21

 

Jiggs beschrieb Cora Smith sehr richtig als außergewöhnlich hübsch, aber etwas dumm. Wenn sie nicht so beschränkt gewesen wäre, hätte sie längst bemerkt, daß die Geduld ihres Mannes zu Ende ging. Nachdem sie ihm zum hundertstenmal vorgestöhnt hatte: »Kannst du denn nichts tun?« faltete er die Zeitung sorgfältig und warf sie in den Papierkorb.

 

»Hör zu, Cora! Es kommt nicht oft vor, daß ich über mein Geschäft mit jemand spreche. Das weißt du sehr gut. Sicher war es unangenehm für dich, daß sie dich in ein Zimmer sperrten und dir einschärften, du solltest warten. Soll ich dir sagen, warum das geschah? Jemand muß einen Drohbrief an Leslie Ranger geschickt haben. Du kennst sie, weil du mit ihr gesprochen hast. Sie sollte doch meine Sekretärin werden. Du weißt, was das bedeutet, und brauchst also keine weiteren Fragen zu stellen.«

 

»Was hat das denn mit mir zu tun?«

 

»Nun gut, ich will es dir sagen. Die Leute glaubten, daß ich Einfluß auf die Banden hätte, die hier in London an der Arbeit sind. Deshalb haben sie dich eingesperrt, bis jemand den Brief an Leslie Ranger zurückzog und erklärte, daß es ein Scherz sei. Wenn dieser Jemand den Brief nicht zurückgezogen hätte – willst du wissen, was dann geschehen wäre, Cora? Dann hätten sie dir den Kopf abgeschnitten!«

 

»Mir?« Sie sah ihn entsetzt an.

 

Er nickte ernst. »Ja. Sie wollten ihn mir zum Frühstück schicken.«

 

Sie lachte verächtlich.

 

»Hör auf zu lachen, mein Kind! Glaube mir – die hätten es wirklich getan!«

 

Sie kochte vor Wut. »Und das alles wegen dieser verdammten Stenotypistin? Was weißt du sonst noch von der Sache, Kerky? Du sitzt hier herum und tust, als ob das gar nichts wäre …«

 

»Es wird etwas geschehen – früher, als du glaubst. Das laß ich dem Jungen nicht durchgehen – darauf kannst du dich verlassen!«

 

»Und von dem Mädel darfst du dir das auch nicht gefallen lassen!« rief sie wild.

 

Kerky lächelte. – »Warte nur!« sagte er bedeutungsvoll.

 

Aber am nächsten Morgen trat ein Ereignis ein, das den Gedanken an Leslie Ranger bei ihm ausschaltete. –

 

 

Cuthbert Drood war ein Forschungsreisender von internationalem Ruf. Er galt als ein tüchtiger Jäger und hatte schon manche Expedition nach Afrika und Indien unternommen – ein Mann jedenfalls, dessen Mut über jeden Zweifel erhaben war. Außerdem gehörte er zu den wenigen Colonels, die ihren Titel nicht führten. Er war groß und schlank und hatte blonde Haare, eine verhältnismäßig helle Gesichtsfarbe, verstand ausgezeichnet zu boxen, war einer der besten Pistolenschützen und Junggeselle.

 

Cuthbert Drood wandte sich nicht sofort an die Polizei, als er eines Morgens gleich zwei Drohbriefe erhielt, einen blauen und einen grünen. Etwas Besseres konnte ihm nicht passieren: Die Sache machte ihm ungeheuren Spaß, und er rief sofort eine Nachrichtenagentur an. »In der letzten Zeit scheinen sich die Leute, die Drohbriefe erhalten, nicht mehr vorzuwagen«, sagte er. »Lieber zahlen sie. Die Polizei hat auch eine Heidenangst und sucht die Geschichte zu vertuschen. Deshalb möchte ich Ihnen, bevor ich mich an Scotland Yard wende, davon Mitteilung machen, daß ich sogar zwei Drohbriefe zu gleicher Zeit bekommen habe.«

 

Ein paar Minuten später hatte er sich mit Terry Weston verbinden lassen und erklärte dein Chefinspektor, was sich zugetragen hatte. Er verschwieg auch nicht, daß er die Presse verständigt habe. »Meiner Meinung nach kann die Öffentlichkeit gar nicht genug davon erfahren!« erklärte er.

