Kapitel 17

 

17

 

Terry Weston hatte Inspektor Tetley bei sich, als er zur Totenschau für Sir George Gilsant fuhr. Auf Sonderbefehl wurde sie nicht in Hertford, sondern in London abgehalten.

 

»Das Leben ist eine verdammte Aufeinanderfolge solcher Verhandlungen über Mord und Leichen«, meinte Tetley, zwirbelte seinen Schnurrbart und sah seinen Vorgesetzten erwartungsvoll an.

 

»Wenn Sie wirklich mal einen Witz machen, lache ich auch«, entgegnete Terry übelgelaunt. »Im Augenblick ist es nicht so leicht, mich aufzuheitern.«

 

»Sie nehmen alles viel zu ernst! Dadurch können Sie aber solche Verbrechen auch nicht verhindern. In derartigen Fällen darf man vor allem nicht den Kopf verlieren. Wenn Sir George unserm Rat gefolgt wäre –«

 

»Unter ›uns‹ verstehen Sie wohl den früheren Polizeipräsidenten und sich selbst?«

 

Tetley nickte. »Wir hatten ihm geraten, London im Auto zu verlassen …«

 

»Hat Ihnen denn der Alte den Namen genannt?«

 

»Ja – ich war der einzige, dem er ihn anvertraut hat.«

 

Terry sagte nichts darauf, aber innerlich verwünschte er seinen früheren Chef.

 

Tetley hatte recht, wenn er sagte, daß sie jetzt dauernd solche Verhandlungen vor sich hätten. Die Totenschau für Salaman und die erschossenen Polizisten war verschoben worden. Und auch diesmal zeigte der Vorsitzende keine Lust, sich mit Einzelheiten zu befassen. Nachdem er festgestellt hatte, wer der Tote war, vertagte er den Fall auf zwei Wochen.

 

Terry blieb zurück, um mit ihm Vereinbarungen wegen des nächsten Termins zu treffen. Als er dann das Gebäude verließ, sah er draußen, daß Tetley sehr ernst mit einem Mann sprach, den er, Terry, nicht kannte. Der Fremde hatte aschblonde Haare, ein längliches Gesicht und ein wuchtiges Kinn; seine Erscheinung prägte sich Terry unwillkürlich ein. Wahrend die beiden sich unterhielten, ging ein dritter vorüber und wechselte ein paar Worte mit ihnen. Er hatte eine untersetzte, rundliche Gestalt, trug eine Hornbrille und war sehr elegant gekleidet. Die beiden gingen dann zusammen fort, während Tetley zum Gerichtsgebäude zurückschlenderte.

 

Er war offensichtlich beunruhigt, als er sah, daß Terry ihn beobachtete. »Hallo, Chef, die beiden wollten den nächsten Weg nach Highgate wissen! Und da sie Ausländer zu sein schienen, habe ich sie nach ihren Namen gefragt.«

 

»Ich habe nicht darauf geachtet«, erwiderte Terry und bemerkte, daß Tetley erleichtert aufatmete. »Fahren Sie jetzt bitte zum Scotland Yard! Ich möchte Sie heute abend noch sprechen.«

 

»Ich dachte, wir könnten die Angelegenheit gleich bereden?«

 

»Tun Sie, was ich Ihnen sage!« entgegnete Terry barsch.

 

Kurz vor fünf kam er im Polizeipräsidium an. Er war sehr müde; aber er hatte sich vorgenommen, noch Leslie Ranger aufzusuchen. Er wußte, daß sie an diesem Tag ihre Wohnung wechselte, hatte jedoch ihre neue Adresse noch nicht erfahren.

 

Jiggs Allerman trat ein und sah so frisch und munter aus, als ob er eben aufgestanden wäre.

 

»Das Bild von Bomben-Pouliski ist herübergefunkt worden. Merkwürdig eigentlich, daß ich mich nicht mehr auf sein Gesicht besinnen kann, obwohl ich ihn damals selber verhaftet habe. Dauernd verwechsle ich ihn mit einem anderen.«

 

Kurze Zeit später kam ein Bote mit einem Abzug, der noch ein wenig feucht war.

 

»Ja, das ist der Junge!« rief Jiggs. »Das ist Bomben-Pouliski!«

 

Er reichte das Foto über den Tisch. Terry hielt vor Staunen den Atem an, denn das Bild zeigte den Mann, der am Nachmittag vor dem Gerichtsgebäude mit Tetley gesprochen hatte …

 

Kapitel 18

 

18

 

Es gibt in Scotland Yard eine besondere Abteilung, über die nicht gesprochen wird. Ihre Beamten haben häufig sehr unangenehme Pflichten zu erfüllen. Man könnte schon allein die Tatsache ihres Bestehens als einen Vorwurf gegen die beste Polizeitruppe der Welt betrachten.

 

Der Leiter dieser Abteilung wurde in das Büro von Direktor Wembury befohlen.

 

»Stellen Sie bitte Inspektor Tetley unter schärfste Beobachtung!« ordnete er an. »Sie dürfen ihn weder Tag noch Nacht aus dem Auge lassen! Sein Büro und seine Wohnung müssen durchsucht werden, ohne daß er davon erfährt. Es ist auch möglich, daß er ohne besonderen Befehl verhaftet werden muß, nur auf persönliche Anweisung von mir oder Chef Inspektor Weston oder Captain Allerman.«

 

Der Beamte hatte schon zuviel erstaunliche Dinge gehört, um in diesem Falle überrascht zu sein. »Ich werde mich persönlich um die Angelegenheit kümmern.« –

 

Zwanzig besonders ausgewählte Detektive kamen in Westons Büro und besahen sich Bomben-Pouliskis Bild, um sich dann wieder zu entfernen.

 

Kurz vor Mitternacht ereignete sich in einem der vornehmen Nachtklubs ein merkwürdiger Zwischenfall. Ein vergnügter Herr kam, von einer sehr schönen Dame begleitet, in das Lokal und fragte nach einem Tisch. Er hatte ein rundes Gesicht, trug eine Brille und sprach mit sanftem, südlichem Akzent.

 

Fünf Minuten später setzte sich ein anderer, der, gegen jede Vorschrift des Klubs, nicht im Abendanzug war, dem Fremden gegenüber. »Ich möchte draußen mit Ihnen sprechen«, erklärte er. »Falls Sie die Hand in die Tasche stecken, schieße ich Sie über den Haufen! Verstanden?«

 

»Wer sind Sie denn? Von Scotland Yard? Gut – ich werde Sie begleiten!« Der Herr erhob sich und sagte einige beruhigende Worte zu seiner Begleiterin. In der Halle fragte er nach seinem Mantel.

 

»Es ist ein warmer Abend – Sie brauchen ihn nicht!« sagte der Detektiv.

 

Pouliski bemerkte jetzt, daß etliche entschlossen dreinschauende Leute im Vestibül standen …

 

Ein Telefonanruf aus dem Präsidium erreichte Jiggs, aber er war nicht sehr begeistert darüber. »Gut – ich werde zugegen sein, wenn Sie ihn verhören!«

 

Als Pouliski in Terry Westons Büro trat, sah er Jiggs Allerman, blieb einen Augenblick stehen, riß sich dann aber zusammen und ging zwei Schritte weiter.

 

»Darf ich Ihnen einen Stuhl anbieten?« fragte Jiggs. »Wie geht es Ihnen denn? Wir haben uns ja lange nicht gesehen!«

 

Pouliski betrachtete kritisch den Stuhl, befühlte ihn und ließ sich dann nieder. »Mein Name ist George Adlon Green«, erklärte er würdevoll. »Sie werden das in meinem Paß bestätigt finden. Es muß irgendein Irrtum vorliegen …«

 

»Ganz bestimmt!« erwiderte Jiggs. »Sie sind also George Adlon Green, Graf von Terrytown, Marquis von Michigan und König aller Verbrecher?«

 

Pouliski starrte den Captain frech an und wandte sich dann an Wembury. »Was will dieser Herr?«

 

»Sie haben drei Narben unter der rechten Schulter«, erinnerte Jiggs. »Ich fürchte, die haben Sie nicht wegmassieren können?« Er sah, daß Wembury die Stirn runzelte, und schwieg während des weiteren Verhörs.

 

Zunächst wurde der Paß des Mr. Green untersucht und in Ordnung befunden. Es war bezeichnend, daß er ihn in der Brusttasche seines Smokings trug. Feuerwaffen hatte er nicht bei sich, und auch bei der Befragung machte er keine Fehler.

 

Ja, er erinnerte sich, daß er vor dem Gerichtsgebäude mit jemand gesprochen hatte, er habe nach dem Weg nach Highgate gefragt. Er behauptete, in London niemand zu kennen, und gab an, mit seiner Schwägerin auf einer Erholungsreise zu sein und eine Wohnung in Bloomsbury gemietet zu haben.

 

Der Bahnbeamte, der der älteren Dame in ihr Abteil geholfen hatte, und der Schlafwagenschaffner des Schottland-Expreß warteten im Vorzimmer und wurden hereingerufen. Aber es kam nichts Rechtes dabei heraus. Der Schaffner schien seiner Sache beinahe sicher, aber einen Eid konnte er nicht darauf leisten.

 

Nachdem Pouliski einstweilen abgeführt worden war, hielten die Kriminalisten eine kurze Besprechung ab.

 

»Wir haben kaum genügend Beweismaterial gegen ihn, um ihn festzuhalten«, erklärte Wembury. »Selbst eine etwaige Paßfälschung wäre eine Angelegenheit der amerikanischen Behörden, nicht der unsrigen.«

 

Jiggs sah ihn düster an. »Mr. Wembury, dort drüben sitzt der Mörder von Sir George Gilsant!« sagte er langsam, als ob er jedes Wort abwägen müßte. »Ob sich sein Komplice an der Schießerei beteiligte, ist eine Sache für sich. Pouliski jedenfalls ist ein Mörder und ein Bombenspezialist. Was fangen Sie mit ihm an? Wollen Sie ihn des Landes verweisen?«

 

Wembury schüttelte den Kopf. »Wir können die Wahrheit nicht aus ihm herauspressen. Uns sind die Hände gebunden.«

 

Jiggs dachte nach. »Gut – dann lassen Sie ihn gehen! Aber ich werde ihn nach Hause begleiten … Denn ich dulde auf keinen Fall, daß ein kaltblütiger Mörder ungeschoren Scotland Yard verläßt und sich obendrein ins Fäustchen lacht!«

 

Pouliski wurde wieder hereingebracht.

 

»Wir werden Sie nicht hierbehalten, Mr. Green. Captain Allerman bringt Sie nach Hause.«

 

Der Gefangene wurde bleich. »Ich brauche keine Begleitung!« widersprach er heftig. »Ich traue diesem Menschen nicht!«

 

»Sie werden hübsch brav mit mir kommen, Liebling!« entgegnete Jiggs und nahm ihn am Arm. Terry Westons Wagen wartete in der Nähe des Eingangs. »Können Sie chauffieren, mein Junge?«

 

»Nein!« sagte Green unnötig laut.

 

»Versuchen Sie’s getrost einmal! Sie konnten früher doch ganz gut Auto fahren? Ich setze mich hinter Sie und erzähle Ihnen, wohin Sie fahren sollen.«

 

Terry war den beiden nach unten gefolgt und sah dem Wagen nach, der sich nicht westwärts, sondern in Richtung der City entfernte.

 

Ein zweiter Wagen fuhr in gewisser Entfernung hinterher, und zwar über Whitechapel und Commercial Road bis hinaus nach Epping. Dort hielt das erste Auto eine Stunde lang, und das zweite blieb inzwischen in derselben respektvollen Entfernung.

 

Kurz vor drei Uhr morgens kehrte Jiggs wieder nach London zurück. Er saß nun selber am Steuer, Pouliski auf einem der hinteren Sitze. Vor dem Präsidium ließ Jiggs seinen Begleiter aussteigen und brachte ihn zu Wembury, der noch anwesend war.

 

»Ich glaube, wir lassen den Mann frei«, erklärte Allerman. »Es scheint, daß ich mich geirrt habe.«

 

Terry trat in dem Augenblick ein und blieb erstaunt stehen.

 

»Na schön!« entschied Wembury. »Soll er gehen!«

 

Jiggs begleitete Pouliski auf die Straße und besorgte ein Auto für ihn.

 

Drei Beobachter sahen es … Einer ging zu einer Fernsprechzelle und nannte eine Nummer. »Pouliski hat sich mit der Polizei verständigt«, meldete er. – Kurzes Schweigen auf der Gegenseite. Dann: »Gut! Besorgt es ihm!« –

 

»Zum Teufel, was hat das zu bedeuten?« fragte Wembury, als Jiggs wieder nach oben kam.

 

»Der Kerl ist tatsächlich der Mörder! Ich weiß nicht, wer ihn auf der Fahrt nach Schottland begleitet hat; wahrscheinlich weiß er das selber nicht. Aber er hat nicht nur Gilsant umgebracht, sondern auch die Bombe in mein Hotelzimmer praktiziert …«

 

»Und Sie ließen ihn laufen …?«

 

»Ich habe ihn nicht laufen lassen – ich habe ihm das Todesurteil gesprochen! Den ganzen Weg bis nach Epping hin und zurück bin ich von einem Wagen verfolgt worden, und daraus ziehe ich meine Schlüsse.« –

 

Jiggs behielt recht. Ein Polizist, der auf seinem Patrouillengang durch den Saint-James-Park kam, fand in den frühen Morgenstunden einen Mann, dessen Füße aus dem Gebüsch hervorschauten. Es stellte sich heraus, daß der Mann aus allernächster Nähe erschossen worden war. Nach seinem Paß konnte man ihn als einen Mr. Green identifizieren …

 

Kapitel 19

 

19

 

Leslie Ranger hatte zu verhältnismäßig geringem Preis eine kleine Wohnung mit Telefon im vierten Stock eines neuerrichteten Häuserblocks gemietet und konnte von ihren Fenstern aus den Cavendish Square überschauen. Die Möbel waren angekommen, aber es sah noch etwas unordentlich in den Räumen aus.

 

An dem Tag, an dem sie Tanner verließ, waren ihr auf seine Anweisung hin tausend Pfund ausgezahlt worden, die sie noch nicht angegriffen hatte. Trotz alledem war sie gezwungen, sich nach einer neuen Stellung umzusehen, und sie hatte ihre Adresse auch bereits bei einem Stellenvermittlungsbüro angegeben.

 

Als sie sich gerade eine einfache Mahlzeit bereitete, klingelte es. Als sie öffnete, sah sie eine elegante Dame vor sich.

 

»Sind Sie Miss Ranger?« fragte die Fremde. »Gestatten Sie, daß ich nähertrete?«

 

Leslie entschuldigte sich wegen des Durcheinanders, das in der Wohnung herrschte. »Kommen Sie mit in die Küche!« bat sie. »Dort sieht es noch am ordentlichsten aus.«

 

Die Dame war sehr elegant gekleidet und trug einen Pelzmantel, obgleich der Abend verhältnismäßig warm war. An ihren Fingern glänzten Diamantringe. »Darf ich mich setzen?« Sie zog einen Küchenstuhl heran und ließ, sich nieder. Ihre Strümpfe waren hauchdünn. »Sie kennen mich natürlich nicht?« Die Fremde sprach mit kalifornischem Akzent, aber das wußte Leslie nicht. »Ich bin Cora Smith; mein Mann ist Albuquerque Smith. Man nennt ihn so, weil er aus Albuquerque stammt. Ich bin weiter westlich daheim – in Los Angeles. Sie haben sicher schon von der berühmten Filmstadt gehört?« Leslie nickte.

 

»Mein Mann ist auf einer Erholungsreise hier«, fuhr Mrs. Smith fort, »und hat leider seine Sekretärin verloren. Sie ist nämlich nach Bombay gefahren, um sich dort zu verheiraten. Nun hab‘ ich von Ihnen gehört und gedacht, Sie könnten uns wegen dieser Angelegenheit vielleicht mal besuchen.« Sie sagte das alles ohne Pause. Ihre Stimme klang monoton und nicht gerade angenehm.

 

»Sehr liebenswürdig von Ihnen, Mrs. Smith! Ich suche tatsächlich einen Posten als Sekretärin.«

 

»Sie haben für Mr. Tanner gearbeitet? Wir kennen ihn. Er ist wirklich sehr nett – in jeder Beziehung ein Gentleman! Als ich erfuhr, daß Sie von ihm weggingen, hab ich’s Kerky erzählt, und er meinte, ich solle mich gleich mit Ihnen in Verbindung setzen.«

 

»Es wird mir ein Vergnügen sein, Sie morgen aufzusuchen und mit Mr. Smith zu sprechen!«

 

Die Dame nahm eine Visitenkarte aus einem Platinetui und reichte sie Leslie. Dann verließ sie die Wohnung. Der Duft eines feinen Parfüms blieb in dem Raum zurück.

 

Leslie sah auf die Karte. Es stand nur darauf: »Mrs. A. Smith, geb. Schumacher.« Die Adresse war mit Bleistift danebengekritzelt, und es dauerte ein Weilchen, bis sie den Namen des Hotels entziffert hatte, das als eines der teuersten und vornehmsten in London galt. Allem Anschein nach mußte dieser Albuquerque Smith ein reicher Mann sein.

 

Leslie hatte kaum das Licht ausgedreht, als es noch einmal klingelte. Es war beinahe Mitternacht. Sie warf ihren Morgenrock über und ging zur Tür.

 

»Wer ist da?« fragte sie vorsichtig.

 

»Kann ich Sie einen Augenblick sprechen? Es ist sehr wichtig!« Tanners Stimme!

 

»Ich bin ganz allein in der Wohnung, Mr. Tanner. Es tut mir leid, daß ich Sie nicht hereinbitten kann.«

 

»Aber es ist wirklich äußerst dringend!«

 

Zögernd schob sie den Riegel zurück und öffnete.

