Kapitel 14

 

14

 

In dem Garten des kleinen Hotels, von dem aus man die schöne Bucht von Babbacombe überschauen konnte, saßen ein alter Herr und eine junge Dame beim Frühstück. Die Rasenflächen des Parks erstreckten sich bis zum Rand der Klippen; hohe Hecken und Rosengebüsche verbargen ihn vor neugierigem Blicken. Mr. Ross las eine Zeitung, während Stephanie auf das Meer hinaussah.

 

»Liebling«, sagte er schließlich und legte die Zeitung nieder^ »nun ist es schon drei Tage her, und wir haben noch immer keine Nachricht von Monsieur Lecomte.«

 

Sie streichelte seine Hand.

 

»Wir müssen Geduld haben. Ich bin fest davon überzeugt, daß Lecomte alles tut, was er kann. Er hat Cäsars Schloß vom Keller bis zum Dachboden durchsucht, und er glaubt bestimmt, daß meine Mutter noch am Leben ist.«

 

»Aber er hat sie doch nicht gefunden«, erwiderte der alte Herr kopfschüttelnd. »Das ist sehr schlimm. Dieser Cäsar Valentine ist ein Teufel, und ich sage dir –«

 

»Ein paar Tage vorher war sie aber noch dort. Diese Frau ich meine Madonna Beatrice – hat das doch bei ihrer Verhaftung eingestanden.«

 

»Hat Cäsar davon gehört?« fragte er schnell.

 

Stephanie verzog das Gesicht.

 

»Das kann uns doch gleichgültig sein. Aber bestimmt hat er meine Mutter nach England gebracht.«

 

»Hätten sie doch nur das Schloß durchsucht, während ich noch in Paris war. Offenbar halten sie Cäsar für einen amerikanischen Bürger. Deshalb wandten sie sich zunächst an das Konsulat der Vereinigten Staaten. Und dieser verdammte Konsul mußte erst wieder nachforschen, ob Cäsar Amerikaner oder Engländer ist. Wer ist denn eigentlich Madonna Beatrice?«

 

»Eine alte Dienerin der Valentines, soviel ich weiß.«

 

»Wir werden ihn doch noch fassen!« entgegnete der Alte und nahm seine Zeitung wieder auf.

 

In diesem Augenblick erschien Smith im Garten. Er trug einen hellgrauen Anzug und ging nachlässig über den Rasen auf die beiden zu. Als Stephanie ihn erblickte, erhob sie sich rasch.

 

»Aber wie kommt es denn, daß …«, sagte sie fassungslos.

 

»Wer ist das?« fragte Mr. Ross scharf. »Mr. Smith?«

 

»Es tut mir sehr leid, daß ich Sie störe«, erwiderte der junge Mann. »Ich habe nicht die geringste Absicht, Sie durch meine Gesellschaft zu belästigen, aber ich habe direkten Auftrag von meinem Freund Valentine, mich um neun Uhr hier einzufinden. Deshalb bin ich gekommen.«

 

Ross schaute ihn düster an.

 

»Es wäre mir lieb, wenn Sie wieder gingen«, sagte er barsch. »Mit Leuten Ihres Schlages will ich nichts zu tun haben.«

 

Vor dem Eingang zum Hotelgarten hatte inzwischen ein eleganter Wagen angehalten. Stephanie hörte es, ebenso Smith, aber sie legten beide der Sache keine Bedeutung bei. Zweifellos hätten sie das aber getan, wenn sie den Mann und die Frau gesehen hätten, die aus dem Auto stiegen.

 

»Gehen Sie zu Ihrem Mr. Valentine zurück«, fuhr Ross ärgerlich fort, »und bestellen Sie ihm, daß ich mich weder vor ihm noch vor seinen Meuchelmördern fürchte. Leute mit Ihrer Bildung sollten sich eigentlich nicht dazu herbeilassen, einem solchen Schurken zu dienen. Jeder anständige Mensch muß Sie mehr verachten als die armen Kerle, die in den Gefängnissen sitzen.«

 

Smith lächelte ironisch.

 

»Ihre Ansicht über meinen Charakter ist ungeheuer interessant. Ihre Enkelin wird Ihnen wahrscheinlich sagen –«

 

Er wurde plötzlich unterbrochen, und er allein verstand, was die kommende Szene zu bedeuten hatte. Er holte tief Atem, als eine Frau mit zögernden Schritten auf die Gruppe zukam.

 

Stephanie betrachtete sie erstaunt, während Mr. Ross immer noch finster zu Smith hinübersah. Die Fremde war eine hagere Frau mit eingefallenem, bleichem Gesicht. Sie streckte merkwürdigerweise die Hand aus, als ob sie halb blind wäre und ihren Weg ertasten müßte, um nicht anzustoßen. Auf ihren weißen Händen waren die blauen Adern deutlich zu sehen. Stephanie schrie plötzlich auf und eilte auf die alte Frau zu, die vor ihr zurückschrak.

 

»Mutter – Mutter! Kennst du mich denn nicht?« rief sie schluchzend und schloß die Fremde in die Arme …

 

Ein Kellner kam mit einem schweren Tablett den engen Gang entlang, der von der Küche durch den Rosengarten zum Rasen führte. Er war erstaunt, als er einen schlanken jungen Mann auf einer Bank sitzen sah, der ihm zuwinkte.

 

»Könnten Sie mir vielleicht ein Glas Wasser bringen?«

 

»Gewiß. Ich will nur eben erst den Kaffee zu den Herrschaften dort bringen –«

 

»Ach, es ist doch schnell geschehen«, erwiderte der Mann schwach, faßte in die Tasche und gab dem Kellner eine Handvoll Silbergeld. »Ich leide an einem Herzanfall. Mein Leben kann davon abhängen, daß Sie mir rasch helfen.«

 

Der Kellner setzte das Tablett ab, eilte zur Küche zurück und kam sofort mit einem Glas Wasser wieder.

 

Der Fremde nahm es mit zitternder Hand und trank es aus.

 

»Ich danke Ihnen«, sagte er dann. »Nun fühle ich mich schon wieder besser.«

 

Der Kellner brachte nun den Kaffee zu der Gesellschaft auf dem Rasen. Als er zurückkam, war der Herr gegangen.

 

Smith fühlte sich sehr unbehaglich und überflüssig, aber es blieb ihm nichts anderes übrig, als auszuhalten. Cäsar hätte ihm nicht telegrafiert, daß er hier genau um neun Uhr erscheinen solle, wenn nicht viel auf dem Spiel gestanden hätte. Er war zur Seite getreten und hörte wenig von der Unterhaltung der anderen. Die Frau hatte er sofort wiedererkannt.

 

Mr. Ross winkte ihm plötzlich, und wenn seine Stimme auch noch nicht freundlich klang, so hatte sie doch den feindseligen Ton verloren.

 

»Mr. Smith«, fragte er, »haben Sie etwas davon gewußt?«

 

»Nein. Ich hatte allerdings den Verdacht, daß die Dame in Cäsars Haus in Maisons Lafitte gefangengehalten wurde.«

 

»Können Sie mir nicht sagen, warum er sie freigelassen und heute morgen hierhergebracht hat?«

 

Smith schüttelte den Kopf.

 

»Ich weiß nichts. Ich habe nur Anweisung erhalten, um neun Uhr vormittags hier an dieser Stelle zu sein.«

 

Es war für ihn ein peinlicher Augenblick, und die Situation erforderte größte Vorsicht. Als er sich eben wieder zurückziehen wollte, winkte ihm die hagere Frau. Sie sah müde von ihrer Tochter zu dem alten Mann und verstand allem Anschein nach nicht, was um sie her vorging.

 

»Sind Sie Smith?« fragte sie langsam wie jemand, der nicht daran gewöhnt ist, sich mit anderen zu unterhalten. »Er sagte mir, daß Sie mich erwarteten.«

 

»Wo ist er denn?« entgegnete Smith schnell.

 

»Er war hier – in dem Wagen.« Sie zeigte in die Richtung, woher sie gekommen war. »Aber ich glaube, er ist wieder gegangen. Er wollte meinen Vater nicht sehen …«

 

Smith trat zu der Gruppe zurück, und auf einen Wink von Mr. Ross setzte er sich an den Tisch.

 

»Ich habe gestern auf dem Dampfer das Schriftstück unterschrieben, wie er es verlangte«, fuhr sie fort. »Und ein Steward hat es auch unterzeichnet.«

 

»Ein Schriftstück?« fragte Stephanie schnell. »Um was hat es sich denn gehandelt, Mutter?«

 

Die alte Frau legte die Stirn in Falten.

 

»Sie nennen mich Mutter?« Sie schaute das Mädchen merkwürdig an. »Früher hatte ich einmal ein kleines Kind.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

 

Stephanie nahm ihre Hand und streichelte sie.

 

»Erzähle doch«, sagte Mr. Ross freundlich. »Sicher hat Mr. Smith nichts dagegen, uns dabei Gesellschaft zu leisten. Stephanie, schenke doch bitte den Kaffee ein. Auch eine Tasse für Mr. Smith.«

 

»Soviel ich weiß, ist es eine Woche her«, begann jetzt die alte Frau, die sich wieder etwas gefaßt hatte. »Cäsar kam ins Haus und sagte mir, daß er mich zu meinem Vater nach England zurückbringen wollte. Darüber freute ich mich natürlich sehr, denn es war furchtbar einsam auf dem Schloß. Alles war so geheimnisvoll, und manchmal war Cäsar grausam zu mir. Sie fürchteten, ich könnte fliehen, und ließen mich daher nur nachts ins Freie gehen. Auch dann legten sie mir noch Fesseln an Hände und Füße, daß ich kaum laufen konnte. Einmal habe ich versucht, zu entkommen.«

 

Smith beobachtete sie über den Rand seiner Tasse hinweg, während er einen winzigen Schluck nahm.

 

Stephanie wollte gerade die Tasse an die Lippen setzen, als Smith sie ihr aus der Hand schlug. Der heiße Kaffee floß über ihr hübsches Kleid, und sie sprang entrüstet auf.

 

»Entschuldigen Sie«, meinte er kühl. »Es tut mir leid, daß ich die Geschichte unterbrechen mußte, aber der Kaffee schmeckt schlecht.«

 

»Was meinen Sie?« fragte Ross verwundert.

 

»Ich habe den Eindruck, daß Cäsar Valentine uns alle auf einen Schlag beseitigen will. Aber ich habe noch keine Lust zu sterben.« Er roch an dem Kaffee und winkte dem Kellner, der gerade wieder auf dem Rasen erschien.

 

»Schmeckt der Kaffee nicht?« fragte der Mann überrascht. »Er ist doch sonst immer so gut?«

 

Er hob die Tasse, um zu kosten, aber Smith hinderte ihn daran.

 

»Wenn Sie nicht in kürzester Zeit ein toter Mann sein wollen, versuchen Sie den Kaffee nicht. Aber sagen Sie mir – haben Sie die Kanne direkt von der Küche hierhergebracht?«

 

»Jawohl.«

 

»Ist Ihnen unterwegs nicht jemand begegnet?«

 

»Nein – ach doch, jetzt besinne ich mich! Da war ein Herr, der fühlte sich sehr elend und bat mich, ihm ein Glas Wasser zu holen.«

 

»Das haben Sie natürlich getan? Und den Kaffee haben Sie zurückgelassen? Nun verstehe ich den Zusammenhang.«

 

»Soll ich den Kaffee forttragen?« fragte der Kellner.

 

»Nein, danke«, erwiderte Smith grimmig. »Lassen Sie ihn hier. Ich möchte mich davon überzeugen, ob Cäsar Valentine mich betrogen hat, aber es ist nicht nötig, daß deswegen Menschen umkommen. Bringen Sie mir eine Flasche – eine alte Whiskyflasche genügt vollkommen. Ich will den Kaffee hineinschütten.«

 

Es herrschte tiefes Schweigen, als der Kellner verschwunden war.

 

»Sie meinen doch nicht, daß er einen derartig teuflischen Plan gegen uns alle ausgeheckt hat?« fragte Ross schließlich.

 

»Ihm ist alles zuzutrauen. Ich bin sicher, daß er uns ermorden wollte, um alle Mitwisser seiner Schandtaten auf einmal loszuwerden.«

 

Kapitel 15

 

15

 

Cäsar Valentine erhielt einen Brief vom Bilton-Hotel und erkannte zu seinem größten Ärger die Handschrift von Smith. Das war ein teils bedrohliches, teils beruhigendes Zeichen, denn Smith erwähnte mit keiner Silbe, was sich am vergangenen Tag in Babbacombe abgespielt hatte.

 

Cäsar ging also zum Bilton-Hotel und begab sich direkt zu Mr. Smith. Merkwürdigerweise wohnte dieser in den früheren Räumen von Mr. Ross, aber Cäsar schien das nicht zu bemerken. Smith saß in einem hohen Armsessel und rauchte ruhig seine Pfeife.

 

»Hallo, warum sind Sie hier abgestiegen?« begrüßte ihn Cäsar. »Ich erwartete Sie im Portland Place.«

 

»Schließen Sie die Tür, und setzen Sie sich. Ich gehe nicht wieder in Ihr Haus – ich halte das Hotel für sicherer.«

 

»Was wollen Sie denn damit sagen?« erkundigte sich Cäsar mit einem freundlichen Lächeln.

