Kapitel 20

 

20

 

Mary schaute ihn erschrocken an.

 

»Verzeihen Sie bitte, es tut mir leid, daß ich Ihnen einen Schrecken eingejagt habe. Ich bin nur so glücklich, daß mir endlich ein guter Gedanke gekommen ist. Den ganzen Tag habe ich schon darauf gewartet.«

 

Er zeigte auf einen alten Weidenbaum, dessen graugrüner Stamm sich von den dunklen Tannen abhob.

 

»Was würde ich wohl finden, wenn ich jetzt in dem hohlen Stamm nachsuchte?«

 

Sie verstand sein seltsames Benehmen nicht.

 

»Was erwarten Sie denn zu finden?«

 

»Ein paar alte Knöpfe.«

 

Sie glaubte, er wäre von der durchwachten Nacht vielleicht ein bißchen durcheinander, aber ehe sie noch erkannte, daß er genau wußte, was er sagte, sprach er weiter.

 

»Lady Arranways, ich habe eine Bitte. Lassen Sie sich in der nächsten Zeit von mir beraten. Ich hoffe, daß ich Ihnen helfen kann. Tun Sie nichts ohne mein Wissen, und wenn Blagdon Sie vernehmen sollte, erzählen Sie mir genau, was er wissen wollte und was er sagte. Sollte der Mörder inzwischen gefaßt werden, so glauben Sie mir, daß ich nichts damit zu tun habe. Das Wichtigste ist jetzt, daß wir Ihren Mann finden. Sie haben wirklich keine Ahnung, wo er sein könnte? Und Sie können mir auch nicht erklären, warum er fortgegangen ist?«

 

»Ich habe eine Art Erklärung. Er hat zu Dick gesagt, wenn sich sein Verdacht als wahr erweisen sollte, würde er irgendwohin fahren und sich von allem zurückziehen. Er könnte es nicht ertragen … Ich liebe Eddie trotz allem sehr«, fuhr sie nach einer Weile mit leiser Stimme fort. Sie stand auf, und auch Collett erhob sich.

 

»Aber das kann nicht die richtige Erklärung dafür sein, Mr. Collett, denn er war nicht lange genug im Gasthaus, um etwas Nachteiliges über mich zu erfahren. Oder glauben Sie doch?«

 

Collett wich dieser Frage aus. Er wußte ja, was Charles dem Lord berichtet hatte.

 

»Konnten Sie in sein Zimmer?«

 

»Nein«, sagte sie sofort. »Ich habe es versucht, aber beide Türen waren abgeschlossen.«

 

Er sah wieder zu der hohlen Weide hinüber, dann fragte er Mary, ob sie möglicherweise einen kleinen Spiegel bei sich hätte.

 

Sie nahm einen aus ihrer Handtasche, und er ging damit zu dem Baum. Dort leuchtete er mit Hilfe seiner Taschenlampe und des Spiegels ins Innere der Weide. Anscheinend hatte er aber keinen Erfolg, denn er gab ihr den Spiegel zurück.

 

»Es ist nichts dort – wenigstens nichts, was mich interessiert.«

 

»Haben Sie die Knöpfe nicht gefunden?« fragte sie lächelnd.

 

»Nein, nicht einmal die«, entgegnete er traurig. »Die Stelle war auch zu offensichtlich.«

 

Sie lachte.

 

»Wenn Sie ebenso klug wie geheimnisvoll sind, Mr. Collett, dann müssen Sie der tüchtigste Beamte von ganz Scotland Yard sein.«

 

»Das bin ich auch«, erklärte er bescheiden.

 

»Der Mensch macht mich noch verrückt«, stöhnte Lorney Collett gegenüber. »Blagdon hat mich doch tatsächlich gefragt, wieviel Alkohol ich hier hätte, wieviel gestern morgen und wieviel gestern abend verbraucht wurde und wer besonders viel getrunken hätte.«

 

Collett stellte mit Vergnügen fest, daß Blagdon auf dem besten Weg war, sich überall restlos unbeliebt zu machen.

 

»Ja, mein lieber Mr. Lorney«, sagte er salbungsvoll. »Sie verstehen eben nichts von den wissenschaftlichen Methoden der Kriminalpolizei. Inspektor Blagdon stellt seine Fragen sicher nicht ohne Grund. Und vor allem muß doch etwas geschehen, vergessen Sie das nicht.«

 

Rennett hatte die Erlaubnis erhalten, nach London zu fahren. Es war erstaunlich, daß Blagdon das gestattete. Collett erkundigte sich sogleich bei ihm nach dem Grund dieses seltsamen Widerspruchs zwischen seinen Worten und seinem Verhalten.

 

Blagdon war sehr höflich, erklärte aber, daß das seine Sache wäre und daß er keine Einmischung Dritter dulde. Er ließ sogar durchblicken, daß es ihm nicht unlieb wäre, wenn Collett auch nach London zurückkehrte.

 

Aber Collett nahm das nicht so tragisch und ging weiter seinen privaten Erkundigungen nach.

 

*

 

Im Gasthaus war ein weiterer Amateurdetektiv an der Arbeit, von dem weder Collett noch Blagdon etwas ahnten: der Kellner Charles, dessen asoziales Wesen Collett richtig erkannt hatte. Charles Green wollte sich nicht bessern, sondern so angenehm wie möglich leben.

 

Er hatte zehn Pfund in der Tasche und außerdem dreißig Pfund in seinem Zimmer versteckt, die er so nach und nach betrunkenen Gästen abgenommen hatte, die er zu Bett bringen mußte.

 

Durch die Untersuchung Mr. Blagdons war er ein wichtiger Zeuge geworden, aber das Gespräch mit Collett hatte ihm gezeigt, in welcher Gefahr er schwebte. Nachdem er sich alles überlegt hatte, erinnerte er sich an das Beispiel, das ihm Keller gegeben hatte. Charles hatte erfahren, daß dieser Mann die Kleinigkeit von dreitausend Pfund als Schweigegeld verlangt hatte, und dachte nun darüber nach, wie er ein Opfer finden könnte.

 

An Lady Arranways konnte er sich nicht wenden. Sie war gewarnt, und er würde keine Aussichten bei ihr haben. Dann verfiel er auf Anna Jeans, aber als er ihr einmal das Essen aufs Zimmer brachte und eine Andeutung darüber machte, schickte sie ihn einfach hinaus und erzählte Lorney von Charles‘ Absichten.

 

Lorney rief Charles zu sich.

 

»Wenn Sie meine Gäste in Schwierigkeiten bringen, können Sie gehen, das möchte ich nur gesagt haben«, fuhr er ihn an. »Überhaupt ist es besser, wenn Sie morgen mein Haus verlassen. Aber vorher sehe ich mir noch einmal Ihr Gepäck an. Es ist schon öfter hier gestohlen worden, ich wollte Sie anfangs nur schonen.«

 

Charles, der überzeugt war, daß ihm nichts passieren konnte, brummte: »Nun blasen Sie sich nicht so auf! Mir können Sie ja gar –«

 

Weiter kam er nicht, denn Lorneys Faust traf ihn unter das Kinn, und er stürzte zu Boden. Der Wirt öffnete die Tür und stieß Charles hinaus.

 

*

 

Nach einer Weile klopfte es, und Charles kam wieder herein. Er hatte eine Beule am Kinn und war ziemlich kleinlaut.

 

»Es tut mir furchtbar leid, daß ich Sie geärgert habe, Mr. Lorney, aber dieser Mord hat mich ganz durcheinander gebracht. Sie waren immer so gut zu mir und haben mir die Möglichkeit gegeben, ein neues Leben anzufangen –«

 

»Reden Sie nicht so viel, sondern arbeiten Sie weiter! Sie bleiben hier, nicht wahr?«

 

Lorney war im Grunde seines Herzens sentimental. Er glaubte immer noch, daß er mit Geduld aus diesem skrupellosen Verbrecher doch noch einen anständigen Menschen machen konnte.

 

»Ja«, entgegnete Charles schnell. »Ich fühle mich hier sehr wohl. Das ist doch etwas ganz anderes als mein früheres Leben. Damals habe ich mich nie so zufrieden gefühlt.«

 

Charles hatte jetzt einen Plan. Bisher hatte er sich nur wenig Geld zusammenstehlen können, und wenn es zum Schlimmsten kam und er gefaßt wurde, wurde er zu derselben Strafe verurteilt, ob er nun viel oder wenig gestohlen hatte.

 

Nach dem Essen rief Lorney Charles zu sich und sagte ihm, er solle in seinem Privatzimmer aufräumen. Auf diese Gelegenheit hatte Charles gehofft.

 

Die oberste Schublade im Schreibtisch war verschlossen. Er wußte, daß sie innen mit Stahl ausgeschlagen war und ein Patentschloß hatte. Es mußten also wertvolle Dinge darin sein.

 

Den Safe hatte er schon oft mit sehnsüchtigen Blicken betrachtet. Damen, die zum Wochenende herkamen, gaben Lorney ihren wertvollen Schmuck in Verwahrung. Auch Geld lag darin und eine interessant aussehende schwarze Kassette.

 

Da er sah, daß er so nicht weiterkam, räumte er rasch fertig auf und ging dann zu Blagdon.

 

»Aber wenn Sie wissen, wo Lord Arranways ist«, wandte der Inspektor ein, »warum sagen Sie mir dann seine Adresse nicht? Ich könnt mich doch mit ihm in Verbindung setzen!«

 

Charles schüttelte den Kopf.

 

»Das kann ich nicht. Sie können ihn sowieso nicht erreichen.«

 

»Aber er muß doch von dem Mord gelesen haben. In allen Zeitungen steht etwas darüber.«

 

»Da, wo er sich aufhält, kriegt er keine Zeitungen zu Gesicht.«

 

Blagdon sah ihn scharf an.

 

»Sie wissen doch, daß ich Sie zwingen kann, Aussagen zu machen, nicht wahr?«

 

»Davor habe ich keine Angst«, meinte Charles. Dann machte er dem Inspektor einen Vorschlag. Blagdon hörte interessiert zu und versprach, ihm in einer Stunde mitzuteilen, ob sich da etwas machen ließe.

 

Kapitel 21

 

21

 

Kurz vor dem Abendessen ließ Blagdon Lady Arranways in sein Büro kommen. Ein Stenograf war anwesend, um alles mitzuschreiben, und Mary machte sich auf eine unangenehme halbe Stunde gefaßt.

 

Es wurde auch wirklich unangenehm. Blagdon stellte ihr völlig ungerechtfertigte Fragen über Dinge, die sie allein angingen.

 

Als er ihr zu dumm wurde, stand sie plötzlich auf.

 

»Ich bleibe nicht länger hier«, sagte sie erregt. »Sie haben nicht das Recht, mich derart zu verdächtigen.«

 

»Schließen Sie die Tür!« rief Blagdon dem Stenografen zu.

 

Mary aber lief zum Fenster und rief um Hilfe.

 

Dick war draußen im Garten und hörte sie, aber Collett war noch schneller zur Stelle.

 

»Was ist denn hier los?« fragte er durchs Fenster.

 

»Der Inspektor hat mich beleidigt – er hat die Tür abschließen lassen!« rief Mary etwas zusammenhanglos.

 

»Bringen Sie Ihre Schwester fort«, sagte Collett zu Dick. »Und Sie können auch gehen«, wandte er sich an den Polizeistenografen.

 

»Holen Sie sofort Sergeant Raynor und Sergeant Clarke!« rief Blagdon wütend.

 

»Das wird Ihnen noch leid tun«, sagte Collett scharf. Als der Beamte gegangen war, fuhr er fort: »Wie können Sie nur solche Dummheiten machen, Blagdon! Sie bringen sich um Kopf und Kragen, wenn Sie so weitermachen.«

 

»Diese Frau ist die Mörderin!« Blagdons Stimme überschlug sich beinahe. »Deshalb ist doch auch Arranways verschwunden. Er wußte, daß seine Frau schuldig war, und floh, um sie zu schützen und den Verdacht auf sich zu lenken. Sie hat Keller erstochen. Sie ist in das Zimmer ihres Mannes gegangen und hat die Mordwaffe herausgeholt. Ich habe Miss Jeans gefragt. Sie hat mir gesagt, daß sie Lady Arranways an dem Abend noch gesprochen hat und daß sie hinterher in das Zimmer ihres Mannes gehen wollte, um etwas zu holen. Natürlich den Dolch, mit dem Keller ermordet wurde!«

 

Collett sah ihn ruhig an.