 

Edwin Tanner trug elegante Abendkleidung, zeigte aber nicht sein gewöhntes selbstsicheres Wesen, sondern schien ziemlich aufgeregt. »Ich werde hier bleiben«, sagte er und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür. »War heute eine Dame bei Ihnen, die sich Mrs. Smith nannte? Und hat sie Ihnen etwa angeboten, als Sekretärin für ihren Mann zu arbeiten?«

 

»Ja. Und ich habe zugesagt, daß ich Mr. Smith morgen aufsuchen würde.«

 

»Weitere Fragen richtete sie nicht an Sie? Nein …? Nun, das war alles, was ich wissen wollte, Miss Ranger. Es ist mir peinlich, daß ich Sie so spät noch gestört habe. Aber ich halte es für besser, daß Sie nicht zu diesem Smith gehen; es würde Ihnen dort nicht gefallen … Hat Sally Ihnen übrigens von ihren früheren Eheabenteuern erzählt?«

 

Sie sah ihn erstaunt an.

 

»Sie nannte sich vermutlich Cora?« fuhr er fort. »Sally ist ihr richtiger Name.«

 

»Kennen Sie die Dame so gut?«

 

Er nickte und lächelte dann. »Ich glaube schon … Bis vor acht Jahren waren wir nämlich miteinander verheiratet!«

 

»Verheiratet? Aber sie ist doch fast noch ein junges Mädchen!«

 

»Achtunddreißig Jahre sind ein ziemliches Alter für ein junges Mädchen. Ich würde an Ihrer Stelle den Posten nicht annehmen, Miss Ranger. Es ist nur ein Vorwand; denn Kerky braucht keine Sekretärin. Sally war eine der besten Stenotypistinnen in Chikago, bevor sie verschiedene Gangster kennenlernte. Ach, entschuldigen Sie!« sagte er hastig. »Ich habe da eben einen Slangausdruck gebraucht … Ich wollte eigentlich sagen: bevor sie mit der Unterwelt bekannt wurde … Ja, Sie würden es niemals ahnen, Miss Ranger, aber ich habe früher mal eine halbe Million Dollar an diese Sally verschwendet. Damals war sie brünett und hoch nicht so hergerichtet. – Aber nun habe ich erfahren, was ich wissen wollte, und möchte mich jetzt verabschieden …« Er legte die Hand auf die Klinke, blieb jedoch reglos stehen.

 

Sie fühlte die Spannungen seiner Haltung, obwohl sie sein Gesicht nicht sehen konnte. »Stimmt etwas nicht?«

 

Er hob die Hand, und sie schwieg. Plötzlich wandte er sich um und zeigte nach links. Sie verstand, daß sie ins Wohnzimmer gehen sollte. Merkwürdigerweise gehorchte sie, ohne zu fragen.

 

Als sie außer Sicht, war, hörte sie das leise Geräusch, das durch das öffnen der Tür entstand, und dann vernahm sie Eddie Tanners Stimme: »Hallo, mein Junge! Was hast du denn hier zu tun?«

 

»Ach, Ed, ich wollte einen meiner Freunde besuchen, der hier im Haus wohnt … Aber stecken Sie doch den Revolver weg, Mensch!«

 

»Stell dich dort an die Wand und strecke die Hände so hoch wie du kannst!«

 

Ein langes Schweigen … Dann wieder Tanners Stimme: »Wozu hast du das mitgebracht, wenn du deinen Freund besuchen wolltest?«

 

»Aber, Ed, man kann doch in London nicht vorsichtig genug sein! Gewöhnlich trage ich nie ein Schießeisen bei mir.«

 

»Du wirst keines mehr bei dir tragen! Geh jetzt geradeswegs zum Fahrstuhl! Ich bleibe dicht hinter dir. Mein Wagen wartet hinterm Haus. Wir werden zusammen ausfahren und uns noch ein bißchen unterhalten.«

 

Leslie hörte, daß die Tür geschlossen wurde. Gleich darauf kam der Lift nach oben.

 

Die erste Nacht in der neuen Wohnung schlief Leslie fest und tief, und als sie am nächsten Vormittag aufwachte, zeigte die Uhr neben ihrem Bett zehn Minuten vor zwölf.

 

Sie glaubte es erst, nachdem sie einen Blick auf ihre Armbanduhr geworfen hatte. Dann erinnerte sie sich an die Verabredung mit Albuquerque Smith und an Eddie Tanners Warnung. Sie überlegte noch, ob sie gehen oder bleiben sollte, als sie bereits angezogen war und die erste Tasse Tee trank. –

 

Um ein Uhr sah Mr. Albuquerque Smith auf die Uhr. »Die Dame kommt nicht!«

 

Seine Frau schüttelte den Kopf. »Sollte man das annehmen, von einem solchen Mädchen? Ich glaube, die hat kein einziges elegantes Kleid …«

 

»Ich möchte nur wissen, ob sie gestern noch mit Ed gesprochen hat…«

 

Sie schaute ihn erstaunt an. »Weißt du denn das nicht? Ich dachte, du wüßtest alles, was Ed unternimmt.«

 

Er lächelte boshaft. »Einer meiner Leute beobachtete ihn, aber ich hab‘ nichts mehr von ihm gehört … Ist die Neugier Eurer Majestät nun befriedigt?«

 

Wenn er von ›Majestät‹ sprach, war es hohe Zeit, ihn nicht durch weitere Fragen zu verstimmen …

 

Leslie kam nicht, aber Kerky Smith hatte mittags einen anderen Gast. Er sah auf, als er den Schatten des Besuchers bemerkte, und hielt plötzlich im Essen inne. »Ach, da ist ja Jiggs!«

 

»Sie hatten mich gestern zum Mittagessen eingeladen, Kerky, aber ich hab‘ es beinahe vergessen. Wie geht es Ihnen, Mrs. Smith? Haben Sie heute morgen ganz London eingekauft?«

 

Kerky unterbrach sie, als sie sich über die Unzulänglichkeit der Londoner Geschäfte beschwerte.

 

»Cora, ich möchte mich ein wenig mit Captain Allerman unterhalten. Würde es dir etwas ausmachen, oben zu speisen?«

 

Er war erstaunt, daß sie sich ohne Widerrede erhob und nicht einmal böse dreinsah.

 

»Alle Leute kratzen ab«, sagte Jiggs. »Es wird nicht genug Säle in London geben, um all die vielen Verhandlungen zu führen, nachdem hier amerikanische Zustände einreißen.«

 

Kerky grinste. »Reden Sie doch nicht so schlecht von unsrer Heimat, Jiggs! Meiner Meinung nach sind das keine Amerikaner, sondern nur heruntergekommene Fremde. Ich weiß auch gar nicht, warum sie nicht wieder dahin gehen, wo sie hergekommen sind. Das sagte ich schon immer.«

 

»Das sagen die anderen auch; besonders, wenn sie nicht intelligent genug sind, die Lage zu durchschauen. Wann wollen Sie wieder nach Amerika, Kerky?«

 

»Ich?« Smith tat erstaunt und verletzt. »Warum sollte ich zurückfahren? Ich hatte vor, nach Paris zu reisen.«

 

»Wissen Sie, was hier mit Leuten geschieht, die einen Mord begehen? Die besten Rechtsanwälte können sie nicht vorm Galgen retten. Hier gibt es keine bestechlichen Richter; die kümmern sich den Teufel drum, ob ein Angeklagter ein paar Millionen Dollar hat oder nicht. Ich würde es mir doch noch zweimal überlegen, Kerky!«

 

Kerky lächelte ebenso verbindlich wie vorher.

 

»Sie wollen doch nicht unter die Verbrecher gehen, Jiggs? Das täte mir ehrlich leid …«

 

»Das ist die eine Seite der Sache«, entgegnete Allerman, in keiner Weise gekränkt. »Aber ich will Ihnen noch eine andere zeigen: Hier in London hält sich ein Mann auf, der blitzschnell sein Schießeisen zieht und feuert, ehe Sie mit den Augen zwinkern können.«

 

»Ich bin doch so dünn, Jiggs, daß mich keine Kugel treffen kann … Was wollen Sie übrigens speisen, Captain? Was Warmes, recht nett mit Gift angemacht …? Nein, ich gehe nicht nach Amerika zurück – wenigstens vorläufig noch nicht! Wenn Sie nach New York kommen, so sagen Sie unsern Freunden, ich bliebe noch hier, um mir die schöne Gegend anzusehen!«

 

Jiggs erhob sich. »Sie sind ein alter Reiseonkel, Kerky, und Sie wissen ganz genau, was es heißt, wenn das Nebelhorn auf einem Dampfer viermal tutet: ›Alle Mann von Bord!‹ Und wenn Sie das Warnungssignal noch nicht gehört haben, dann gehen Sie zu einem Ohrenspezialisten!«

 

Kapitel 11

 

11

 

Die Polizei hatte das Haus geräumt, als Leslie am nächsten Morgen zum Berkeley Square kam, und sie fühlte sich ein wenig erleichtert. Es war ihr sehr unangenehm gewesen, daß sie unter Aufsicht der Beamten hatte arbeiten müssen. Sie machte sich nun daran, alle Akten in Ordnung zu bringen.

 

Nachdem sie sich eine halbe Stunde damit beschäftigt hatte, kam Eddie zu ihr. »Nun, Sie haben wohl bis jetzt noch kein Glück gehabt?«

 

»Ich bin sicher, daß das Testament an Mr. Jerrington geschickt worden ist, wenn Sie das meinen. Haben Sie sich schon mit den Rechtsanwälten in Verbindung gesetzt?«

 

»Ja, ich war dort; aber Jerrington liegt im Krankenhaus, und gestern ist anscheinend seine ganze Privatkorrespondenz gestohlen worden. Am hellichten Tag hat ein Räuber den Bürovorsteher überfallen und ausgeplündert. Ich las es in der Zeitung.«

 

Sie sah ihn bestürzt an. »Wie unangenehm für Sie!«

 

»Ja – leider«, erwiderte er mit einem undurchdringlichen Lächeln. »In England scheinen sonderbare Zustände einzureißen. Früher wäre so etwas kaum möglich gewesen.« Er sah sich um. »Ich glaube, da kommt unser gemeinsamer Freund Weston!«

 

Eddie hatte mit seinen scharfen Ohren das Läuten der Hausglocke gehört und ging zur Tür, um Danes abzufangen, der öffnen wollte. »Wenn es Mr. Weston sein sollte, so bringen Sie ihn bitte hierher!«

 

Er wandte sich wieder an Leslie. »Er hat sich telefonisch angemeldet. Hoffentlich ist er nicht von Allermans verrückten Ideen angesteckt! Ah, guten Morgen, Inspektor!«

 

»Guten Morgen!« Terry zeigte eine etwas frostige Liebenswürdigkeit, die Leslie wenig behagte. Er reichte ihr die Hand zum Gruß – eine Formalität, die er Eddie Tanner gegenüber vergaß.

 

»Wir sprachen gerade über den Diebstahl der Privatbriefe Mr. Jerringtons«, erklärte Eddie.

 

»Darüber wollte ich auch mit Ihnen reden!« Terry sah ihn scharf an. »Ein ungewöhnlicher Vorfall – besonders unter den gegenwärtigen Umständen …«

 

Eddie fuhr sich mit der Hand übers Haar und runzelte die Stirn. »Ich kenne nicht alle näheren Umstände, aber es war, in der Tat, ein sehr unglücklicher Zufall …«

 

»Sie haben doch am Nachmittag noch das Büro der Rechtsanwälte aufgesucht?«

 

Tanner nickte. »Selbstverständlich. Jerrington ist ja mein Rechtsbeistand – oder war wenigstens der meines Onkels. Es sind viele Dinge aufzuklären. Vor allem war mein Onkel stark an einem Ölfeld in einer gewissen Stadt Tacan interessiert. Soviel ich weiß, liegt sie in Oklahoma.« Er sah zu Leslie hinüber. »Haben Sie vielleicht etwas davon gehört?«

 

»Nein, ich habe von Mr. Decadons Kapitalanlagen nur wenig erfahren.«

 

»Ich möchte gern wissen, ob dieses Tacan wirklich existiert …« Diese Angelegenheit schien Tanner mehr zu beschäftigen als Jerringtons gestohlene Privatbriefe.

 

»Das ist im Augenblick wohl nicht so wichtig«, brummte Terry. Dann sah er plötzlich das wahre Gesicht Eddie Tanners, der ihn mit eisigen Blicken anstarrte. Es lag weder Ärger noch Vorwurf darin, aber noch nie hatte er eine so tödliche Kälte in den Augen eines Mannes gesehen.

 

»Für mich ist die Sache wichtig!« erklärte Eddie kühl.

 

Leslie fühlte die unausgesprochene Feindschaft zwischen den beiden und suchte zu vermitteln. »Ich kann Ihnen leicht sagen, wo Tacan liegt, Mr. Tanner. Wir haben ein gutes Lexikon.« Sie ging in die Bibliothek und nahm ein großes Buch vom. Regal. Als sie es öffnete, fiel ein Schriftstück auf den Boden. Sie bückte sich, nahm es auf, stieß einen kleinen Schrei aus und eilte ins Büro zurück. »Sehen Sie her!« rief sie. »Das Testament!«

 

Terry riß es ihr erregt aus der Hand.

 

»Geben Sie her. Wo haben Sie es gefunden?«

 

»In dem Lexikon, das ich aufschlagen wollte!«

 

Terry las schnell das Dokument durch, das nur aus wenigen Zeilen bestand.

 

 

Ich, Elija Decadon, erkläre bei klarem Verstand, daß dies mein letzter Wille und mein Testament ist. Ich überlasse all mein Besitztum nach meinem Tode ohne Einschränkung Edwin Charles Tanner, dem Sohn meiner Schwester Elisabeth, geb. Decadon, und ich hoffe, daß er das Vermögen gut verwalten und anwenden möge – besser, als ich fürchte.

 

 

Das Blatt war in Decadons charakteristischer Handschrift unterschrieben. Darunter standen die Namen und Adressen der drei Zeugen. Leslies Name war ausgestrichen; der Alte hatte die Anfangsbuchstaben seines Namens danebengesetzt. »Seltsam, daß Miss Ranger gerade in diesem Augenblick das Lexikon aufschlagen mußte!« sagte Terry langsam. »Ich nehme an, daß Sie das Testament Ihren Anwälten schicken wollen, damit es nicht verlorengeht?« Er überreichte Eddie das Dokument. »Ich gratuliere Ihnen, Mr. Tanner! Es war also überhaupt nicht notwendig, dieses Papier, zu vernichten. Es muß eine große Überraschung für Sie gewesen sein.«

 

Eddie erwiderte nichts darauf.

 

Danes aber, der ihn aus dem Zimmer kommen sah, nahm an, daß sich sein neuer Herr über irgend etwas amüsiere …

 

Kapitel 1

 

1

 

Eine hübsche junge Dame stieg die Stufen zur Haustür von Berkeley Square Nr. 147 hinauf und klingelte energisch. Ihre ungewöhnliche Größe fiel nicht auf, weil ihre Figur durchaus gut proportioniert war. Ihr Gesicht war hübsch, wenn auch nicht im gewöhnlichen Sinne. Alles an ihr verriet eine Persönlichkeit, die weit über dem Durchschnitt stand.

 

Die Haustür öffnete sich, und ein Diener sah die Dame fragend an.

 

»Kommen Sie wegen der Stellung …?«

 

»Ist der Posten bereits vergeben?«

 

»O nein! Wollen Sie nicht nähertreten?«

 

Er führte sie in ein großes, kühles Zimmer, das sie an den Warteraum eines Arztes erinnerte. Nach fünf Minuten erschien er wieder. »Kommen Sie bitte mit.«

 

Diesmal brachte er sie in die Bibliothek. An den Wänden standen Schränke und Regale, und auf dem Tisch lag eine Menge neuer Bücher.

 

An dem großen Schreibpult saß ein hagerer Herr, der das junge Mädchen über seine Brille hinweg betrachtete.

 

»Nehmen Sie Platz! Wie heißen Sie?«

 

»Leslie Ranger.«

 

»Sie sind wohl die Tochter eines pensionierten Offiziers oder sonst eines vornehmen Herrn?«

 

»Nein. Mein Vater war kaufmännischer Angestellter und arbeitete sich zu Tode, um seine Familie anständig durchzubringen«, erwiderte sie und bemerkte, daß seine Augen aufleuchteten.

 

»Haben Sie Ihre letzte Stellung aufgegeben, weil Ihnen die Arbeitszeit zu lang war?« fragte er barsch.

 

»Ich habe sie aufgegeben, weil der Chef zudringlich wurde …«

 

»Großartig!« erwiderte er ironisch. »Wie ich aus Ihren Zeugnissen sehe, stenographieren Sie unglaublich schnell; und die Handelskammer bestätigt hier, daß Sie vorzüglich maschineschreiben können. Dort steht eine!« Er deutete mit seinem dürren Finger darauf. »Setzen Sie sich und schreiben Sie nach meinem Diktat! Papier liegt auf dem Tisch, Sie brauchen sich nicht vor mir zu fürchten – und nervös brauchen Sie auch nicht zu sein!«

 

Sie spannte ein Blatt in die Maschine und wartete. Gleich darauf begann er außergewöhnlich rasch zu diktieren. Die Tasten klapperten unter ihren flinken Fingern.

 

»Sie sprechen zu schnell für mich«, sagte sie schließlich.

 

»Das weiß ich. Kommen Sie wieder hierher!« Er zeigte auf den Stuhl, der dem Schreibtisch gegenüberstand. »Welches Gehalt beanspruchen Sie?«

 

»Fünf Pfund die Woche.«

 

»Ich habe bisher nie mehr als drei gezahlt. Ich werde Ihnen vier geben.«

 

Sie erhob sich und griff nach ihrer Handtasche. »Es tut mir leid.«

 

»Also gut: fünf Pfund! Welche fremden Sprachen beherrschen Sie?«

 

»Ich spreche fließend Französisch, und ich kann Deutsch lesen.«

 

Er schob die Unterlippe vor, was sein Gesicht noch abstoßender machte. »Fünf Pfund sind eine Menge Geld …«

 

»Französisch und Deutsch sind eine Menge Sprachen!« entgegnete Leslie.