 

Terry machte Drood später einen Besuch und wurde in die Bibliothek geführt, wo der Colonel mit einem halben Dutzend sonnengebräunter Männer von verschiedenem Alter saß. Vor jedem stand ein Glas Whisky. Terry wurde vorgestellt und erfuhr, daß die Herren Jagdgefährten des mutigen Cuthbert waren.

 

»Wir wollen diese Kerle schon in die Flucht schlagen, wenn sie ihr Geld holen kommen!« meinte Drood. »Meine Freunde werden hier schlafen. Dem Personal habe ich so lange Urlaub gegeben. Wir freuen uns schon auf eine tüchtige Schießerei!«

 

Als Terry ihn verließ, hatte er eine interessante Tatsache festgestellt. Der blaue Brief war einen Tag früher abgeschickt als der grüne. Weil er aber an eine andere Wohnung Droods adressiert war, die dieser zur Zeit vermietet hatte, wurde er gleichzeitig mit dem grünen Brief ausgetragen.

 

Terry holte Jiggs ab und erzählte ihm alles.

 

»Ich habe«, sagte Allerman, »schon in den Abendblättern davon gelesen. Es wird jetzt Komplikationen geben. Eines ist gewiß: Die Blauen und die Grünen haben ein Abkommen getroffen – vermutlich kurze Zeit nach der Ermordung Decadons. Sie haben das wohlhabende London unter sich aufgeteilt und ausgemacht, daß die eine Bande der anderen nicht in die Quere kommen darf. Die doppelte Adresse erklärt, warum Drood zwei Aufforderungen erhielt. Die Blauen haben ihren Brief in die Ebury Street geschickt, weil sie glaubten, daß er dort wohne; und die Grünen sandten ihre Drohung in die Park Street. Die Frage dreht sich jetzt nicht darum, ob Herr Drood und seine Freunde mit den Gangstern fertig werden, sondern darum, wie sich die Grünen zu den Blauen stellen und umgekehrt. Ich würde viel Geld dafür geben, wenn ich jetzt die Telefongespräche belauschen könnte, die zwischen den beiden Lagern geführt werden!«

 

Der Captain hatte nur zu recht: Kerky Smith sprach eben von seinem Hotel aus mit Eddie Tanner, der sich in Leslies früherem Büro befand. Drei sehr gut aussehende junge Leute saßen ihm gegenüber und hielten die Hüte auf dem Schoß.

 

»Ganz gewiß«, sagte Eddie gerade, »ich habe es in der Zeitung gelesen … Jemand hat Briefe von beiden Parteien bekommen.«

 

»Ja«, entgegnete Kerky freundlich. »Die Blauen haben fünftausend Pfund verlangt; der kleine Gangster, der die Grünen befehligt, wäre mit zweitausend zufrieden gewesen. Ich glaube, daß der Größere hier den Vorrang hat.«

 

Eddie lächelte. »Nein, das haben Sie falsch verstanden! Der größere Mann ist nicht derjenige, der das Maul am weitesten aufreißt!«

 

Kerky dachte eine Weile nach, bevor er antwortete: »Nun, auf jeden Fall wird keiner etwas bekommen. Dieser Drood ist ein alter Kriegsveteran, und Revolver sind für ihn nichts Außergewöhnliches.«

 

»Das stimmt!« pflichtete Eddie bei. »Vielleicht könnten sich die Blauen und die Grünen die Sache überlegen und einen geheimen Beschluß fassen?«

 

»Möglich«, meinte Kerky. »Aber ich glaube das kaum. Sie können doch nicht von weitblickenden Geschäftsleuten erwarten, daß sie sich mit kleinen Pinschern abgeben?«

 

»Betrachten Sie die Sache von dem Standpunkt, Kerky?«

 

»Ja, durchaus!« Smith legte den Hörer auf.