 

»Damit will ich sagen, daß Sie mich betrogen haben. Es wird das erste– und letztemal gewesen sein. Ich spreche jetzt mit Ihnen von Mann zu Mann, und merken Sie sich genau, was ich Ihnen zu sagen habe. Ich habe mit Ihnen gemeinsame Sache gemacht, weil ich glaubte, daß wir einander vollkommen offen und ehrlich alles sagen würden und daß es keine Geheimnisse zwischen uns beiden gäbe. Sie kennen meine Vergangenheit, und ich kenne die Ihre, und nun möchte ich sämtliche Tatsachen über eine gewisse Angelegenheit wissen, bevor ich fortfahre.«

 

»Und wenn ich mich weigere, Ihnen Angaben darüber zu machen? Wollen Sie mich dann anzeigen?«

 

»Nein, zur Polizei gehe ich nicht. Andererseits habe ich keine Ursache, die Polizei zu fürchten. Sie können nicht das geringste gegen mich vorbringen.«

 

»Mit Ausnahme des Mordes in Paris.«

 

»Ach, die Geschichte!« Smith zuckte die Schultern. »Paris ist Paris, und London ist London. Cäsar, Sie haben gestern morgen versucht, mich beiseite zu schaffen. Leugnen Sie es nicht. Ich bin im Bild – ich habe den Kaffee chemisch untersuchen lassen.«

 

»Chemisch untersuchen lassen?« fragte Cäsar mit erkünsteltem Erstaunen.

 

»Ach, lassen Sie doch diese Mätzchen und spielen Sie nicht den Unschuldigen«, erwiderte Smith barsch. »Wir wollen uns an die Tatsachen halten. Sie wissen ganz genau, was Sie alles auf dem Kerbholz haben und was Ihnen bevorsteht, und wenn Sie nachdenken, werden Sie auch wissen, wer Ihr gefürchteter Feind ist.«

 

»Sie meinen Nummer Sechs?« fragte Cäsar scharf. »Es muß entweder Welland sein oder –«

 

»Oder?«

 

»Der Sohn von Gale.«

 

»Erzählen Sie mir einmal alles, was Sie von dem wissen. Das haben Sie bis jetzt noch nicht getan.«

 

Cäsar dachte einen Augenblick nach.

 

»Nun, das können Sie ruhig erfahren. Bankdirektor Gale hatte einen Sohn. Vermutlich ging dieser nach Argentinien, wo er wahrscheinlich im Augenblick noch ist. Soviel ich weiß, haben Sie mir das doch selbst erzählt?«

 

Smith nickte.

 

»Warum sollten Sie Gales Sohn fürchten?«

 

Cäsar antwortete auf die Frage nicht.

 

»Erzählen Sie mir bitte die Wahrheit über diesen Fall. Ich muß unbedingt alles darüber wissen, damit ich die Schwierigkeiten kenne, mit denen ich zu rechnen habe.«

 

»Gale starb«, entgegnete Cäsar düster.

 

»Sie beabsichtigten doch seinen Tod?«

 

»Ja, in gewisser Weise. Ich schuldete ihm viel Geld und mußte ihn ins Unrecht setzen. Hätte er gesprochen, so wäre ich wegen Betruges verhaftet worden. Und an dem Tag, an dem er starb, hatte er sich tatsächlich entschlossen, mich der Polizei anzuzeigen. Ich kannte seine Gewohnheit, gegen Mittag ein Stärkungsmittel einzunehmen, eignete mir eine seiner leeren Flaschen an und vertauschte sie gegen die in seinem Arbeitszimmer.«

 

»Und die leere Flasche hatten Sie mit Gift gefüllt?«

 

»Mit Blausäure. So, nun wissen Sie die ganze Wahrheit. Über die Art des Betruges brauche ich Ihnen nichts zu erzählen, aber es war ein sehr schwerer Fall. Der alte Gale hatte mit der ganzen Sache natürlich überhaupt nichts zu tun gehabt.«

 

Smith antwortete eine Weile nicht. Er saß auf seinem Stuhl und starrte auf den Teppich.

 

»Ich verstehe«, sagte er schließlich. »Ich dachte schon immer, daß Sie mir eines Tages alles sagen würden. Sie scheinen in großer Gefahr zu sein, Cäsar. Wollen Sie mich jetzt allein lassen, damit ich mir überlegen kann, was wir tun müssen?«

 

Auf dem Rückweg zu seiner Wohnung verwünschte sich Cäsar selbst, weil er so mitteilsam gewesen war. Smith unterhielt sich währenddessen mit dem Detektiv Steele, der das Nebenzimmer im Hotel bewohnte und das ganze Gespräch mitstenografiert hatte.

 

Cäsar hatte eigentlich Schlimmeres als nur Vorwürfe von seinem Verbündeten erwartet, und er hielt es für unbedingt notwendig, ihn zu beruhigen, selbst wenn er gezwungen war, dabei einige seiner dunklen Taten zu enthüllen.

 

Als Cäsar Valentine sein Haus betreten wollte, wurde er verhaftet und zur Polizeistation in der Marlborough Street gebracht. Man klagte ihn des vollendeten und des beabsichtigten Mordes an. Zu seiner Erleichterung entdeckte er, daß auch Smith mit Handschellen auf einer Bank im Amtszimmer saß.

 

Man stellte sie vor das Polizeigericht und klagte sie an, dann wurde der Fall vertagt. Sieben Tage lang waren die beiden in nebeneinanderliegenden Zellen im Brixton-Gefängnis untergebracht. Sie genossen das ungewöhnliche Vorrecht, auf dem Gefängnishof während der Spaziergänge miteinander reden zu dürfen. Dann verschwand Smith eines Morgens, und Cäsar sah ihn erst bei der Gerichtsverhandlung in Old Bailey wieder. Sein früherer Verbündeter trat dort als Zeuge gegen ihn auf und begann seine Aussage mit den Worten:

 

»Mein Name ist John Gale. Ich bin Beamter der Kriminalabteilung von Scotland Yard und werde in den offiziellen Akten als Nummer Sechs geführt …«

 

*

 

Der Prozeß endete mit der Verurteilung Cäsars zum Strang. Eine Woche später traf John Gale alias Smith alias Nummer Sechs Stephanie im Teesalon des Piccadilly-Hotels.

 

»Sie sind doch sicher sehr froh, daß alles vorbei ist«, sagte sie.

 

Er nickte.

 

»Etwas möchte ich noch gern von Ihnen erfahren«, erwiderte er. »Ich habe niemals die Haltung verstanden, die Sie mir gegenüber einnahmen.«

 

»Nein? Und ich dachte immer, ich wäre sehr nett zu Ihnen gewesen.«

 

»So meinte ich es nicht. Als Sie Cäsar Valentine in Paris beobachteten, waren Sie doch Zeugin eines offenbar schweren Verbrechens am Quai des Fleurs.«

 

»Gewiß.«

 

»Aber Sie haben dem Mann gegenüber, der diese Tat beging, niemals Schrecken und Abscheu gezeigt.«

 

Stephanie lachte.

 

»Als ich über das Geländer sah, glaubte ich natürlich zuerst wirklich, daß Sie einen Mord begangen hätten. Aber dann entdeckte ich, daß zwei französische Polizeiboote den Mann aus dem Wasser holten und daß er selbst ins Boot kletterte. Da mußte ich doch erkennen, daß das Verbrechen nur vorgetäuscht war, um Cäsar Valentine irrezuführen. Und wenn ich noch einen Zweifel gehabt hätte, wäre er zerstreut worden, als Sie mich in Portland Place aus dem Zimmer befreiten. Außerdem sah ich doch, was Sie auf den Briefumschlag schrieben.«

 

Er nickte.

 

»Es war der einzig mögliche Weg, mit Cäsar in Verbindung zu kommen, nachdem ich bemerkt hatte, daß er sich für mich interessierte. Ich wußte genau, daß er das tun würde, denn ich hatte durch Chi So genügend Schauergeschichten über meine frühere Verbrecherlaufbahn verbreiten lassen. Die Boote und der ›todgeweihte‹ Polizist warteten viele Nächte hintereinander am Quai des Fleurs, bis der günstige Augenblick endlich kam. Sie sehen, ich bin nur ein Amateurdetektiv, aber ich habe Ideen.«

 

»Ich bewundere Ihre ungewöhnliche Bescheidenheit«, erwiderte sie lächelnd. »Haben Sie meinen Vater gefunden?« fragte sie dann ernst.

 

»Schon vor mehreren Wochen.«

 

»Aber war es nicht grausam von Ihnen, ihn so lange von mir und meiner Mutter fernzuhalten? Sicherlich gibt es doch jetzt keinen Grund mehr, warum wir ihn nicht gleich sehen könnten?«

 

»Doch, es gibt einen sehr bedeutsamen Grund«, entgegnete er ruhig. »In drei Wochen bringe ich Sie zu ihm. Er weiß noch nicht, daß Sie und Ihre Mutter leben.«

 

»Warum denn erst in drei Wochen?«

 

»Das ist mein und sein Geheimnis.«

 

Stephanie fragte nicht weiter.

 

*

 

Cäsar Valentine sollte seinen Feind noch einmal treffen. Eines Morgens weckte man ihn aus tiefem Schlaf. Die Sträflingskleidung war aus seiner Zelle entfernt worden, und er erhielt den Anzug, den er bei dem Prozeß getragen hatte.

 

Er erhob sich und kleidete sich an, lehnte es aber entschieden ab, sich von einem Geistlichen trösten zu lassen. Äußerlich schien er vollkommen ruhig zu sein, und er frühstückte auch reichlich und gut. Um Viertel vor acht kam der Gefängnisdirektor, und hinter ihm zeigte sich John Gale.

 

»Hallo, Gale!« begrüßte ihn Cäsar. »Das wäre also das Ende. Aber mein Leben war sehr amüsant. Lassen Sie sich zum Schluß noch einen Rat geben: Betreiben Sie eine kleine Liebhaberei, dadurch halten Sie das Unheil von sich fern. Fabrizieren Sie zum Beispiel Knöpfe.«

 

Gale antwortete nicht, und der Direktor gab ein Zeichen.

 

Ein Beamter, der eine kurze Leine in der Hand trug, trat ein.

 

»Entschuldigen Sie«, sagte Cäsar, kniete zum größten Erstaunen aller Anwesenden vor seinem Lager nieder und bedeckte das Gesicht mit den Händen.

 

Dann erhob er sich, wandte sich um und starrte mit weitaufgerissenen Augen den Mann an, der zuletzt hereingekommen war.

 

»Mein Gott!« Er atmete schwer, und seine Sprache klang eigentümlich schleppend. »Sie – sind – der Henker?«

 

Welland nickte.

 

»Auf diesen Tag und auf diese Stunde habe ich gewartet«, erwiderte er und fesselte sachkundig Cäsars Hände auf dem Rücken.

 

»Aber Sie haben umsonst gewartet!«, rief Cäsar triumphierend. »Wieviel Knöpfe sind an meinem Rock?«

 

Weiland und die anderen sahen, daß ein Knopf fehlte.

 

»Blausäure in fester Form und ein wenig Gummi geben – einen – ausgezeichneten Knopf«, stieß Cäsar mühsam hervor, dann brach er zusammen.

 

Sie legten ihn auf das Bett, aber er war schon tot.

 

 

Ende

 

Kapitel 1

 

1

 

Nachdem man auf der internationalen Polizeikonferenz in Genua drei Tage lang die verschiedensten Probleme erörtert hatte, kam man schließlich auch auf Cäsar Valentine zu sprechen. Es lag nichts Besonderes gegen ihn vor; die Beamten tauschten nur im Anschluß an den Fall Gale ihre Meinungen über ihn aus.

 

»Ich verstehe eigentlich nicht, was man diesem Mann vorwirft«, sagte Lecomte von der Pariser Sûreté. »Er ist reich, sehr bekannt und sieht vorzüglich aus – aber das alles kann man doch nicht als ein Verbrechen bezeichnen.«

 

»Wo mag er nur das Geld herhaben?« fragte Leary, der aus Washington kam. »Fünf Jahre lang war er bei uns in den Staaten, aber er hat immer nur Geld ausgegeben.«

 

»Auch das ist weder in Frankreich noch in Amerika ein Verbrechen«, erwiderte Lecomte lächelnd.

 

»Leute, die mit ihm in Geschäftsverbindung standen, hatten das Unglück, plötzlich zu sterben.«

 

Es war Hallett von der Londoner Kriminalpolizei, der diese unfreundliche Bemerkung machte.

 

Leary nickte.

 

»Ja, das stimmt auch mit unseren Beobachtungen überein. Die Vorsehung meinte es sehr gut mit Mr. Valentine. Er hatte sich vor ein paar Jahren auf der Chikagoer Börse in Weizen engagiert, und die Kursentwicklung ging gegen ihn. Die Preise fielen und fielen, und an der Spitze der Baissegruppe stand Burgess. Er war ein persönlicher Gegner Valentines und hätte ihn auch ruiniert, aber eines Morgens wurde er auf dem Boden eines Liftschachtes in seinem Hotel tot aufgefunden. Er war vom neunzehnten Stockwerk in die Tiefe gestürzt.«

 

Lecomte zuckte die breiten Schultern.