 

»Lady Arranways war nicht in dem Zimmer ihres Mannes.«

 

Zwei Sergeanten erschienen draußen vor dem Fenster. Blagdon schickte sie wütend wieder fort.

 

»Sie haben die Sache von Anfang an falsch angepackt«, fuhr Collett unbarmherzig fort. »Es wäre besser, Sie gingen nach Guildford zurück.«

 

»Wissen Sie denn, wer der Mörder ist?«

 

»Ja.«

 

Blagdon hatte die Hände in den Taschen vergraben und ging im Zimmer auf und ab. Er war noch wütend, aber vor allem entsetzlich unsicher. Dieser Collett konnte einem wirklich die Hölle heiß machen!

 

»Lassen Sie vor allem Lady Arranways in Ruhe«, riet ihm Collett. »Was für ein Leichtsinn, so mit einer Frau umzugehen, die bestimmt ein halbes Dutzend Freunde im Parlament hat. Wenn sie etwas gegen Sie unternimmt, sind Sie erledigt!«

 

Mary Arranways verbrachte auf Colletts Rat hin die meiste Zeit in Gesellschaft ihres Bruders, und da Dick und Anna mittlerweile unzertrennlich geworden waren, saß man gewöhnlich zu dritt im Zimmer von Lady Arranways. Dort wurde auch das Abendessen serviert. Merkwürdigerweise war Charles seit neuestem von einer geradezu erstaunlichen Höflichkeit und Aufmerksamkeit.

 

Als er den zweiten Gang hereinbrachte, fiel Mary etwas ein.

 

»Ach, sagen Sie doch Mr. Lorney, daß ich morgen früh abfahre, und bitten Sie ihn, mir dann meinen Schmuck auszuhändigen.«

 

»Jawohl, Mylady«, sagte Charles beflissen.

 

»Sie haben die Juwelen aus dem Brand retten können?« fragte Anna teilnehmend.

 

»Sie lagen im Safe in der Bibliothek und haben nicht im geringsten unter der Hitze des Feuers gelitten«, entgegnete Mary gleichgültig. »Eddie wollte sie eigentlich zur Bank schicken, aber er muß es vergessen haben.«

 

Charles hatte die Tür nur angelehnt und lauschte draußen. Sein Plan nahm immer festere Formen an. Blagdon hatte ihn kurz vorher zu sich gerufen und ihm mitgeteilt, daß er den Vorschlag annähme. Nun mußte Charles seine Zeit genau einteilen. Um 9.25 Uhr mußte es klappen. Es waren an diesem Tag mehr Gäste als gewöhnlich zum Abendessen gekommen, und er hatte viel zu tun. Endlich klopfte er an Lorneys Zimmertür. »Kann ich Sie einen Augenblick sprechen?«

 

Lorney saß an seinem Schreibtisch und wandte Charles den Rücken zu. Der Kellner schloß die Tür und sah auf die Uhr, die auf dem Kamin tickte. Es war zwanzig Minuten nach neun.

 

Fünf Minuten später verließ er das Büro wieder und machte die Tür sorgfältig hinter sich zu. Unter dem Arm trug er eine kleine schwarzlackierte Kassette. Collett wunderte sich, als er das sah, aber im nächsten Augenblick war Charles verschwunden.

 

Es herrschte eine gespannte Atmosphäre im Haus. Collett konnte sich nicht denken, weshalb es jetzt schon so weit war. Er hatte vermutet, daß es erst am nächsten Morgen Schwierigkeiten geben würde, nämlich dann, wenn Blagdon wieder nach Guilford zurück mußte und das sicher nicht ohne den Schuldigen tun würde. Mit ein bis zwei Verhaftungen mußte man wahrscheinlich rechnen.

 

Nach einer Weile kam Blagdon zu ihm.

 

»Jetzt können Sie es ja ruhig wissen«, sagte er. »Ich werde Lord Arranways noch heute hier haben. Ich hoffe, Sie sind überrascht.«

 

»Wo ist er denn?«

 

Das wußte Blagdon nicht. Er zuckte die Schultern.

 

»Das kann ich leider noch nicht sagen. In London sicher, wenn auch nicht direkt in der City, aber er wird um elf Uhr fünfzehn hier sein.«

 

Er schaute auf die Uhr.

 

»Zwanzig vor zehn.«

 

»Ich dachte, er wäre gar nicht mehr in England?«

 

»Ach, was für ein Blödsinn!« fuhr Blagdon ihn an. »Alle Häfen werden überwacht, und alle Tankstellen und Autoverleihfirmen sind verständigt. Es ist ausgeschlossen, daß er hinauskommt. Und außerdem –«

 

Collett sah plötzlich, wie sich der Gesichtsausdruck des Inspektors veränderte. Blagdon starrte fassungslos auf die Tür, und er hatte auch allen Grund, sich zu wundern.

 

Lord Arranways stand im Türrahmen und zog sich langsam die Handschuhe aus.

 

Kapitel 22

 

22

 

Blagdon hatte sich gefaßt und ging ihm entgegen.

 

»Darf ich mich vorstellen? Inspektor Blagdon. Ich leite die Untersuchung im Mordfall Keith Keller.«

 

Lord Arranways sah ihn kühl an.

 

»Ich bin gekommen, um Näheres über den Fall zu erfahren.« Er nickte Collett freundlich zu. »Wenn ich mich nicht irre, sind Sie Mr. Collett? Ich habe gehört, daß Sie den Fall bearbeiten.«

 

»Nein«, fuhr Blagdon dazwischen, »da sind Sie falsch informiert. Ich führe die Untersuchung allein durch. Lord Arranways, bitte sagen Sie mir, warum Sie gestern das Haus verließen und wo Sie waren.«

 

»Ein bißchen umständlich, Ihnen zu erklären, warum ich das Haus verließ, aber wo ich war, sollen Sie wissen: Ich bin heute morgen nach Paris geflogen und eben wieder zurückgekommen.«

 

Blagdon war völlig durcheinander.

 

»Aber Sie haben doch mit Charles telefoniert!«

 

Der Lord runzelte die Stirn.

 

»Was Sie nicht sagen! Davon weiß ich ja gar nichts, und ich war auch nicht in London.«

 

»Das ist aber nicht möglich! Aus diesem Grund fährt doch eben Charles mit einem Polizeiwagen nach London!«

 

»Also da hört sich doch alles auf!« brach Collett los. »Sie haben doch den Mann nicht etwa nach London geschickt? – Wo ist Lorney?«

 

Er rief den Wirt, erhielt aber keine Antwort. Daraufhin ging er hinter die Theke und klopfte an der Tür des Privatzimmers.

 

»Sind Sie da, Mr. Lorney?«

 

Er lauschte und hörte plötzlich ein leises Stöhnen. Als er die Tür aufmachte, sah er anfangs in der Dunkelheit nichts, aber gleich darauf erkannte er die Umrisse einer Gestalt am Schreibtisch. Er knipste das Licht an.

 

Lorney lag vornübergebeugt mit dem Oberkörper auf der Schreibtischplatte. Collett rief Blagdon zu Hilfe, und die beiden Männer trugen den Bewußtlosen in die Diele. Dort lagerten sie ihn auf den Fußboden und legten ein Kissen unter seinen Kopf. Lorney hatte eine große Wunde am Hinterkopf, und Collett ließ sofort einen Arzt holen.

 

Dr. Southey war noch mit dem Verbinden beschäftigt – er hatte festgestellt, daß es keine gefährliche Wunde war –, als Lorney wieder zu Bewußtsein kam. Die erste, die er sah, war Lady Arranways. »Ihr Schmuck ist gestohlen, Mylady«, brachte er mühsam hervor.

 

»Ach, machen Sie sich darum jetzt keine Sorgen. Wer hat Sie denn überfallen? – Charles?«

 

Lorney antwortete nicht. Sein Kopf schmerzte furchtbar. Dr. Southey wollte ihn sofort ins Bett stecken, aber davon wollte Lorney nichts hören.

 

Blagdon starrte ihn düster an und wandte sich dann verzweifelt an Collett.

 

»Dieser Green hat mich belogen! Das hätte ich nie von ihm gedacht. – Aber schließlich kann jeder mal was falsch machen.«

 

»Wo ist er denn hin?« fragte Collett sachlich.

 

Blagdon überlegte, was Collett schon äußerst verdächtig vorkam.

 

»Wenn ich ehrlich sein soll, weiß ich es auch nicht. Er wollte zu einer Adresse in der New Kent Road. Ich habe dem Chauffeur gesagt, er solle tun, was Green verlange.«

 

Collett grinste.

 

»Das heißt also, daß Charles fahren kann, wohin er will. Er hat einen guten Wagen, und der Chauffeur ist angewiesen, seinen Anordnungen Folge zu leisten. Das sind ja Zustände wie bei den Hottentotten.«

 

Lorney saß am Fenster, während der Arzt ihn fertig verband. Plötzlich fühlte er, wie sich eine Hand auf seinen Arm legte. Als er den Kopf wandte, sah er, saß es Anna war.

 

»Es tut mir so leid«, flüsterte sie.

 

Er nahm ihre Hand und streichelte sie.

 

»Warum sind Sie so traurig?«

 

Sie sah ihn erstaunt an.

 

»Ich – ich werde es Ihnen sagen, wenn wir allein sind.«

 

Tränen traten ihr in die Augen, auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck, den er früher noch nie bei ihr gesehen hatte.

 

*

 

Inzwischen hatte Blagdon alle Polizeistationen in der Umgegend telefonisch verständigt, daß ein Polizeiwagen mit einem Beamten und einem Mann in Zivil unterwegs sei – wahrscheinlich Richtung London oder nach Süden zur Küste –, der sofort angehalten werden sollte. Aber von keiner Station erhielt er eine positive Antwort.

 

Blagdon stand mit Collett zusammen in der Diele und versuchte vergeblich, seine Verzweiflung zu verbergen.

 

»Alles ist meine Schuld. Ich habe Scotland Yard gebeten, die Seehäfen zu überwachen, die Flugplätze habe ich natürlich vergessen. Aber man kann auch nicht an alles denken. In so einem komplizierten Fall wie diesem sollte man wirklich –«

 

»Nein, Sie können wirklich nicht an alles denken«, sagte Collett ironisch, aber Blagdon merkte es nicht. Er ging wieder in sein Büro.

 

Collett wartete in der Diele auf Lord Arranways, aber der schien fürs erste nicht zu kommen.

 

Der Lord saß oben im Zimmer seiner Frau. Mary hatte ihn darum gebeten, denn sie wollte etwas mit ihm besprechen.

 

»Warum bist du zurückgekommen?« fragte sie ihn, als sie allein waren.

 

»Ich habe in der Zeitung von dem Mord gelesen, und da war es doch selbstverständlich, daß ich kam.«

 

»Aber warum?«

 

Er schaute sie nachdenklich an. Irgendwie sah er älter und gereifter aus, und seine Stimme klang nicht mehr so kalt und sarkastisch.

 

»Ich will es dir sagen. Ich dachte, du hättest Keller ermordet. Ich halte es auch jetzt noch nicht für ausgeschlossen.«

 

Sie starrte ihn an, aber noch bevor sie etwas erwidern konnte, sprach er weiter.

 

»Wenn das stimmte, mußte ich natürlich zurückkommen, denn ich betrachte mich jetzt selbst als schuldig. Hast du ihn ermordet?«

 

Als sie den Kopf schüttelte, holte er erleichtert Luft.

 

»Gott sei Dank! Seitdem ich den Bericht in der Zeitung gelesen habe, machte ich mir die größten Sorgen.«

 

»Eddie, Keller war wirklich mein Freund – ich glaube, du hast es geahnt. Manchmal denke ich, ich hätte ihn tatsächlich umbringen sollen.«

 

Der Lord schwieg.