 

»Wollen Sie sonst noch etwas wissen?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Nichts über Ihre Pflichten und über die Arbeitszeit?«

 

»Nein. Ich nehme als selbstverständlich an, daß ich nicht hier im Haus wohne.«

 

»Sie wollen also nicht einmal wissen, wie lange Sie zu tun haben? Sie enttäuschen mich nicht. Hätten Sie nämlich danach gefragt, so hätte ich Sie sofort zum Teufel gejagt. Also: Sie sind engagiert! Hier ist Ihr Arbeitszimmer!«

 

Mr. Elijah Decadon erhob sich, ging zu einer Nische des großen Raums und öffnete eine zurückliegende Tür, die in ein kleines Büro führte. Es war vorzüglich ausgestattet. Ein großer Schreibtisch stand darin, eine Schreibmaschine und in einer Ecke ein großer Safe.

 

»Morgen früh um zehn treten Sie Ihre Stellung bei mir an! Vor allem haben Sie die Aufgabe, niemand, wer es auch sein möge, telefonisch mit mir zu verbinden. Sie müssen die Leute selbst abfertigen. Ich will nicht durch unnötige Fragen gestört werden. Ferner haben Sie meine Briefe zur Post zu befördern. Und dann noch eins: Sie dürfen meinem Neffen nichts von meinen Geschäften erzählen!« Mit einer Handbewegung zur Tür entließ er sie.

 

Sie folgte der Aufforderung und hatte die Türklinke schon halb heruntergedrückt, als er sie zurückrief:

 

»Haben Sie einen Freund, einen Verlobten oder so etwas Ähnliches?«

 

Sie schüttelte den Kopf. »Halten Sie das für notwendig?«

 

»Nein – im Gegenteil!« erwiderte er nachdrücklich.

 

 

Am nächsten Morgen traf sie Mr. Edwin Tanner, den Neffen ihres Chefs, vor dem dieser sie gewarnt hatte. Er machte einen ruhigen, sympathischen Eindruck und hatte angenehme Umgangsformen. Sein Gesicht war glattrasiert; er lächelte gern und trug eine Goldbrille. Leslie schätzte ihn auf fünfunddreißig Jahre.

 

Kurz nach ihrer Ankunft trat er in ihr Privatbüro und strahlte sie freundlich an. »Ich möchte mich Ihnen vorstellen, Miss Ranger. Ich bin Edwin Tanner, Mr. Decadons Neffe.«

 

Sie war etwas verwundert über den amerikanischen Akzent, mit dem er sprach. Er schien ihr Erstaunen als selbstverständlich vorauszusetzen: »Ja, ich bin Amerikaner. Meine Mutter war Elijah Decadons Schwester. Ich vermute, daß er Ihnen verboten hat, mit mir über seine Geschäfte zu sprechen. Das tut er gewöhnlich. Aber da es hier nichts gibt, was nicht alle Leute wüßten, brauchen Sie diese Bemerkung nicht sehr ernst zu nehmen! Ich glaube nicht, daß Sie mich brauchen. Aber falls es doch einmal nötig werden sollte: Ich bewohne das kleine Appartement im oberen Geschoß, und es gehört zu Ihren Pflichten, an jedem Sonnabendmorgen für meinen Onkel die Miete bei mir einzukassieren. Ich wohne sehr nett, aber ich muß feststellen, daß Mr. Decadon durchaus kein Menschenfreund ist. Auf der anderen Seite hat er allerdings auch viele angenehme Charakterzüge.«

 

Auch Leslie konnte das in den nächsten Monaten feststellen. Seinen Neffen erwähnte Decadon äußerst selten, und nur einmal hatte sie die beiden zusammen gesehen. Sie wunderte sich, warum Tanner überhaupt im Hause seines Onkels wohnte. Allem Anschein nach hatte er ein eigenes großes Privateinkommen und hätte sich eine Reihe von Zimmern in einem guten Londoner Hotel leisten können.

 

Decadon drückte auch selbst einmal seine Verwunderung darüber aus, aber er war sparsam, um nicht zu sagen geizig, und deshalb kündigte er dem Neffen nicht, obwohl er keinerlei Zuneigung für ihn zu fühlen schien. Er war argwöhnisch Edwin Tanner gegenüber, der offenbar jedes Jahr zweimal England besuchte und dann bei ihm wohnte.

 

»Er ist der einzige Verwandte, den ich habe«, brummte der Alte eines Tages. »Wenn er ein bißchen Verstand hätte, würde er sich von mir fernhalten.«

 

»Er scheint doch einen sehr verträglichen Charakter zu haben?« entgegnete Leslie.

 

»Wie können Sie das sagen, wenn er mich die ganze Zeit ärgert?« fuhr er sie an.

 

Elijah Decadon hatte seine Sekretärin vom ersten Augenblick an gern gehabt. Edwin Tanner verhielt sich ihr gegenüber objektiv. Er blieb stets gleichmäßig freundlich und zuvorkommend. Trotzdem hatte sie den Eindruck, daß ihr eine Seite seines Wesens vollkommen verhüllt blieb. Der alte Decadon bezeichnete ihn einmal als einen leichtsinnigen Spieler und Spekulanten, ließ sich aber nicht näher darüber aus. Es war merkwürdig, daß er das sagte; denn er selbst hatte sein großes Vermögen durch Spekulationen erworben, die alle mehr oder weniger gewagt, ja leichtsinnig gewesen waren.

 

Der ganze Haushalt hatte etwas Ungewöhnliches, und Leslie war dankbar, daß sie behaglich in einer eigenen Wohnung leben konnte. Decadon hatte unerwartet ihr an und für sich schon hohes Gehalt nach einer Woche verdoppelt.

 

Sie machte einige seltsame Erfahrungen. Decadon war etwas unachtsam und verlegte oder verlor häufig Gegenstände. Manchmal waren es kostbare Bücher, manchmal Wertpapiere oder Verträge. In solchen Fällen benachrichtigte er sofort die Polizei. Und stets fanden sich die Gegenstände wieder, bevor die Beamten erschienen.

 

Als Leslie das zum erstenmal miterlebte, erschrak sie sehr. Ein seltenes unheimlich wertvolles Manuskript war verschwunden. Während sie eifrig in allen Schubladen suchte, telefonierte Decadon schon mit Scotland Yard. Kurz darauf kam der noch sehr junge, hübsche Chefinspektor Terry Weston. Wie gewöhnlich, hatte sich das verlorene Manuskript inzwischen in dem großen Safe in Leslies Büro gefunden.

 

»Mr. Decadon«, bemerkte Terry freundlich. »Diese Marotte von Ihnen kostet den Staat eine Menge Geld!«

 

»Wozu haben wir denn überhaupt eine Polizei?« fragte der alte Mann brummig.

 

»Jedenfalls nicht dazu, um vergeßlichen Leuten verlorene Dinge suchen zu helfen.«

 

Decadon räusperte sich ärgerlich und ging in sein Wohnzimmer, wo er den Rest des Tages in einer recht unfreundlichen Stimmung zubrachte.

 

»Ihnen kommt das alles sicher komisch vor, Miss?«

 

»Ja, Mister –«

 

»Chefinspektor Weston – Terry Weston. Ich wage nicht vorzuschlagen, daß Sie mich ›Terry‹ nennen.«

 

Sie lächelte, sein ungezwungen heiteres Wesen wirkte ansteckend. Niemals hätte sie sich einen Polizeibeamten so menschlich und freundlich vorgestellt.

 

Auch er interessierte sich von Anfang an lebhaft für sie und traf sie natürlich wieder. Sie nahm ihr Mittagessen gewöhnlich in einem kleinen Restaurant in der Bond Street ein. Eines Tages erschien er in diesem Lokal und nahm ihr gegenüber Platz. Die Begegnung war nicht zufällig, wenigstens nicht von seiner Seite aus. Im Gegenteil, er hatte alles sehr genau ausgekundschaftet.

 

Ein andermal sah er sie, als sie auf dem Heimweg war. Aber er war klug genug, sie niemals ins Theater einzuladen oder ihr zu zeigen, wie sehr er sich für sie interessierte. Er wußte, daß sie sich dann sofort zurückziehen würde.

 

»Warum arbeiten Sie eigentlich für den alten Griesgram?« fragte er einmal.

 

»Er ist doch kein Griesgram!« verteidigte sie Mr. Decadon, aber ihre Worte klangen nicht besonders überzeugt, besonders, da sie sich an diesem Tag mehr als einmal über ihren Chef geärgert hatte.

 

»Ist Edwin Tanner ein netter Kerl?«

 

Sie warf ihm einen schnellen Blick zu. »Warum stellen Sie dieses Verhör an?«

 

»Ach, habe ich das getan? Das tut mir leid. Mein Beruf bringt das mit sich. Ich interessiere mich nicht besonders für Mr. Tanner.«

 

Leslie hatte im allgemeinen eigentlich wenig zu tun: es waren nur ein paar Briefe zu schreiben, ein paar Bücher zu lesen und über den Inhalt zu berichten. Der alte Decadon war ein großer Bücherfreund und verbrachte die meiste Zeit in seiner Bibliothek.

 

Der zweite ungewöhnliche Vorfall, den Leslie in ihrer neuen Stellung erlebte, ereignete sich, nachdem sie ungefähr vier Monate für Decadon tätig war. Sie hatte einige Briefe auf der Post einschreiben lassen und wollte eben wieder zur Haustür hineingehen, als ein Mann sie ansprach. Er war klein und trug einen großen, steifen Filzhut; den Rockkragen hatte er hochgeschlagen, es regnete.

 

»Wollen Sie Ed diesen Brief geben?« fragte er mit amerikanischem Akzent und zog ein Kuvert aus der Tasche.

 

»Meinen Sie Mr. Tanner?«

 

»Ja: Ed Tanner.« Er nickte. »Sagen Sie ihm, er komme vom ›Großen‹!«

 

Sie mußte über seine Worte lächeln. Als sie aber im Lift zum obersten Stock hinauffuhr, wo Edwin Tanner wohnte, zeigte sich dieser nicht im mindesten überrascht.

 

»Vom ›Großen‹?« wiederholte er nachdenklich. »Wer hat Ihnen denn den Brief gegeben? War es ein kleiner Mann etwa so groß?«

 

Er legte anscheinend Wert auf eine genaue Beschreibung des Boten. Sie erzählte ihm alles, worauf sie sich besinnen konnte, und erwähnte auch den merkwürdigen steifen Hut.

 

»Ach, seh’n Sie mal an!« entgegnete Tanner. »Ich danke Ihnen vielmals, Miss Ranger!«

 

Kapitel 10

 

10

 

Mr. George Jerrington, Seniorchef der bekannten Rechtsanwaltsfirma, hatte sich eine Woche vor Decadons Ermordung einer Blinddarmoperation unterziehen müssen und lag in einem Krankenhaus. Als er sich wieder soweit erholt hatte, daß er seine Privatkorrespondenz durchsehen konnte, ließ er seinen Bürovorsteher bitten, ihm die dringendste Post zu schicken.

 

»Es ist wohl das beste, wenn Sie die Briefe persönlich hinbringen«, riet Jerringtons Juniorpartner dem Bürovorsteher. »Wer war vor einer halben Stunde in Ihrem Büro?«

 

»Der Neffe Mr. Decadons – Mr. Edwin Tanner.«

 

»Ein glücklicher junger Mann! Soviel ich weiß, ist Decadon gestorben, ohne ein Testament zu hinterlassen?«

 

»Ja, ich glaube.«

 

»Was wollte Tanner von Ihnen?«

 

»Er kam wegen der Erbschaft. Ich fragte ihn, ob er mit Ihnen sprechen wolle; aber als er erfuhr, daß Mr. Jerrington krank wäre, erklärte er, er werde noch warten. Er erzählte mir auch, daß er Mr. Jerrington einen dringenden persönlichen Brief geschickt hätte. Ich sagte ihm darauf, Mr. Jerrington würde heute wahrscheinlich schon in der Lage sein, den Brief zu lesen. Ich hätte ihm die dringende Post zu bringen.«

 

Und das geschah denn auch. Das Krankenhaus lag in Putney. Der Bürovorsteher fuhr mit einem Autobus dorthin und kam gegen sechs Uhr in der Gegend an. Den Rest des Weges wollte er zu Fuß zurücklegen. Im allgemeinen war es um diese Zeit noch hell, aber von Südwesten her zogen schwere Wolken am Himmel auf, und es sah so aus, als ob Regen drohe. Die meisten Autos, die an ihm vorüberfuhren hatten bereits die Scheinwerfer eingeschaltet.

 

Er hatte gerade den höchsten Punkt der Straße erreicht und wollte nach links abbiegen, als plötzlich ein Auto neben ihm hielt. »Sie sind von der Firma Jerrington?« fragte der Mann, der heraussprang.

 

Der Bürovorsteher bejahte die Frage.

 

»Dann geben Sie mir die Briefschaften!«

 

Zu seinem Schrecken sah sich der Angestellte durch eine Pistole bedroht. Später gab er an, er habe sich heftig gewehrt; aber aller Wahrscheinlichkeit nach überreichte er ohne weiteren Widerspruch dem Mann den Postbeutel. Der Fremde sprang wieder in den Wagen und fuhr davon.

 

All das ereignete sich so plötzlich, daß der Bürovorsteher nicht einmal daran dachte, sich die Nummer des Wagens zu merken. Das hätte auch wenig genützt; denn bald darauf wurde ein gestohlenes Auto in der Gegend gefunden.

 

Der Bericht von dem Briefdiebstahl wurde nach Scotland Yard gemeldet, erreichte aber Terry Weston nicht.

 

Der Chefinspektor wollte gerade zu Mr. Salaman gehen und dem jungen Mann Verhaltungsmaßregeln erteilen, als Leslie anläutete und ihm mitteilte, was hinsichtlich des Testaments festgestellt worden war.

 

»Ich habe ein böses Gewissen, weil ich Sie nicht schon vorher anrief …«

 

»Das ist allerdings eine wichtige Neuigkeit. Ich werde sofort mit den Rechtsanwälten telefonieren!«

 

Aber das Büro war bereits geschlossen, und er bekam keine Antwort. Erst als er in Salamans Wohnung angekommen war, erhielt er telefonisch die Nachricht von dem Diebstahl der Briefe.

 

»Der Bürovorsteher ist also unterwegs angehalten und beraubt worden? Verdammt schnelle Arbeit …! Er soll bitte nach Scotland Yard kommen! Ich will ihn bei meiner Rückkehr verhören.«

 

Kurz darauf klingelte der Fernsprecher abermals. Terry saß mit Salaman in dessen luxuriös ausgestattetem Arbeitszimmer. Die schwüle Pracht des Raums war ihm zuwider, und der Mann selber gefiel ihm noch weniger. Er winkte Salaman, und der nahm den Hörer auf. Terry wartete und hörte zu.

 

»Ja, ich habe das Licht ins Fenster gestellt – Sie haben es gesehen. Wo soll ich Sie treffen?«

 

Es war vorher vereinbart worden, daß er jedes Wort wiederholen sollte, das der andere ihm sagte.

 

»Morgen abend um zehn, am Ende der Park Lane, fünfundzwanzig Schritt von der Ecke Marble Arch entfernt? Ja, ich habe alles verstanden … Ein Mann kommt mir entgegen, der eine rote Blume im Knopfloch trägt? Und ihm soll ich den Briefumschlag überreichen? Bestimmt – ich komme …! Nein, durchaus nicht!« Er hängte den Hörer an und lächelte. »Jetzt haben wir ihn!«

 

Terry teilte seine Begeisterung nicht und machte kein Hehl daraus.

 

Kapitel 6

 

6

 

Schon nach den ersten vierundzwanzig Stunden ihrer Bekanntschaft hatte Dick Mayford feststellen müssen, daß Anna Jeans ganz anders war als die jungen Damen, die er bisher getroffen hatte. Sie gab ihm selten recht und hatte überhaupt einen äußerst eigenwilligen Charakter. Das brachte ihn etwas aus der Fassung, denn bisher war er immer von einem Kranz bewundernder Weiblichkeit umgeben gewesen.

 

Eines Tages hatte er sich mit Anna verabredet, zu den Mailley-Ruinen zu reiten, und kam eine Viertelstunde zu spät zu dem ausgemachten Treffpunkt. Dort erfuhr er, daß sie pünktlich allein fortgeritten war. Als er sie nach einem scharfen Galopp eingeholt hatte, sah er sie vorwurfsvoll an und sagte, daß sie ruhig ein bißchen hätte auf ihn warten können.

 

Aber sie schaute ihn nur belustigt mit ihren grauen Augen an und bereute offensichtlich nichts.

 

»Daran werden Sie sich gewöhnen müssen«, meinte sie. »Ich habe mir schon in frühester Jugend geschworen, nie auf einen Mann zu warten. Wenn es Ihnen nicht gegen den Strich geht, sich für Ihr Zuspätkommen zu entschuldigen, können wir ja auch weiterreiten.«

 

Und Dick fügte sich tatsächlich und bat sie um Verzeihung, die ihm auch gewährt wurde.

 

»Ich habe die ganze Nacht fest durchgeschlafen«, erklärte sie, als er ihr von dem Brand im Schloß erzählte.

 

»Lorney hätte Sie aufwecken sollen –«, fügte er hinzu.

 

»Ach, warum denn das? Wozu soll ich mir ansehen, wie ein Haus abbrennt? Mrs. Harris hat mir so schon eine haarsträubende Schilderung davon gegeben. – Es muß entsetzlich gewesen sein für Ihre Schwester.«

 

Ihm kam es vor, als ob sie das etwas nüchtern und spöttisch gesagt hätte, und er warf ihr einen mißtrauischen Blick zu.

