dem Chef seiner Geheimgesellschaft in New York und bekam sofort eine Anstellung. Die Italiener haben eine Organisation, um Kellner in den einzelnen Ländern auszutauschen. Auf diese Weise kam auch Rossi nach London.«

 

»Wie steht es denn mit seinem Paß?«

 

»Der ist in Ordnung. Wir können ihm nichts vorwerfen; wir können auch nicht nachweisen, daß er mit jemand in Verbindung steht. Er kennt weder Eddie Tanner noch Kerky, noch sonst einen von den Gangstern. Wenn das der Fall wäre, hätte er es verraten; denn er ist kein Held.«

 

Jiggs begab sich dann in Terrys Büro; und er war kaum fünf Minuten dort, als das bestellte Telefongespräch aus Chikago kam.

 

»Ach, Hoppy!« rief er erfreut. »Hier Allerman! Ich spreche von London aus. Können Sie sich auf Bomben-Pouliski besinnen …? Ja, das ist er! Meiner Meinung nach müßte der aber in Joliet im Gefängnis sitzen …«

 

Terry sah, daß sein Freund ein langes Gesicht zog.

 

»So – der ist schon wieder frei? Haben Sie ein gutes Bild von ihm …? Ausgezeichnet! Schicken Sie es als Bildtelegramm herüber! Wann ist er denn aus Joliet entlassen worden …? Was? Nur zwei Jahre gesessen?«