 

»Ich war unverzeihlich leichtsinnig«, fuhr Mary fort, »aber das ist noch keine Entschuldigung. Ich haßte ihn schließlich. Er versuchte mich zu erpressen, aber das ist nicht der wahre Grund. Nun ist er tot, und ich bin fast froh darüber.«

 

Sie sah ihn fragend an.

 

»Es tut mir furchtbar leid, Eddie. Ich möchte nicht, daß du mir verzeihst, wenn du es nicht mit ganzem Herzen tun kannst. Vielleicht ist es überhaupt unmöglich.«

 

Es fiel ihm schwer, zu antworten und den richtigen Ton zu treffen.

 

»Ich habe mich durchgekämpft und bin darüber hinweg. Ich meine – über die Sache zwischen dir und Keller. Ich habe furchtbare Stunden hinter mir, aber mir ist klargeworden, daß ich ebenso die Verantwortung daran trage wie du.« Er machte eine Pause. »Wenn dies alles vorüber ist – willst du es dann noch einmal mit mir versuchen? Wollen wir von vorn anfangen – und die ganze Sache vergessen?«

 

Sie glaubte ihren Ohren nicht zu trauen.

 

Er nahm ihre Hände in die seinen.

 

»Es tut mir so leid, daß alles so gekommen ist«, sagte er. »Willst du es noch einmal versuchen?«

 

Sie schüttelte mutlos den Kopf. »Ich wage es kaum.«

 

Er lächelte.

 

»Du denkst an meinen Stolz, an meine Eitelkeit, an meine Unversöhnlichkeit, nicht wahr? Ich glaube kaum, daß ich mich sofort von all meinen Fehlern frei machen kann – aber möchtest du mir nicht ein wenig dabei helfen? Nach allem bist du mir auch etwas schuldig. Laß uns noch einmal anfangen, ja?«

 

Sie nickte, und er küßte sie.

 

»Nun will ich hinuntergehen und Blagdons Fragen beantworten«, sagte er dann.

 

Als er nach unten kam, herrschte dort große Aufregung. Dick Mayford war soeben mit seinem Wagen angekommen. Im Fond lag der Fahrer des Polizeiautos – bewußtlos.

 

»Heben Sie ihn heraus. Ich glaube, sein Bein ist gebrochen. Es ist ein Unglück passiert: Er lag allein auf der Landstraße.«

 

Drei Polizeibeamte trugen ihn ins Haus.

 

»Wo ist denn Charles Green – der Kellner?«

 

»Das weiß ich nicht«, erwiderte Dick. »Der Mann hier konnte es nicht sagen. Er kam nur kurz zu sich und sagte, daß die Bremsen seines Wagens versagt hätten und daß er hinausgeschleudert worden wäre.«

 

»Aber wo ist denn das Auto!« rief Blagdon aufgeregt.

 

»Das muß irgendwo abgestürzt sein. Ich hatte keine Zeit, mich danach umzuschauen. Auf der Straße war es jedenfalls nirgends zu sehen.«

 

»Um Himmels willen!« Blagdon griff sich an den Kopf. »Holen Sie doch Mr. Collett«, beauftragte er dann einen Wachtmeister.

 

Das war das Eingeständnis seiner Niederlage.

 

Gleich darauf erschien Collett und orientierte sich durch ein paar Fragen über die Lage der Dinge.

 

»Ist die Stelle weit entfernt?«

 

»Nein, ungefähr eine Meile. Es war im Wald von Sketchley, und zwar in der Nähe des Steinbruchs.«

 

»Ach – dann weiß ich, was mit Charles und dem Wagen passiert ist.«

 

Sechs Polizeibeamte sprangen in Dicks Auto und fuhren in die Nacht hinaus. Collett und Blagdon kamen im Wagen des Lords hinterher.

 

An der bezeichneten Stelle – am Rand einer abschüssigen Straße oberhalb des Steinbruchs – sahen sie eine große Lücke im Zaun. Der Polizeiwagen hatte ihn durchschlagen, verschiedene Bäume gestreift und war dann über den Rand des Steinbruchs in die Tiefe gestürzt.

 

»Wie kommen wir nach unten?« fragte Collett zweifelnd.

 

Hier konnte nur Blagdon weiterhelfen. Er führte sie einen schmalen Pfad hinunter zum Teich, der unterhalb des Steinbruchs lag. Der hintere Teil des Polizeiautos ragte noch aus dem Wasser.

 

»Hier muß irgendwo ein kleiner Kahn sein!« rief Blagdon.

 

Nach einer Weile hatte er ihn gefunden. Mit Stöcken brachten sie den Kahn bis zum Auto. Die Hinterräder waren noch halb zu sehen, aber von Charles konnte man keine Spur entdecken.

 

»Dort liegt etwas am Ufer!« sagte Collett. Es war der schwarze Kasten, den er unter dem Arm des Kellners gesehen hatte, als dieser das Zimmer des Wirts verließ.

 

»Hier können wir doch nichts mehr tun«, meinte er dann. »Wenn Green nicht entkommen ist, muß er unter dem Wagen liegen. Morgen muß der Teich sorgfältig abgesucht werden.«

 

Sie kletterten wieder hinauf zur Straße und fuhren zum Gasthaus zurück.

 

Dort wurde mit Hilfe eines zweiten Schlüssels, den Lorney besaß, der Kasten geöffnet. Unter einem Stapel Banknoten lag ein längliches weißes Kuvert.

 

»Was wollen Sie damit machen? Soll es verbrannt werden?« fragte Collett.

 

Lorney sah Anna an, und sie schüttelte den Kopf.

 

»Nicht, wenn es meine Geburtsurkunde ist«, sagte sie lächelnd. »Ich möchte doch noch einen anderen Beweis meiner Identität haben als den, daß sich unsere Augenbrauen genau gleichen.«

 

Collett sah die beiden an.

 

»Es muß schön sein, eine Tochter zu haben, nicht wahr, Mr. Lorney, und vor allem, es auch öffentlich zeigen zu dürfen?«

 

»Ja«, sagte Lorney. »Haben Sie eigentlich Charles gefunden?« fragte er plötzlich.

 

»Nein, er ist sicher tot.«

 

»Nun, was meinen Sie, ist es gut, daß Anna es erfahren hat, daß ich ihr Vater bin?«

 

»Ich glaube schon.« Collett hatte einen Entschluß gefaßt. »Wenn Sie mir den Rest der Angelegenheit anvertrauen, dann wird sicher alles noch gut.«

 

Kapitel 23

 

23

 

Mr. Rennett und Mr. Collett speisten an jenem Abend zusammen. Sie hatten sich ein Extrazimmer geben lassen, denn am Abend vor Rennetts Abreise nach Amerika gab es noch einiges zu erzählen.

 

Keiner von beiden wußte über alles genau Bescheid, und sie hofften, durch einen solchen Gedankenaustausch gewisse Lücken auszufüllen.

 

Ein neuer Kellner hatte den Kaffee serviert und war dann wieder hinausgegangen. Nun saßen die beiden sich am Tisch gegenüber. Blauer Zigarrenrauch hing zwischen ihnen in der Luft.

 

»Also, passen Sie auf«, ergriff Rennett das Wort, »ich werde Ihnen erzählen, wie es überhaupt zu der ganzen Geschichte kam: Bill Radley, der sich jetzt John Lorney nennt, und Keller, alias Barton, wurden beide wegen schweren Einbruchs in Australien verurteilt. Radley war ein alter Geldschrankknacker – geradezu ein Spezialist in seinem Fach. Er hatte aber niemals eine Waffe bei sich und war im allgemeinen ein anständiger Mensch, abgesehen natürlich von den Einbrüchen, die er ab und zu beging.«

 

»Daß er keine Waffe bei sich hatte, muß man ihm unter den Umständen schon hoch anrechnen«, bemerkte Collett.

 

»Sie entkamen auf dem Transport ins Gefängnis. Barton ging nach Amerika, nachdem er versucht hatte, seinen Partner zu betrügen. Radley kehrte nach England zurück. Als seine Frau – sie starb bei der Geburt – ein kleines Mädchen bekam, beschloß er, daß sie nie erfahren sollte, wer ihr Vater war. Einen Teil von jeder Beute – Radley wußte gut über die Schwäche der menschlichen Natur Bescheid und hatte nie geglaubt, daß er sich noch ändern und seine Verbrecherlaufbahn aufgeben würde – zahlte er daher auf den Namen seiner Tochter bei einer Bank ein. Er hatte erstaunlich viel Glück, und als es ihm seine Verhältnisse gestatteten, gab er Anna Jeans Radley – das ist ihr voller Name – bei einer Familie in Kanada in Pension. Sie wurde in dem Glauben erzogen, daß ihre Eltern gestorben wären. In Lorney sah sie nur einen alten Freund ihres Vaters.

 

Radley gab dann einem Rechtsanwalt den Auftrag, die Interessen des Mädchens in allen geschäftlichen Dingen zu vertreten. Er erzählte ihm alles und bestimmte, daß Anna jedes Jahr für eine Weile zu ihm kommen sollte.«

 

»Sie setzen schon allerhand voraus, das ich nicht weiß«, unterbrach ihn Collett. »Wie ist denn Lorney zu dem Gasthaus gekommen?«

 

Rennett nickte bedauernd.

 

»Sie haben ganz recht. Ich kann keine Geschichten erzählen. Aber ich weiß darüber auch nicht viel. Er sparte jedenfalls eine größere Summe zusammen, kaufte davon das Gasthaus, beziehungsweise zahlte die erste Rate und ließ sich hier nieder, um ein anständiges Leben zu führen. Aber das Gasthaus war äußerst verwahrlost, und er mußte viel Geld in die Renovierung stecken. Da er das nicht aufbringen konnte, erinnerte er sich wieder an seine alten Fähigkeiten.

 

Als die Geschichte von dem ›Alten‹ um sich griff und man nirgends genau wußte, ob er nun eigentlich noch lebte oder nicht, fand er es ganz praktisch, einfach die Legende noch eine Weile aufrechtzuerhalten. Er schaffte sich also einen Bart und eine Perücke mit wilden weißen Haaren an. Unter dieser Verkleidung brach er mehrmals hier in der Gegend ein. Aber gerade als er die erbeuteten Wertsachen verkaufen wollte, gewann er unerwartet fünfzigtausend Pfund beim Rennen.

 

Er begann nun nach und nach die gestohlenen Sachen wieder zurückzubringen. – Übrigens, das Skelett des wirklichen ›Alten‹ wurde in dem Teich im Steinbruch gefunden, neben der Leiche von Charles Green. – Aber was mir noch immer ein Rätsel ist: Wie kam Lorney dazu, Lady Arranways zu schützen, und zwar so eisern?«

 

»Das kann ich Ihnen sagen«, erwiderte Collett. »Sie rettete ihm einmal das Leben, als ihr Mann auf ihn schießen wollte; damals schlug sie Arranways‘ Arm zur Seite. Dankbarkeit ist eben auch eine Tugend von Lorney. Aber erzählen Sie weiter.«

 

Rennetts Gesicht verdüsterte sich.

 

»Dann kam Barton hierher. Es war eine furchtbare Entdeckung für Lorney, als sie sich gegenseitig erkannten. Barton sah hierin sofort seinen Vorteil und erpreßte Lorney nach Strich und Faden. Daher der Scheck über zehntausend Pfund, den Lorney einlösen sollte. Der Höhepunkt war aber, daß er Lorneys Tochter nachstieg. Das konnte Lorney nicht ertragen.

 

Barton hatte Lorneys Geheimnis herausbekommen und gab ihm das zu verstehen. Nun beschloß Lorney, Barton zu beseitigen. Aber das wissen Sie ja. – Nun erzählen Sie bitte den Rest, den ich noch nicht kenne.«

 

»Arranways hatte vergessen, einen seiner Dolche einzuschließen. Lorney fand die Waffe. Ich sah sie in seiner Hand und redete ihn darauf an. Er gab aber vor, er wolle sie in das Zimmer des Lords zurückbringen, Und er nahm auch einen Schlüssel von der Wand.