 

»Kann das nicht ein Zufall gewesen sein?«

 

»Wenn dies der einzige Fall wäre, könnte man es annehmen«, entgegnete Hallett. »Aber hören Sie weiter. Dieser Mr. Valentine befreundete sich mit dem Bankier George Gale in England. Gale finanzierte ihn mit Bankgeldern, obwohl das niemals bewiesen wurde. Der Mann hatte die Gewohnheit, ein Nervenstärkungsmittel zu nehmen, das er in seinem Büro stehen hatte. Eines Abends wurde er mit der kleinen Flasche in der Hand in seinem Privatkontor tot aufgefunden. Das Etikett trug die Aufschrift der Medizin, aber in Wirklichkeit enthielt die Flasche ein starkes Gift. Als später die Bücher der Bank geprüft wurden, stellte sich heraus, daß eine Summe von hunderttausend Pfund fehlte. Valentines Konto war vollkommen in Ordnung. Man nahm allgemein an, daß Gale Selbstmord verübt hätte, und Valentine schickte zu seiner Beerdigung den größten Kranz.«

 

»Nun, ich will Valentine nicht verteidigen«, entgegnete Lecomte, »aber ich sehe wirklich noch keinen zwingenden Grund, den Mann für einen Verbrecher zu halten. Es mag immerhin. Selbstmord gewesen sein. Können Sie vielleicht das Gegenteil beweisen? Sicher ist der Fall doch mit aller Gründlichkeit von Scotland Yard untersucht worden.«

 

Hallett nickte.

 

»Und es wurde nichts Belastendes gegen Valentine gefunden?« fragte Lecomte. »Sie halten den Mann trotzdem für verdächtig? Nun, wenn das tatsächlich der Fall sein sollte, helfe ich Ihnen mit sämtlichen Beamten der Sûreté. Ich werde ihn das nächste Mal Tag und Nacht bewachen lassen, denn gewöhnlich bringt er sechs Monate des Jahres in Frankreich zu. Aber offen gestanden sähe ich es lieber, wenn Ihr Verdacht besser begründet wäre.«

 

»Er ist mit der Frau eines anderen durchgebrannt«, begann Hallett noch einmal. Lecomte lachte laut.

 

»Verzeihen Sie«, entschuldigte er sich gleich darauf, »aber das ist nach französischem Gesetz kein Verbrechen.«

 

Die allgemeine Unterhaltung wandte sich dann anderen Dingen zu.

 

Ein Jahr später saß Hallett in seinem Büro in Scotland Yard am Schreibtisch und las mit düsterem Gesichtsausdruck einen Bericht durch.

 

Eine halbe Stunde lang dachte er darüber nach, dann klingelte er. Kurz darauf trat jemand in den Raum.

 

»Vor etwa sechs Monaten«, begann der Chef ernst, »haben Sie mir Ihre Ansichten über Mr. Valentine auseinandergesetzt. Bitte unterbrechen Sie mich nicht, hören Sie mich erst zu Ende an. Ich habe Sie gern – das wissen Sie. Und ich vertraue Ihnen, sonst würde ich Sie nicht vor eine so schwere Aufgabe stellen. Ich bin davon überzeugt, daß Ihre Theorien in gewisser Weise begründet sind. Deshalb habe ich mich auch so viel mit Ihnen befaßt und Sie für die Lösung dieser Aufgabe geschult.

 

Bei solchen Fällen muß man vor allem Geduld haben. Chefinspektor Burns schickte einen Mann nach den Minenfeldern, um einen Mörder zu suchen. Als Anhaltspunkt hatte der Beamte nur eine kleine Fotografie, auf der ein Teil der rechten Gesichtshälfte des Täters zu sehen war. Es dauerte drei Jahre, bis er ihn fassen konnte.

 

Lecomte von der Sûreté wartete fünf Jahre, bis er Madame Serpilot verhaftete. Als ich noch ein junger Beamter war, verfolgte ich die Bande von Cully Smith drei Jahre und acht Monate lang; erst dann gelang es mir, Cully zu überführen. Vielleicht kostet es Sie ebensoviel Zeit, Cäsar Valentine schachmatt zu setzen.«

 

»Wann soll ich beginnen?«

 

»Sofort. Niemand darf Ihren Aufenthalt erfahren, nicht einmal diese Dienststelle. Ihr Gehalt wird Ihnen jeden Monat postlagernd zugesandt, und in den Akten wird hinter Ihrem Namen die Bemerkung stehen: ›Sonderauftrag im Ausland‹.«

 

»Manches wird sehr schwierig sein. Mein Name –«

 

»Sie haben keinen Namen. Von jetzt ab heißen Sie Nummer Sechs, und niemand außer uns beiden weiß, wer Sie sind. Ich werde Auftrag geben, daß Scotland Yard aufgrund Ihrer Nachrichten, Wünsche – oder auch Hilferufe handelt. Gehen Sie nun und versuchen Sie, mit Valentine fertig zu werden. Vielleicht ist er tatsächlich der gefährlichste Mensch auf der ganzen Welt; andererseits wäre es aber auch möglich, daß die Gerüchte, die wir über ihn gehört haben, nicht auf Wahrheit beruhen. Sie übernehmen eine schwere Aufgabe. Man kann einen Mann nicht ins Gefängnis werfen, weil er viel Geld ausgibt, oder weil er mit der Frau eines anderen durchbrennt. Natürlich ist er bei den Männern nicht beliebt, und Leute, die hassen, nehmen es mit der Wahrheit nicht zu genau. Sie müssen kühn, aber vollständig unauffällig vorgehen, denn ich glaube, er hat überall auf der Welt seine Verbindungen. Zu meinem größten Erstaunen entdeckte ich, daß er sogar hier in diesem Amt einen Mann bestochen hatte, der ihm Nachrichten zukommen ließ. Dadurch wurden mir die Augen geöffnet, und ich erkannte, wie schwer es sein wird, diesen Fall aufzuklären. Ein Mann bezahlt nicht Tausende von Pfund, um einen Spion hier im Polizeipräsidium zu haben, wenn er nicht etwas zu fürchten hat.«

 

Nummer Sechs nickte.

 

»Also, die Welt steht Ihnen offen, und Sie können auf eine große Belohnung rechnen, wenn Sie Erfolg haben. Suchen Sie vor allem seine Freunde – Sie können in alle Gefängnisse Englands gehen und die Verbrecher verhören, die etwas von ihm wissen. Vielleicht hilft Ihnen das weiter.«

 

»Es ist eine sehr große Aufgabe, vor die Sie mich stellen, aber es ist die einzige auf der Welt, die ich mir wünsche.«

 

»Das weiß ich«, erwiderte Hallett. »Sie werden eine sehr einsame Zeit durchmachen, aber wahrscheinlich von allerlei Leuten unterstützt werden – ich denke an die Männer und Frauen, die Valentine ruiniert hat, die Väter junger Mädchen und die Männer von Frauen, denen er nachstellte. Sie werden gute Verbündete sein. Gehen Sie jetzt.«

 

Er stand auf und reichte Nummer Sechs die Hand.

 

»Also, leben Sie wohl, und viel Glück, Nummer Sechs«, sagte er lächelnd. »Wenn ich Sie von jetzt ab irgendwo auf der Straße treffe, werde ich Sie nicht erkennen. Sie sind für mich ein Fremder, bis Sie durch Ihre Zeugenaussage vor dem Kriminalgericht in Old Bailey Mr. Valentine für immer ausschalten.«

 

Nummer Sechs verließ das Büro, und Hallett trug in die amtliche Geheimliste hinter dem Namen von Nummer Sechs die Bemerkung ein:

 

»Mit Sonderauftrag im Ausland. Dieser Agent darf in keinem Bericht erwähnt werden.«

 

Ein Jahr später ließ Hallett Sergeant Steel in sein Büro kommen und erzählte ihm über die geheime Mission von Nummer Sechs soviel, als ihm ratsam erschien.

 

»Ich habe seit Monaten nichts mehr von Nummer Sechs gehört«, sagte er dann. »Fahren Sie nach Paris und beobachten Sie Cäsar Valentine.«

 

»Sagen Sie mir doch wenigstens, ob Nummer Sechs ein, Mann oder eine Frau ist?«

 

Hallett grinste.

 

»Das will Cäsar auch schon seit Monaten wissen. Ich habe drei Beamte entlassen müssen, weil sie versuchten, das Geheimnis herauszubringen. Ich warne Sie also, nicht in denselben Fehler zu verfallen, sonst bliebe mir nichts anderes übrig, als auch Ihnen den Laufpaß zu geben.«

 

Kapitel 10

 

10

 

Smith fuhr mit einem Taxi nach Portland Place Nr. 409. Mr. Valentine war nicht zu Hause, wie ihm der Diener mitteilte, und wollte auch erst spät am Abend wiederkommen. Smith ließ sich daher bei der jungen Dame melden, die zugegen war, und gab dem Mann eine Karte mit der Aufschrift »Lord Henry Jones«.

 

Er wurde ins Wohnzimmer geführt. Kurz darauf erschien Stephanie mit seiner Karte in der Hand. Sie blieb an der Tür stehen, als sie ihn sah. Smith verstand es, mit Frauen umzugehen, aber die Gegenwart dieses jungen Mädchens machte ihn befangen.

 

»Ach, Sie sind es!« rief sie.

 

»Ja.« Er war verlegen wie ein Schuljunge. »Ich wollte Sie in einer wichtigen Angelegenheit sprechen.« Zufällig sah er auf ihre Hand und bemerkte einen Verband an einem Finger. Nun lachte er und gewann seine Haltung wieder.

 

»Mein Vater ist ausgegangen«, erklärte sie abweisend, »und ich fürchte, daß ich nichts für Sie tun kann.«

 

»O doch, Sie können mir sogar sehr viel helfen, Miss Valentine«, entgegnete er kühl. »Zum Beispiel können Sie mir einige Informationen geben.«

 

»Worüber?«

 

»Zunächst einmal über Ihren Finger. Haben Sie sich sehr verletzt?«

 

»Wie meinen Sie das?« fragte sie schnell.

 

»Als Sie heute morgen meine Ledermappe aufschnitten, ist Ihnen wohl das Messer oder die Schere ausgeglitten; ich habe einen Tropfen Ihres kostbaren Bluts auf meiner Schreibunterlage gefunden.«

 

Sie wurde dunkelrot und sehr verlegen, war aber klug genug, nichts darauf zu erwidern.

 

»Wollen Sie mir keinen Stuhl anbieten?« fragte er.

 

Sie wies mit der Hand auf einen Sessel.

 

»Was hofften Sie denn in meiner Mappe zu finden? Etwa Beweise für meine Verbrechertätigkeit?«

 

»Die habe ich bereits. Sie vergessen anscheinend, daß ich in jener Nacht am Quai des Fleurs war.«

 

Sie sagte nicht, welche Nacht sie meinte, aber er brauchte sie um keine weitere Erklärung zu bitten. Smith wunderte sich über ihre außerordentliche Ruhe und Gelassenheit. Sie zitterte nicht, und doch mußte das, was sie gesehen hatte, für sie ein schreckliches Verbrechen bedeuten. Und nun sprach sie ganz nebenbei von »jener Nacht«, als ob sie selbst Mittäterin statt Zuschauerin gewesen wäre.

 

»Ja, ich erinnere mich. Merkwürdig, daß ich dergleichen nicht vergesse.«

 

Seine Ironie machte keinen Eindruck auf sie.

 

»Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten, Mr. Smith?«

 

Er nickte zustimmend.

 

Sie klingelte, ging dann zu ihrem Stuhl zurück und schaute ihn lächelnd an.

 

»Sie halten mich also für eine Einbrecherin, Mr. Smith?«

 

»Nein, so würde ich es nicht bezeichnen. Aber ich dachte, Ihr Vater hätte Sie vielleicht gebeten, in mein Zimmer zu gehen …« Er brach ab, weil ihm die rechten Worte fehlten.

 

»Ja, wir sind merkwürdige Leute«, sagte sie unvermittelt. »Mein Vater, Sie und auch ich.«

 

»Und Mr. Ross«, fügte er leise hinzu.

 

Sie sah ihn einen Augenblick bestürzt an.

 

»Gewiß«, entgegnete sie dann schnell. »Auch Mr. Ross. Mr. Valentine hat Sie doch im nächsten Zimmer einquartiert, damit Sie ihn überwachen sollen?«

 

Ihre Worte brachten ihn aufs neue in Verwirrung, aber er wußte seit langem, daß der Angriff die beste Verteidigung ist.

 

»Ich halte es eigentlich für unnötig, Mr. Ross im Auftrag Ihres Vaters zu beobachten«, erwiderte er etwas von oben herab, »besonders wenn er es hier in seiner Wohnung ebensogut tun kann wie ich.«

 

»Wie meinen Sie das?«

 

»Nun, Mr. Ross kommt doch zu Besuch hierher«, entgegnete er unschuldig.

 

»Mr. Ross?«

 

Sie schaute ihn scharf an, und plötzlich schien sie zu verstehen. Nur einen Augenblick gelang es ihr, sich zu beherrschen, dann lehnte sie sich im Stuhl zurück und lachte.