 

»Es war für uns alle unangenehm«, entgegnete er steif. »Glücklicherweise habe ich einen leichten Schlaf und hörte Mr. Lorney, wie er mit den Fäusten gegen die Tür schlug.« Nach einer Weile fragte er etwas zusammenhanglos: »Wie lange bleiben Sie eigentlich noch hier?«

 

»Ein paar Wochen.«

 

»Warum sind Sie überhaupt hergekommen?«

 

Sie sah ihn von der Seite an.

 

»Weil ich hoffte, Sie hier zu treffen«, sagte sie dann. »Ich habe Sie schon bewundert, als ich noch ein Kind war. – Es muß eigentlich herrlich sein, wenn man so heimlich verehrt wird. Ja, so bin ich nun einmal, wenn ich einen Mann sehe und ihn gern habe, dann kann mich nichts mehr von ihm abbringen.«

 

Dick räusperte sich unbehaglich, obwohl gar kein Grund zur Verlegenheit da war. Sie schien seine schwache Seite berührt zu haben. »Bitte, sagen Sie mir doch ehrlich, warum Sie hierhergekommen sind.«

 

»Erstens, weil ich Mr. Lorney gern habe; zweitens, weil mein Leben mehr oder weniger durch einen alten Rechtsanwalt bestimmt wird, der in London wohnt. Wenn er sagt: ›Gehen Sie in ein Internat!‹ dann muß ich in ein Internat gehen. Und wenn er mir rät, meine Ferien in einem Gasthaus in einer gottverlassenen Gegend zu verbringen, dann muß ich das auch tun.«

 

»Ist er Ihr Familienanwalt?«

 

Sie wandte sich im Sattel halb zu ihm.

 

»Habe ich Ihnen meine Lebensgeschichte noch nicht erzählt? Das ist aber wirklich nicht nett von mir …«

 

Und sie berichtete ausführlich, während sie weiterritten. Dick hatte kaum Gelegenheit, selbst; etwas zu sagen, bis sie zum Gasthaus zurückkamen.

 

»Ich kann diesen Romeo nicht ausstehen«, erklärte sie plötzlich ohne jeden Zusammenhang.

 

»Welchen Romeo?«

 

»Ich mag ihn einfach nicht«, fuhr sie fort, ohne auf seine Frage einzugehen, »selbst wenn er noch so schicke Pyjamas hat und mir die schönsten Rosen aus Mr. Lorneys Garten zuwirft. Das gibt noch was, wenn er erfährt, daß sie abgerissen worden sind. – Die ganze Sache war beinah romantisch: Ich schaute heute morgen so gegen sieben Uhr zum Fenster hinaus. Allerdings hatte ich ein süßes hellblaues Nachthemd an, und so kann man natürlich dem jungen Mann keinen großen Vorwurf machen. Jung ist andererseits auch wieder übertrieben: Am Hinterkopf hat er schon eine ganz schön dünne Stelle. Männer sollten doch lieber einen Hut aufsetzen, wenn man auf sie herunterschauen kann.«

 

»Ach, meinen Sie Keller?« fragte Dick überrascht.

 

»Ja, so heißt er wohl.«

 

»Warum mögen Sie ihn denn nicht?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ach, ich weiß nicht. Wahrscheinlich ist es ein Instinkt, der mich vor ihm warnt. Ich möchte nicht wissen, was er von mir dachte, als ich die Rose auffing und sie ihm wieder zuwarf. – Gefällt er Ihnen denn?«

 

Dick sagte nichts, aber plötzlich wurde er sich vollkommen bewußt, daß er diesen Keller ohne weiteres hätte umbringen können.

 

»Eigentlich sieht er gar nicht so schlecht aus, nicht wahr? – Haben Sie übrigens den ›Alten‹ zu Gesicht bekommen? Mrs. Harris sagt, er wäre in der vergangenen Nacht draußen auf dem freien Platz vor dem Schloß gesehen worden. Wollen wir nicht einmal die Höhlen durchsuchen, ob wir ihm begegnen? Es heißt, er wäre total verrückt und hätte seinen Wärter mit dem Hammer erschlagen. Aber mir kann ja nichts passieren, wenn Sie dabei sind!«

 

»Nehmen Sie überhaupt irgend etwas ernst?« fragte er gereizt. Sie schaute ihn bewundernd an.

 

»Sie nehme ich ernst. Viel ernster als sonst jemanden, der mir bisher den Hof gemacht hat.«

 

»Aber ich denke ja gar nicht daran, Ihnen den Hof zu machen«, protestierte er entrüstet.

 

»Nein, dazu hatten Sie ja niemals Gelegenheit. Man kann eine junge Dame schließlich nicht auf dem Tennisplatz umarmen, und auch ein Ritt in die schöne Gegend ist zu dem Zweck nicht gerade praktisch. Nein, hätte heute morgen der Mond statt der Sonne geschienen, so hätte ich wahrscheinlich eine tadellose Julia abgegeben – das heißt, wenn mein Partner nicht gerade Mr. Keller gewesen wäre.«

 

Kurz vor dem Gasthaus wurde sie wieder ernst und erzählte Dick, wie nett Mr. Lorney zu ihr war. Sie konnte sich erinnern, daß er jedesmal an ihren Geburtstag gedacht hatte, als sie noch ein kleines Kind war, und ihr auch später immer wieder Geschenke geschickt hatte, oft ohne äußeren Anlaß.

 

Auch im vorigen Jahr hatte sie ihre Ferien bei ihm verbracht. Sie merkte, daß er auch abweisend und rauh sein konnte, aber ihr gegenüber war er immer von der gleichen Freundlichkeit. Es war eine seiner hervorstechendsten Eigenschaften, daß er alten Freunden unbedingt treu war.

 

»Meiner Meinung nach kann er Mr. Keller nicht leiden«, sagte sie abschließend.

 

Dick wunderte sich darüber, denn er konnte nicht wissen, daß die beiden sich schon von früher kannten.

 

»Wenn Mr. Lorney Mr. Keller zufällig irgendwo sieht, wendet er kein Auge von ihm. Wenn er erst herausbekommt, daß er seine Rosen abgerissen hat, gibt es Krach.«

 

Keller stand in der Diele, als die beiden zurückkamen. Wie gewöhnlich war er äußerst elegant angezogen. Dick suchte auf seinem Hinterkopf nach Anzeichen einer beginnenden Glatze, konnte aber nichts dergleichen feststellen.

 

»Hallo, sind Sie ausgeritten?« fragte Keller unnötigerweise, nickte Dick zu und wandte sich dann mit einem gequälten Lächeln an Anna.

 

»Ich habe Sie heute morgen schon gesehen.«

 

Anna übersah seine ihr entgegengestreckte Hand.

 

»Essen Sie im großen Speisezimmer zu Mittag?« fragte sie.

 

»Ja«, entgegnete Keller schnell.

 

»Na, dann sehen Sie mich heute noch dreimal«, tröstete sie ihn und ging die Treppe hinauf, um sich umzuziehen.

 

Keller sah ihr nach, bis sie oben angekommen war.

 

»Wer ist das eigentlich?« erkundigte er sich dann bei Dick.

 

Aber es hörte ihm niemand zu, denn Dick war nach draußen gegangen. Mr. Keller nahm solche Abfuhren nicht übel. Er lächelte gutmütig, ging in die Gaststube, wo das Fremdenbuch lag, und blätterte darin herum, als der Wirt hereintrat.

 

»Ah, guten Morgen, Mr. Lorney. – Wer ist denn die hübsche junge Dame, die hier im Haus wohnt?«

 

Mr. Lorney fuhr sich mit der Hand durchs Haar und sah den jungen Mann fest an.

 

»Mr. Keller, ich habe gehört, daß Ihnen Ihr Zimmer nicht gefällt. Ich stelle Ihnen jetzt Nummer drei zur Verfügung. Die Mädchen haben Ihnen leider ein wenig komfortables Zimmer gegeben.«

 

»Wer ist denn nun die junge Dame?« wiederholte Keller. »Hat sie Verwandte hier? – Das ist sie doch wohl: Miss Anna Jeans aus Lausanne.«

 

»Ja, Miss Jeans wohnt hier.«

 

»Wer ist sie denn?«

 

»Ein Gast.«

 

»Sind ihre Angehörigen auch hier?«

 

Mr. Lorney hatte es satt. »Soviel ich weiß, hat die junge Dame keine Angehörigen, wenn Sie ihre Eltern meinen sollten. Ich kannte ihren Vater, und ich kenne ihren Rechtsanwalt. Sie kommt hierher, um ihre Ferien hier zu verbringen. – Wollen Sie sonst noch was wissen?« fragte er in geradezu beleidigendem Ton.

 

Mr. Keller lachte unbekümmert.

 

»Dann können Sie mich ihr eigentlich mal vorstellen.«

 

»Anscheinend haben Sie sich bereits selbst mit ihr bekannt gemacht. Ich fand eine meiner Rosen unten auf dem Gartenweg. Im allgemeinen ist es nicht nötig, Verbotstafeln anzubringen, daß keine Blumen gepflückt werden dürfen, denn ich habe nur Leute im Haus, die wissen, was sich gehört.«

 

Keller überhörte diese Grobheit.

 

»Wie lange haben Sie das Gasthaus eigentlich schon?«

 

»Zwei Jahre und neun Monate. Ich kann Ihnen das genaue Datum sagen, wenn es Sie interessiert. Viertausendsechshundert Pfund habe ich dafür gezahlt und außerdem fünftausend für Renovierung und Einrichtung ausgegeben. Sind Sie nun zufrieden?«

 

Keller lachte laut.

 

»Mit diesem Benehmen werden Sie keine Gäste anlocken. Ich glaube, ich muß Ihnen mal beibringen, etwas höflicher zu sein.«

 

Lorney sah ihn ruhig an, ohne mit der Wimper zu zucken.

 

»Man hat mir gesagt, daß Sie ein reicher junger Mann aus Australien sind. Derartige Leute verliere ich nicht gern als Gäste, aber ich fürchte, bei Ihnen muß ich eine Ausnahme machen.«

 

Er klingelte, und der Kellner Charles kam herein.

 

»Zeigen Sie Mr. Keller das neue Zimmer. Wenn er etwas haben will, dann besorgen Sie es. Geben Sie ihm auch andere Möbel, wenn er es verlangt. – Wir müssen alles tun, um ihn zufriedenzustellen«, fügte er ironisch hinzu.

 

Mr. Lorney konnte sehr unangenehm werden. Auch Lord Arranways erfuhr das. Aber als er hörte, wie sehr sich Lorney bei den Rettungsarbeiten eingesetzt hatte, und daß er unter anderem den kleinen Koffer mit den für ihn wichtigen Privataufzeichnungen über die indische Regierung gerettet hatte, beschloß er doch, vorerst im Gasthaus zu bleiben. Außerdem hatte er andere Sorgen. Und das Haus war auch ausgesprochen bequem und weiträumig, so daß man sich darin wohlfühlen konnte. Die altertümlichen Räume waren mit schwerer Eichentäfelung ausgekleidet, und Mr. Lorneys Vorgänger hatte einen großen umlaufenden Balkon um den ganzen ersten Stock ziehen lassen. Eine breite hölzerne Treppe führte vom Garten hinauf. Mr. Keller untersuchte das alles, ging den Balkon entlang und stellte fest, welche Zimmer von dort aus zugänglich waren. Als methodischer Mann überließ er nichts dem Zufall, und er war noch nicht einen Tag im Gasthaus, als er auch schon alle Zimmer kannte, die Türen zum Balkon hatten.

 

Die Räume von Lord und Lady Arranways lagen mehr in der Mitte, während Dick Mayford am äußersten Ende wohnte. Das war natürlich schlecht, denn er hatte nur einen leichten Schlaf und würde bei dem leisesten Geräusch wach werden. Sehr gefährlich, dachte Keller.

 

Er sprach auch mit dem hübschen Zimmermädchen – zu netten kleinen Mädchen fühlte er sich immer hingezogen. – Nur die Geschichten von dem ›Alten‹, die unweigerlich bei jedem Gespräch mit Leuten dieser Gegend auftauchten, langweilten ihn. Trotzdem ging er am Nachmittag die Landstraße entlang, bis er die Nervenheilanstalt oben auf dem Hügel liegen sah. Der Anblick beunruhigte ihn ziemlich, denn plötzlich fiel ihm wieder die junge Frau in St. Louis ein … Er verzog das Gesicht. Das war ausgesprochen peinlich gewesen, aber seiner Meinung nach hatte man ihm zu Unrecht die Schuld an der Entwicklung der Dinge gegeben. Sie war von Anfang an etwas aufgeregt und ständig nervös und gereizt gewesen. Hätte ihre zarte Schönheit nicht so starken Eindruck auf ihn gemacht, so wäre es wahrscheinlich nie zu einer Annäherung zwischen ihnen gekommen. Sie weinte bei jeder Gelegenheit, und er konnte noch jetzt ihre zitternden Lippen und roten Augenlider sehen. Rasch wandte er sich um, als ob er dadurch die Erinnerungen verscheuchen könnte.

 

Er hatte nicht geglaubt, daß es so weit kommen würde, bis sie ihm eines Abends beim Essen eine heftige Szene machte, furchtbar schrie und mit dem Messer nach ihm stach. Die ganze Sache war sehr peinlich für Mr. Keller gewesen, denn Nachforschungen, die ihr Vater anstellte, weil ihm das seltsame Benehmen seiner Tochter nicht ganz unbegründet erschien, hatten ergeben, daß sie nicht die einzige Frau war, die Ansprüche an Keller stellte. Deshalb hatte Keller es für besser gehalten, St. Louis zu verlassen.

 

Trotz dieses unangenehmen Ausgangs des Abenteuers war die Sache doch recht lukrativ gewesen, wenn er es sich so überlegte, denn er hatte sich den größten Teil ihrer Mitgift gesichert und war damit entkommen.

 

Keith Keller ging langsam zum Gasthaus zurück. Auf halbem Wege sah er die junge Dame auf sich zukommen, auf die er schon so lange neugierig war. Er ging schneller.

 

Anna machte nicht den Versuch, ihm auszuweichen. Sie grüßte mit einem Kopfnicken und wäre an ihm vorbeigegangen, wenn er sie nicht angesprochen hätte.

 

»Ich habe schon den ganzen Nachmittag darauf gewartet, Sie zu sehen. – Wohin wollen Sie gehen?«

 

Sie sah ihn mit ihren grauen Augen kühl an.

 

»Das kommt ganz darauf an«, sagte sie. »Ursprünglich hatte ich vor, einen Spaziergang in den Thicket-Wald zu machen, aber wenn ich Sie nicht davon abbringen kann, mich zu begleiten, möchte ich doch lieber wieder ins Gasthaus zurück.«

 

»Das klingt ja nicht sehr ermutigend«, sagte er lächelnd.

 

Sie nickte.

 

»Ich hoffte, Sie würden verstehen, was ich damit sagen will.« Damit ging sie weiter.

 

Keith Keller war unangenehm berührt, aber sein Interesse an dem Mädchen stieg. Frauen behandelten ihn für gewöhnlich nicht derartig gleichgültig. Er sah ihr eine Weile nach, dann kehrte er zum Gasthaus zurück. Dabei fiel ihm Lady Arranways wieder ein.

 

Den ganzen Tag hatte er Mary nicht gesehen, und Lord Arranways schien für nichts Sinn zu haben als für seine blöden Pläne bezüglich der indischen Verwaltung.

 

Am Abend ging Keller etwas gelangweilt in den Speisesaal hinunter. Zum erstenmal, seit er die Arranways kannte, waren seine Beziehungen zu ihnen getrübt. Ohne dazu aufgefordert zu sein, setzte er sich zu Dick Mayford an den Tisch und begann ein Gespräch mit ihm.

 

»Da stehen ja ein paar Koffer in der Diele – wer ist denn angekommen?«

 

»Fragen Sie doch Mr. Lorney«, erwiderte Dick unliebenswürdig. Er hatte gehofft, mit Anna essen zu können, aber als er um halb acht herunterkam, erfuhr er, daß sie schon auf ihr Zimmer gegangen war.

 

»Nach der ganzen Aufmachung scheint es ein Amerikaner zusein.«

 

Keith Keller ließ sich nicht so leicht abwimmeln.

 

Dick winkte dem Kellner.

 

»Bringen Sie mir den Kaffee in den kleinen Salon.«

 

Es war nichts zu machen! Mr. Keller war an diesem Abend dazu verurteilt, sich sterblich zu langweilen. Etwas später schlenderte er im Haus und im Garten umher, in der Hoffnung, wenigstens das hübsche Zimmermädchen zu finden. Aber umsonst.

 

Um halb elf legte er sich ins Bett, las noch eine halbe Stunde, machte dann das Licht aus und trat hinaus auf den Balkon.

 

Er konnte niemanden sehen. Vorsichtig schlich er zu Marys Fenster. Die obere Hälfte war geöffnet, aber sonst fand er alle Türen verschlossen und alle Vorhänge zugezogen. Er lauschte, konnte aber nichts hören. Leise klopfte er an ihr Fenster, aber es kam keine Antwort. Dann vernahm er ein Geräusch in Dicks Zimmer und ging hastig zu seiner Tür zurück.

 

Vielleicht würde sie doch noch zu ihm kommen. Wieder las er eine Viertelstunde, drehte das Licht aus, ging noch einmal zur Tür, öffnete sie leise und ließ sie angelehnt.

 

Er fiel in einen unruhigen Schlaf, und als er aufwachte, fühlte er einen kalten Zug von der Tür her. Mit einem Fluch stand er auf und schloß sie ab. Dann legte er sich wieder hin und schlief sofort ein.

 

Eine Viertelstunde später, als die Kirchenuhr drei schlug, schlich eine dunkle Gestalt langsam die Treppe zum Balkon hinauf, ging vorsichtig bis zu Kellers Tür, blieb davor stehen und versuchte sie zu öffnen. Als es ihm nicht gelang, schlich er die Treppe wieder hinunter.