 

Zufällig erinnerte ich mich aber später, daß Arranways seinen Schlüssel mitgenommen hatte. Als Lorney dann nach oben ging, steckte er den Dolch unter seinen Rock. Nach einiger Zeit kam er dann wieder und hängte den Schlüssel ans Brett.

 

Den zweiten Anhaltspunkt erhielt ich, als ich erfuhr, daß Keller kurz vor halb zwölf ermordet worden war. Um die Zeit sah ich Lorney nämlich an der Tür von Kellers Zimmer. Es schien, als ob er mit ihm sprach, aber kurz vorher muß er ihn erstochen haben. Wahrscheinlich hatte er gar nicht die feste Absicht, ihn in dem Augenblick zu ermorden. Aber er muß auf den Balkon hinausgegangen sein und dort Keller gesehen haben, wie er von der Tür seiner Tochter zurückkam. Daraufhin erstach er ihn.

 

Seine Hände waren blutig, als er die Treppe herunterkam. Geistesgegenwärtig steckte er sie in die Taschen. Später fand unser Freund Blagdon das mit Blut befleckte Jackenfutter. Lorney hatte es herausgeschnitten und irgendwo im Garten hingeworfen, um die Polizei irrezuführen.

 

Es muß auch Blut an Lorneys Anzug gewesen sein, und wenn ich den Fall bearbeiten müßte, würde ich ihn wohl kaum vor dem Galgen retten können. Ich hätte die Sachen aller Anwesenden untersuchen lassen, und dabei wäre das Blut entdeckt worden. Aber Blagdon hatte andere Pläne – na, Sie wissen ja Bescheid! In der allgemeinen Aufregung konnte Lorney sich unbemerkt umziehen, die Tasche aus dem gebrauchten Anzug herausschneiden, die Knöpfe abtrennen, damit sie nicht später in der Asche gefunden würden, zu einer entlegenen Stelle gehen und den Anzug mit Petroleum begießen und anzünden. Die Knöpfe habe ich bis jetzt noch nicht entdeckt. – Das ist aber auch das einzige Loch in dem Fall! Sonst ist die Geschichte wohl komplett. – Merkwürdig, daß sich jetzt zwei alte Kriminalbeamte zusammentun, um einen Mörder vor dem Galgen zu bewahren, nicht wahr?«

 

»Es ist in Ordnung so«, meinte Rennett. »Und wir können uns damit trösten, daß Blagdon wenigstens nicht um den Ruhm kommt, in Charles Green den Mörder von Keller gefunden zu haben.«

 

»Dem tut es sowieso nicht mehr weh.«

 

Er goß für Rennett und für sich noch ein Glas Portwein ein und stieß dann mit ihm an.

 

»Wir wollen auf unser gegenseitiges Wohl trinken«, sagte er, »nämlich auf die beiden klügsten Männer der zwei Erdhälften. Für die europäische Hälfte wenigstens trifft das bestimmt zu.«

 

Kapitel 3

 

3

 

Keith Keller hatte keine weiteren Pläne, wie er Lord Arranways erklärte. Bis zur Ankunft seiner Braut, die jetzt bald nach England kommen sollte, da die Hochzeit hier stattfinden würde – »Sie sind natürlich unsere Gäste bei der Trauung und dem anschließenden Essen«, versäumte er nicht einzuflechten –, würde er London besichtigen und inzwischen in einem Hotel wohnen. Aber davon wollte der Lord nichts hören.

 

»Mein lieber Junge, das wäre doch wirklich nicht sehr gastfreundlich, wenn ich Sie nicht auf ein paar Wochen nach ›Arranways Hall‹ einladen würde«, meinte er großartig. »Dann werde ich Ihnen einmal den Plan für die Eisenbahn zeigen, den ich seinerzeit dem Vizekönig von Indien vorgelegt habe. Wenn er durchgeführt worden wäre …«

 

Mr. Keller hörte andächtig zu.

 

Bald nach ihrer Ankunft in ›Arranways Hall‹ ging Dick zum Gasthaus hinunter, um seine alte Bekanntschaft mit dem Wirt zu erneuern. Er war erstaunt, wie sehr sich das Gebäude zu seinem Vorteil verändert hatte.

 

»Das sieht ja mehr wie ein Kurhotel aus«, zog er den Wirt auf.

 

John Lorney lächelte zufrieden.

 

»Wir haben auch wirklich gute Gäste hier, obwohl der ›Alte‹ wieder in der Gegend ist.«

 

»Hat man ihn denn noch nicht gefangen?«

 

»Ach, keine Spur, und ich glaube, das bringt auch niemand fertig.«

 

Er sah sich in der Gaststube um und sprach dann leise weiter.

 

»Meiner Meinung nach gibt es überhaupt keinen ›Alten‹. Dieser Einbrecher bringt die gestohlenen Sachen aus einem Grund zurück, den wir nicht verstehen. Er muß ein Mann sein, der hier in der Gegend wohnt oder gewohnt hat und alle Wege genau kennt. Dreimal hat er schon versucht, hier im Gasthaus einzubrechen, wenigstens ist er dreimal draußen auf dem Rasen gesehen worden. Und sicher hat er nicht die Absicht gehabt, ein Zimmer zu mieten.«

 

»Wann hat man ihn denn zuletzt gesehen?«

 

»Seit Ihrer Abreise ist er nicht mehr bemerkt worden.«

 

Dick starrte ihn an.

 

»Hat er denn den Pursons nicht die gestohlenen Sachen zurückgebracht?«

 

Lorney bejahte.

 

»Das war in der Nacht vor Ihrer Abfahrt.«

 

»Aber meine Schwester hat doch einen Brief bekommen, und zwar in Ägypten, in dem die Pursons ihr schrieben, daß der ›Alte‹ die Silbersachen wieder zurückgebracht hat?«

 

»Nun, Briefe nach Ägypten sind ziemlich lange unterwegs. Nach Ihrer Abreise hat er sich jedenfalls nicht mehr blicken lassen.« Der Wirt nahm ein Tuch und fuhr damit über den schon spiegelblanken Schanktisch.

 

»Es ist ein junger Mann mit Ihnen zurückgekommen, den ich früher nicht hier gesehen habe«, meinte er.

 

»Ach, Sie meinen Mr. Keller?«

 

»Er sieht gut aus. Ich sah ihn, wie er mit Mylady heute morgen nach Hadley fuhr.«

 

»Ja, das ist Mr. Keller«, stimmte Dick zu.

 

»Diese Geschichten von dem ›Alten‹ fallen einem wirklich auf die Nerven. Man kann hier Personal kaum länger als eine Woche halten«, beklagte sich Lorney. »Die Leute fürchten sich ja zu Tode.«

 

In dem Augenblick kam eine kräftige Frau durch die Gaststube. Sie hatte Eimer und Besen in der Hand und nickte Dick freundlich zu.

 

»Na, das ist doch aber eine Kraft, die Sie noch nicht verloren haben?« erkundigte sich Dick.

 

»Ja, die bleibt mir.« Der Wirt lachte.

 

»Was ist sie denn eigentlich?«

 

»Putzfrau, aber sie muß auch sonst noch allerhand tun. Ich ärgere mich oft über sie, und manchmal kündige ich ihr zweimal in der Woche. Aber sie nimmt das nicht tragisch und bleibt. Ein paarmal saß ich schon ohne Personal da und hätte zumachen können, wenn nicht Mrs. Harris gewesen wäre.«

 

Lorney hörte ein Geräusch, kam hinter dem Schanktisch hervor, ging rasch durch den Raum und trat hinaus in die Diele. Durch die Tür konnte Dick sehen, daß ein junges Mädchen angekommen war. Lorney trug ihren Koffer und sprach dauernd auf sie ein. Sie gingen die Treppe hinauf und verschwanden im Gang.

 

Dick trank sein Glas aus und wartete, bis Lorney wieder erschien.

 

»Wer ist denn diese nette junge Dame?« erkundigte er sich neugierig.

 

»Besuch.«

 

»Scheint sehr gut mit Ihnen bekannt zu sein.«

 

»Ihr Vater war ein Freund von mir«, erklärte Lorney. »Voriges Jahr war sie eine Woche lang hier. Miss Jeans besucht ein Pensionat in der Schweiz.«

 

Er sah zur Treppe, als ob er erwartete, sie wiederzusehen.

 

»Ihr Vater hat mir vor Jahren sehr geholfen, und es macht mir Spaß, daß ich mich um sie kümmern kann. Sie hat keine Eltern mehr.«

 

Dick sah ihn überrascht an. Diese Seite hatte er in dem Charakter des sonst verschlossenen Mannes noch nicht kennengelernt.

 

»Mr. Lorney!«

 

Die beiden sahen auf. Anna Jeans lehnte sich über das Geländer.

 

»Kann ich herunterkommen?«

 

»Aber selbstverständlich!«

 

Der Wirt ging ihr entgegen.

 

»Darf ich vorstellen – Mr. Richard Mayford.«

 

Sie sah ihn überrascht an. Dann lächelte sie.

 

»Aus Ottawa«, sagte sie.

 

Dick zog verwundert die Augenbrauen hoch.

 

»Woher wissen Sie denn das?«

 

»Ich bin dort zur Schule gegangen, und alle Leute kannten die Mayfords. Sie sind doch der Schwager von Lord Arranways?«

 

Fünf Minuten später gingen die zwei auf dem Rasen draußen auf und ab und tauschten Erinnerungen an Ottawa aus, obwohl keiner von beiden noch viel darüber wußte.

 

Mr. Lorney beobachtete sie von der Gaststube aus lächelnd, was bei ihm eine Seltenheit war.

 

Mary kannte Miss Jeans nicht und interessierte sich auch kaum für das junge Mädchen, als Dick ihr von seiner Begegnung erzählte.

 

»So, ist sie wirklich so charmant? Na ja, kanadische Mädchen sind meistens nett. – Was macht sie denn hier?«

 

Dick erzählte seiner Schwester, was er von Anna wußte, und zwar in einem so begeisterten Ton, daß Mary ihn von der Seite ansah.

 

»Aber Dick, du schwärmst ja! Das ist man bei dir wirklich nicht gewohnt. – Solltest du dich in sie verliebt haben?« meinte sie leichthin.

 

Sie war an dem Tag in bester Laune, denn die französische Polizei hatte ihr verlorenes Brillantarmband bei einem Juwelier in Nizza gefunden. Sie erzählte beim Abendessen davon.

 

»Es wird dreihundert Pfund kosten, es wieder einzulösen«, äußerte der Lord. Er sah Keith an und fuhr dann fort: »Ich möchte Ihnen einen Rat geben, junger Mann«, sagte er wohlwollend.

 

Kellers Gesicht glich einer Maske.

 

»Sicher ist es ein guter Rat, wenn Sie ihn mir geben.«

 

»Lassen Sie das Wetten bei den Rennen. Ihr Vater mag so reich sein, wie er will, die Buchmacher werden Ihnen den letzten Groschen aus der Tasche ziehen. Lassen Sie sich nicht durch das Glück von Mr. Lorney verleiten. Der hat zwar eine Menge gewonnen, aber, wer weiß, mit wie vielen Buchmachern er unter einer Decke steckt.«

 

»Was hältst du denn plötzlich für Moralpredigten?« fragte Mary.

 

»Ich traf Mr. Dane von der Berliner Gesandtschaft. Der sagte mir, daß er Mr. Keller dort auf einem Rennen getroffen hätte. – Wie ein betrunkener Matrose soll er gewettet haben. Verzeihen Sie den starken Ausdruck, aber ich zitiere nur, was Mr. Dane sagte.«

 

Keith Keller lächelte.

 

»Na ja, ich werde mit den Jahren schon vernünftiger werden. Zur Zeit hat mein Vater noch Geld genug.«

 

Dick sah den schnellen Blick, den Mary dem jungen Mann zuwarf, und fühlte eine gewisse Nervosität in sich aufsteigen.

 

Kapitel 4

 

4

 

Anna Jeans konnte glänzend Tennis und Golf spielen und war außerdem eine elegante Reiterin. Dick verbrachte die nächsten Tage fast ausschließlich in ihrer Gesellschaft: Morgens begleitete er sie auf Spazierritten in die schöne Umgebung von ›Arranways Hall‹, und nachmittags trafen sich die beiden im kleinen Salon des Gasthauses, wo ein Flügel stand, auf dem Anna nun ihrerseits die Begleitung zu. Dicks Liedern übernahm.