 

»Fabelhaft!« sagte sie. »Mr. Ross in diesem Haus! Haben Sie ihn denn kommen sehen?«

 

»Ja«, antwortete Smith kühl.

 

»Haben Sie auch beobachtet, wie er wieder fortging?«

 

»Nein.«

 

»Solange hätten Sie aber warten sollen«, meinte sie mit erkünsteltem Ernst. »Sie hätten doch aufpassen müssen, bis er wieder herauskam. Dann hätten Sie ihn zum Hotel begleiten und ins Bett bringen müssen. Dazu sind Sie doch angestellt?«

 

Smith fühlte sich unbehaglich. Er wußte nicht, ob sie zornig war, oder ob sie nur Spaß machte.

 

»Sie haben also gesehen, wie Mr. Ross hierherkam«, sagte sie nach einer Weile. »Haben Sie das meinem Vater erzählt?«

 

»Nein.«

 

Ihre Unterhaltung wurde unterbrochen, denn ein Diener rollte den Teewagen herein. Als er wieder gegangen war und sie eingegossen hatte, lehnte sie sich zurück. Sie hielt den Blick zu Boden gesenkt, als ob sie über ein Problem nachdächte.

 

»Mr. Smith, Sie halten mich wahrscheinlich für entsetzlich schlecht, weil ich so leichtfertig über die schreckliche Szene am Quai des Fleurs spreche. Aber ich habe Grund dazu.«

 

»Ich glaube diesen Grund zu kennen«; entgegnete er ruhig.

 

»Wirklich? Eigentlich sollte ich mich vor Ihnen hüten und nach der Polizei rufen, wenn Sie in meine Nähe kommen. Sie sind wirklich ein schlimmer Verbrecher, nicht wahr?«

 

Smith grinste verlegen. Von allen Menschen glückte es ihr allein, ihn ständig in Verwirrung zu bringen.

 

»Ja, vielleicht haben Sie recht, obwohl ich –«

 

»In England noch nicht in den Akten geführt werde – ich weiß.«

 

Er starrte sie betroffen, an. Woher kannte sie diese Redewendung, die er selbst gebraucht hatte?

 

»Ich bin ein merkwürdiges junges Mädchen, weil ich ein merkwürdiges Leben hinter mir habe. Meine Jugend verbrachte ich in einer kleinen Stadt in New Jersey …«

 

»Seltsam!« erwiderte Smith, während er den Tee umrührte.

 

»Werden Sie bitte nicht ironisch«, entgegnete sie lächelnd. »Ich war sehr, sehr glücklich in Amerika, obwohl ich keine Eltern zu haben schien. Nur mein Vater kam gelegentlich, und er ist wie soll ich sagen – ziemlich kühl und unnahbar.«

 

Smith nickte.

 

»Ich hätte lange Zeit in New Jersey bleiben können, vielleicht mein ganzes Leben, denn ich liebe die Gegend. Aber –« sie zögerte einen Augenblick – »ich machte eine schreckliche Entdeckung.«

 

»Und was war das?« fragte er interessiert.

 

»Das will ich Ihnen nicht sagen, wenigstens im Augenblick noch nicht.«

 

Seine Neugierde war in hohem Maße erregt.

 

»Vielleicht könnten Sie mir und auch sich selbst sehr viel helfen, wenn Sie es mir sagten.«

 

Sie sah ihn unschlüssig an und schüttelte dann den Kopf. »Ich will Ihnen etwas davon erzählen, und ich verlange nicht einmal von Ihnen, daß Sie darüber schweigen. Sicherlich tun Sie das ohne Aufforderung, denn ich kenne ja auch ein Geheimnis von Ihnen.«

 

»Ich fürchtete schon, Sie würden mich verraten –« begann er, aber sie brachte ihn durch eine Handbewegung zum Schweigen.

 

»Darüber wollen wir nicht sprechen. An einem der nächsten Tage werden Sie sowieso eine Überraschung erleben.«

 

»Was haben Sie in New Jersey entdeckt?«

 

»Nach dem Tod meiner Mutter fuhr mein Vater nach Europa«, entgegnete sie langsam. »Er ließ eine Anzahl von Sachen in der Obhut seines Rechtsanwalts Cramb zurück. Dieser bezahlte meine Auslagen und auch die Kosten des Haushaltes. Als ich später alt genug war, um selbst Geld zu verwalten, erhielt ich jeden Monat eine bestimmte Summe von ihm. Während Mr. Valentine nun in Europa war, starb der alte Herr plötzlich und seine Praxis ging in fremde Hände über. Der neue Inhaber sandte mir eine Kassette zurück, die Mr. Cramb aufbewahrt hatte. Mein Geld erhielt ich von da ab durch eine Bank. Die neuen Rechtsanwälte wollten in dem Büro aufräumen, in dem sich allerhand Akten und andere Dinge angesammelt hatten.

 

Ich hatte nicht die leiseste Idee, was ich damit machen sollte. Mrs. Temple, die damals den Haushalt führte, redete mir zu, die Sachen als eingeschriebenes Paket an meinen Vater nach Europa zu schicken. Ich suchte aber aus Neugier einen Schlüssel, um die Kassette zu öffnen, und das gelang mir auch. Sie war mit Papieren und Dokumenten gefüllt, die mit Ausnahme von ein paar losen Schriftstücken und Fotografien sorgfältig gebündelt waren. Ich nahm sie heraus und schickte sie meinem Vater. Als ich dann die losen Dokumente durchsah, fand ich eines darunter, das mich veranlaßte, nach Europa zu fahren. Vater hatte mich schon oft darum gebeten, aber ich glaubte nicht, daß er es ernst meinte. Aber nun war mein Entschluß gefaßt.«

 

»Wie lange ist das denn her?«

 

»Etwa zwei Jahre.«

 

»Das erklärt allerdings viel. Und was machen Sie nun hier in England?«

 

Er erhielt eine Antwort, auf die er nicht gefaßt war.

 

»Ich modelliere in Wachs. Hat Ihnen das mein Vater nicht erzählt?«

 

»Sie modellieren?«

 

»Gewiß. Ich will es Ihnen zeigen, wenn Sie sich dafür interessieren.«

 

Sie führte ihn zu einem kleinen Raum, der auf der Rückseite des Hauses lag und wie eine Werkstatt ausgestattet war.

 

Er betrachtete erstaunt die hübschen Plastiken, die zum Teil noch unvollendet waren.

 

»Sie sind ja eine Künstlerin, Miss Stephanie – Miss Valentine«, verbesserte er sich.

 

»Sie können ruhig Miss Stephanie sagen«, entgegnete sie mit einem bezaubernden Lächeln. »Halten Sie mich wirklich für eine Künstlerin?«

 

»Ja, selbstverständlich, wenn ich auch nicht viel von Kunst verstehe.«

 

»Aber Sie wissen doch vermutlich, was Ihnen gefällt? Nun haben Sie mich enttäuscht, Mr. Smith. Ich dachte, ein Mann von Ihrer Bildung würde etwas Originelleres sagen.«

 

Sie hatte tatsächlich Talent, das bewiesen ihre Arbeiten. Smith kam aus dem Staunen nicht heraus.

 

Plötzlich schrak sie leicht zusammen. Smith folgte der Richtung ihres Blicks und sah auch nach dem Schrank, der in einer Ecke stand. Rasch machte sie die Schranktür zu, schloß ab und steckte den Schlüssel in ihre Tasche. Als sie sich umdrehte, glühte ihr Gesicht.

 

»Was haben Sie denn da zu verstecken?«

 

Sie sah ihn argwöhnisch an.

 

»Das Familiengespenst«, versuchte sie zu scherzen. »Aber jetzt wollen wir zu unserem Tee zurückgehen.«

 

Smith sah ihre Verlegenheit. Was mochte der geheimnisvolle Schrank enthalten? Warum hatte sie gelacht, als er ihr erzählte, daß er Mr. Ross bis zu diesem Haus verfolgt hatte? Sie war wirklich ein merkwürdiges junges Mädchen!

 

»Das Familiengespenst«, wiederholte sie nach einer Weile unvermittelt. »Wir haben überhaupt viel zu verbergen, Mr. Smith.«

 

»Das ist wohl in allen Familien so«, entgegnete er etwas lahm.

 

»Aber bei uns – Borgias ist es ganz besonders schlimm.«

 

»Borgia? Warum erwähnen Sie diese alte Familie?«

 

»Wußten Sie denn das nicht? – Aber natürlich wissen Sie es«, erwiderte sie vorwurfsvoll. »Haben Sie noch niemals von dem alten, berühmten Geschlecht der Borgias gehört? Können Sie begreifen, daß mich mein Vater nicht Lucretia genannt hat?«

 

»O ja, das kann ich begreifen.« Er nickte bedächtig.

 

»Wie erklären Sie es sich denn?«

 

»Die Erklärung dafür lag wahrscheinlich in der Kassette, die Sie vor zwei Jahren aufräumten.«

 

Sie erhob sich und reichte ihm die Hand.

 

»Ich hoffe, es hat Ihnen hier gefallen. Aber jetzt müssen Sie wohl zum Hotel zurückgehen.«

 

Smith stand bereits auf der Straße, bevor ihm zum Bewußtsein kam, daß sie ihn fortgeschickt hatte.

 

Kapitel 11

 

11

 

Ein Wärter weckte John Welland aus einem unruhigen Schlaf. Die Beamten der Anstalt kannten ihn nicht als John Welland, aber der Name, den er sich zugelegt hatte, ist nebensächlich.

 

»Sechs Uhr«, sagte der Wärter kurz und ging wieder hinaus.

 

Welland erhob sich und kleidete sich an. Um halb zwölf passierte er das kleine, schwarze Tor und ging die Straße entlang zu einer Haltestelle.

 

Ein Gefangener, der am gleichen Morgen entlassen worden war und noch mit einigen Bekannten sprach, zeigte mit dem Kopf nach ihm und sagte ein paar Worte, durch die alle anderen auf ihn aufmerksam wurden.

 

Welland stieg in eine Straßenbahn, fuhr zur City und nahm dort ein Auto. Damit fuhr er eine Strecke zurück, entließ den Wagen, legte ein langes Stück Weg zu Fuß zurück und suchte durch möglichst unerwartete Änderungen der Richtung Leute abzuschütteln, die ihm vielleicht folgten.

 

Schließlich kam er in eine ruhige Straße und trat in ein kleines Haus. Niemand begrüßte ihn, aber in der Küche brannte der Gasofen, und jemand hatte das Geschirr zurechtgestellt. Er setzte den Wasserkessel auf, stieg dann die steile Treppe zu seinem Schlafzimmer hinauf und zog sich dort um.

 

Als er sich im Spiegel betrachtete, sah er ein graues, von vielen Furchen durchzogenes Gesicht. Lange vor der Zeit war er gealtert. Mit einem Seufzer stieg er wieder hinunter und goß den Tee auf. Dann setzte er sich vor den Gasofen und stützte die Ellbogen auf die Knie.

 

Nach einer Weile hörte er, daß die Haustür aufgeschlossen wurde; er sah sich um, als eine gutmütig aussehende alte Frau mit einem Marktkorb hereinkam.

 

»Guten Morgen«, sagte sie in breitem Dialekt. »Ich wußte, daß Sie heute zurückkommen würden, aber ich dachte nicht, daß Sie so schnell hier wären. Haben Sie sich schon Tee gekocht?«

 

»Ja, das ist schon erledigt«, entgegnete Welland.

 

Sie sprach nicht über seine Abwesenheit; daran war sie vermutlich gewöhnt. Während sie den Korb auspackte, plauderte sie ununterbrochen, so daß es ihm mit der Zeit zuviel wurde. Er ging in das kleine Wohnzimmer und schloß die Tür.

 

Die Frau machte ihre Arbeit, bis sie hörte, daß er Violine spielte. Dann setzte sie sich hin, legte die Hände in den Schoß und lauschte der melancholischen Melodie. Es klang so schwermütig, daß ihr beinahe die Tränen kamen, und sie schüttelte den Kopf.

 

Gleich darauf kam Welland wieder in die Küche.

 

»Ach, das war so schön«, sagte sie. »Ich wünschte nur, Sie würden etwas Lustigeres spielen. Man wird sonst zu traurig.«

 

»Aber das beruhigt mich«, entgegnete er mit einem müden Lächeln.

 

»Sie sind wirklich ein ausgezeichneter Musiker. Und ich habe das Violinspiel so gern. Haben Sie eigentlich schon einmal öffentlich gespielt?«

 

Welland nickte, nahm seine kleine Pfeife vom Kamin und stopfte sie aus einem alten Tabaksbeutel.

 

»Das dachte ich mir doch«, sagte sie triumphierend. »Ich habe meinem Mann heute morgen gesagt –«

 

»Hoffentlich haben Sie dem nicht zuviel von mir erzählt, Mrs. Beck?«

 

»Nein, ich bin sehr vorsichtig. Einem jungen Mann, der gestern herkam, habe ich gesagt –«

 

Welland nahm die Pfeife aus dem Mund und runzelte die Stirn.