 

Dick hörte das Geräusch und kam auf den Balkon hinaus. Er sah, daß sich am Fuß der Treppe etwas bewegte.

 

»Wer ist da?« rief er scharf.

 

Der Fremde drehte sich um.

 

Dick sah einen Augenblick eine etwas gebeugte Gestalt mit einem unordentlichen weißen Bart und wirrem Haar. Er lief die Treppe hinunter, aber als er unten ankam, war der ›Alte‹ verschwunden.

 

Kapitel 7

 

7

 

Anna Jeans saß auf dem Geländer, von dem aus man den Tennisplatz übersehen konnte, und unterhielt sich mit Lorney. Sie sprachen von den Arranways.

 

»Ich glaube, zwischen den beiden stimmt auch nicht alles«, meinte sie, »Lady Arranways tut immer, als ob sie etwas Besseres wäre als wir.«

 

Lorney lachte.

 

»Ach, sie ist ganz in Ordnung. Vielleicht ein bißchen leichtsinnig, aber sonst ist nichts gegen sie einzuwenden.«

 

Sie sah ihn überrascht an.

 

»Leichtsinnig? Den Eindruck hatte ich nun nicht von ihr.«

 

»Leichtsinnig ist vielleicht nicht das richtige Wort dafür. Sie ist nicht ganz so vorsichtig, wie ich an ihrer Stelle wäre.«

 

Anna sah ihn neugierig an.

 

»Sie benimmt sich aber doch einwandfrei?«

 

Mr. Lorney zögerte.

 

»Ach, Mr. Lorney, meinetwegen können Sie ruhig darüber sprechen. Ich weiß Bescheid. Schließlich habe ich schon mehrere solcher sogenannten glücklichen Ehen gesehen. – Hat sie ein Verhältnis mit Mr. Keller?«

 

»Nein«, leugnete er wider besseres Wissen.

 

Anna hielt es für richtiger, das Gespräch an dieser Stelle auf weniger heißen Boden zu verlegen.

 

Lorney lehnte sich, gegen die große Sonnenuhr und beobachtete Anna, während sie ihm von einem jungen Mann erzählte, den sie in der Schweiz kennengelernt hatte. Sie hatte sich sehr zu ihrem Vorteil verändert. Zwar war ihm eine gewisse Nüchternheit in ihrem Urteil neu, und er fragte sich, woher sie die haben mochte, aber er wußte aus eigener Erfahrung, daß man damit besser fuhr. Auch schien sie ihm jetzt völlig erwachsen zu sein. Plötzlich merkte er, daß er etwas sagen mußte, um zu zeigen, daß er ihr zugehört hatte.

 

»Diesen Mr. Keller mögen Sie doch nicht leiden?« fragte er auf gut Glück. Es schien zu passen.

 

Sie zuckte mit den Schultern.

 

»Ach, ich weiß auch nicht recht. Gut aussehen tut er ja. Natürlich macht er einen etwas undurchsichtigen Eindruck, aber solche Leute sind ja interessanter als Männer, bei denen man sofort weiß, wie sie auf dies oder jenes reagieren werden. Eine meiner Freundinnen in Toronto, eine Journalistin, hat mir mal gesagt, die einzigen Nachrichten, die sie und die Zeitung interessierten, wären schlechte, und es gäbe nur eine Art von interessanten Personen, und das wären schlechte Charaktere. Wenn ein guter Bürger stirbt, kann man knapp drei Zeilen daraus schinden, aber spannend wird es doch erst, wenn zum Beispiel ein Toter gefunden wird, dem man seine dunkle Vergangenheit auf zehn Schritt ansieht. – Finden Sie nicht auch?«

 

»Aber was hat das mit Mr. Keller zu tun?« war alles, was der plötzlich etwas verwirrte Mr. Lorney herausbrachte.

 

»Ich wollte Ihnen nur erklären, daß ich einen Mann nicht deshalb ablehne, weil er – gefährlich ist.«

 

Er sah sie zweifelnd an. »Also, mir gefällt die Visage von diesem Keller nicht. Ich fürchte ja, daß ich da mit meiner Meinung ziemlich allein stehe, aber es wäre mir ein gräßlicher Gedanke, wenn Sie sich etwa in ihm täuschten. Es tut mir leid, daß Sie solche Leute überhaupt in meinem Haus kennengelernt haben.«

 

»Hat Mr. Keller wirklich ein Verhältnis mit Lady Arranways?« kam sie auf dies interessante Thema zurück.

 

Aber Mr. Lorney schwieg eisern. Anna wunderte sich im Grunde, warum er sich soviel Mühe gab, diese Frau in Schutz zu nehmen. Also wechselte sie nochmals das Thema und erkundigte sich nach dem ›Alten‹, der heute nacht in der Nähe des Hauses gesehen worden war.

 

»Ich habe keine Ahnung, wer das gewesen ist, denn ich glaube einfach nicht, daß der ›Alte‹ noch am Leben ist. Natürlich versuchen die Reporter immer noch, die Geschichte wieder aufzuwärmen.«

 

Mr. Lorneys Auto hielt vor dem Eingang, und ein großer, etwas korpulenter Herr stieg aus. Lorney sah ihm nach, bis er im Haus verschwunden war.

 

»Wer ist das?« fragte Anna.

 

»Ich kann es nicht genau sagen – er sieht einem Herrn verdammt ähnlich, der schon vor einem Jahr hier wohnte. – Entschuldigen Sie mich bitte einen Augenblick.«

 

Er ging über den Rasen und durch die Haustür in die Diele.

 

Der Fremde sah Lorney erfreut an und gab ihm die Hand.

 

»Captain Rennett?«

 

Lorney hatte ihn sofort wiedererkannt. Es war auch schwer, den großen Amerikaner zu vergessen, wenn man ihn einmal gesehen hatte.

 

»Ja. Ich wollte Sie wieder einmal besuchen. Zweimal bin ich nun schon durch ganz Europa gereist, aber ich habe nirgends eine so gemütliche Unterkunft gefunden wie Ihr Haus.« Während er sprach; steckte er sich eine Zigarre an.

 

Lorney hatte sich oft überlegt, was aus dem Amerikaner geworden sein mochte. Damals war er sehr rasch abgereist. Er hatte beim Kellner seine Rechnung bezahlt und war verschwunden.

 

Captain Rennett schien diese Gedanken zu erraten, denn er lachte.

 

»Erinnern Sie sich daran, wie ich seinerzeit Hals über Kopf abreiste? Eigentlich hatte ich vorgehabt, den ›Alten‹ zu erwischen, aber es waren ja schon genug Leute von Scotland Yard hier. Die hätten schön geschaut, wenn ich mich eingemischt hätte.«

 

»Oh, das glaube ich nicht. Man hatte eher den Eindruck, als wären die ganz froh, daß sie nicht allein an dem Fall herumkauen mußten. Immerhin kommt nicht alle Tage ein berühmter amerikanischer Kriminalbeamter nach England, um der hiesigen Polizei unter die Arme zu greifen. Sie hätten diesmal sogar noch eher kommen sollen, denn inzwischen hatten wir einen großen Brand hier.«

 

Rennett nickte.

 

»Ja, oben im Schloß, nicht wahr? Zu schade, daß das schöne alte Haus ganz abgebrannt ist! Uns Amerikanern tut so etwas immer besonders leid.«

 

»Der Lord wohnt jetzt mit seiner Frau, dessen Bruder und einem Gast hier in meinem Haus.«

 

»Wer ist denn sein Gast?«

 

»Ich glaube nicht, daß Sie den Herrn kennen. Er ist viel mit ihnen zusammen.«

 

»Aha! Er war auch schon mit ihnen auf Reisen, nicht wahr?« Der Ton dieser Frage war so scharf, als ob er jemanden verhören wollte.

 

»Ja – ich glaube«, antwortete Mr. Lorney zurückhaltend.

 

»Er heißt Keller?«

 

Als Rennett die abweisende Haltung des Gastwirts spürte, fing er an zu lachen.

 

»Ach, es ist schon ein Kreuz mit mir. Ich kann mir den Kriminalbeamten nicht abgewöhnen. Selbst wenn ich jemand nach dem Weg zum Bahnhof frage, hat der Ärmste den Eindruck, daß ich ihn einsperre, wenn er nicht sofort Auskunft gibt.« Er nahm die Zigarre aus dem Mund und betrachtete sie nachdenklich.

 

»Dabei fällt mir ein: Haben Sie jemals vorher gehört, daß ein Dieb unter größten Schwierigkeiten in ein Haus eingebrochen ist, um Sachen, die er vor etwa einem Jahr gestohlen hat, wieder zurückzubringen?«

 

»Nein, nie gehört!« entgegnete Lorney.

 

»Also, diesem Mann würde ich gern einmal begegnen. Alles, was mit ihm zusammenhängt, hat so einen besonderen Anstrich, finden Sie nicht?«

 

John Lorney lachte.

 

»Ach, da sind Sie nicht der einzige! Die Polizei und die Reporter haben sich schon die Hacken nach ihm schiefgerannt, und ich muß sagen, von weitem sähe ich ihn selbst mal ganz gerne.«

 

Rennett ging auf sein Zimmer, und der Wirt trat wieder vors Haus, aber er konnte Anna nirgends entdecken. Als er gleich darauf Keller mit einem Golfschläger in der Hand heranschlendern sah, kam ihm sofort der Verdacht, der junge Mann sei auf der Suche nach ihr, und er fing eine Unterhaltung mit ihm an.

 

»Seien Sie ein bißchen vorsichtig, wenn Sie zuschlagen«, warnte er ihn, denn an dem Schläger hing ein Stück Rasen.

 

»Ach hören Sie doch mit Ihren Predigten auf!« rief Keller gereizt. »Es ist sowieso schon entsetzlich langweilig hier. Golf, Tennis, Spazierengehen – das lockt doch keinen Hund hinterm Ofen vor! Was soll man bloß anfangen? – Wo ist denn die junge Dame, mit der Sie vorhin gesprochen haben?«

 

»Sie wird bessere Gesellschaft gefunden haben«, meinte Mr. Lorney gleichmütig.

 

»Mr. Lorney, ich habe Ihnen noch gar nicht dafür gedankt, daß Sie mir bei dem Brand das Leben gerettet haben. Man hat mir gesagt, daß Sie es waren, der mich aus dem Haus trug.«

 

»Tut mir leid, das war nicht ich, sondern der Lord«, antwortete Lorney kurz.

 

»War denn Lord Arranways in meinem Zimmer?« Keller konnte vor Entsetzen kaum Luft holen.

 

»Nein, ich brachte Sie aus dem Zimmer auf den Gang, und der Lord und Mr. Mayford trugen Sie hinunter.«

 

»Wer – wer hat denn Lady Arranways gefunden? – Sie?«

 

Der Wirt nickte.

 

Keller blieb stehen und sah ihn scharf an.

 

»Wo war das?«

 

»In dem Gang vor Ihrem Zimmer.«

 

»Was – vor meinem Zimmer? Wie ist sie denn dahin gekommen?«

 

Dick Mayford unterbrach das Gespräch der beiden Männer durch sein Erscheinen. Man merkte ihm deutlich seine schlechte Laune an, als er Keller erblickte.

 

Den störte das nicht im geringsten.

 

»Guten Morgen, Dick. Wie geht es Mary?«

 

»Lady Arranways fühlt sich nicht wohl, soviel ich weiß.«

 

»Lady Arranways? Warum denn so steif? – Übrigens, wüßten Sie, daß Mr. Lorney mir das Leben gerettet hat? Und nach einer alten chinesischen Sitte muß man denjenigen, dem man das Leben rettet, auch den Rest des Lebens ernähren. Geben Sie mir also etwas zu trinken, Mr. Lorney.«

 

Lorney sah auf die Uhr.

 

»Leider ist jetzt noch Sperrstunde – aber wenn Sie unbedingt etwas haben wollen, kann ich Ihnen ja was aufs Zimmer schicken lassen.«

 

Keller, der schon auf der Treppe war, drehte sich noch einmal um.

 

»Solche verrückten Bestimmungen kann es auch bloß in England geben«, brummte er. »Schicken Sie mir einen Whisky-Soda und eine Zigarre herauf.«

 

»Was halten Sie von Keller?« erkundigte sich Dick, als der Australier außer Hörweite war.

 

»Man kann schlecht etwas gegen ihn sagen – außerdem kenne ich ihn nicht gut genug. Soviel ich gehört habe, soll er aus Australien kommen.«

 

»Das behauptet er wenigstens.«

 

»Man wird ihn in Australien vermissen«, meinte Lorney ironisch.

 

Dick Mayford ging zur Tür, schaute hinaus, schloß sie dann wieder und kam an die Theke zurück.

 

»Ich würde gerne einmal offen mit Ihnen sprechen, Mr. Lorney«, sagte er. »Sie sind doch während des Brandes in Kellers Zimmer gegangen. – Haben Sie außer ihm noch jemanden gesehen?«

 

Er mußte sich überwinden, diese gefährliche Frage zu stellen, von deren Beantwortung soviel abhing.

 

John Lorney sah auf, und ihre Blicke begegneten sich.

 

»Nein.«

 

»Sind Sie Ihrer Sache sicher?«

 

»Vollkommen.«

 

Lorney setzte ein paar Teller aufeinander. Dann kam er um die Theke herum.

 

»Wo haben Sie denn Lady Arranways gefunden?« fuhr Dick fort.

 

Der Wirt schaute Dick lange an, bevor er antwortete.

 

»Sie lag im Gang gegen die Wand gelehnt.«

 

»Sie haben doch dem Lord erzählt, daß sie unter einem Fenster lag?«

 

»Ja, sie lehnte an der Wand unter einem Fenster.«

 

Dick seufzte.

 

»Sie sind wirklich ein guter Kerl. Wahrscheinlich wird Lord Arranways auch noch einige Fragen an Sie richten, und ich wäre sehr erleichtert, wenn Sie ihm nichts sagten, was ihn aufregen könnte.«

 

Dick ging nach draußen, um Eddie zu suchen, der den ganzen Tag bei dem niedergebrannten Schloß verbracht hatte. Der Lord überwachte die Unterbringung der geretteten Möbel und Kunstschätze, Allem Anschein nach war er so damit beschäftigt, daß er keine Zeit für anderes hatte. Dick kannte ihn besser und wußte, daß er sich trotz seiner rastlosen Geschäftigkeit innerlich vor Haß und Zweifeln verzehrte.

 

Der Lord sprach gerade mit einem Feuerwehrmann, als Dick ankam.

 

Eddie besaß eine wertvolle Sammlung asiatischer Dolche und Schwerter, die er während seines Aufenthaltes in Indien zusammengetragen hatte. Darunter befanden sich Stücke von unschätzbarem Wert. Als Dick zu ihm trat, hatte er zufällig den Dolch von Aba Khan in der Hand. Diese Waffe hatte einmal den ganzen Pandschab beunruhigt. Es war eine lange, dünne Klinge, biegsam und scharf wie ein Rasiermesser. Aba Khan hatte damit die Frau erdolcht, die sich seinem Willen nicht gebeugt und ihn betrogen hatte. Jahrelange grausame Fehden in Radschputana waren die Folge gewesen, denn ihre Verwandten hatten sie blutig gerächt.

 

Gerade erzählte der Lord in seiner umständlichen Weise dem Feuerwehrmann diese Geschichte.

 

»… der Maharadscha war mit einer sehr schönen Frau verheiratet, die aber unglücklicherweise einen anderen Mann liebte. Mit diesem Dolch erstach Aba Khan ihren Liebhaber vor ihren Augen, ehe er ihn ihr selbst in die Brust stieß.«

 

»Komm zu Tisch!« unterbrach ihn Dick.

 

Der Lord steckte die Klinge in die Scheide und gab sie dem Feuerwehrmann.

 

»Bringen Sie diese Waffe und den Rest der Sammlung zum Gasthaus. Es sind im ganzen sechzehn Stück.«

 

Dick nahm ihn beim Arm, und sie machten sich langsam auf den Weg zum Gasthaus. Inzwischen hatte es sich bewölkt, und ein heftiger Sturm kam auf. Die ersten Regentropfen fielen, als der Lord und Dick gerade die Diele des Gasthauses erreicht hatten.

 

»Hast du Mary gesehen?« fragte Dick.

 

»Nein, sie ist in ihrem Zimmer. Zum Frühstück ist sie auch nicht heruntergekommen.«

 

»Sie ist doch aber wach? Warum warst du nicht bei ihr?«

 

Der Lord antwortete nicht, und Dick merkte an seinem Gesicht, daß es nicht gut wäre, weiterzufragen. Trotzdem machte er noch einen Vorstoß.

 

»Habt ihr euch gezankt?«

 

»Ich sage dir doch, daß ich sie nicht gesehen habe!« erklärte Eddie ungeduldig. »Es ist wirklich am besten so.«

 

Dick folgte ihm in sein Zimmer und schloß die Tür hinter sich.

 

»Warum ist es so am besten? Was ist denn bloß los?«

 

Arranways ging zum Fenster, vergrub die Hände in den Taschen und beobachtete das ausbrechende Gewitter.

 

»Ich weiß nicht, was ich von all dem halten soll … Du weißt, ich hab‘ das alles schon einmal durchgemacht – die Anzeichen sind mir ja nun wirklich vertraut, und es kommt mir alles so verdächtig vor!«

 

Dick machte einen letzten Versuch.

 

»Glaubst du, daß Mary in – seinem Zimmer war? Wir wollen uns doch nichts vormachen. Sag mir, bitte, was du denkst.«

 

Der Lord zögerte.