 

Keith Keller und Mary gingen zum Gasthaus, tranken dort Tee und lernten dabei die junge Dame kennen. Mary fand sie wirklich entzückend, aber Keith ließ sich zu keinem Lob hinreißen; er erklärte, solche Art Mädchen wären nicht sein Typ.

 

»Welchen Typ liebst du denn eigentlich?« fragte Mary, als sie durch den Wald zurückgingen.

 

Er griff nach ihrer Hand, aber sie wollte davon nichts wissen. »Eddie ist in der Nähe«, sagte sie schnell.

 

Sie hatte recht, denn nach einer Weile trafen sie ihn. Mary machte ein äußerst gelangweiltes Gesicht, und Keith fing sofort ein Gespräch mit dem Lord an. Er hatte vor einigen Tagen die ganze Bibliothek seines Gastgebers durchwühlt und alles gelesen, was dort der Lord je geschrieben hatte. Da er sich eben an einem Werk über die Reform der indischen Verwaltung versuchte und fast den ganzen Tag nicht zu sehen war, konnte man einigermaßen mit ihm auskommen, und wenn man ihn mal traf, hatte man immer einen Gesprächsstoff, besonders, wenn man so geschickt war wie Keith Keller.

 

*

 

Der ›Alte‹ stand im Schatten des Waldes und wartete, bis die letzten Lichter in Schloß ›Arranways‹ erloschen. Er beobachtete Dick, der um elf aus dem Gasthaus zurückkehrte, und sah, wie nach einer Weile auch in dessen Zimmer das Licht ausging. Dann schlich er sich näher an das Schloß heran, wobei er jeden Strauch und jeden Schatten zur Deckung benützte. Nach einiger Zeit war er auf der Rückseite des Gebäudes angelangt.

 

Die Wolken, die den Mond verdeckten, waren vorübergezogen, und es war fast taghell, als er den Rasen vor dem Haus überqueren mußte.

 

Mit äußerster Geschicklichkeit kletterte er an den dicken Efeustämmen hinauf, während er mit den Zähnen eine Tasche festhielt. Gleich darauf stand er oben auf dem kleinen Balkon, wenige Schritte von einer hohen Glastür entfernt, in deren Fenster vier farbige Wappen eingelegt waren. Er holte einen kleinen Meißel aus der Tasche, mit dem er geräuschlos arbeitete. Schon einmal war er auf diese Weise ins Schloß eingedrungen, denn dies war die einzige Tür, die nicht durch eine elektrische Alarmanlage gesichert war.

 

Plötzlich hielt er inne, drückte auf die Türklinke und öffnete die Tür. Im nächsten Augenblick stand er im Innern. Er hielt an, schloß die Glastür vorsichtig und lauschte. Als er ein Geräusch hörte, trat er in eine Nische, die durch einen Vorhang verdeckt war.

 

Eine Tür im Korridor ging auf, und ein Herr im Pyjama blickte suchend den dunklen Gang entlang. Keith Keller entdeckte den ›Alten‹ nicht. Dann trat er wieder in sein Zimmer zurück und schloß die Tür geräuschlos hinter sich. Der ›Alte‹ wartete einen Augenblick.

 

Da – beinahe hätte er durch die Zähne gepfiffen –, gerade als er sein Versteck verlassen wollte, hörte er leichte Schritte auf dem Gang. Eine Frau. Jetzt ging sie an einem Fenster vorüber, und im Mondlicht erkannte er Lady Arranways. Über ihrem Nachthemd trug sie einen seidenen Morgenrock, und in der Hand hatte sie eine brennende Zigarette.

 

Einen Augenblick blieb sie stehen und sah den Weg zurück, den sie gekommen war. Dann ging sie zu Kellers Tür und klopfte leise. Sofort wurde geöffnet. Der ›Alte‹ hörte, daß sich der Schlüssel im Schloß drehte.

 

Dann kam er hinter dem Vorhang hervor und ging den Korridor in dem totenstillen Haus entlang.

 

Kapitel 5

 

5

 

Tom Arkright, ein Arbeiter von der ›Waggin Farm‹, sagte später, er hätte den ersten Alarm geschlagen, aber Mr. Lorneys Wagen hielt bereits zehn Minuten vor Ankunft des Dorfpolizeibeamten vor dem Tor des brennenden Schlosses. Selbst in der mondhellen Nacht konnte man die züngelnden Flammen auf weite Entfernung sehen. Rauch drang aus den Fenstern des ersten Stocks, als Mr. Lorney den kurzen Weg zur Auffahrt zurücklegte. Er sprang aus dem Wagen und hämmerte gegen die Haustür.

 

Dick Mayford hatte einen leichten Schlaf. Er hörte das Hämmern, und es schien ihm auch, als ob er Brandgeruch spürte. Er stand auf und eilte aus seinem Zimmer.

 

»Ich glaube, ich weiß, in welchem Zimmer es brennt«, rief ihm Lorney zu, der gerade die Treppe in großen Sätzen hinaufrannte. »Es ist das sechste Fenster von der Ecke.«

 

Als sie um die Ecke bogen, stand Lord Arranways schon auf dem Gang.

 

»Hier schläft doch Keller!« sagte Arranways. »Dick, wecke Mary und bring sie nach unten. Sie soll sich nicht aufregen, es ist nicht gefährlich.«

 

Lorney wickelte sich sein Taschentuch um die Hand und versuchte die Tür zu Kellers Zimmer aufzumachen, aber er mußte sich mit aller Gewalt dagegenstemmen, bis das Holz splitterte und die Füllung brach. Dichter Rauch wirbelte Lorney entgegen. Er tastete durch das Loch und drehte den Schlüssel um.

 

»Warten Sie hier vorn und schließen Sie die Tür, wenn ich hineingegangen bin.«

 

Drinnen wurde er sofort von gelblichgrauen Wolken eingehüllt. Links von ihm flackerten Flammen auf, und er sah einen Mann auf dem Boden liegen. Rasch bückte er sich und richtete ihn auf.

 

Keller war nicht ganz bewußtlos. Er flüsterte Lorney ein paar bittende Worte zu, als dieser ihn zur Tür zog, und wies auf etwas Weißes, das in der Nähe des Bettes auf dem Boden lag.

 

Der Wirt war Kavalier. Er hatte keine Illusionen und nur wenige Ideale. Als er wieder auf den Gang hinaustrat, hatte sich nur der harte Ausdruck auf seinem Gesicht vertieft.

 

»Bringen Sie ihn schnell nach unten«, sagte er heiser zu den Leuten, die herumstanden.

 

Keller war auf dem Boden halb zusammengesunken, während sich der Lord über ihn beugte.

 

»Ist nichts in Ihrem Zimmer, das gerettet werden muß, Keller?« fragte Arranways besorgt.

 

»Nein, nichts … Bringen Sie mich … bitte fort«, murmelte Keller schwach.

 

In diesem Augenblick kam Dick heran. Er hatte Mary nicht in ihrem Zimmer gefunden. Vermutlich hatte sie den Alarm gehört und war hinaus in den Park gegangen. Er hatte einen warmen Mantel aus ihrem Zimmer mitgenommen.

 

»Geh nach unten!« sagte Lord Arranways kurz. »Kommen Sie, Lorney, hier oben ist niemand mehr. – Sehen Sie zu, daß alle Leute das Haus verlassen!« rief er dem Diener nach.

 

Der Lord selbst ging die Treppe hinunter – ohne eine Ahnung davon zu haben, daß Lorney ihm nicht folgte. Der Gastwirt stand an der Tür zu Kellers Zimmer und wartete, bis die anderen aus dem Gang verschwunden waren. Dann öffnete er die Tür und wagte sich noch einmal ins Zimmer.

 

Kam er noch zur rechten Zeit? Mit angespannten Sinnen lauschte er auf das leisteste Geräusch vom Gang. Aber es war ja gleich, ob der Ruf von Lady Arranways ruiniert war, vor allem mußte sie gerettet werden.

 

Er bückte sich, hob die leichte Gestalt vom Boden auf und trug sie auf den Gang hinaus. Mary war bewußtlos, und als er an einem Fenster vorbeikam, sah er, daß sie totenblaß war. Auf der ersten Stufe der Treppe hielt er an, als Lord Arranways in Sicht kam.

 

»Wo bleiben Sie denn, Lorney?« rief er ungeduldig. »Kommen Sie doch endlich herunter! Es ist ja niemand mehr dort oben –«

 

Da erblickte er seine Frau.

 

»Mary …! – Wo haben Sie sie gefunden?« fragte er leise.

 

»Am Ende des Ganges, unter dem Fenster«, entgegnete Lorney mit fester Stimme.

 

Nach kurzem Schweigen wandte sich der Lord ab und ging langsam die Treppe hinunter.

 

»Ich habe sie nicht dort gesehen«, sagte er gequält.

 

»Aber ich«, erklärte Lorney entschieden. »Auf jeden Fall sah ich etwas Weißes. Sie muß in der ersten Aufregung aus ihrem Zimmer gestürzt und nach der falschen Richtung gelaufen sein.«

 

Dick war die Treppe heraufgekommen und nahm nun Lorney die bewußtlose Frau aus den Armen.

 

Sie liefen die Stufen hinunter und durch die Eingangshalle ins Freie. Arranways nahm den Mantel auf, den Dick unten auf das Geländer der Terrasse gelegt hatte, und hüllte seine Frau darin ein.

 

Alle Bewohner von Sketchley waren mittlerweile vor dem Schloß zusammengekommen.

 

Diener und Landarbeiter liefen mit geretteten Gemälden, Teppichen, dem vielen alten Silber und anderen wertvollen Dingen aus dem Haus.

 

»Ich habe meinen Wagen hier und werde Mylady zu mir ins Gasthaus bringen«, sagte Lorney zu Lord Arranways. »Augenblicklich habe ich keine anderen Gäste als die junge Dame aus Kanada.«

 

Arranways nickte. Er setzte sich in den Fond und überließ es Dick, seine Schwester im Auto unterzubringen.

 

Als der Wagen durch das große Parktor auf die Straße hinausfuhr, glaubte der Lord einen hochgewachsenen, etwas korpulenten Herrn mit einer Brille am Straßenrand zu sehen. Das Gesicht kam ihm bekannt vor – es war derselbe Mann, den Mary in Wien und in Berlin bemerkt hatte.

 

»Wo ist eigentlich Keller?« erkundigte sich der Lord. Seine Stimme hatte einen harten Klang, und er hob den Blick nicht, als er sprach.

 

»Einer der Diener hat mir vorhin erzählt, daß man ihn ins Gasthaus gebracht hätte«, erwiderte Lorney.

 

Als sie ausstiegen und die Diele des Gasthauses betraten, kam Mary zu sich. Dick übergab sie einem Hausmädchen, während Lorney nach Mrs. Harris rief.

 

»Die habe ich beim Schloß gesehen«, warf Dick ein.

 

»Ich hätte mir auch denken können, daß sie nichts Besseres zu tun hat, als sich dort herumzutreiben! Die neugierige alte Hexe würde mitten in der Nacht aufstehen und zusehen, wenn ein Hund den Mond anbellt.«

 

Lorney erzählte Dick dann, daß er am Abend in Guilford gewesen war. Auf dem Rückweg fuhr er an ›Arranways Hall‹ vorbei und entdeckte Rauch und Flammen im Fenster von Kellers Zimmer. Der Brand mußte schon vor einiger Zeit ausgebrochen sein, denn als er ins Zimmer kam, hatte er schon weit um sich gegriffen.

 

Lorney ging mit Dick zu Fuß zum Schloß zurück. Zehn Minuten später trat Lord Arranways zu ihnen. Schweigend beobachtete er, wie das stattliche alte Haus niederbrannte, in dem zahn Generationen der Arranways gelebt hatten. Die Feuerwehr war machtlos. Motorspritzen kamen aus Guildford, aber als sie auf der Bildfläche erschienen, fanden sie nicht genug Wasser vor und konnten nur zusehen, wie die erbarmungslosen Flammen allmählich das ganze Haus einäscherten.