 

»Was war denn das für ein junger Mann?«

 

»Er wollte wissen, ob Sie zu Hause seien.«

 

»Hat er meinen Namen genannt?«

 

»Ja. Das war das Merkwürdige. Er ist der erste, der hierherkam und sich nach Ihnen unter Ihrem richtigen Namen erkundigte.«

 

»Was haben Sie ihm denn geantwortet?«

 

»Daß Sie wahrscheinlich morgen wiederkommen würden, vielleicht auch erst nächste Woche, ich wüßte es nicht genau. Sie sind ja auch ziemlich unpünktlich, Mr. Welland. Ich sagte ihm, daß Sie manchmal viele Monate fortbleiben …«

 

Welland preßte die Lippen zusammen. Er wußte ja, daß es nutzlos war, dieser Frau Vorwürfe zu machen.

 

»Es ist gut, Mrs. Beck«, sagte er. »Ich möchte aber nicht, daß Sie über meine Beschäftigung sprechen.«

 

»Das tue ich niemals, Mr. Welland«, erwiderte sie verletzt. »Ich weiß ja auch gar nichts darüber. Es geht mich schließlich nichts an, was Sie mit Ihrer Zeit machen. Sie können ebensogut ein Einbrecher wie ein Polizeibeamter sein, so oft sind Sie von zu Hause fort.«

 

Welland antwortete nicht. Als die Frau ihre Arbeit beendet hatte und nach Hause ging, dachte er wieder an den jungen Mann, der ihn besuchen wollte. Er legte die Kette vor die Tür und war fest entschlossen, sich nicht zu melden, wenn jemand kommen sollte.

 

Bis zum Abend meldete sich auch niemand. Welland saß in seinem Wohnzimmer, hatte die Vorhänge zugezogen und las. Plötzlich wurde an die Tür geklopft. Er legte das Buch hin und lauschte. Das Klopfen wiederholte sich.

 

Vorsichtig trat er auf den Gang hinaus. Jemand schlug mit einem Spazierstock gegen die Tür.

 

»Wer ist da?« fragte Welland.

 

»Lassen Sie mich herein«, erwiderte eine undeutliche Stimme. »Ich möchte mit Ihnen sprechen.«

 

»Wer sind Sie denn?«

 

»Lassen Sie mich ein.«

 

John Welland erkannte jetzt die Stimme; er wurde bleich.

 

Einen Augenblick glaubte er, daß sich alles um ihn drehte, und er mußte sich an der Wand festhalten, um sich zu stützen. Schließlich faßte er sich wieder, aber seine Hände zitterten noch, als er die Kette abnahm und die Tür öffnete. Draußen war es dunkel; er konnte die große Gestalt nur undeutlich sehen.

 

»Kommen Sie herein«, sagte er.

 

»Kennen Sie mich?« fragte der Fremde.

 

»Ja, Sie sind Cäsar Valentine.« Nur mühsam brachte Welland die Worte über die Lippen.

 

Er führte Cäsar ins Wohnzimmer. Nur der kleine Tisch trennte sie, während sie einander gegenüberstanden und sich mit feindseligen Blicken maßen.

 

»Was wollen Sie?«

 

»Ich möchte Sie in einer wichtigen Angelegenheit sprechen«, sagte Cäsar kühl.

 

»Wo ist meine Frau?« fragte Welland und atmete schwer.

 

Cäsar zuckte die breiten Schultern.

 

»Sie ist tot. Das wissen Sie doch.«

 

»Und wo ist mein Kind?«

 

»Warum sprechen Sie über Dinge, die uns beiden doch nur peinlich sind?« entgegnete Cäsar vorwurfsvoll, als ob er selbst der Beleidigte wäre. Er setzte sich, ohne aufgefordert zu sein. »Welland, Sie müssen vernünftig werden. Die Vergangenheit ist tot und erledigt. Warum nähren Sie immer noch Ihren Haß?«

 

»Der Haß ist das einzige, was mich noch am Leben hält, Valentine, und er wird mich aufrechthalten, bis ich Sie umgebracht habe!«

 

Cäsar lachte.

 

»Lassen Sie doch das Theater. Sie wollen mich umbringen? Schön, ich stehe vor Ihnen – warum bringen Sie mich nicht um? Haben Sie denn keinen Revolver oder Dolch? Fürchten Sie sich? Dauernd haben Sie mich bedroht. Jetzt haben Sie die beste Gelegenheit, Ihre Drohung wahrzumachen.«

 

Cäsar nahm einen Browning aus der Tasche und legte ihn auf den Tisch.

 

»Hier, nehmen Sie diese Waffe und schießen Sie mich nieder.«

 

Welland warf einen Blick auf die Pistole, schaute dann wieder zu dem Mann auf, der ihm gegenüberstand, und schüttelte den Kopf.

 

»Nein, nicht auf diese Weise. Aber wenn die Zeit gekommen ist, werden Sie sterben, und Sie sollen mehr leiden, als ich in all den Jahren gelitten habe.«

 

Ein längeres Schweigen trat ein, dann sprach Welland weiter.

 

»Ich freue mich, daß ich Sie wiedergesehen habe«, sagte er halb zu sich selbst. »Sie haben sich nicht geändert. Sie sind noch derselbe, der Sie früher waren, Valentine. Sie sollten eigentlich glücklich sein, denn Ihr ganzes Leben haben Sie sich immer das genommen, was Sie haben wollten. Und ich habe alles verloren!« Er bedeckte das Gesicht mit den Händen, und Cäsar betrachtete ihn neugierig. Schließlich nahm er die Pistole wieder und steckte sie in die Tasche.

 

»Wenn also die Zeit gekommen ist, werde ich sterben« sagte er höhnisch. »Eben hatten Sie eine gute Chance. Außerdem hatten Sie schon einmal eine Möglichkeit, die ganze Sache zu erledigen. Ich habe Sie doch darum gebeten, sich von Ihrer Frau scheiden zu lassen.«

 

»Scheiden!« stöhnte Welland.

 

»Sie hätte dann wieder heiraten und glücklich werden können. Wollen Sie jetzt wenigstens vernünftig sein?«

 

»Haben Sie mir weiter nichts zu sagen? Dann gehen Sie. Es war eine Genugtuung für mich, Sie wiederzusehen, denn all meine Hoffnungen und Pläne sind dadurch aufs neue belebt worden, Cäsar Valentine. Sie haben mir das Leben zur Hölle gemacht. Ich habe mehr gelitten, als Sie ahnen können, aber der eine Tag wird kommen …!«

 

Trotz aller Ruhe und Selbstsicherheit überlief Cäsar ein Schauder. Er war wütend darüber, daß ein anderer Mann ihm Furcht eingeflößt hatte.

 

»Sie haben Ihre Chance gehabt und nicht ausgenützt, Welland. Das war Ihr Fehler. Nun will ich offen mit Ihnen sprechen. Soviel ich weiß, sind Sie irgendwie im Regierungsdienst tätig. Ich habe Grund zu der Annahme, daß Sie mich ausspionieren sollen. Aber ich sage Ihnen, daß der Mann noch nicht geboren ist, der es mit Cäsar Valentine aufnehmen kann.«

 

Er schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die Lampe tanzte.

 

»Es war Unsinn, daß ich Sie in Ruhe ließ, daß ich mich nie um Sie kümmerte. Ich hätte das Spiel in der Hand gehabt, wenn ich selbst gehandelt hätte, statt darauf zu warten, daß Sie Ihrer Frau die Freiheit geben.«

 

Cäsar war um den Tisch herumgegangen und stand nun dicht neben dem Mann, dem er so schweres Unrecht zugefügt hatte. Plötzlich packte er ohne die geringste Warnung Welland an der Kehle. Welland war kein Schwächling, aber Cäsar besaß geradezu übermenschliche Kräfte und schleuderte ihn zu Boden. Welland wehrte sich verzweifelt, aber vergeblich. Cäsar drückte ihm die Arme mit den Knien nieder und würgte ihn.

 

»Morgen wird man Sie hier aufgehängt finden«, flüsterte er.

 

In dem Augenblick klopfte es an der Tür, und er sah sich um.

 

»Sind Sie noch auf, Mr. Welland?« fragte eine Frauenstimme. »Ich habe noch Licht gesehen. Ich bin es – Mrs. Beck.«

 

Cäsar ließ sein Opfer los und schlich aus dem Zimmer, während sich Welland taumelnd aufrichtete. Er war halb besinnungslos und konnte weder sprechen noch schreien. Valentine ging ins Zimmer zurück und knipste das Licht aus, dann eilte er geräuschlos zur Tür und öffnete.

 

»Alles finster?« fragte die Frau. »Ich hätte doch darauf schwören können, daß ich Licht sah.«

 

Cäsar ließ sie im Dunkeln an sich vorübergehen, dann sprang er hinaus und schlug die Tür hinter sich zu.

 

Kapitel 12

 

12

 

»Sie sehen aus, als ob Sie eine schlechte Nacht gehabt hätten«, sagte Smith.

 

»Eine schlechte Nacht?« fragte Cäsar zerstreut. »Ich …, ach ja, ich bin erst spät in die Stadt zurückgekommen.«

 

»Haben Sie Mr. Weiland aufgesucht?«

 

Cäsar antwortete nicht.

 

»Vermutlich waren Sie bei ihm, und ich nehme an, die Unterredung war so unangenehm, daß Sie am liebsten nicht mehr daran denken möchten.«

 

Cäsar nickte.

 

»Ich bin neugierig, was Weiland tun wird«, sagte er nach einer Weile. »Wenn ich nicht unterbrochen worden wäre, wüßte ich es jetzt.«

 

Smith sah ihn scharf an.

 

»Das klingt ja, als ob Sie ein gefährliches Abenteuer gehabt hätten. Würden Sie nicht so liebenswürdig sein, mir zu erzählen, was sich zwischen Ihnen und diesem interessanten Mr. Weiland abgespielt hat?«

 

»Ich hätte Sie hinschicken sollen«, erklärte Cäsar düster. »Wir Borgia haben eine gewisse Schwäche, eine krankhafte Sucht nach theatralischen Effekten. Sie hätten wahrscheinlich keinen Fehler gemacht.«

 

Er berichtete in kurzen Worten, was vorgefallen war.

 

Smith wurde ernst.

 

»Unglaublich! Sie sind doch sonst ein Künstler darin, andere Leute aus dem Weg zu schaffen, und nun schweben Sie in Gefahr, jeden Augenblick wegen dieses blödsinnigen Angriffs verhaftet zu werden! Das durfte nicht kommen.«

 

Cäsar schüttelte den Kopf.

 

»Er wird mich nicht anzeigen. Der Mann ist fanatisch. Er hofft, mich eines Tages umzubringen – mit weniger gibt er sich nicht zufrieden. Jede andere Lösung lehnt er ab.«

 

»Besser, er bringt Sie um als mich. Aber ich möchte Ihnen doch den Rat geben, in Zukunft vorsichtiger zu sein. In England können Sie sich derartige Dinge nicht ungestraft leisten. Und sollte Welland tatsächlich Nummer Sechs sein, so kommen Sie in Teufels Küche.«

 

»Welland ist Nummer Sechs. Die Detektive haben doch Nachforschungen in meinem Auftrag angestellt. Der Mann reist im Land umher und ist oft mehrere Tage von zu Hause fort, manchmal sogar Wochen und Monate. Außerdem noch ein wichtiger Punkt – er besucht die Gefängnisse.«

 

»Meinen Sie, daß er dort eingesperrt wird?« fragte Smith.

 

Aber Cäsar war nicht in der Stimmung, zu scherzen.

 

»Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich sehr gut über alles informiert worden bin, was sich in Scotland Yard ereignete. Als Hallett diesem Agenten Nummer Sechs seine letzten Anweisungen gab, war einer meiner Leute in der Bibliothek, die direkt neben Halletts Büro liegt. Er hatte ein Loch durch die Wand gebohrt, das durch einen Bücherschrank in dem Büro und durch ein Regal in der Bibliothek verdeckt wurde. Wenn der Mann an der betreffenden Stelle einige Bücher herausnahm, konnte er alles hören, was nebenan gesprochen wurde.«

 

Smith nickte.

 

»Auf diese Weise ist es also herausgekommen? Das muß allerdings ein sehr tüchtiger Mann gewesen sein. Aber wie verhält sich nun die Sache mit den Gefängnissen?«

 

»Hallett sagte zu dem Agenten – oder der Agentin –, daß er oder sie freien Zutritt zu allen Gefängnissen haben würde. Das geschah natürlich unter der Voraussetzung, daß ich Freunde oder Verbündete dort hätte.«

 

»Das war natürlich eine verrückte Idee. Sie sind nicht der Mann, der sich Zuchthausvögel als Komplicen aussucht!«

 

»Sie habe ich allerdings zu meinem Gehilfen gemacht«, entgegnete Cäsar ein wenig taktlos.

 

Smith lachte.

 

»Ich war noch nie im Gefängnis – wenigstens bis jetzt. Sie sind also davon überzeugt, daß Welland Nummer Sechs ist? Und zwar nur deshalb, weil er häufig Gefängnisse aufsucht?«

 

»Ist nicht gerade er der Mann, der eine solche Aufgabe übernehmen würde? Hallett sagte doch, daß sein Agent ein Amateur wäre. Alles weist auf Welland hin.«

 

Smith war an diesem Morgen eigentlich nach Portland Place gekommen, um das junge Mädchen zu sehen, und nicht, um mit ihrem Vater zu sprechen.