 

»Ich weiß es eben nicht. Ihr Nachthemd roch nach Rauch, und es war Asche daran. Ich wüßte nicht, wie sie an so etwas gekommen sein könnte, und vor allem: Wieso hat Lorney sie im Gang gefunden? Sie muß nah am Feuer gewesen sein. Ich bin schließlich nicht so dumm, daß ich das nicht begriffe.«

 

Immerhin konnte der Lord aber doch nicht mit Sicherheit behaupten, daß seine Frau bei Keller im Zimmer gewesen war. Er selbst nahm zwar das Schlimmste an, konnte es aber Dick gegenüber nicht zugeben.

 

»Bitte erkläre mir«, sagte er, »warum war Mary im Korridor und ausgerechnet vor Kellers Tür?«

 

»Wahrscheinlich hat sie den Kopf verloren«, meinte Dick.

 

Der Lord zog nur die Augenbrauen hoch und wanderte ruhelos im Zimmer auf und ab.

 

»Es kommt doch wirklich manchmal vor, daß man den Kopf verliert«, ereiferte sich Dick völlig nutzlos. »Mir ist selbst einmal passiert, daß ich bei Feuersgefahr aus dem Fenster und das Obstspalier hinuntergeklettert bin, obwohl ich noch ganz gut hätte die Treppe hinuntergehen können. – Klagst du Mary etwa des Ehebruchs –«

 

»Ich klage niemanden an. Ich sage nur, daß mich die Sache wahnsinnig beunruhigt.«

 

Dick erkannte, daß sein Schwager seiner Sache nicht hundertprozentig sicher war, und er war froh darüber, denn sonst hätte es unweigerlich eine Katastrophe gegeben.

 

»Lorney sagt aber doch –«

 

»Ich glaube eben nicht, was Mr. Lorney sagt! Hätte Mary unter dem Fenster gelegen, wie er es behauptet, so hätte ich sie doch gleich das erstemal sehen müssen, als ich nach oben kam.«

 

»Ich dachte immer, du hättest diesen Keller gern?«

 

Der Lord warf ihm einen vielsagenden Blick zu.

 

»Ich hatte ihn auch gern. Er ist sehr aufmerksam gewesen und hat sich immer für meine Pläne interessiert. Aber man kann nicht erwarten – und das hätte ich eben merken müssen –, daß ein Mann, der sich für die Frau eines anderen interessiert, seine Absichten und seinen wahren Charakter zeigt. Keller hat mir die ganze Zeit Sand in die Augen gestreut.«

 

Arranways hatte sich sehr aufgeregt, und Dick unterbrach ihn.

 

»Wir wollen im Augenblick nicht weiter darüber sprechen«, meinte er. »Laß es bei dem Verdacht bleiben – bis wirklich etwas bewiesen ist. Entschließ dich doch, Mr. Lorney zu glauben.«

 

»Glaubst du ihm denn?«

 

»Aber natürlich – unbedingt!« Es kostete Dick große Mühe, dies in glaubwürdigem Ton herauszubringen.

 

Kapitel 8

 

8

 

Es gab noch mehrere Auseinandersetzungen an diesem Tag.

 

Der Kellner Charles kam in größter Aufregung zum Wirt, den er in dem kleinen Salon hinter der Bar traf. Er war ein Mann zwischen Fünfzig und Sechzig mit breiten Schultern und einem kleinen, häßlichen Gesicht, das noch abstoßender wirkte, wenn er wütend war.

 

Lorney hörte den etwas zusammenhanglosen Bericht ruhig an.

 

»Was haben Sie denn sonst noch getan?« fragte er.

 

»Nichts!« rief der Kellner heftig. »Das Glas fiel mir vom Tablett, und der Whisky-Soda spritzte auf seine Hose. Ich gebe zu, ich hätte vorsichtiger sein sollen, aber noch bevor ich wußte, was eigentlich passiert war, hatte er schon seine Faust unter meinem Kinn. Ich wäre beinah zu Boden gegangen.«

 

»Ich werde mit ihm reden.«

 

»Mit ihm reden!« wiederholte der Kellner zitternd vor Wut. »Wenn ich nicht an meine Frau zu denken hätte … Es wäre nicht mehr viel von dem Kerl übriggeblieben!«

 

Der Wirt sah ihn scharf an.

 

»Sie müssen auch noch an andere Dinge denken. Ich gebe Ihnen hier die Möglichkeit, wieder in geordnete Verhältnisse zurückzufinden, Green. Fünfmal haben Sie schon gesessen, und kein anderer würde Ihnen unter diesen Umständen Arbeit geben. Bei mir haben Sie ein Unterkommen und werden gut für Ihre Arbeit bezahlt. Es kommt nicht in Frage, daß ein Gast einen Angestellten schlägt, und ich werde mit Mr. Keller sprechen – das habe ich Ihnen ja schon gesagt. Sollte es noch einmal vorkommen, dann habe ich nichts dagegen, wenn Sie sich wehren. Aber ich glaube nicht, daß es noch einmal soweit kommt.«

 

Lorney sprach Keller später an, als er in die Gaststube kann.

 

»Schlagen Sie immer so schnell zu, wenn Ihnen was nicht paßt?« begann er ärgerlich.

 

»Wie bitte?« Keller schaute ihn verständnislos an. »Ach so – Sie sprechen von dem Kellner mit den Plattfüßen. Ein besonderer Trottel! Meine neue Hose hat er mir verdorben.«

 

»Na, so schlimm war es wohl nicht«, erwiderte Lorney unfreundlich. »Ich warne Sie vor dem Mann. Der war früher Berufsboxer. An Ihrer Stelle würde ich mich nicht mehr mit ihm anlegen.«

 

*

 

Lorney sah nicht, wie Mrs. Harris zurückkam, die in seinem Wagen ohne sein Wissen fortgefahren war. Sie hielt an der Hintertür, ging schnell durch die Küche in die Gaststube und ließ sich dort auf einen Stuhl fallen, denn sie hatte sich sehr beeilt und war etwas außer Atem.

 

Mary Arranways hatte sie vom Balkon aus kommen sehen und trat nun in das Zimmer.

 

»Haben Sie das Geld?« fragte sie leise.

 

Mrs. Harris strahlte, zog die lange Hutnadel heraus und holte unter ihrem Hut ein dickes Bündel Banknoten hervor. Mary griff hastig danach und steckte die Scheine in ihre Handtasche.

 

»Sie haben doch hoffentlich niemandem gesagt, wo Sie waren?«

 

»Wem hätte ich es sagen sollen? Nein, von mir erfährt niemand etwas. Aber soviel Geld habe ich noch nie auf einem Haufen gesehen. Haben Sie nicht Angst, das alles hier zu haben? Bei den vielen Einbrüchen?«

 

Mary hatte einen sorgenvollen Vormittag hinter sich. Wenn die Frau nun Lord Arranways erzählte, daß sie für seine Frau vierhundert Pfund auf der Bank abgeholt hatte? Mary hatte nicht den geringsten Anlaß, Geld abzuheben. Und eine Ausrede wollte ihr auch nicht einfallen …

 

»Waren Sie dabei, als es im Schloß brannte?« fragte sie die Frau.

 

Mrs. Harris lächelte und nahm langsam ein paar Staubtücher aus einem Schubfach.

 

»Ja, ich war im Park und habe auch ein paar Bilder herausgetragen.«

 

Lady Arranways sah sie nachdenklich an.

 

»Ich kann mich nicht auf alles besinnen; ich kam erst wieder zu mir, als ich hier im Bett lag, und hatte keine Ahnung, was eigentlich passiert war.«

 

Mrs. Harris war froh, daß sie auch einmal gefragt wurde. »Ach, Mr. Lorney hat Sie gerettet! Er hat Sie herausgetragen, und Sie hatten nur ein Nachthemd an! Da hatte er Glück – ich meine, daß er Sie retten konnte.«

 

»Haben Sie gehört, wo er mich gefunden hat?«

 

Mrs. Harris räusperte sich. »Er hat Sie aufgehoben.«

 

»Ja, das schon«, erwiderte Mary ungeduldig, »aber wo?«

 

Die Frau machte eine Pause, dann räusperte sie sich wieder.

 

»Nun, es heißt, oben im Gang.«

 

Lady Arranways hörte deutlich die Zweifel heraus, die sich hinter dieser Antwort verbargen.

 

»Natürlich reden die Leute viel dummes Zeug, aber daran kann man sowieso nichts ändern«, fuhr Mrs. Harris fort.

 

»Worüber reden denn die Leute?« fragte Mary kühl.

 

Aber sie hatte gefährlichen Boden betreten, und die Frau wich ihr aus.

 

»Dagegen kann man nichts machen«, sagte sie nur.

 

Mary zuckte die Schultern und redete sich ein, daß man sich unmöglich um das Gerede der Leute kümmern könnte.

 

Den ganzen gestrigen Tag hatte sie im Bett gelegen und sich mit Vorwürfen überhäuft. Wie leichtsinnig und unvorsichtig war sie gewesen … Wie hatte sie nur länger in Keiths Zimmer bleiben können? Es war wirklich unvorstellbar. Das erste, was ihr einfiel, war, daß ein Mann sie hinausgetragen hatte. Dann erinnerte sie sich an Eddies Stimme. Aber sonst war alles in einen dichten Nebel gehüllt.

 

Was wußte Eddie wohl? Das machte ihr die größten Sorgen. Im Grunde liebte sie ihn wirklich und hielt trotz all seinen Eigenheiten viel von ihm. Und Keith … Plötzlich hatte sie das Gefühl, als würde sie beobachtet. Eddie stand oben an der Treppe und sah sie an. Es war das erstemal, daß sie sich nach dem Brand trafen.

 

Sie nahm sich zusammen. »Hallo, Eddie!«

 

Er kam langsam die Treppe herunter und nickte ihr zu.

 

»Nun, hast du dich wieder ganz erholt?« fragte er. Seine Stimme klang belegt, und seine Hände zitterten, als er eine Zeitung vom Tisch nahm.

 

»Es war eine furchtbare Aufregung«, erwiderte sie. »Sind wichtige Sachen verbrannt?«

 

Er sah sie über die Zeitung hinweg an.

 

»Die nackten Außenwände stehen noch – außerdem Kellers Zimmer, wo das Feuer ausbrach. Merkwürdig, nicht? Sogar der Fußboden ist noch drin.«

 

Mrs. Harris putzte hinter der Theke die Gläser, was sie nicht daran hinderte, der Unterhaltung aufmerksam zu folgen. Sie witterte kommendes Unheil.

 

»Eddie, es tut mir sehr leid«, sagte Mary. Das war eine völlig überflüssige Bemerkung, aber Mary wollte Zeit gewinnen und ihn vor allem von weiteren Fragen abhalten.

 

»Die Miniaturen und die Waffensammlung sind gerettet worden«, erklärte Arranways, der sich inzwischen etwas gefaßt hatte. »Und die meisten Dorfbewohner haben geholfen, Gemälde und Möbel aus dem Haus zu schaffen.«

 

Mrs. Harris beugte sich eifrig vor.

 

»Ich habe auch zwei Bilder hinausgetragen, aber bis jetzt hat mir noch niemand dafür gedankt.«

 

Der Lord kümmerte sich nicht um sie.

 

»Wir bleiben wohl am besten noch ein paar Tage hier, bis unsere Stadtwohnung fertig eingerichtet ist, so daß wir dorthin ziehen können.«

 

»Ich fühle mich aber ganz wohl hier«, protestierte Lady Arranways, »und wir müssen ja doch alles länger vorbereiten, wenn wir für immer in der Stadt wohnen wollen.«

 

Bis jetzt hatte sie ihm noch keine Gelegenheit gegeben, auf den wesentlichen Punkt zu kommen, aber er wollte unter allen Umständen darüber sprechen.

 

»Keller habe ich heute morgen noch gar nicht gesehen. Ich nehme an, daß er nach London geht?«

 

Lady Arranways hatte sich inzwischen in einen Sessel gesetzt. Auf ihren Knien lag eine Zeitung.

 

»Ich weiß es wirklich nicht, aber er kann ja machen, was er will.«

 

Einen Augenblick sah er sie prüfend an.

 

»Ja, er amüsiert sich, so gut er kann«, erwiderte er.

 

Sie lächelte gezwungen.

 

»Warum sagst du ihm nicht, daß er uns allein lassen soll, wenn er dich so langweilt?«

 

»Wir sind hier in einem Hotel, und er kann natürlich bleiben, solange er will. Aber wenn er das tun sollte, fahren wir natürlich besser nach London.«

 

Sie legte die Zeitung beiseite. Jetzt mußte sie etwas sagen. Schweigen war hier gleichbedeutend mit dem Eingeständnis ihrer Schuld.

 

»Warum denn?« fragte sie.

 

Ihr Mann runzelte die Stirn, denn er hatte erwartet, daß sie seinen Vorschlag ohne Widerspruch annehmen würde. In dem ruhigen und düsteren Haus in der Berkeley Avenue hätte er dann versucht, das Problem irgendwie zu lösen.

 

»Hast du etwas dagegen?« fragte er.

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

In diesem Augenblick kam Lorney herein.

 

Lord Arranways sprach ihn an.

 

»Ich muß dringend in die Stadt, mein Zimmer wird frei, Mr. Lorney.«

 

Der Wirt sah fragend zu Mary hinüber.

 

»Meines nicht«, sagte sie lächelnd. »Ich bleibe mindestens noch ein paar Tage hier. – Ich habe Ihnen übrigens noch gar nicht gedankt für alles, was Sie bei dem Brand für mich getan haben.«

 

Und dann ging sie zum Angriff über, um die günstige Gelegenheit nicht zu versäumen.

 

»Wo haben Sie mich eigentlich gefunden, Mr. Lorney?« fragte sie und sah dabei ihren Mann an.

 

Der Lord warf einen Blick auf den Wirt.

 

»Im Korridor, in der Nähe eines Fensters.«

 

Sie unterdrückte einen Seufzer der Erleichterung, denn Eddie schien keine Einwände machen zu wollen.

 

»Ich kann mich nur daran erinnern, daß ich aufwachte und leichten Brandgeruch wahrnahm«, entgegnete sie, ohne jemanden anzublicken. »Ich lief aus meinem Zimmer, um die anderen zu wecken, und dabei muß ich ohnmächtig geworden sein … Das war allerdings äußerst überflüssig: Normalerweise kommt das auch nicht so leicht vor. Jedenfalls danke ich Ihnen sehr, Mr. Lorney.«

 

Sie nahm eine Zigarette aus ihrem Etui.

 

»Kannst du mir bitte Feuer geben, Eddie?«

 

»Hast du denn dein Feuerzeug verloren?«

 

Eddie Arranways hielt Geschenke, die er selbst gemacht hatte, für besonders wertvoll, und er hatte ihr erst vor kurzem das kostbare Feuerzeug mitgebracht.

 

»Wodurch ist eigentlich das Feuer entstanden? Weiß man das schon?« erkundigte sie sich, ohne auf seine Frage einzugehen.

 

»Jemand hat eine brennende Zigarette fallen lassen. Wenigstens ist das die Ansicht der Polizei«, gab Eddie kühl zur Antwort. »Ich dachte, Keller raucht keine Zigaretten.«

 

Sie lächelte rätselhaft.

 

»Nun, vielleicht tut er es manchmal doch. Oder vielleicht war es auch eine Zigarre, die noch brannte und die er in den Papierkorb warf.«

 

Arranways sagte nichts darauf, aber er beobachtete sie, als sie in den Garten hinausging. Der Regen hatte jetzt aufgehört. Mary verschwand bald auf dem Gartenweg, der zu einem Wäldchen hinüberführte.

 

Eine Zigarre im Papierkorb! Woher wußte Mary, daß das Feuer in dem Papierkorb von Kellers Zimmer entstanden war? Er hatte ihr doch nichts darüber gesagt! Die Sache kam ihm jetzt noch verdächtiger vor. In der Londoner Wohnung war auch schon einmal ein Feuer entstanden, weil Mary eine brennende Zigarette achtlos neben eine Gardine geworfen hatte.

 

»Ich wollte Ihnen noch etwas erzählen, Mr. Lorney«, unterbrach der Lord seine Gedanken über Marys Verhalten. »Der ›Alte‹ wurde vorige Nacht in der Nähe des Schlosses gesehen.«

 

»Wir hätten ihn verfolgen sollen«, meinte Lorney. »Wahrscheinlich ist er jetzt wieder entkommen.«

 

»Aber wissen Sie, was das Merkwürdigste ist? In der Nacht vor dem Brand wurde im Schloß wieder eingebrochen, und zwar hat der ›Alte‹ – denn der muß es ja gewesen sein – einen goldenen Becher zurückgebracht, den er mir zusammen mit anderem goldenem und silbernem Tafelgeschirr vor einiger Zeit gestohlen hat.«

 

Lorney sah Lord Arranways groß an.

 

»Aber das ist doch nicht möglich! Sind Sie sicher?«

 

»Der goldene Becher stand auf dem Tisch in der Eingangshalle, als ich herunterkam. Übrigens hat der ›Alte‹ in der letzten Zeit Sachen im Wert von etwa viertausend Pfund wieder zurückgebracht.«

 

»Und da fragen sich die Leute«, entgegnete der Wirt kopfschüttelnd, »ob der ›Alte‹ verrückt ist! Also, ich für meinen Teil kann das Märchen von dem ›Alten‹ nicht glauben. Meiner Meinung nach ist er in der Nacht umgekommen, in der er aus der Irrenanstalt ausgebrochen ist. Irgend jemand spielt hier den ›Alten‹ und versteckt sich hinter seiner Maske.«

 

»Haben Sie ihn etwa noch nie gesehen?« fragte der Lord. »Hier ist doch jeder überzeugt, ihn schon einmal gesehen zu haben.«

 

Der Wirt schüttelte den Kopf.

 

»Dann haben Sie ihn in der Nacht, als das Feuer ausbrach, auch nicht gesehen?« beharrte der Lord.