 

Der Morgen graute, als der Lord, Dick Mayford und John Lorney zum Gasthaus zurückgingen. Während der drei Stunden, die sie beim Brand zugesehen hatten, hatte der Lord kaum ein Wort gesprochen. Dick vermutete, daß der Verlust des Schlosses ihn so schweigsam machte, aber als er versuchte, seinen Schwager zu trösten, lachte Arranways bitter auf.

 

»Es gibt Dinge, die man nicht wieder aufbauen kann.«

 

Dick erschrak, denn diese Worte bestätigten seine schlimmsten Befürchtungen.

 

Kapitel 17

 

17

 

Inspektor Blagdon erschien und nahm Collett die Bearbeitung des Falles aus der Hand, so daß er sich mehr oder weniger mit der Rolle des passiven Beobachters begnügen mußte. Blagdon, ein großer, stattlicher Mann, der sich viel auf seine Fähigkeiten einbildete, benahm sich grundsätzlich so, daß sich alle über ihn ärgerten – herausfordernd und mit einer geradezu aufreizenden Selbstgefälligkeit.

 

Um fünf Uhr morgens saß er mit Collett bei einer Tasse Kaffee in der Diele.

 

»Mein lieber Collett, Sie müssen wissen, daß ich eine fünfunddreißigjährige Praxis in solchen Fällen habe«, sagte er gerade.

 

»Ach, dann haben Sie wohl jede Woche einen Mord hier in der Gegend?«

 

»Nein, das gerade nicht«, erklärte Blagdon etwas beleidigt, denn Spott konnte er nicht gut vertragen. »Nein, hier passiert nicht jede Woche ein Mord. Wir leben hier ja schließlich in Surrey und nicht in London oder New York.«

 

»Oder in Detroit«, fügte Collett lächelnd hinzu. »Vergessen Sie Detroit nicht, Mr. Blagdon.«

 

»Wir sind hier in England!« Blagdon war ein großer Patriot.

 

»Zu welchem fremden Land gehört denn dann London?« fragte Collett unschuldig.

 

»Die Hauptstadt zähle ich überhaupt nicht mit. Aber ich sagte ja schon, man braucht tatsächlich eine beträchtliche Erfahrung. Und wenn man wie ich hier fünfunddreißig Jahre lang nach dem Rechten gesehen hat, können die Beamten von Scotland Yard auch noch was lernen.«

 

»Gewiß. Ich glaube, man kann den Fall ruhig Ihrer sachkundigen Leitung anvertrauen.«

 

»Wir haben unsere besonderen Methoden«, sagte Blagdon selbstgefällig. »Zum Beispiel haben Sie, wie ich hörte, einen Anzug von Captain Rennett beschädigt. Nun, wir würden so etwas nie machen. Das ist doch ein unerlaubter Eingriff in die persönlichen Rechte. Man kann doch nicht einfach das Eigentum eines anderen in dieser Weise zerstören! Das ist ja Willkür.«

 

So ging das Gespräch noch eine Weile weiter.

 

Collett war nicht nur ein fähiger Kriminalbeamter, er konnte auch ausgezeichnete Berichte schreiben. Um Informationen zu erhalten, hatte er zu allen möglichen Hilfsmitteln gegriffen, hatte Hausmädchen, Kellner, Dorfbewohner und auch Leute aus der näheren Umgebung in Gespräche verwickelt und aus ihren Antworten eine Menge wichtiger Schlüsse gezogen. Für ihn war der Fall eigentlich klar. Es war alles so weit vorbereitet, daß man ihn hätte abschließen können, und nun kam dieser seiner Meinung nach nicht besonders intelligente Blagdon, der ihn völlig ausschaltete.

 

»Ich will ja nicht behaupten«, sagte Blagdon, »daß an der Geschichte mit dem ›Alten‹ nichts dran ist. Wahrscheinlich lebt ein Mann hier in der Gegend, der in der Rolle des ausgebrochenen Irren auftritt. Vielleicht ist er es auch wirklich selbst.«

 

»Dann müßte er mittlerweile uralt sein«, meinte Collett, »und da kann er ja nicht mehr ›arbeiten‹. Einbrecher sind meistens mit dreiunddreißig auf dem Gipfel ihres Könnens. Bis fünfundvierzig können sie auch noch allerhand leisten, dann fällt es ihnen aber schwer, an einer Dachrinne hinaufzuklettern.«

 

Collett wurde dieses Gespräch allmählich langweilig.

 

»Wo ist eigentlich Lorney?« fragte er, um Blagdon auf andere Gedanken zu bringen.

 

»Er hat die Nebengebäude durchsucht.«

 

»Und niemanden gefunden?«.

 

»Nein«, gab Blagdon zu. »Aber ich hoffe, daß er mir ein paar Anhaltspunkte geben kann, die mir weiterhelfen.«

 

»Die können Sie von jedem hier bekommen. Alle Leute im Dorf werden Ihnen interessante Dinge erzählen, wenn Sie sie fragen, aber das dürfte Sie eher in Verwirrung bringen.«

 

Collett lehnte sich vor und schlug dem Inspektor vertraulich aufs Knie. Blagdon zuckte zusammen und wischte mit der Hand über die Stelle, als ob sie dadurch staubig geworden wäre.

 

»Warum rufen Sie nicht Scotland Yard zu Hilfe? Wir sind nicht tüchtiger als ihre Leute, aber wir haben die besten Informationsquellen. Unsere Verbindungen reichen über die ganze Welt. Ich sagte Ihnen doch schon, daß Keller ein entsprungener Sträfling ist. Rennett kennt ihn. Das, zum Beispiel, haben Sie noch nicht gewußt.«

 

»Rennett hätte es mir schon gesagt. Nein, wir werden hier die Hand an den Pflug legen.«

 

»Ach, das verstehen Sie nicht«, unterbrach ihn Collett gereizt. Er gab es auf, diesen Mann zu einer vernünftigen Antwort zu bewegen. »Sie sind ja alle in Ordnung, und ich habe auch nichts dagegen, mir mit Ihren Beamten einmal richtig die Nase zu begießen. Aber Sie sind hier in der Provinz zu abgeschlossen! Sie brauchen eine gewandte Führung. Und dazu reicht es bei Ihnen nicht, Blagdon. Es tut mir leid, daß ich Ihnen das sagen muß, aber ich weiß ja, daß Sie es mir doch nicht glauben.«

 

Blagdon kümmerte sich um diese Grobheit nicht besonders. Er kannte Collett und ließ sich von ihm nicht beleidigen.

 

»Nun, Sie werden ja noch sehen, daß wir den Fall glänzend lösen werden. Wir brauchen die Spezialisten von Scotland Yard nicht dazu. Die sollen sich um ihren eigenen Kram kümmern. Voriges Jahr wurden in London drei Morde nicht aufgeklärt. Die sollen also uns arme unfähige Hinterwäldler ruhig im dunkeln tappen lassen.«

 

»Wenn Sie wenigstens noch tappen würden!« stöhnte Collett. »Aber Sie setzen sich hin und verlassen sich auf die Güte des Himmels, der Ihnen sicher hilft. Amen. Soll ich Petrus sagen, daß er Ihnen einen kleinen Engel schickt, der Ihnen mit einer Laterne ein bißchen leuchtet?«

 

»Wissen Sie denn, wer der Mörder ist?« fragte Blagdon gereizt.

 

»Natürlich!« führ ihn Collett an. »Und ich weiß auch, wer die Rolle des ›Alten‹ hier spielt. Er ist sogar ein lieber Freund von mir. Sie müssen einmal nachmittags zum Tee zu mir kommen, damit ich Sie mit ihm bekannt machen kann!«

 

Kapitel 18

 

18

 

Trotz der frühen Morgenstunde fand Collett Charles schon bei der Arbeit. Er scheuerte den Fußboden des Balkons, um die Blutflecken zu beseitigen. Er beklagte sich laut und leise darüber, daß er nicht zum Schlafen käme, und schimpfte über Keller. Am meisten regte er sich aber über Blagdon auf.

 

»Der Kerl hat mich die ganze Nacht ausgefragt, und obwohl ich ihm sagte, daß ich im Gefängnis war – das heißt, Mr. Lorney hat es ihm gesagt –, hat er doch so getan, als ob er es herausgebracht und ich es ihm verschwiegen hätte.«

 

Blagdon hatte ein Zimmer des Gasthauses zu seinem Büro erklärt und an der Tür einen Polizeibeamten als Wache aufgestellt. Collett sah den Inspektor öfter mit ernstem Gesicht heraus- oder hineingehen, und je länger es dauerte, desto wichtiger kam sich Blagdow offensichtlich vor.

 

Collett saß in einem Sessel und versuchte zu schlafen, als Blagdon auf ihn zukam.

 

»Ich habe Kellers Zimmer durchsucht und dort ein paar Dinge entdeckt, die von der größten Bedeutung sind und die Sie vielleicht interessieren werden. Wollen Sie einmal in mein Büro kommen?«

 

Collett tat es und sah eine Anzahl von Briefen, die hübsch der Größe nach geordnet auf dem Tisch lagen.

 

»Sehen Sie, das ist methodisches Arbeiten«, erklärte Blagdon. »In diesen Kuverts sind die Dinge, die ich in Kellers Taschen fand, und hier sind die Papiere, die in seinem Zimmer lagen. Wenn wir jetzt alles sichten, wird der Fall ziemlich klar sein.« Er lehnte sich in seinem Sessel zurück.

 

»Keller, der in Wirklichkeit Barton heißt«, begann er, »wurde vor fünf Jahren wegen eines schweren Einbruchs verurteilt. Sein Komplice war ein gewisser William Radley –«

 

»Aber das habe ich Ihnen doch alles schon erzählt, als Sie hierherkamen«, erklärte Collett gelangweilt und schlug ungeduldig auf den Tisch.

 

»Wenn Sie gestatten, möchte ich doch noch einmal alles zusammenfassen«, erwiderte Blagdon mit größter Höflichkeit. »Keller ist in mehrere Affären verwickelt gewesen, die man nur als …«

 

» … als schmutzig und gemein bezeichnen kann«, half Collett ihm weiter.

 

»Ja, das wollte ich sagen. Ich danke Ihnen, Mr. Collett. – Keller hat in allen möglichen Kreisen verkehrt. Er hat sich mit Damen der besten Gesellschaft wie auch mit einfachen Mädchen eingelassen. Und hier habe ich nun meine erste Entdeckung gemacht.«

 

Er öffnete einen Umschlag, nahm ein zusammengefaltetes Papier heraus und legte es vor Collett auf den Tisch. Es war mit Kopierstift und in einer Schülerhandschrift geschrieben.

 

›Mein lieber Junge, ich warte noch auf eine Gelegenheit, Dich in London zu sehen. Ich kam neulich abends nach Sketdiley, trug wie gewöhnlich meinen Bart und brachte einige Wertsachen zurück, die ich vor einem Jahr gestohlen hatte. Ich weiß, daß Du mich für verrückt hältst. Vielleicht bin ich das auch. An einem der nächsten Tage sage ich Dir, warum ich das tue. Ich muß Dich unter allen Umständen sprechen. Kannst Du nicht nach London kommen? Ich kann Dir etwas sagen, das wichtig für Dich ist. Jemand ist hinter Dir her und wird Dich auch fassen. Nach Sketchley darf ich nicht kommen. Schreibe unter der Adresse, die ich Dir gegeben hatte.‹

 

*

 

Das Schreiben war mit W. R. unterzeichnet.

 

»Dieser Brief wurde meiner Meinung nach von William Radley geschrieben«, erklärte Blagdon.

 

Collett nahm das Blatt, ging damit zum Fenster, und nachdem er es eingehend geprüft hatte, gab er es zurück.

 

»Wo haben Sie das gefunden?«

 

»In Kellers Zimmer. Wenn ich sage, Keller –«

 

»Dann meinen Sie Boy Barton. Aber wo in seinem Zimmer?«

 

»In der Kommode zwischen zwei Oberhemden.«

 

Collett nickte.