 

»Wo ist Welland jetzt?«

 

»In Lancashire, wie ich …« Cäsar brach plötzlich ab und starrte auf den Schreibtisch. »Das habe ich vorher nicht gesehen.«

 

»Was meinen Sie denn?«

 

Cäsar nahm einen versiegelten Briefumschlag von der Schreibunterlage. Das Kuvert glich genau dem anderen, das er im Green-Park aufgehoben hatte. Er riß es hastig auf und las die mit Maschine geschriebene Mitteilung laut vor:

 

»Cäsar, auch Sie sind nur ein gewöhnlich Sterblicher! Denken Sie daran!

Nummer Sechs.«

 

Betroffen starrte er auf das Papier, dann sank er schwer in einen Sessel.

 

Cäsar hatte richtig vermutet: Welland erstattete keine Anzeige, obwohl Mr. Smith es tagelang befürchtete und so nervös wurde, daß er zweimal den Millionär aus dem Auge verlor, den er doch beobachten sollte. Während dieser Zeit passierten zwei Dinge, die ihn beunruhigten.

 

Zunächst erwähnte Cäsar nebenbei, daß Stephanie auf ein paar Tage nach Schottland gefahren wäre. Er schien sich in ihrer Abwesenheit bedeutend wohler zu fühlen. Zweitens hielt sich Mr. Ross dauernd in seinen Räumen auf und kam nicht zum Vorschein. Infolgedessen konnte man ihn nicht beobachten.

 

Am Abend des zweiten Tages wurde das Geheimnis um Mr. Ross nur noch dunkler. Smith war schon während des Essens müde gewesen und zog sich frühzeitig zurück. Er lag auf seinem Bett und war schon halb eingeschlafen, als er hörte, daß die Klinke seiner Tür heruntergedrückt wurde. Gleich darauf trat jemand ein und drehte nach kurzem Zögern das Licht an. In der kurzen Sekunde, bevor es wieder ausgeschaltet wurde, erkannte Smith den alten Mr. Ross in seinem Schlafrock. Die Schritte entfernten sich leise, dann wurde die Tür des Millionärs zugeschlagen und von innen abgeschlossen.

 

Das war an sich merkwürdig genug. Eine erstaunliche Tatsache, daß der Mann, den er bewachen sollte, umgekehrt ihn bewachte. Allem Anschein nach hatte Ross die vermeintliche Abwesenheit seines Beobachters ausnützen und dessen Zimmer durchsuchen wollen. Smith war nun wieder vollkommen wach geworden, ging auf dem Korridor bis zur Tür des Nebenzimmers und dachte darüber nach, welche Ausrede er gebrauchen könnte, um hineinzugehen und seinen Nachbar auszufragen. Er überlegte es sich jedoch anders und ging in die große Halle hinunter. Aber dort erwartete ihn eine große Überraschung, denn vor dem Empfangspult stand Mr. Ross; er hatte einen schweren Mantel an und eine Kappe auf dem Kopf.

 

Smith starrte dem alten Mann ungläubig nach, als dieser zum Lift ging und zu seinem Stockwerk hinauffuhr.

 

»Woher kam Mr. Ross jetzt plötzlich?« fragte er.

 

»Das kann ich Ihnen auch nicht sagen«, entgegnete der Portier. »Ich dachte eigentlich, er wäre in seinem Zimmer. Er ist den ganzen Tag nicht herausgekommen, und ich habe ihn auch nicht fortgehen sehen.«

 

Smith wartete nachdenklich in der Halle. Er war unschlüssig, was er tun sollte. Kurze Zeit später erschien ein Page und ersuchte ihn, zu Mr. Ross zu kommen.

 

Er folgte dem Boten und wurde gleich darauf von dem Millionär empfangen. Der alte Herr trug den Schlafrock, in dem er in Smiths Zimmer erschienen war.

 

»Ich muß mich bei Ihnen entschuldigen«, sagte er brummig. »Nehmen Sie Platz.«

 

Smith folgte der Aufforderung.

 

»Ich war sehr unruhig und wanderte im Hotel auf und ab. Als ich vor ungefähr einer halben Stunde in mein Zimmer zurückkehren wollte, passierte mir leider ein Irrtum, und ich geriet in Ihr Zimmer.«

 

»Und gleich darauf standen Sie in Reisekleidung unten in der Halle!«

 

Mr. Ross lächelte ein wenig.

 

»Sie beobachten aber auch alles, Mr. Smith! Was für einen fabelhaften Detektiv hätten Sie abgegeben!«

 

Meinte er das ironisch? Smith hielt das für wahrscheinlich. Zuerst hatte er sich gewundert, daß der alte Mann nach ihm geschickt hatte, aber als er draußen auf dem Gang leise Schritte hörte, wunderte er sich nicht mehr. Natürlich hatte ihn Mr. Ross in sein Schlafzimmer kommen lassen, damit der Doppelgänger des Millionärs aus dem Nebenraum schlüpfen konnte.

 

Kapitel 7

 

7

 

Erst als sich die Geschwindigkeit des Autos mehr und mehr steigerte und einer ihrer beiden Begleiter die Jalousien an den Fenstern herabließ, erkannte Leslie Ranger, daß ihr Gefahr drohte.

 

»Tun Sie das nicht!« sagte sie scharf.

 

»Bleiben Sie ruhig sitzen und reden Sie nicht! Wenn Sie meiner Aufforderung folgen, passiert Ihnen nichts. Verstanden?«

 

Sie fiel beinahe in Ohnmacht, als sie merkte, daß sie das Opfer eines Betrugs geworden war. »Wohin fahren wir?« fragte sie, erhielt aber keine Antwort.

 

Sie mochten ungefähr eine Stunde unterwegs gewesen sein, als der Wagen plötzlich um eine Ecke bog. Kurze Zeit ging es auf einer unebenen Straße weiter, dann wandten sie noch einmal nach links und hielten an. Einer der Begleiter zog ein Tuch aus der Tasche und verband Leslie die Augen, was sie sich ruhig gefallen ließ. Man half ihr aus dem Wagen und führte sie über einen mit Steinplatten belegten Weg zu einem Haus. Schließlich hatte sie den Eindruck, in einem Zimmer zu stehen, in dem sich noch mehrere Leute befanden. Scharfer Zigarrenrauch schlug ihr entgegen.

 

»Sagen Sie ihr, daß sie sich setzen soll!« bemerkte jemand. Als sie der Aufforderung nachkam, sprach er sofort weiter: »Also, nun erzählen Sie mal! Ich fordere Sie auf, die Wahrheit zu sagen und alle Fragen zu beantworten. Wenn Sie das tun, geschieht Ihnen nichts.« Der Mann sprach mit einer hohen, rauhen – offenbar verstellten – Stimme.

 

Sie war von panischem Schrecken ergriffen, aber sie fühlte, daß es keinen Zweck hätte, hier Widerstand zu leisten oder etwas zu verheimlichen. Deshalb erzählte sie der Wahrheit entsprechend, was geschehen war, und beantwortete alle Fragen ohne Zögern.

 

Die Leute schienen sich besonders für Eddie Tanner zu interessieren, denn ihre Erkundigungen richteten sich hauptsächlich auf ihn. Sie wollten wissen, wo er war, als sich die Geschichte abspielte, und ob man seine Fingerabdrücke gefunden hätte. Als sie den Revolver erwähnte, lachte einer der Anwesenden; doch der Mann, der Leslie ausfragte, wies ihn ärgerlich zurecht.

 

Später herrschte Ruhe. Das Verhör hatte zwei Stunden gedauert. Dann brachte man ihr heißen Kaffee, wofür sie dankbar war.

 

»Es ist alles in Ordnung, mein Kind«, sagte der Mann schließlich. »Sie können der Polizei über Ihr Erlebnis berichten! Aber erzählen Sie den Beamten nur die absolute Wahrheit!«

 

Leslie wurde wieder zum Auto geführt. Dann erinnerte sie sich noch dunkel daran, daß ein anderer Wagen dauernd dem ihren folgte. Sie fiel in Schlaf und erwachte erst, als die beiden Polizisten der Motorradstreife sie weckten …

 

Kapitel 8

 

8

 

Inzwischen war man dem Vorleben des Landstreichers nachgegangen. Er hatte in einem billigen Quartier gewohnt, war aber in den beiden letzten Nächten vor dem Mord nicht in seinem Zimmer gewesen. Er wurde als zurückhaltender, stiller Mann bezeichnet, der nie mit anderen über seine Verhältnisse gesprochen hatte.

 

Während der Nacht hatte der Polizeipräsident nach Chikago telegrafiert und erreicht, daß Jiggs Allerman zeitweise dem Beamtenstab von Scotland Yard zugeteilt wurde. Jiggs hatte dann den nächsten Vormittag in Decadons Haus mit Untersuchungen zugebracht. Als er nach Scotland Yard zurückkehrte, fand er Terry bei der Lektüre einer Zeitung.

 

»Nun, haben Sie etwas entdeckt?«

 

Jiggs nickte. »Der Alte hatte eine kleine Küche für Tanner einrichten lassen, und dort fand ich einen Gasofen …« Er zog einen Briefumschlag aus der Tasche, öffnete ihn behutsam und nahm einen dünnen Draht von ungefähr fünfzehn Zentimeter Länge heraus. »Der war um einen der Brenner gewickelt. Und draußen, auf dem Podest der Feuertreppe, ist erst vor kurzem ein Haken in die Wand geschlagen worden.«

 

»Was schließen Sie daraus?«

 

Jiggs rieb sich nachdenklich das Kinn. »Eine ganze Menge. Welche Windrichtung hatten wir gestern nacht?«

 

Terry nahm die Zeitung auf und suchte nach dem Wetterbericht. »Mäßigen Nordwestwind.«

 

»Großartig! Am meisten war ich nämlich über das Verschwinden der Pistole erstaunt, mit der der Tramp erschossen wurde …« Der Amerikaner lehnte sich über den Tisch und sprach nachdrücklich weiter: »Es gab nur einen Weg, die Pistole wegzubringen. Ich ahnte sofort, wie es die Leute angestellt hatten, als ich von einem Dienstmädchen des Nachbarhauses erfuhr, daß jemand ihr Fenster eingestoßen habe, und zwar ein paar Minuten nachdem der Mord passiert war. Ich meine: die Erschießung des Landstreichers.« Er nahm einen Bleistift aus der Tasche und zeichnete einen rohen Plan. »Also: Hier ist der Hof! An einer Seite grenzt er an das nächste Grundstück. Das betreffende Dienstmädchen schläft im vierten Stock. Sie war früh zu Bett gegangen, weil sie am Morgen zeitig hatte aufstehen müssen. Als sie gerade im Begriff war einzuschlafen, wurde ihr Fenster von draußen eingeschlagen. Das ist natürlich nur ihre Auffassung. Ich bin der Ansicht, daß es von einem Gegenstand getroffen wurde. Das vierte Geschoß des Nachbargebäudes liegt etwa ein Stockwerk höher als das Dach von Decadons Haus. Als ich von diesem Vorfall hörte und als ich den Draht um den Gashahn und den Haken in der Mauer fand, ließ ich in allen Geschäften in London nachfragen, die Gasballone führen. Ich wollte herausfinden, wer in der letzten Zeit einen ziemlich großen Spielballon verkauft hatte, der in gefülltem Zustand ein paar Pfund tragen konnte.«

 

Terry starrte ihn verwundert an. »Ich hab‘ allerdings gehört, daß so etwas früher schon einmal gemacht wurde …«

 

»Nun hören Sie’s zum zweitenmal! Der Ballon wurde in der kleinen Küche gefüllt; das Ende wurde um den Gasbrenner gebunden – der Gasdruck ist in jener Gegend ziemlich stark. Kurz vor dem Mord wurde der Ballon abgebunden und mit einer Schlinge an dem neu eingeschlagenen Haken befestigt. Nachdem Board hinterrücks erschossen worden war, band der Täter die Pistole an den Ballon und ließ ihn steigen. Der Wind muß ziemlich stark gewesen sein. Als der Ballon in die Höhe stieg, wurde er schnell abgetrieben, und die Pistole schlug gegen die Fensterscheibe der Mädchenkammer. Also – nun hab‘ ich Ihnen etwas von meinen Methoden gezeigt!« schloß Jiggs ironisch.