 

Er blieb weiterhin in schlechter Stimmung. Die Frage nach den Grenzen zwischen den Gebieten der zwei Banden war noch nicht zur Zufriedenheit gelöst. Und nun mußte vor allem Cuthbert Droods Herausforderung beantwortet werden. Alle Leute wußten, daß er gegen beide Banden kämpfen wollte, und er durfte auf keinen Fall straflos ausgehen. Es war sogar notwendig, ihn möglichst auffällig und eindringlich zu bestrafen. Beide Banden hatten sich vorbereitet, aber keine wußte etwas von den Methoden der anderen.

 

Kerky war ärgerlich. Eddie wurde, seiner Meinung nach, immer unverschämter; er hatte sich bereits unverzeihliche Übergriffe zuschulden kommen lassen. Dazu kam nun obendrein noch diese neue Geschichte mit Drood. Für zwei Banden war nicht genügend Raum in London. Entweder mußte man zu einer Verständigung kommen, oder eine Partei mußte aus, dem Geschäft ausscheiden. Und Kerky wußte, welche Partei das sein würde.

 

Schließlich besuchte er einen kleinen Friseurladen in Soho. In einem Privatsalon wurden dort bevorzugte Kunden bedient, und ein Friseur machte sich daran, Kerky die Haare zu schneiden. Dabei hatten sie aber eine sehr eingehende Unterredung.

 

Wenn Kerky die Tätigkeit in einer neuen Stadt aufnahm, so erschien zunächst jemand und kaufte einen Friseurladen. Ein Innenraum wurde dann durch eine Safetür abgeschlossen, und man stellte zwei Gehilfen an. Dieser Friseurladen diente als Zentrale für seinen Nachrichtendienst. Im oberen Stockwerk richtete er stets ein Wettbüro für Rennen ein. Es gab darin ein Dutzend Telefonapparate, die von zwei bis drei Angestellten bedient wurden.

 

Kerky hatte die Unterredung beendet, fuhr mit der Bürste noch einmal übers Haar und verließ den Laden. Sein Wagen, der in einer kleinen Seitenstraße gewartet hatte; fuhr geräuschlos vor. Kerky stieg ein, und das Auto fuhr an. Im selben Augenblick glitt ein anderes Auto vorüber.

 

Kerky witterte Gefahr und duckte sich, bevor drüben das Maschinengewehr ratterte. Er hörte, wie die Glasscheiben zerklirrten. Sein Chauffeur brach am Steuerrad zusammen.

 

Die Leute auf der Straße schrien; Signalpfeifen schrillten. Ein Polizist rannte herbei und half Kerky aus dem Wagen.

 

Er war ziemlich verstört, aber unverletzt. »Meinen Chauffeur haben sie erschossen!« knurrte er.

 

Man legte den Toten aufs Pflaster. Jemand telefonierte nach einem Krankenwagen.

 

Kerky gab die Sache zu denken: Er bekam nun doch Respekt vor einem Feind, den er unterschätzt hatte …

 

»Ein bißchen Feuerwerk mit grünen und blauen Raketen, und Kerky Smith ist nicht mehr so sicher, wie er war«, faßte Jiggs das Ergebnis zusammen. »Er wird etwas Bedeutendes unternehmen müssen, um seine Selbstachtung zurückzugewinnen.«

 

»Glaub‘ ich auch«, entgegnete Terry. »Ich bin nicht mehr so zuversichtlich wie heute nachmittag.«

 

»Denken Sie dabei an Drood?«

 

»Nun … Wer seine Nase da hineinsteckt, wird einen unangenehmen Empfang haben!«