 

»Haben Sie sonst noch etwas in der Schublade gefunden?«

 

»Nein, das nicht. – Ich komme nun zum nächsten Punkt.«

 

Blagdon öffnete den zweiten Umschlag und zog ein Scheckbuch und ein gefaltetes Papier heraus.

 

»Beides fand ich in seinen Taschen. Dieser Brief wirft Licht auf die Beziehungen zwischen Lady Arranways und Keller.«

 

Es war eine andere, mit Bleistift geschriebene Mitteilung, die keine Anrede hatte.

 

›Treffpunkt im Wald an der bewußten Bank heute abend 9.30 Uhr. Ich bringe das Geld mit. Mary.‹

 

»Mary«, sagte Blagdon mit Nachdruck. »Das ist Lady Arranways. Mary ist ihr Vorname.«

 

Collett gab es auf.

 

»Nun sehen Sie sich einmal dies an«, fuhr der Inspektor fort und deutete auf den letzten Abschnitt des Scheckbuches.

 

Collett schaute kurz hin. Das Formular war auf zehntausend Pfund für John Lorney ausgestellt.

 

»Warum gab Barton Lorney zehntausend Pfund? Dafür gibt es nur eine Erklärung, mein lieber Kollege, vielleicht auch zwei.«

 

»Vielleicht auch drei oder vier«, brummte Collett. »Erpresser nehmen niemals Schecks. Wenigstens habe ich diese Erfahrung gemacht. Aber ich kann Ihnen eine Erklärung geben: Barton schrieb einen Scheck über diese Summe aus und bat Lorney, ihn einzulösen. Lorney hat es mir erzählt, und ich traue ihm. Keller war gestern abend völlig betrunken, und Lorney nahm die ganze Geschichte nicht ernst. Er steckte den Scheck einfach in die Tasche und legte ihn später in seinen Safe.«

 

Blagdon starrte ihn verwundert an.

 

»Woher, um alles in der Welt, wissen Sie denn das?«

 

»Ich habe die Taschen des Toten schon untersucht, bevor Sie herkamen, und den Brief und das Scheckbuch gesehen. Daraufhin habe ich natürlich Lorney und Lady Arranways um Aufklärung gebeten. Lady Arranways hat das Haus nach dem Abendessen nicht mehr verlassen. Um halb zehn, als das Rendezvous verabredet war, hielt sie sich in ihrem Zimmer auf. Sowohl Charles als auch das Zimmermädchen haben sie dort gesehen. Kann ich Radleys Brief noch einmal durchlesen? Der ist nämlich wirklich interessant!«

 

Er betrachtete ihn noch einmal eingehend.

 

»Haben Sie übrigens etwas von Lord Arranways gehört?«

 

»Nein, in seiner Stadtwohnung ist er nicht angekommen. Natürlich habe ich Scotland Yard gebeten, alle Häfen zu überwachen. Ich glaube, wir können als sicher annehmen, daß er der Mörder ist. Aber ich darf mich dadurch nicht beeinflussen lassen. Natürlich wird jede Spur verfolgt. Ich nehme an, er hat seine Frau und Keller auf dem Balkon überrascht und ihn dann erstochen. Seine Frau wollte er vermutlich auch umbringen, aber sie konnte entkommen.«

 

Collett sah ihn beinahe ehrfürchtig an.

 

»Enorm! Dann haben Sie wahrscheinlich auch Lady Arranways unter dieser Voraussetzung vernommen?«

 

»Selbstverständlich.« Blagdon nickte. »Sie weigert sich aber, irgend etwas auszusagen – das heißt, sie behauptet, meine Vermutung wäre Unsinn. Aber so sind die Leute! Zuerst lügen sie, daß sich die Balken biegen, aber schließlich gestehen sie doch alles ein.«

 

*

 

Dick Mayford ging im Garten auf und ab, als Collett ihn fand. Er sah übernächtigt aus, denn er war noch lange vernommen worden, und die Untersuchungsmethoden von Blagdon und Collett waren sehr verschieden voneinander. Collett bestand darauf, kleine, scheinbar unwichtige Dinge aufzuklären. Seine Fragen waren sehr präzis, während Blagdon mehr allgemeine Fragen stellte, wie zum Beispiel: »Wer hat nach Ihrer Meinung die Tat begangen?«

 

Dick konnte Collett nicht genau sagen, wann Eddie ihn am vergangenen Abend angerufen hatte.

 

»Können Sie sich vielleicht noch daran erinnern, wie lange Sie mit Ihrem Schwager gesprochen haben?«

 

Dick überlegte.

 

»Ungefähr fünf Minuten.«

 

»Das Gespräch hat aber siebzehn Minuten gedauert.«

 

»Ist das so wichtig?« fragte Dick müde. »Meiner Meinung nach war es nicht länger als fünf Minuten. – Was wollen Sie noch wissen?«

 

»Lord Arranways sagte, daß er nach Sketchley kommen wollte. Hatte er auch die Absicht, die Nacht hier zu verbringen?«

 

»Darüber hat er nichts gesagt. Wir sprachen meistens von anderen Dingen.«

 

»Welche anderen Dinge waren das? Sagen Sie mir es bitte. Das ist sehr wichtig.«

 

Dick zögerte einen Augenblick.

 

»Nun gut, Sie sollen es erfahren, denn wahrscheinlich hat es Ihnen doch schon jemand erzählt. Lord Arranways ist ziemlich eifersüchtig. Seit dem Brand hat er Keller im Verdacht, sich zu intensiv mit seiner Frau zu beschäftigen. Nun wollte er wissen, was meine Schwester den ganzen Tag getan hätte, und ob sie sich mit Keller getroffen hätte.«

 

Collett rieb sich das Kinn.

 

»Ich muß noch eine Frage stellen, Mr. Mayford. Glaubte Ihnen Lord Arranways, als Sie sagten, Ihre Schwester hätte Keller nicht getroffen?«

 

Dick sah ihn überrascht an.

 

»Wie kommen Sie darauf? Er hat es mir tatsächlich nicht geglaubt, im Gegenteil, er war ziemlich gereizt und widersprach mir dauernd. Ich wollte gerade auflegen, als er mich bat, zu ihm zu kommen.«

 

Collett nickte.

 

»Das erklärt vieles. Haben Sie sich schon einmal überlegt, wie Eifersucht einen Menschen verändern kann?«

 

»Ich verstehe nicht«, entgegnete Dick betroffen. »Er war ganz vernünftig, als er hierherkam, obwohl ich merkte, daß er vielleicht …«

 

»Sie meinen, daß er vielleicht etwas Außergewöhnliches vorhatte?«

 

»Nein, daß er fortgehen könnte, ahne uns zu sagen, wohin. Die Eifersucht hatte ihn völlig aus der Fassung gebracht. Er wäre imstande gewesen, irgendeine Dummheit zu begehen aber natürlich nicht den Mord«, fügte er schnell hinzu.

 

Collett kehrte zum Haus zurück; die Diele war leer. Er stieg die Treppe hinauf, ging den Gang entlang und kam dann auf einer schmalen Treppe wieder hinunter in die Küche. Charles saß am Tisch und trank Tee. Er sah den Kriminalbeamten finster an.

 

»Ich sage Ihnen gleich, Mr. Collett, daß ich keine Fragen mehr beantworte. Ich habe von heute nacht noch genug. Ich werde jetzt schlafen, ob es Mr. Lorney nun paßt oder nicht.«

 

Collett ließ sich an der anderen Seite des Tisches nieder. Die Köchin stellte sich daneben, weil sie hoffte, irgend etwas Interessantes zu hören. Collett ließ sich eine Tasse Tee machen, um sie wenigstens eine Weile abzulenken.

 

Charles wurde unruhig. Er sah den Chefinspektor nicht an.

 

»Mr. Collett, ich habe schwere Zeiten hinter mir, und ich möchte jetzt ein anständiges Leben führen. Wenn ich etwas von dem Mord wüßte –«

 

»Natürlich wissen Sie nichts davon. Sie könnten nur etwas wissen, wenn Sie dabeigewesen wären«, erwiderte Collett freundlich. »Aber ich möchte wissen: Warum haben Sie gestern zwölf Minuten mit Lord Arranways telefoniert? Was wollte er von Ihnen?«

 

»Am Telefon?« erkundigte sich Charles vorsichtig. »Ich habe nicht viel gesagt. Der Lord fragte, wo Mr. Mayford wäre, und bat mich, ihn an den Apparat zu rufen.«

 

»Sonst nichts?«

 

»Ich würde vor Gericht beschwören –«

 

»Mir liegt nichts an Ihren Meineiden. Was haben Sie sonst noch gesprochen?«

 

Charles schwieg.

 

»Bitte zeigen Sie mir doch einmal, was Sie in den Taschen haben.« Der Kellner erhob sich und brummte ärgerlich: »Sie haben kein Recht –«

 

»Nun hören Sie mal gut zu, mein Lieber. Sie wissen ganz genau, daß ich Sie festnehmen und zur nächsten Polizeistation bringen kann, bis feststeht, daß Sie nichts mit dem Mord zu tun haben. Aber das will ich gar nicht. Sie sollen nur meine Fragen anständig beantworten.«

 

Charles leerte seine Taschen aus und legte schließlich zögernd zwei neue Fünfpfundnoten auf den Tisch zu den anderen Sachen.

 

»Woher haben Sie das Geld?«

 

»Ein Freund von mir –«

 

»Reden Sie doch kein Blech. Ich will keine Märchen hören. Sie haben keine Freunde, die Ihnen Geld leihen.«

 

»Lord Arranways hat es mir gegeben«, gestand Charles nach langem Schweigen.

 

»Gestern abend?«

 

Charles nickte.

 

»Wo haben Sie ihn denn gestern abend getroffen?«

 

»In seinem Zimmer. Mr. Mayford schickte mich. Ich sollte fragen, ob ich etwas helfen könnte.«

 

»Welche Auskunft wollte er denn für diese zehn Pfund haben?« fragte Collett ärgerlich über die ausweichende Art dieses undurchsichtigen Burschen. »Ich nehme an, daß Sie Lady Arranways beobachten sollten, nicht wahr?«

 

Charles rührte sich nicht.

 

»Sie haben ihm alles berichtet, was Sie gesehen haben oder was Sie glaubten gesehen zu haben. Deswegen hat es auch am Telefon so lange gedauert. Ich habe mich nämlich mal auf der Post erkundigt.«

 

Charles machte Anstalten, das Zimmer zu verlassen, aber Collett rief ihn zurück.

 

»Ich werde Sie schon zum Sprechen bringen«, brummte Collett. »Was haben Sie dem Lord gesagt?«

 

»Also, Sie sollen es hören. Ich habe ihm erzählt, daß Mylady den ganzen Nachmittag mit Keller zusammen war. Ich wußte nicht, ob es stimmte, aber das wollte er doch hören. Und einem Mann, der so wütend ist, muß man doch sagen, was er wissen will. Etwas anderes hätte er mir sowieso nicht geglaubt.«

 

»Mit anderen Worten: Sie haben gelogen«, sagte Collett streng. »Lady Arranways hat Mr. Keller am Nachmittag überhaupt nicht gesprochen.«

 

Charles sah unruhig nach rechts und links, nur nicht Collett in die Augen.

 

»Ich habe in meinem ganzen Leben keine Chance gehabt –«, begann er.

 

»Und jetzt glauben Sie, bei Lord Arranways leicht zu Geld zu kommen, indem Sie ihm Nachrichten besorgen, zuerst richtige, später falsche. – Wahrscheinlich war der Lord sehr aufgeregt, nicht wahr?«

 

»Ja, ein bißchen«, gab Charles zu.

 

Collett nickte.

 

»Sie können gehen, mein Lieber.«

 

Die Köchin brachte ihm den Tee, und er trank nachdenklich die Tasse aus.

 

Kapitel 19

 

19

 

Collett ging wieder nach draußen in den Garten. Obwohl es schon spät am Vormittag; war, machte das Haus doch einen verlassenen Eindruck. Lady Arranways hatte die Vorhänge zugezogen. Als Collett quer über den Rasen ging und zum Balkon hinaufschaute, öffnete sich eine Tür, und Anna Jeans kam heraus. Sie trug ein Kostüm, und er schloß daraus, daß sie bald abreisen wollte. Blagdon würde das natürlich nicht zulassen.