 

Terry dachte ein paar Minuten nach. »Aber wenn Ihre Theorie stimmt, muß der Mörder die Feuerleiter in die Höhe gestiegen sein, nachdem er Board niedergeschossen hatte.«

 

Jiggs nickte bedächtig. »Da haben Sie recht, mein Junge!«

 

»Glauben Sie immer noch, daß Tanner der Mörder ist?«

 

Jiggs lächelte. »Es handelt sich hier nicht mehr um glauben. Ich weiß bestimmt, daß er der Täter ist.«

 

»Sie nehmen wirklich an, daß er Spuren hinterließ, die ihn verdächtigen?«

 

»Nun, Sie sehen doch: Er ist auf freiem Fuß! Man hat keinerlei Beweise gegen ihn, auf Grund deren man ihm den Prozeß machen könnte. Die Gummistempel mit seinen Fingerabdrücken sprechen sogar zu seinen Gunsten. Ich glaube nicht, daß es möglich wäre, eine Verurteilung Tanners zu erreichen. Ich habe schon früher gesagt, daß er ein ausgezeichneter Psychologe ist. Nehmen wir mal an, man hätte keine Fingerabdrücke und keine Schußwaffe gefunden. Auf wen wäre der Verdacht gefallen? Doch nur auf Ed! Decadons Testament ist verschwunden, und er darf als einziger Erbe gelten. Er hat sehr schlau gehandelt, indem er den Verdacht auf sich lenkte, da er ihn ja gleich wieder zerstören konnte … Wie weit sind wir hier vom Meer entfernt?«

 

»Ungefähr achtzig Kilometer.«

 

Jiggs nickte. »Er macht niemals einen Fehler! Der Gasballon, den er benutzt hat, konnte sich mindestens einige Stunden in der Luft halten. Die Pistole werden wir also nicht zu sehen bekommen. Die ist irgendwo ins Meer gestürzt.«

 

»Wir hatten übrigens keine weiteren Klagen von Leuten, die man erpressen wollte«, bemerkte Terry.

 

»Die kommen schon noch! Die Bande läßt nur eine gewisse Zeit verstreichen – aus taktischen Gründen.« Der Amerikaner sah nach der Uhr. »Ich gehe jetzt zur Cecilia-Bar. Ich hab‘ so ’ne Ahnung, als ob man dort interessante Dinge erfahren könnte.«

 

Die Cecilia-Bar galt als Treffpunkt für Amerikaner, die sich in London aufhielten. Der große, moderne Raum war ziemlich besucht, als Jiggs dort eintraf. Er ließ sich an einem kleinen Tisch nieder und wartete.

 

Es war beinahe zwölf, als Kerky Smith gemächlich in die Bar schlenderte; er hatte das knochige Kinn vorgereckt und trug das übliche freundliche Lächeln zur Schau. Gelangweilt schaute er sich um, übersah Jiggs allem Anschein nach und ging wieder zur Tür. Jiggs trank seinen Cocktail aus, winkte dem Kellner und steckte die Hand in die Tasche. Er hatte nicht die Absicht zu gehen; er wollte nur den ›Großen‹ herbeilocken.

 

»Aber Jiggs, warum brechen Sie schon auf?« Kerky Smith kam liebenswürdig auf den Detektiv zu, streckte die mit Brillantringen geschmückte Hand aus und drückte herzlich die Rechte des Beamten. »Sie gehen doch hoffentlich noch nicht? Ich möchte ein wenig mit Ihnen plaudern.« Er setzte sich. »Es ist doch wirklich schlimm, daß der Alte so sterben mußte. Ich wette mit Ihnen, daß Ed die Sache ziemlich an die Nieren gegangen ist. Ich glaube, er trauert um seinen Onkel.«

 

»Sie reden ja wie ein Buch. Wo haben Sie denn all die Ausdrücke her?«

 

»Ach, das hab‘ ich so irgendwo gelesen«, erwiderte Kerky unverschämt. »Hat der Alte ihm nicht sein Vermögen hinterlassen? Nun, er braucht das Geld ja auch dringend. Es fehlte ihm gerade noch eine Million.«

 

»Es wird Monate dauern, bevor er einen Cent von der Erbschaft anrühren kann.«

 

»Ach?« Kerky Smith runzelte die Stirn. »Daraufhin kann man sich aber doch Geld borgen? Soviel ich weiß, war Ed heute morgen schon bei verschiedenen Finanzleuten …«

 

Jiggs zeigte höfliches Interesse. »Sagen Sie mal: Was für ein Geschäft betrieb er eigentlich, als er noch in Chikago war?«

 

Kerky schüttelte mißbilligend den Kopf. »Ich kenne den Mann kaum, und ich weiß nicht, warum Sie immer von ›Geschäften‹ reden.« Er sprach vollkommen ruhig und blickte den Detektiv offen an. »Es sieht so aus, als ob einige Gangster hier Fuß fassen wollen«, fuhr er fort, »Hat schon jemand Ed aufgefordert, eine Summe zu zahlen? Er ist ja jetzt ein schwerreicher Junge geworden.«

 

»Sagen Sie mir lieber, was er in Chikago getrieben hat!« wiederholte Jiggs. Er hoffte allerdings nicht auf eine befriedigende Antwort, denn ein Gangster, spricht nicht einmal über die Geschäfte seiner schlimmsten Feinde.

 

»Er verkehrte in Spielerkreisen. Meiner Meinung nach hat er da sein Geld gemacht.«

 

Jiggs lehnte sich über den Tisch und sprach leise: »Kerky, Sie erinnern sich doch noch daran, daß Sam Polini erschossen wurde? Man lauerte ihm auf, als er eines Morgens aus der Messe kam. Der war doch ein Freund von Ihnen?«

 

Ein harter Ausdruck zeigte sich in Kerkys Blick, aber das Lächeln verschwand nicht aus seinem Gesicht. »Ich kannte den Mann …«

 

»Er gehörte zu Ihren Leuten. Wer hat ihn denn niedergeknallt?«

 

»Wenn ich das wüßte, hätt‘ ich’s doch der Polizei gemeldet. Polini war ein feiner Kerl. Schade, daß der dran glauben mußte!«

 

»Hatte Ed etwas mit der Sache zu tun?«

 

Kerky schüttelte gelangweilt den Kopf. »Ach, welchen Zweck hat es denn, so alberne Fragen zu stellen, Jiggs? Ich hab‘ Ihnen bereits erklärt, daß ich nichts über ihn weiß. Er scheint ein ganz netter Kerl zu sein, und ich möchte kein Wort gegen ihn sagen – besonders jetzt nicht, da er in Trauer ist.«

 

Jiggs bemerkte den schnellen Seitenblick, mit dem ihn der andere betrachtete, und deutete ihn auf seine Weise.

 

»An einem der nächsten Tage fahr‘ ich nach Paris«, fuhr Kerky fort. »Wenn man amerikanische Gangstermethoden in London einführt, möcht‘ ich lieber nicht hier sein. London ist ja wohl auch der letzte Ort, an dem man so blöde Schießereien erwarten sollte. Stimmt es übrigens, daß Sie jetzt bei Scotland Yard angestellt sind?«

 

»Wer hat Ihnen denn das erzählt?«

 

»Ach, man spricht darüber, daß Sie für einige Zeit ausgeliehen worden seien.« Kerky legte eine Hand auf die Schulter des Detektivs. »Ich mag Sie im Grund sehr gern. Sie sind ein tüchtiger Mann, und an Ihrer Stelle würde ich mich nicht hier herumtreiben. Wissen Sie: Sie könnten tatsächlich Besseres anfangen und ordentlich Geld verdienen! Einer meiner Freunde hat dringend einen Detektiv nötig und zahlt hunderttausend Dollar, wenn ich ihm einen brauchbaren nachweise. Zu tun hätte der nicht weiter viel: braucht nur ruhig dazusitzen und nichts zu merken, wenn was passiert … Wahrscheinlich könnten Sie meinem Freund sehr viel nützen.«

 

»Will sich Ihr Freund scheiden lassen? Oder will er sich nur vorm Galgen retten?« fragte Jiggs geradezu. »Sagen Sie bitte Ihren Bekannten, mit mir wäre in dieser Hinsicht nichts anzufangen! Teilen Sie ihnen aber auch mit, daß ich mit zwei Pistolen schießen kann, falls sie versuchen sollten, mich auf andere Weise taub und stumm zu machen. Sie müssen verdammt schnell sein, wenn sie mir zuvorkommen wollen!«

 

Kerky seufzte. »Sie reden wie ein Filmstar aus Hollywood.« Er winkte dem Kellner, zahlte, nickte Jiggs freundlich zu und schlenderte dann zur Bar.

 

Jiggs machte sich auf den Weg zu seinem Hotel, paßte aber unterwegs genau auf. Nichts entging seiner Aufmerksamkeit. Er wußte, daß es noch vor Ende der Woche allerhand Aufregung in London geben würde …

 

Im Speisesaal seines Hotels traf er mehrere Bekannte, die über Decadons Ermordung sprachen. Keiner schien jedoch die Tragweite der Ereignisse zu begreifen. Keiner erkannte, wie sehr sie in ihrer eigenen Sicherheit bedroht waren.

 

Während des Essens wurde Jiggs ans Telefon gerufen.

 

Terry meldete sich. »Ich komme zu Ihnen ins Hotel! Die Dinge entwickeln sich … Können wir in Ihrem Zimmer miteinander sprechen?«

 

»Gewiß!«

 

Jiggs erwartete den Chefinspektor in der Halle und fuhr dann im Lift mit ihm nach oben.

 

»Hier haben wir einen weiteren Brief!« Terry nahm ein zusammengefaltetes Blatt aus der Brieftasche. Es hatte genau dieselbe Größe wie das an Decadon gerichtete Schreiben, war aber in grüner Farbe gedruckt und hatte einen anderen Wortlaut:

 

Sehr verehrter Freund! Es ist unser Bestreben, Ihnen Sicherheit und Wohlergehen zu garantieren. Wir sind eine Vereinigung entschlossener Männer, die Sie gegen Ihre Feinde und selbst gegen Ihre Freunde schützen will. Sie brauchen sich nicht mehr um Diebe oder andere Verbrecher zu kümmern, wenn Sie uns Ihr Vertrauen schenken. Sind Sie gewillt, unsere Hilfe in Anspruch zu nehmen, so stellen Sie heute abend zwischen acht und halb neun eine Kerze in. das Fenster Ihres Speisezimmers! Wir bieten Ihnen unsere Hilfe für tausend Pfund an, die Sie innerhalb der nächsten drei Tage zu zahlen haben. Falls Sie unsere Dienste ablehnen, so laufen Sie Gefahr für Leib und Leben. Sollten Sie diese Mitteilung der Polizei übergeben, so sind Sie ein Mann des Todes. Stecken Sie tausend Pfund in einen Briefumschlag! Wenn Sie uns durch die Kerze Ihr Einverständnis mitgeteilt haben, erhalten Sie sofort telefonisch Anweisung, wie Sie uns die Zahlung zukommen lassen sollen.

 

 

Das Schreiben war unterzeichnet: »Gesellschaft für Schutz und Sicherheit.«

 

»Die drucken ihre Zirkulare also mit grüner Farbe«, meinte Jiggs. »Die beiden Banden sind nun an der Arbeit: die Grünen wie die Blauen. Wer hat diese Nachricht bekommen?«

 

»Mr. Salaman, ein sehr reicher junger Mann. Er wohnt in der Brook Street und erhielt den Brief heute mit der ersten Post. Wir haben nicht erfahren, ob noch anderen derartige Aufforderungen zugeschickt wurden. Salaman jedenfalls hat uns das Schreiben sofort übersandt, und wir haben daraufhin sein Haus unter Bewachung gestellt.«

 

»Ist er persönlich nach Scotland Yard gekommen?«

 

»Nein, das haben wir vermieden. Er setzte sich telefonisch mit uns in Verbindung und schickte den Brief dann durch einen Boten.«

 

Jiggs lächelte ironisch. »Die werden trotzdem schon alles wissen … Welchen Rat haben Sie ihm gegeben?«

 

»Ein Licht ins Fenster zu stellen. Wir werden heute abend einen Beamten in seine Wohnung schicken, der die Telefonnachricht entgegennehmen soll.«

 

Das machte wenig Eindruck auf Jiggs. »Ich sage Ihnen: Die Bande weiß längst, daß sich Salaman mit der Polizei in Verbindung gesetzt hat! Was für ein Bursche ist er denn?«

 

Terry verzog das Gesicht. »Hat Geld wie Heu und einen etwas merkwürdigen Geschmack. Er ist Junggeselle … Ich glaube, er führt ein ziemlich ausschweifendes Leben.«

 

Jiggs nickte. »Er wird von Glück sagen können, wenn er nicht in Bälde eine blaue Bohne zwischen die Rippen bekommt.«

 

Kapitel 9

 

9

 

Leslie ging am nächsten Morgen ziemlich früh ins Büro. Sie war sehr niedergeschlagen und fühlte sich einsam und verlassen, denn sie hatte ihre Stellung verloren oder würde sie doch am Ende der Woche verlieren.

 

Die Polizei hielt das Haus noch besetzt. Man hatte die Bibliothek methodisch durchsucht; der Inhalt des Schreibtisches und der Schränke war von zwei in solchen Dingen erfahrenen Beamten überprüft worden.

 

Es gab daher für Leslie viel zu tun: Sie mußte Ordnung schaffen, die Briefschaften sortieren und Listen aufstellen. Zwei Stunden lang blieb sie bei dem Polizeisergeanten, der die Hauptarbeiten in der Bibliothek beaufsichtigte, und erklärte die Bedeutung der einzelnen Dokumente, die man im Schreibtisch gefunden hatte.