 

»Ich bin kurz nach Mitternacht von Guildford abgefahren und habe niemanden auf der Straße getroffen. Merkwürdigerweise mußte ich an den ›Alten‹ denken, als ich an der Irrenanstalt vorbeikam. Dort ist jetzt ein Pförtner angestellt, der öfter bei mir ein Glas Bier trinkt. Ich unterhielt mich eine Weile mit ihm – natürlich über den ›Alten‹ –, aber selbst habe ich ihn nicht gesehen.«

 

Lorney drehte sich plötzlich um und fuhr Mrs. Harris an, die mit größter Anteilnahme zuhörte.

 

»Nun stehen Sie nicht immer herum und interessieren Sie sich nicht für Dinge, die Sie nichts angehen. Machen Sie lieber, daß Sie mit Ihrer Arbeit weiterkommen!«

 

Lord Arranways stand noch unschlüssig am Fuß der Treppe. Die ganze Zeit schon lag ihm eine Frage auf der Zunge, aber die Anwesenheit von Mrs. Harris machte es ihm unmöglich, sie zu äußern. Schließlich wurde jedoch der Wunsch, endlich alle seine Zweifel beseitigt zu sehen, übermächtig in ihm, und er wandte sich an Mr. Lorney.

 

»Sagen Sie mir, Mr. Lorney, ist Ihr Bericht von den Ereignissen bei dem Brand – ich meine, wo und wie Sie meine Frau gefunden haben – auch wirklich wahr?«

 

Mrs. Harris kam ein paar Schritte näher.

 

Lorney sah den Lord fest an.

 

»Vollkommen.«

 

»Vollkommen«; wiederholte Mrs. Harris leise.

 

Der Wirt wandte sich wütend nach ihr um.

 

»Sind Sie immer noch hier? Wollen Sie, daß ich Sie ‚rauswerfe?«

 

»Ach, das ist mir jetzt auch egal«, rief sie ärgerlich. »Alle Leute, die geholfen haben, Sachen aus dem Schloß zu retten, haben Geld dafür bekommen, nur ich nicht.«

 

»Sie haben auch nichts hinausgetragen! Machen Sie mir doch nichts vor.«

 

Das war zuviel für Mrs. Harris. Mit der flachen Hand schlug sie auf den Tisch, daß es knallte.

 

»Das wird ja immer schöner! Es waren zwei nackte junge Männer –«

 

»Was …?«

 

»– in dicken Goldrahmen. Ich habe sie kaum heben können.«

 

»Ach so – Bilder!« sagte der Wirt. »Das glaube ich nicht, denn es hat Sie niemand gesehen –«

 

Er brach plötzlich ab, denn Captain Rennett kam aus dem Billardzimmer und ging durch die Diele ins Freie.

 

»Der Herr hat mich gesehen!« erklärte Mrs. Harris triumphierend. »Er stand keine zehn Schritt von mir entfernt, als ich die Bilder an einen Baum lehnte.«

 

»Was – Captain Rennett?«

 

»Ich weiß nicht, wie er heißt, aber jedenfalls hat er mich gesehen.«

 

»Er war doch an dem Abend noch gar nicht hier«, erwiderte der Wirt ungerührt. »Durch Lügen verschaffen Sie sich auch kein Geld.«

 

»Er war hier. Ich habe ihn mit eigenen Augen gesehen«, rief sie wütend. »Der andere Herr kann beweisen, daß er hier war.«

 

»Welcher Herr?«

 

»Der junge Herr, der doch der Bruder von Lady Arranways ist.«

 

»Mr. Mayford?«

 

In diesem Augenblick trat Dick in die Diele, und John ging auf ihn zu.

 

»Haben Sie Mr. Rennett bei dem Brand in der Nähe des Schlosses gesehen, Mr. Mayford?«

 

»Wer ist denn Mr. Rennett?« fragte Dick und fügte gleich hinzu: »Sie meinen doch nicht den großen, etwas korpulenten Herrn? – Ja, der war tatsächlich dort.«

 

»Aber der ist doch erst heute morgen angekommen«, murmelte Lorney verwirrt.

 

»Der ist schon eine Weile hier«, sagte Dick bestimmt. »Er war auch in Rom, als wir dort waren, ebenso in Berlin und vorher auch in Wien. Der Mann hat uns den ganzen letzten Monat verfolgt. Ich möchte nur gern wissen, warum.«

 

»Ich verstehe Captain Rennett auch nicht ganz«, sagte Lorney schließlich. »Es ist jetzt etwas über ein Jahr her, daß er hier war. Damals hatte ich das Gefühl, als beobachtete er mich. Ich begegnete ihm an den sonderbarsten Stellen. Selbst wenn ich Einkäufe in Guildford machte, tauchte er plötzlich dort auf. Und meine Gäste interessierten ihn auch so merkwürdig, obwohl ich damals viel weniger hatte als jetzt.«

 

Eine längere Pause trat ein.

 

»Trotzdem habe ich ihn ganz gern«, fuhr der Wirt dann fort. »Er hat so was Vernünftiges, Weitgereistes, und das trifft man hier nicht oft.«

 

»Haben Sie Lady Arranways gesehen?« fragte Dick plötzlich.

 

»Soviel ich weiß, ist sie draußen. Sie wollte wohl ein bißchen spazierengehen.«

 

»Ist Miss Jeans bei ihr?«

 

Dick wollte dies so gleichgültig wie möglich fragen, aber es klang dringlicher, als ihm lieb war.

 

»Nein, sie ist in ihrem Zimmer. Soll ich sie holen lassen?«

 

»Nein, danke. Sie sagte nur, sie wollte heute nachmittag in den Wald gehen, und ich weiß nicht, ob es sicher genug ist, wenn sie allein geht.«

 

John Lorney lächelte.

 

»Sie denken wohl an den ›Alten‹?«

 

Dick sah so besorgt aus, daß Lorney es sich nicht verkneifen konnte, ihn zu fragen: »Sie scheinen ja schon gut mit ihr befreundet zu sein?«

 

Dick ärgerte sich über den ironischen Ton dieser Frage.

 

»Sie wissen ganz gut, daß das nicht der Fall ist«, sagte er gereizt.

 

»Nun, nun. Nehmen Sie es nicht so tragisch, Mr. Mayford. – Was mir viel mehr Sorgen macht, ist nicht der ›Alte‹, sondern ein junger Mann«, beschwichtigte der Wirt seinen Gast. »Schließlich habe ich die Verantwortung für Miss Jeans.«

 

Dick sah ihn neugierig an.

 

»Sie sind ein seltsamer Mann, Mr. Lorney. Ich freue mich, daß Sie so besorgt um sie sind. Ich würde auch alles für sie tun.«

 

Dick ging zu seinem Schwager hinauf und fand ihn bei der Erledigung seiner Korrespondenz. Eddie sah alt und vergrämt aus, und seine Stimme klang scharf und gereizt.

 

»Mary? Ich weiß nicht, wo sie ist. Ich habe heute nur kurz mit ihr gesprochen. Gestern war sie sowieso die ganze Zeit im Bett.«

 

»Ich dachte, ihr würdet in die Stadt fahren?«

 

»Ja, ich tue es nachher. Mary will noch hierbleiben.«

 

Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und sah Dick stirnrunzelnd an.

 

»Erinnerst du dich noch an das Armband, das Mary damals in Berlin verloren hat?«

 

Dick nickte. »Es ist gefunden worden, nicht wahr?«

 

»Ja – und nun haben wir auch feststellen können, wer es an den Juwelier verkauft hat. – Mr. Keller.«

 

Dick sah ihn entgeistert an.

 

»Aber das ist doch nicht möglich! Mary kann es ihm doch nicht gegeben haben!«

 

»Sie hat es ihm auch nicht gegeben – er hat es sich genommen.«

 

Dick verstand nicht gleich die volle Bedeutung dieser Worte.

 

»Aber es verschwand doch in der Nacht aus ihrem Schlafzimmer. Und die Tür war verschlossen –«

 

Er schwieg plötzlich.

 

»Nun«, fuhr der Lord fort, »sieh dir bitte mal das hier an.«

 

Er zog eine Schublade auf und nahm ein Feuerzeug heraus.

 

Dick erkannte es sofort.

 

»Das habe ich Mary geschenkt«, sagte der Lord, »und sie hat es immer bei sich gehabt. Die Polizei glaubt, daß das Feuer dadurch entstanden ist. Es muß von der Tischkante in den Papierkorb gefallen sein und sich beim Fall geöffnet und entzündet haben. Das Feuerzeug wurde in Kellers Zimmer gefunden.«

 

Dick schwieg.

 

»Na, wenigstens behauptest du nicht auch, Keller habe es von Mary geliehen«, fuhr der Lord sarkastisch fort. »Ich habe nämlich mit Marys Mädchen gesprochen, und die sagte ausdrücklich, Mary habe das Feuerzeug in der Tasche ihres Morgenrockes gehabt. Zwar wissen wir nicht, wo der Morgenrock geblieben ist, aber das Feuerzeug wurde in Kellers Zimmer gefunden.«

 

Dick versuchte verzweifelt, gegen seine eigene Überzeugung anzukämpfen.

 

»Aber du kannst doch nicht völlig sicher sein, Eddie! Es kann doch auf irgendeine andere Art in sein Zimmer gekommen sein. Vielleicht hat sie es ihm tatsächlich geliehen. Das Mädchen kann sich auch geirrt haben. – Warum fragst du nicht Mary selbst? Das ist doch der einfachste Weg, die Angelegenheit aufzuklären.«

 

Eddie lächelte verächtlich.

 

»Was meinst du, wie viele Lügen ich schon von ihr zu hören bekommen habe? Auf eine mehr kommt es ihr jetzt auch nicht an.«

 

»Eddie, jetzt werde bitte mal vernünftig! Du bist in einer Stimmung, daß du sogar die Wahrheit für Lüge halten würdest.«

 

Der Lord antwortete nichts darauf. Er brauchte im Augenblick eine Bestätigung seines Verdachtes, und obgleich er verstand, daß er sie nicht von dem Bruder seiner Frau erwarten durfte, hätte er doch gewünscht, daß Dick sich unparteiischer verhielte.

 

»Aber das mit dem Armband müßte man Mary doch eigentlich sagen«, meinte Dick. »Vielleicht hat sie es gar nicht auf ihr Zimmer genommen. Es kann ihr doch schon vorher gestohlen worden sein.«

 

»Dann erzähl du es ihr bitte. Ich bin momentan nicht imstande, mit ihr über diese Angelegenheit zu sprechen.«

 

Als Dick auf den Gang hinaustrat, fiel sein Blick gerade noch auf den Mann, von dem sie soeben gesprochen hatten. Keller zog sich sofort wieder in sein Zimmer zurück und schloß die Tür hinter sich, denn in diesem Augenblick hatte er keine Lust, Marys Mann oder ihrem Bruder zu begegnen. Zu dumm, sich ausgerechnet jetzt mit ihr verabredet zu haben!

 

Er trat auf den Balkon hinaus und sah dort Anna Jeans, die in einem Liegestuhl lag und las. Als sie ihn erblickte, klappte sie das Buch zu und erhob sich.

 

»Warum haben Sie es denn so eilig?« fragte Keller, nahm das Buch auf und las den Titel.

 

Sie antwortete nicht, sondern ging in ihr Zimmer und schloß die Balkontür hinter sich.

 

Aber ihre Art, ihn abzuweisen, reizte ihn nur noch mehr, sich mit ihr zu beschäftigen. Er hatte das Gefühl, daß sie sich aus irgendeinem Grund vor ihm fürchtete, und das schmeichelte ihm. Nichts war ihm verhaßter, als wenn eine schöne Frau ihm gegenüber gleichgültig blieb.

 

Er schlenderte die Treppe hinunter und zu dem Gartenhaus, das am Ende des Grundstücks stand.

 

Dort wartete Mary auf ihn. Ohne ein Wort zu verlieren, reichte sie ihm das Bündel Banknoten, das sie heute morgen von Mrs. Harris hatte holen lassen. Sie saß in einem Korbsessel und sah ihn scharf an.

 

»Weißt du, daß ich dich gestern den ganzen Tag nicht zu sehen bekommen habe?« sagte er und verstaute das Bündel in seiner Brieftasche. »Also, das war wirklich eine tolle Sache, findest du nicht auch? Beinah‘ wären wir erwischt worden.«

 

»Ich möcht‘ nur wissen, warum ich mich auf so was eingelassen habe«, sagte sie achselzuckend.

 

Er lächelte. »Nun, wahrscheinlich aus Liebe.«

 

Sie lachte bitter.

 

»Wenn das deine Erklärung dafür ist …« Ihr Gesicht wurde immer abweisender. »Es gibt Männer, die ich immer verabscheut und gehaßt habe. Elegant und höflich, aber charakterlich unmöglich!«

 

»Gilt das mir, Liebling?«

 

Sie nickte nur.

 

Er holte noch einmal seine Brieftasche heraus und warf einen Blick auf das Geld. Dann steckte er sie wieder ein. Diese Geste schien sie zu belustigen.

 

»In Ägypten habe ich dir doch tatsächlich das Märchen geglaubt, das du von der großen Farm in Australien erzählt hast.«

 

Er sah sie unsicher an.

 

»Was willst du damit sagen? Das stimmt doch –«

 

»Ich will damit sagen, daß du gar keine Farm hast«, entgegnete sie ruhig. »Als ich in London war, habe ich auf einer Party einen der höchsten Beamten von Australien getroffen und mir den Spaß gemacht, ihn nach dir und deiner Farm zu fragen. Nicht weil ich dir nicht traute, sondern aus Neugierde. Es gibt allerdings einen Mr. Keller, der eine große Farm hat, aber der ist siebzig Jahre alt.«

 

»Mein Vater –«, begann er leichthin, aber sie unterbrach ihn.

 

»Der einzige Sohn von Mr. Keller ist der Herr, mit dem ich über dich sprach«, sagte sie spöttisch. »Pech, was?«

 

Einen Augenblick verlor er die Fassung.

 

»Es gibt aber doch mehrere Familien Keller in Australien!« rief er verzweifelt.

 

»Ach, laß doch endlich mal das Lügen!« schrie sie ihn fast an. »Es ist doch völlig egal, ob du arm oder reich bist.«

 

»Wenn ich nur herausbekommen könnte, was eigentlich in der Brandnacht passiert ist«, versuchte er das Thema zu wechseln. »Ich war halb bewußtlos von dem Qualm. Das kommt schließlich bei diesem verdammten Rauchen heraus, meine Liebe.«

 

Mary verzog das Gesicht, als ob sie auf etwas Bitteres gebissen hätte.

 

»Ich kann mich ja auch an nichts mehr erinnern«, murmelte sie nach einer Weile. »Wenn ich nur sicher sein könnte, daß Eddie …« Sie schwieg.

 

»Glaubst du, daß er was weiß?« fragte Keller.

 

Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann es eben nicht genau sagen … Bist du ihm schon begegnet?«

 

Er dachte einen Augenblick nach.

 

»Nein«, sagte er dann, und sie merkte ihm seine Unsicherheit an.

 

»Hast du etwa Angst vor Eddie?« fragte sie spöttisch. »Du weißt ja, daß er in Indien aus Eifersucht beinahe einen Mann erschossen hat.«

 

»Mich wollten schon viele Leute umbringen«, erwiderte er obenhin. »Deswegen laß‘ ich es mir doch gut gehen. Einmal ist mir ein Mann um die halbe Welt nachgereist, aber schließlich hat er es aufgegeben, weil es ihm zu langweilig wurde.«

 

»Ein Ehemann?«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Nein, das war mein Schwiegervater – ein sehr unangenehmer Patron. An sich war die Sache völlig okay. Ich war mit seiner Tochter, einer reichlich exaltierten jungen Dame, verheiratet. Sah ganz toll aus, hatte aber ’nen Spleen, und zwar gehörig.«

 

Mary sah ihn nachdenklich an.

 

»Das scheint ja eine unerfreuliche Geschichte gewesen zu sein. Wie ging sie denn aus?«

 

Er zog die Schultern hoch.

 

»Wie soll sie schon ausgegangen sein? Meine damalige Frau machte einen niedlichen kleinen Mordversuch – mit einem Küchenmesser. Wirklich eine unerfreuliche Geschichte, wie du schon gesagt hast.«

 

Sie nahm eine Zigarette aus ihrem Etui und zündete sie an.

 

Trotzdem entging ihr nicht, daß er heimlich zum Gasthaus hinübersah. Für einen Mann von seiner Erfahrung war er wirklich reichlich nervös.

 

»Mußt du gehen?« fragte sie höflich.

 

»Ja – ich hab‘ eigentlich eine Verabredung mit einem Bekannten.«

 

»Himmel, hör doch mit dem Lügen auf! Außer Eddie und Dick kennst du hier doch niemanden. Und mit denen stehst du sowieso nicht gut genug, als daß du dich mit ihnen verabreden könntest.«

 

Keller war aus dem Gartenhaus getreten und überblickte den Rasen, der sich bis zum Gartenhaus erstreckte. Auf dem Balkon sah er Anna entlanggehen. Sie beugte sich über das Geländer, als suche sie jemanden. Es war nicht anzunehmen, daß sie ihn meinte – sicher hielt sie nach Dick Mayford Ausschau.

 

»Du kannst gehen.«

 

Marys Worte klangen eher wie ein Befehl. Keith zuckte zusammen. In dieser Beziehung war er äußerst empfindlich. Die Verachtung, die er in ihrer Stimme hörte, war das Schlimmste, was ihm passieren konnte. Er wollte nämlich, daß selbst die Leute, die er schlecht behandelte, gut über ihn dachten.

 

»Du langweilst mich; du kannst wirklich gehen«, wiederholte sie. »Du hattest doch eine ›Verabredung‹! – Wann fährst du eigentlich nach London?«

 

Er gab eine ausweichende Antwort. Seine Augen suchten den Balkon ab. Würde Anna die äußere Treppe herunterkommen oder durch die Diele hinausgehen?

 

»Du bist heute schlechter Stimmung, Liebling«, sagte er etwas zerstreut.