 

Sie kam herunter.

 

»Ach, es war ein schreckliches Erlebnis«, sagte sie, als sie bei ihm war. »Ist er noch …?«

 

Collett schüttelte den Kopf.

 

»Nein, man hat ihn weggebracht. – Wollen Sie in die Stadt fahren?«

 

»Hat Ihnen das jemand gesagt?« fragte sie schnell.

 

»Nein, das sehe ich an Ihrem Kostüm.« Er lächelte. »Ich würde mir diese Fahrt aber nicht gerade heute vornehmen. Inspektor Blagdon, der den Fall bearbeitet, würde Sie wahrscheinlich als Zeugin schwer vermissen.«

 

Sie schaute ihn verständnislos an.

 

»Aber ich bin doch keine Zeugin! Ich kannte Mr. Keller zwar, aber ich konnte ihn nicht ausstehen.«

 

»Das haben Sie mir schon gestern gesagt. Unter keinen Umständen würde ich das Blagdon erzählen. – Wollen Sie mir nicht anvertrauen, was Sie von Keller wissen?« fragte er. Als er sah, daß sie zögerte, fuhr er fort: »Ich habe ja nichts mit der Untersuchung dieses Falles zu tun. Ich gebe zu, daß ich Sie nur aus Neugierde frage, aber vielleicht kann ich Ihnen auch helfen.«

 

Nun erzählte sie ihm alles, was sie mit Keller erlebt hatte. Es war unangenehm für sie, aber auch erleichternd.

 

»Nun, dann sind Sie ja völlig außer Verdacht«, sagte er, als sie ihren Bericht beendet hatte.

 

Sie sah ihn bestürzt an.

 

»Hat mich denn jemand in Verdacht gehabt?«

 

»Blagdon war der Ansicht, daß da ein Zusammenhang bestehen müßte, und es könnte doch sein, daß er durch irgendein dummes Gerede noch fester davon überzeugt würde. Außerdem habe ich mit einem der Hausmädchen gesprochen. Die hat mir erzählt, daß sie gestern gehört hätte, wie Sie zu Mr. Mayford beim Abendessen sagten, Sie könnten gut verstehen, wie man dazu käme, einen Menschen umzubringen. Das Mädchen hat nebenan in der Anrichte Geschirr gespült und es durch das Schiebefenster mitangehört.«

 

Sie sah ihn entsetzt an.

 

»Blagdon weiß es noch nicht, weil er sich nie um das kümmert, was man so nebenbei erfahren kann. Er sucht immer den Kronzeugen, der zusah, wie der Mord begangen wurde und womöglich die Tat noch fotografierte. Aber es wäre doch möglich, daß dieses Mädchen plötzlich vom Ehrgeiz gepackt wird und glaubt, etwas Wichtiges aussagen zu können. – Ist in Ihren Gesprächen mit Keller übrigens jemals das Wort ›Augenbrauen‹ gefallen?«

 

Sie waren bei einer Bank angekommen und setzten sich.

 

»Wie können Sie das wissen?« fragte sie überrascht. »Sie waren doch nicht dabei? Es ist ja fast unheimlich, worüber Sie alles Bescheid wissen!«

 

»Also hat er das Wort erwähnt?«

 

»Ja. Er sagte, er interessiere sich für meine Augenbrauen. Ich glaubte, er wollte damit nur versuchen, näher an mich heranzukommen. Aber es schien ihn wirklich zu interessieren. Er sah sie genau an und lachte dann.«

 

*

 

Kurze Zeit darauf trat Collett in Mr. Blagdons Büro, um sich zu erkundigen, wie weit der Inspektor mit seinen Nachforschungen gekommen wäre. Als ob er es geahnt hätte, stand dort das Mädchen, von dem er soeben gesprochen hatte, vor dem Schreibtisch des Inspektors. Blagdon warf ihm einen triumphierenden Blick zu.

 

»Gut, daß Sie kommen! Ich wollte gerade mit Ihnen sprechen. Dies junge Mädchen hier hat mir etwas sehr Interessantes erzählt. Wissen Sie, was Miss Jeans gestern abend gesagt hat? Sie möchte am liebsten diesen Keller umbringen! Was sagen Sie dazu?«

 

»Ich glaube, alle, die ihn näher kannten, hätten ihm am liebsten das Genick umgedreht. Er war aber auch so gemein, daß ich das gut verstehen kann.«

 

Blagdon ließ das Mädchen seine Aussage unterschreiben und entließ es.

 

Blagdon gab Collett das Blatt.

 

»Lesen Sie das mal.«

 

Der Chefinspektor las es durch und gab es zurück.

 

»Die ganze Geschichte ist völlig wertlos. Das ist der völlig unbewiesene Klatsch eines kleinen Mädchens, das sich wichtig machen will.«

 

Blagdon biß sich auf die Lippe.

 

»Zu schade, daß ich nicht hier war, als die Tat begangen wurde! Ich hätte sofort die Hände und Kleider der jungen Dame genau untersucht. Zu schade.«

 

»Ja, das finde ich auch«, sagte Collett sarkastisch. »Dann hätte der Mörder Sie auch gleich umbringen können und dann hätte Scotland Yard die Untersuchung übernehmen müssen. Da Sie nun aber nicht hier waren, ich hingegen gleich nach der Tat auf den Balkon kam und dabei auch Miss Jeans sah, kann ich Ihnen sagen, daß sie offenbar erst ein paar Sekunden vorher aufgestanden war. Weder ihr Morgenrock noch ihre Hände zeigten Spuren von Blut. Und ich gehe mit Ihnen jede Wette ein, daß sie mit dem Mord nicht mehr zu tun hat als die Wetterfahne auf dem Kirchturm im Dorf. – Haben Sie übrigens schon die Untersuchungsergebnisse von Rennetts Anzug?«

 

»Ja. Sie sind eben angekommen. Das Resultat ist negativ.«

 

»Und die Sachen der anderen Leute?«

 

»Die habe ich nicht zu sehen verlangt. Ich hielt das nicht für notwendig.«

 

»Nicht einmal den Anzug des Kellners?«

 

Blagdon sah ihn betroffen an.

 

»Sie meinen doch nicht etwa Charles? Der hat doch mit der Sache nichts zu tun.«

 

Collett zog sich einen Stuhl heran.

 

»Geben Sie mir eine Zigarre«, sagte er in gespielt anmaßendem Ton.

 

Blagdon faßte widerwillig in die Tasche.

 

»Ich habe nur noch zwei.«

 

»Ich kann auch nur eine auf einmal rauchen«, entgegnete Collett und nahm sich eine. »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß Charles ein alter Verbrecher ist. Er haßte den Toten. Keller zog ihn immer damit auf, daß er schon öfter gesessen hat.«

 

Aber Blagdon war es unangenehm, auf einen Fehler hingewiesen zu werden. Er zog eine Schublade auf und nahm ein Stück Stoff aus einem Umschlag.

 

»Sehen Sie sich das einmal an.«

 

Es war ein Stück Leinen von heller Farbe. Die dunklen Flecken darauf konnten nur Blut sein.

 

»Es wurde am hinteren Ende des Gartens gefunden, direkt hinter den Rhododendronbüschen«, bemerkte Blagdon wichtig, denn er platzte fast vor Stolz über dies neue Beweismaterial. »Einer meiner Leute hat es zufällig entdeckt.«

 

Collett betrachtete es sorgfältig.

 

»Und wo ist das andere Stück, das dazu gehört? Haben Sie das noch nicht?«

 

Blagdon sah ihn verwirrt an.

 

»Ein anderes Stück?«

 

»Ja, genauso groß wie dieses …« Er schwieg einen Augenblick. »Nein, ich habe mich geirrt, es gibt sicher nur dies eine. Der Fund ist wirklich wichtig. Wahrscheinlich kommt jetzt noch mehr zutage.«

 

Er legte das Stück Stoff in den Umschlag zurück und verließ schnell das Zimmer.

 

Im Park bat er den Gärtner um eine Auskunft und fand dann mit Hilfe des Mannes die Stelle, wo das Feuer in der Mordnacht gebrannt haben mußte.

 

In der Nähe floß ein Bach vorbei. Der Chefinspektor ging darauf zu und betrachtete ihn nachdenklich. Als er gerade wieder umkehren wollte, entdeckte er ein Stück Seife im Gras, bückte sich und hob es auf. Es war eben erst benutzt worden und konnte erst seit kurzem dort liegen. Langsam ging er zur Feuerstelle zurück. Dort stellte er fest, daß er nicht mehr allein war.

 

Lady Arranways beobachtete ihn aus einiger Entfernung. Er mochte sie eigentlich recht gern, und seinem Gefühl nach hatte sie keine Schuld an dem Verbrechen.

 

»Suchen Sie noch immer?« fragte sie, als er näher kam. »Eine dumme Frage, nicht wahr? Vermutlich haben Sie noch nichts von meinem Mann gehört?«

 

»Nein, leider bis jetzt noch nichts.«

 

»Was haben Sie denn da?« erkundigte sie sich mit einem Blick auf das in ein Taschentuch gewickelte Stück Seife.

 

»Ich nehme immer Seife mit, wenn ich aufs Land fahre«, antwortete er lächelnd. »Man kann nie wissen, ob man welche vorfindet.«

 

»Ist sonst noch nichts Neues bei den Nachforschungen herausgekommen?«

 

Ihr übernächtigtes Gesicht verriet ihm, daß sie nicht geschlafen hatte. Etwas weiter entfernt stand eine Bank. Er schlug vor, daß sie sich dort hinsetzten. Eine Weile unterhielten sie sich über die Ereignisse des vergangenen Abends, ohne aber ihren Mann zu erwähnen.

 

»Glauben Sie eigentlich an die Existenz des ›Alten‹?« fragte Collett.

 

Zu seiner Überraschung antwortete sie nicht gleich.

 

»Ich weiß nicht recht … So viele Leute haben ihn gesehen. Sie wissen doch, daß er auch bei uns im Schloß eingebrochen ist? Er wäre tot, wenn ich meinem Mann nicht in den Arm gefallen wäre, als er auf ihn schießen wollte.«

 

Collett schnitt ein anderes Thema an: »Ich muß jetzt eine unangenehme Frage an Sie stellen, Lady Arranways. Bitte glauben Sie nicht, daß ich Sie aushorchen will und nachher mit meinen Kenntnissen hausieren gehe. Vielleicht können Sie mir eine Antwort geben: War Keith Keller Ihr Geliebter?«

 

Zu seinem Erstaunen nickte sie, sah ihn aber nicht an.

 

»Ihr Mann wurde eifersüchtig, als er einmal den Verdacht hatte, nicht wahr? – Wußten Sie eigentlich, wer Keller in Wirklichkeit war?«

 

Sie nickte wieder.

 

»Es muß schrecklich für Sie gewesen sein, als Sie das erfuhren. – Er hat versucht, Sie zu erpressen. Ich habe den Brief gesehen.«

 

»Ich habe ihm nicht geschrieben, jedenfalls nichts Derartiges.«

 

»Ich wußte, daß Sie ihm geschrieben haben, aber derjenige, der den Brief abgefaßt hatte, wußte, daß Keller Geld von Ihnen wollte. War es viel?«

 

Sie nannte die Summe, und Collett nickte.

 

»Verzeihen Sie mir bitte, aber ich muß Sie noch etwas fragen: Waren Sie in Kellers Zimmer in der Nacht, als das Feuer ausbrach?«

 

Diesmal sah sie ihn ernst an, ehe sie antwortete.

 

»Ja.«

 

»Und Lorney wußte es? Er hat Sie und Keller gerettet?«

 

Sie nickte.

 

»Und er hat nichts verraten? So viel Anständigkeit hätte ich ihm doch nicht zugetraut.«

 

»Ich weiß auch nicht, warum er es getan hat. Er sagte, es wäre aus Dankbarkeit, weil ich ihm einmal das Leben gerettet hätte, aber ich kann mir gar nicht vorstellen, wann das gewesen sein soll.«

 

Collett sprang plötzlich auf.

 

»Natürlich! Das ist das fehlende Glied in der Kette!«