 

Da riß ihr die Geduld. Sie stand auf und stellte sich neben ihn. Schweigend standen sie eine Weile vor dem Gartenhaus, als plötzlich Anna Jeans hinter den Weißdornhecken, die den Garten einfaßten, vorbeiging.

 

»Ach so!« sagte Mary wütend. »Ich dachte wirklich nicht, daß du soviel Abwechslung brauchst.« Der Unterton in ihrer Stimme hätte ihn warnen sollen. »Ich würde an deiner Stelle vorsichtiger sein. Dick hat etwas für sie übrig, und du hättest wirklich nichts zu lachen, wenn zwei Mitglieder derselben Familie mit dir abrechnen würden.«

 

Er zwang sich zu einem Lachen.

 

»Ach, du meinst Anna Jeans? Sei doch nicht verrückt. Sie ist ein Kind, ein nettes kleines Mädchen, aber doch nicht – mit dir zu vergleichen.«

 

»– nicht dein Typ. Das wolltest du doch sagen, nicht wahr? Ich erinnere mich, daß du mir das schon mal gesagt hast.«

 

Mary war gefährlich liebenswürdig, und hätte er sie jetzt angesehen, so wäre er überrascht gewesen, wie sie sich verändert hatte.

 

»Ich gehe jetzt ins Haus zurück«, sagte Keller. »Es ist nicht gut, wenn wir zusammen gesehen werden. Übrigens noch vielen Dank für das Geld.«

 

»Wieviel hast du eigentlich mittlerweile von mir bekommen?« fragte sie spitz.

 

»Sei doch nicht so gemein.«

 

»Ich glaube, fünfzehnhundert Pfund ist nicht zu hoch gegriffen. Jetzt habe ich noch tausend auf der Bank. Das ist alles, was ich besitze.«

 

Er starrte sie an. Sein Entsetzen war so groß, daß sie lachen mußte.

 

»Nicht wahr, jemand – sicher die Dame im ›Excelsior‹ – hat dir erzählt, daß ich reich wäre; aber das stimmt nicht! Eddie hat ein großes Vermögen, aber ich habe nur ein kleines Erbteil.«

 

*

 

Er erkannte auf den ersten Blick, daß sie die Wahrheit sagte, und das war ein schwerer Schlag für ihn.

 

»Was ich von jetzt an auch tue«, sagte Mary, »das tue ich mit offenen Augen.«

 

Er schluckte.

 

»Geld bedeutet keinen Unterschied für mich –«

 

Sie lachte.

 

»Damit kannst du mich heute nicht mehr fangen. Bitte, geh jetzt. Ich will mit Eddie sprechen.«

 

Nun ging er so schnell, daß es fast beleidigend wirken konnte, wenn sie nicht schon längst über so etwas hinweggesehen hätte. Langsam begab sie sieh ins Haus. Das Gespräch mit ihrem Mann, das sie so fürchtete und das sie so lange vermieden hatte, war nun nicht mehr zu umgehen.

 

Der Lord saß auf einem Stuhl vor dem Bett. Auf der Decke waren mehrere merkwürdig aussehende Dolche und Messer ausgebreitet. Mr. Lorney hatte die Sammlung kurz vorher heraufgebracht.

 

Lord Arranways sah über die Schulter zur Tür, als sie eintrat.

 

»Nun, geht es dir besser?« fragte er höflich.

 

Sie zog sich einen Stuhl heran und nahm Platz.

 

»Ja, danke. – Was hast du eigentlich, Eddie?« fuhr sie nach einer Weile fort.

 

»Nichts.«

 

Er war so mit seinen Messern und Dolchen beschäftigt, daß sie sich nicht getraute, ihn zu stören. Aber schließlich wagte sie noch einen Vorstoß.

 

»Eddie, ich glaube, du weißt nicht viel über Frauen.«

 

»Jedenfalls mehr, als ich wissen möchte«, erwiderte er, ohne sich umzudrehen.

 

»Ich dachte an deine erste Frau. Vielleicht war es doch nur ein Flirt. Sie hat dich wahrscheinlich trotzdem sehr geliebt genau wie ich.«

 

Er wandte sich nach ihr um.

 

»Genau wie du?« wiederholte er. »Das höre ich natürlich gerne – aber hältst du es denn für möglich, mit einem anderen Mann zu flirten und mich trotzdem zu lieben?«

 

Sie nickte.

 

»Wie weit kann denn ein solcher Flirt deiner Meinung nach gehen?«

 

Als sie nicht antwortete, sprach er weiter.

 

»Bleibt es auch dann noch ein Flirt, wenn die Dame ihr Feuerzeug in dem Zimmer des anderen Mannes zurückläßt, oder wenn sie ihm Gelegenheit gibt, sich ihr Armband anzueignen, das auf ihrem Toilettentisch liegt?«

 

Sie starrte ihn mit großen Augen an, unfähig, einen Ton herauszubringen.

 

»Der Mann, der dein Armband an den Juwelier verkauft hat, war Mr. Keller«, fuhr er unbarmherzig fort. »Die Polizei hat die ganze Sache aufgedeckt.«

 

»Ausgeschlossen!« rief Mary entsetzt.

 

Arranways lächelte resigniert.

 

»Ja, es wäre ausgeschlossen, wenn du allein in deinem abgeschlossenen Zimmer gewesen wärst und wenn es keinen anderen Zugang gegeben hätte. Aber es war möglich – unter anderen Umständen.«

 

Sie nahm sich zusammen und versuchte, der Situation Herr zu werden.

 

»Aber das ist doch absurd, Eddie! Du bist doch nicht etwa auf Keller eifersüchtig. Wenn ich deine Anschuldigungen ernst nähme, dann würde ich nicht eine Minute länger bei dir bleiben.«

 

Auch diesmal erhielt der Lord nicht die so sehnlich erhoffte und doch so gefürchtete Bestätigung seines Verdachts. Mary zeigte keine Erregung. Ihre Stimme klang klar, und sie versuchte sogar zu lächeln.

 

»Jedenfalls wäre es besser, wenn Keller nach London ginge. Wir können natürlich nicht mehr mit ihm verkehren«, meinte Eddie.

 

»Das wäre ja schließlich kein großer Verlust«, sagte seine Frau beinahe erleichtert. »Er fällt mir sowieso auf die Nerven, oder besser – du fällst mir auf die Nerven mit deinen ewigen Verdächtigungen. – Warum sprichst du eigentlich nicht mit ihm selbst darüber?«

 

»Es gibt verschiedene Gründe, die mich zwingen, davon abzusehen«, sagte er in seiner trockenen Art.

 

Mary öffnete die Glastür und trat auf den Balkon hinaus. Weit hinter dem Gartenhaus sah sie gerade noch, wie Keller im Wald verschwand. Er ging sehr schnell, so als ob er es eilig hätte, jemanden einzuholen.

 

Lady Arranways holte tief Atem.

 

»Ich bin in meinem Zimmer, wenn du mich sprechen willst!« rief sie durch die Tür ihrem Mann zu.

 

Er erwiderte etwas, aber sie konnte ihn nicht verstehen.

 

Kapitel 9

 

9

 

Menschen, die man eigentlich gern hat, können einem doch manchmal auf die Nerven gehen, wenn sie in ihrer Hilfsbereitschaft zu aufdringlich sind.

 

Anna mochte John Lorney wirklich gern, aber noch lieber wäre er ihr gewesen, wenn er seine Pflicht, als ihr Beschützer aufzutreten, nicht gar so ernst genommen hätte. Sie lebte schließlich ihr eigenes Leben, hatte viel Bekannte und war schon weit herumgekommen. Aber ihm war natürlich die Welt, in der sie lebte, ziemlich fremd, und während der Zeit, die sie bei ihm verbrachte, lernte er auch nicht viel von ihrem eigentlichen Leben kennen. Allein die vielen Briefe und Karten, die sie täglich erhielt, erregten sein lebhaftes Interesse. Er fragte sich oft, wer ›Alice‹ und ›Boy‹ sein mochten und ob ›Ray‹ ein Herr oder eine Dame war.

 

Es gefiel ihr, daß Mr. Lorney sich um sie kümmerte, aber deswegen brauchte er sie nicht ständig wie ein kleines Kind zu behandeln.

 

»Miss Anna, Sie gehen doch nicht weit fort?«

 

Lorney sah von seinem Fremdenbuch auf, in das er gerade eine Eintragung machte, als sie durch die Diele ging.

 

»Bloß durch den Wald zum Steinbruch.«

 

Er warf einen Blick zur Treppe, als erwarte er dort jemanden zu sehen.

 

»Mr. Mayford fragte nach Ihnen. An Ihrer Stelle würde ich mich ihm anschließen, wenn Sie im Wald spazierengehen wollen.«

 

Sie sah ihn mißtrauisch an. Es war nicht das erstemal, daß er ihr Dick als Begleitung empfahl. Sie fand den jungen Mann ja ganz nett, aber sie konnte es auch einmal eine Stunde ohne ihn aushalten.

 

»Ich möchte lieber allein sein«, erwiderte sie heftiger, als nötig gewesen wäre.

 

»Nun gut.«

 

Es tat ihr schon leid, daß sie so scharf geantwortet hatte, aber sie haßte es, irgend jemandem Rechenschaft über ihre Pläne geben zu müssen. John Lorney war ja nicht ihr Vormund.

 

Schnell ging sie durch den Garten; erst als sie im Wald war, verlangsamte sie ihr Tempo. Hier herrschte friedliche Stille. Dieser Teil des Gehölzes gehörte schon zum Schloß Arranways, aber die jeweiligen Besitzer des Gasthauses hatten das Recht, Bänke aufzustellen, und jeder durfte hier spazierengehen.

 

Anna brauchte Ruhe, um nachzudenken. Es war vor allem Dicks Verhalten, das sie sich nicht erklären konnte. Sie fand, er kümmerte sich in letzter Zeit auffallend wenig um sie. Sie hatte gehofft, er würde sie hier irgendwo erwarten, denn er wußte genau, daß und um welche Zeit sie fortgehen wollte, und das genügte ihrer Meinung nach für einen jungen Mann, der sich für sie interessierte.

 

Der Weg zog sich in langen Windungen hin, und als sie um eine Biegung kam, sah sie plötzlich Mr. Keller. Er ging ihr schnell entgegen. Sie sagte sich, daß es sinnlos war, an ihm vorbeizugehen, und blieb deshalb wartend stehen.

 

»Hallo!« rief er ihr in bester Laune zu, »ich bin schon durch den ganzen Wald gelaufen, um Sie zu suchen. Gut, daß Sie endlich kommen.«

 

»Haben Sie nicht Mr. Mayford gesehen?« fragte sie kühl. Sie fand, ein kleiner Dämpfer konnte ihm nichts schaden.

 

»Nein«, entgegnete er lächelnd, »aber ich glaube, er ist bei Eddie – ich meine, bei Lord Arranways. – Wohin wollen Sie jetzt gehen?«

 

»Zurück ins Gasthaus.«

 

Aber dann hatte sie das Gefühl, es sei besser, wenn sie nicht zu abweisend wäre, und setzte hinzu: »Im Wald ist es heute so langweilig, finden Sie nicht auch?«

 

»Nun, ich bin doch aber nicht langweilig – oder? Und gefährlich bin ich auch nicht. – Warum fürchten Sie sich eigentlich so vor mir?«

 

»Aber das ist doch lächerlich! Warum sollte ich mich denn vor Ihnen fürchten?«

 

Statt einer Antwort nahm er ihren Arm, obwohl nicht einzusehen war, warum sie nicht auf diesem glatten Waldweg hätte allein gehen können. Er tat es mit so absolut weltmännischer Gewandtheit, daß sie eigentlich anstandshalber nicht protestieren konnte. Auch ließ er sie sofort los, als sie nach ein paar Schritten versuchte, sich freizumachen. Er begann von Australien zu sprechen und schilderte das Leben im Busch in den lebhaftesten Farben.

 

Mr. Keller konnte wirklich ein glänzender Gesellschafter sein, wenn er es darauf anlegte. Ein Gespräch mit ihm war immer interessant.

 

Auf einer Waldwiese setzten sie sich schließlich auf eine Bank und beobachteten Eichhörnchen. Aber Mr. Keller beobachtete mehr Anna als die Eichhörnchen. Er überlegte, ob sie sich im Falle eines Annäherungsversuchs von seiner Seite wehren könnte oder wollte. Seine strategischen Fähigkeiten auf diesem Gebiet waren unübertroffen, aber in diesem Augenblick erkannte er, daß er durch rücksichtsvolles Vorgehen nichts erreichen würde. Er hatte wohl gemerkt, daß er eben einen günstigen Eindruck auf sie machte und nicht warten durfte, bis diese Stimmung verflogen war oder bis Dick Mayford ihn wieder in den Schatten stellte.

 

»Wissen Sie eigentlich, wie schön Sie sind?« fragte er unvermittelt.

 

In diesem Augenblick hätte sie aufstehen und gehen müssen. Aber Kellers offenkundiges Interesse, das, wie sie sicher war, schon Damen der großen Welt gegolten hatte, schmeichelte ihr, und außerdem war sie felsenfest davon überzeugt, jeder Situation gewachsen zu sein, was immer eine gefährliche Illusion ist …

 

*

 

Mary Arranways sah, wie Anna verstört den Weg entlanglief, und war nicht erstaunt, denn sie hatte teilweise beobachtet, was geschehen war. Zufällig war sie am anderen Ende der Waldwiese spazierengegangen, und Keller hätte sie sehen können, wenn er überhaupt für irgend etwas anderes Interesse gehabt hätte außer für seinen neuesten Plan.

 

Anna lief, bis sie in die Nähe des Gartenhauses kam. Dort blieb sie stehen und brachte ihre Frisur in Ordnung. Sie zitterte und versuchte vergeblich, sich zu fassen.

 

John Lorney, der vor dem Gasthaus stand, beobachtete sie, und als sie eine Weile später die Treppe zum Balkon hinaufgehen wollte, sprach er sie an. Er konnte an ihrem Blick erkennen, was passiert sein mußte.

 

»Sind Sie gelaufen?« fragte er harmlos.

 

»Ja«, keuchte sie, noch immer außer Atem.

 

»Hat Sie jemand erschreckt?«

 

Sie schüttelte den Kopf und blickte sich um.

 

»Sie haben Ihren Hut verloren, nicht wahr?«

 

»Oh – ich habe ihn abgenommen. Wahrscheinlich habe ich ihm auf einer Bank liegengelassen.«

 

Sie ging schnell an ihm vorbei die Treppe hinauf und verschwand in ihrem Zimmer.

 

Mr. Lorney schaute ihr nachdenklich und besorgt nach. Dann kehrte er ins Haus zurück und klingelte Charles.

 

»Gehen Sie in das Zimmer von Mr. Keller und sehen Sie nach, ob er da ist.«

 

»Er ist nicht im Haus. Ich war gerade oben«, brummte der Kellner. »Vor einer Stunde ist er in den Wald gegangen.«

 

Lorney warf seine Zigarre in den Aschenbecher und nahm eine neue. Gleich darauf sah er, wie Keller durch den Garten schlenderte, und trat vor die Tür.

 

Keller trug einen Strohhut in der Hand.

 

»Gehört der einem Ihrer Gäste?« fragte er ruhig.

 

»Wo haben Sie ihn gefunden?«

 

Lorney nahm den Hut, ohne den Blick von Keller zu wenden.

 

»Er lag auf dem Boden im Wald. Vielleicht gehört er – wie heißt doch gleich das junge Mädchen – Miss Jeans?«

 

»Haben Sie sie denn gesehen?«

 

»Ja, ich habe jemanden gesehen – vielleicht war sie es.«

 

Er lächelte breit.

 

»Haben Sie sich schon einmal ihre Augenbrauen genauer angesehen?«

 

»Ich verstehe nicht – ihre Augenbrauen?«

 

Keller äußerte sich aber nicht weiter, sondern lachte nur noch einmal laut und ging hinauf zu seinem Zimmer. Als er oben auf dem Balkon angekommen war, lehnte er sich über das Geländer.

 

»Ich werde Ihnen heute abend einen Scheck geben, den Sie bitte für mich einlösen wollen. – Und was ich noch sagen wollte: Schauen Sie sich einmal spaßeshalber die Augenbrauen der jungen Dame an, wenn Sie ihr das¦ nächste Mal begegnen.«

 

»Was hat denn der mit seinen Augenbrauen die ganze Zeit«, sagte Charles kopfschüttelnd.

 

»Kümmern Sie sich um Ihre Angelegenheiten«, erwiderte Lorney kurz angebunden, sah auf den Hut, den er noch in der Hand hielt, zögerte einen Augenblick, ging dann aber hinauf und klopfte an Annas Tür.

 

»Wer ist da?«

 

»Lorney. Ich bringe Ihren Hut.«

 

Ein kurzes Schweigen, dann wurde die Tür aufgeschlossen, und Anna streckte einen Arm heraus.

 

»Bitte geben Sie ihn mir.«

 

Er tat es, und schon im nächsten Augenblick war die Tür, wieder zu und abgeschlossen. Nachdenklich ging Lorney die Treppe hinunter. Er hatte wohl gemerkt, daß ihre Stimme zitterte. Sie mußte geweint haben.

 

Augenbrauen? Was mochte Keller damit meinen? Seine Worte hatten richtig höhnisch geklungen.

 

Lorney spielte mit dem Barscheck, den er noch in der Hand hielt. Plötzlich sah er auf. Ihm war ein Gedanke gekommen. »Ich habe verstanden, Mr. Keller«, sagte er laut vor sich hin.

 

Charles zupfte ihn am Ärmel.

 

»Mr. Collett ist am Telefon. Er fragt, ob er für heute nacht ein Zimmer haben kann.«

 

»Collett?« wiederholte Lorney langsam. »Ja, natürlich kann er ein Zimmer haben.«

 

Lorney war gespannt, warum der sympathische Beamte von Scotland Yard gerade jetzt nach Sketchley kam.