 

Später brachte Danes ihr Tee. Auch er hatte einen aufregenden Morgen hinter sich. »Ich wollte noch wegen des Testamentes mit Ihnen sprechen«, sagte er. »Wir haben es doch unterzeichnet. Die Polizei hat mich gefragt, was drin stand.«

 

»Das wußten Sie doch nicht?« entgegnete sie lächelnd. »Also konnten Sie es den Beamten auch nicht erzählen!«

 

Er schien nicht ganz damit einverstanden. »Es ist merkwürdig, daß Mr. Decadon die Schublade abschloß, als er das Testament weglegte. Erinnern Sie sich noch? Er ließ uns noch einmal kommen, weil er Ihnen Geld vermacht hatte; das wäre aber durch Ihre Unterschrift hinfällig geworden. Ich habe deshalb die Köchin rufen müssen, und die hat an Ihrer Stelle unterzeichnet. Er selber hat dabei nicht mehr aufs neue unterschrieben. Er sagte, die Sache wäre auch so rechtmäßig. Und nachher hat er die Schublade abgeschlossen und den Schlüssel eingesteckt. Als später die Polizeibeamten die Bibliothek durchsuchten, war die Schublade unverschlossen. Das ist mir eigentlich unverständlich.«

 

»Nun, das ist doch kein großes Wunder, Danes«, erwiderte sie gutmütig. »Mr. Decadon kann das Testament wieder herausgenommen und anderswo verwahrt haben.«

 

»Das habe ich Mr. Tanner auch gesagt. Er hat mich nach vielen Dingen gefragt … Eben vorhin hat er heruntertelefoniert, ob Sie im Büro wären, und –«

 

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und Eddie Tanner trat ein. Er grüßte Leslie mit seinem ruhigen, freundlichen Lächeln und wartete, bis der Diener das Zimmer verlassen hatte. »Sie haben gestern abend noch ein recht aufregendes Erlebnis gehabt. Es tut mir leid … Würden Sie so liebenswürdig sein und mir noch einmal berichten, wie alles vor sich ging?«

 

Sie erzählte ihr seltsames Abenteuer.

 

»Nun – es ist Ihnen weiter nichts geschehen … Das ist tröstlich! – Ich möchte Sie gern noch etwas fragen wegen des Testaments, das Sie unterzeichnet haben. Sie haben nicht gesehen, was in dem Schriftstück stand? Ich meine: wer als Erbe eingesetzt war?«

 

Sie schüttelte den Kopf. »Es ist doch sehr wahrscheinlich, daß Sie der Erbe sind?«

 

»Das halte ich eigentlich für ziemlich ausgeschlossen. Mein Onkel hat mich nie leiden mögen, und auch ich hab‘ ihn nicht besonders gern gehabt. Kennen Sie Captain Allerman?«

 

Der Name kam ihr bekannt vor, aber sie konnte sich nicht entsinnen, den Mann schon gesehen zu haben.

 

»Ein amerikanischer Detektiv, aus Chikago. Tüchtiger, intelligenter Mensch – aber manchmal hat er merkwürdige Ideen. Er glaubt zum Beispiel, ich hätte meinen Onkel erschossen …« Tanner öffnete die Tür zur Bibliothek, sah, daß die Beamten an der Arbeit waren, und schloß sie sofort wieder. »Die sind ja heftig tätig! Bin nur gespannt, ob sie das Testament finden … Ich nehme wenigstens an, daß das Schriftstück, das Sie unterzeichnen mußten, ein Testament war. Es besteht allerdings auch die Möglichkeit, daß es sich um ein Dokument andrer Art handelte …« Er lehnte den Kopf gegen die Tür. »Übrigens wär‘ mir’s lieb, wenn Sie hierblieben und die Papiere und Bücher meines Onkels ordneten. Am besten wohl stellen Sie zunächst mal einen Katalog von der Bibliothek her? Es dürfte ziemlich lange dauern, bis Sie damit fertig sind. Ich schätze: sechs Monate. Dann will ich sehn, daß ich Ihnen eine andere Stellung verschaffe.«

 

Er sah sie lange an, ohne zu sprechen. »Falls Sie das vermißte Testament finden sollten«, sagte er dann, »so wäre ich Ihnen zu Dank verbunden, wenn sie es sofort mir übergäben – nicht der Polizei. Ich verspreche Ihnen fünfzigtausend Pfund, wenn Sie das tun.« Er lächelte. »Das ist ein ansehnlicher Betrag – nicht wahr? Und Sie würden ihn auf ehrliche Weise verdienen …«

 

Sie atmete schwer. »Aber, Mr. Tanner …!« stammelte sie.

 

»Ich meine das vollkommen ernst; nur möchte ich Sie bitten, Mr. Weston nichts davon zu erzählen. Sie stehen jetzt in meinen Diensten – hoffentlich sind Sie mir nicht böse, weil ich diese Tatsache kurz erwähne –, und ich bin sicher, daß ich mich auf Sie verlassen kann.« Er ging hinaus und schloß geräuschlos die Tür.

 

Lange Zeit saß sie und starrte geistesabwesend vor sich hin. Fünfzigtausend Pfund … Plötzlich erinnerte sie sich an etwas. Merkwürdig, daß sie nicht schon vorher daran gedacht hatte! Sie läutete nach dem Diener.

 

»Wann haben Sie gestern abend den Postkasten geleert?« fragte sie ihn.

 

Danes überlegte einen Augenblick. »Gegen halb acht.« Es stand ein großer Mahagonikasten in der Bibliothek, und alle Briefe mußten dort hineingeworfen werden, mit Ausnahme der Post Eddie Tanners. »Mr. Decadon klingelte mir gestern abend, und ich nahm die Briefe heraus.«

 

»Wissen Sie zufällig, wie viele es waren?«

 

Danes war seiner Sache nicht ganz sicher. Er glaubte, es seien sechs gewesen.

 

»Es war ein langes Kuvert darunter; die anderen hatten gewöhnliches Format.«

 

»Ein langes Kuvert?« wiederholte sie schnell. »War die Adresse mit der Hand oder mit Maschine geschrieben?«

 

»Mit der Hand. Ich habe Mr. Decadons Schriftzüge erkannt. Die Tinte war nämlich noch nicht ganz trocken, und die Schrift verwischte, als ich den Brief anfaßte.«

 

»Wissen Sie, an wen er adressiert war?«

 

Danes legte die Hand an die Stirn und dachte eifrig nach. »Oben stand: ›Mr. Jerrington persönlich zu übergeben. Privat und vertraulich!‹ Auf die Adresse kann ich mich leider nicht besinnen.«

 

Leslie wußte nun, welche Bewandtnis es mit dem Kuvert hatte. Das Geheimnis war gelöst …

 

»Gehen Sie bitte zu Mr. Tanner und ersuchen Sie ihn, zu mir zu kommen, falls er im Haus ist!«

 

Wenige Minuten später erschien Eddie in ihrem Büro. »Nun, was gibt’s? Haben Sie etwas über das Testament erfahren?« Zum erstenmal, seitdem sie ihn kannte, zeigte er sich etwas nervös und aufgeregt.

 

»Ja, ich glaube, ich weiß, was damit passiert ist: Mr. Decadon muß es mit der Post fortgeschickt haben …«

 

»Mit der Post?«

 

»Ja. Unser Briefkasten in der Bibliothek wurde um halb acht geleert, und Danes hat mir eben erzählt, es habe sich ein langes Kuvert unter den Briefen befunden, das Mr. Decadon selbst adressiert hatte, und zwar an seine Rechtsanwälte Jerrington, Sanders und Graves.«

 

»Ich verstehe …« Tanner schaute nachdenklich zu Boden. »Mr. Jerrington kenne ich natürlich. Ich danke Ihnen für die Mitteilung, Miss Ranger!«

 

Später überlegte sie sich, ob es nicht besser gewesen wäre, trotz Tanners Warnung die Polizei von ihrer Entdeckung zu verständigen. Sie läutete Scotland Yard an, aber Terry Weston war nicht anwesend.

 

Kapitel 30

 

30

 

Die Firma Dorries machte glänzende Geschäfte. Zweiunddreißig neue Konten waren eröffnet worden, und es handelte sich nicht um kleine Summen, sondern um namhafte Depots. Das war das Ergebnis der ersten vierzehn Tage.

 

Leslie konnte sich indes in den verschiedenen Abteilungen der Firma nicht immer zurechtfinden. Jedesmal war es dann der sonst so schweigsame Kassierer, der ihr Aufschluß gab. Von Dorries und seinem Partner sah und hörte sie nichts.

 

Eines Tage speiste sie mit einer Dame zu Mittag, die eine wichtige Stellung in einem Bankhaus einnahm. Als sie ins Büro zurückkehrte, ließ sie den Kassierer rufen. »Stimmt es, Mr. Morris, daß einen Monat vor meinem Eintritt die Firma insolvent war und beinahe ihre Zahlungen eingestellt hätte?«

 

Er nickte. »Ja, die Firma wurde dann saniert. Unser Mr. Dorries nahm einen neuen Partner auf – man kann ja wohl besser sagen: Er verkaufte das Geschäft. Er selber behielt nur noch einen kleinen Anteil.«

 

Sie schüttelte ratlos den Kopf. »Ich verstehe dann aber nicht, wieso die Firma plötzlich wieder so gut geht. Warum vertrauen uns die Leute plötzlich? Warum werden uns große Frachtaufträge nach Übersee gegeben? Heute morgen sah ich doch ein solches Schriftstück, als ich die Schiffspapiere kontrollierte. Für viertausend Pfund Geschirr! Verkaufen wir denn derartige Waren?«

 

Er lächelte. »Nein, Miss Ranger! Wir handeln in solchen Fällen nur als Agenten. Sie werden eine Menge von Geschäftsaufträgen finden, die Sie zunächst nicht verstehen. Aber mit der Zeit arbeiten Sie sich schon ein!« –

 

 

Am Nachmittag vor Tetleys Tod hatte die Regierung den Entschluß gefaßt, Kerky Smith zu verhaften und aus London auszuweisen.

 

Nur Jiggs Allermans Einspruch war es zu danken, daß diese Maßnahme unterblieb. »Tun Sie das nicht!« riet er. »Behalten Sie ihn hier! Sie müssen seine Zuversicht und sein Selbstvertrauen erschüttern – dann erschüttern Sie seine Organisation.«

 

Und es zeigte sich auch, daß seine Auffassung die richtige war. –

 

Kerky Smith las die Morgenzeitung in seinem Hotelzimmer. Der Kellner hatte eben das Frühstück abgeräumt, und Kerky fühlte sich in Frieden mit der ganzen Welt. Nur Eddie Tanner verursachte ihm Mißbehagen: Der hatte kalte Füße bekommen und ging aus dem Geschäft, als gerade das Korn reifte …

 

Der Diener kam aus dem Schlafzimmer.

 

»Kerky«, sagte er leise. »Die Polizei hat heute morgen eine Razzia bei dem Friseur abgehalten, alle Telefone besetzt und Dinky verhaftet! Man hatte die ganzen Leitungen seit einer Woche überwacht …«

 

Kerky machte ein sonderbares Gesicht, als ob er pfeifen wollte. »Ich dachte, sie wüßten nichts von dem Platz?«

 

»Die Polizei kann nicht immer taub und blind bleiben. Den Safe haben sie auch gefunden …«

 

»Es war nichts drin!« entgegnete Kerky schnell.

 

Der Diener schüttelte den Kopf. »Nein – er wurde gestern ausgeräumt. Aber sie wußten, daß etwas drin gewesen war; und sie haben Dinky verhört, wie viele Briefe er in letzter Zeit nach Amerika geschickt hätte.«

 

»Wer hat ihn denn ausgefragt?«

 

»Jiggs! Und den kennst du doch?«

 

»Ja, den kenne ich!« knurrte Kerky grimmig. »Aber ich kenne auch Dinky – der verrät nichts!«

 

»Das wäre ja möglich.« Geräuschlos ging der Mann wieder ins Schlafzimmer zurück.

 

Verteufelte Situation! dachte Kerky. Dinky war einer der drei Kassierer der Bande, Zahlmeister und hervorragender Buchhalter. Das kleine Wettbüro im ersten Stock hatte sehr glückliche Kunden: Dinky schickte mit jeder Post Pakete von französischen und amerikanischen Banknoten nach den Vereinigten Staaten. Leute, die hereinkamen, um sich rasieren oder das Haar schneiden zu lassen, gingen reicher hinaus, als sie gekommen waren …

 

»Die verdammte Schießerei ist dran schuld«, brummte Kerky erbost.

 

Kurze Zeit nachher kam unerwartet Cora zurück, die man wegen eines Formfehlers in ihrem Paß nicht hatte abfahren lassen.

 

Wenn sie nicht mal Cora aus dem Land ließen, welche Möglichkeit hatte er dann, auf normale und gesetzmäßige Weise fortzukommen? Aber sie konnten ihn nicht zurückhalten, wenn er reisen wollte. In zwei Stunden war er notfalls mit dem Flugzeug in Paris, und das Flugzeug wartete Tag und Nacht. Immerhin war die Lage äußerst bedrohlich. Hinter allem steckte natürlich Jiggs. Mit diesem Kerl mußte endlich Schluß gemacht werden! –

 

Aber am nächsten Morgen wurde während Kerkys Abwesenheit sein Kammerdiener Jack verhaftet, und er erkannte, daß seine Lage allmählich verzweifelt wurde. Die beiden besten Führer seiner Organisation waren ihm genommen, und in einer halben Stunde mußten die Posten neu besetzt sein … Noch andere Dinge hätten sich geändert: Über London lag ein lähmender Bann, als die Gangsterschießereien begannen, aber jetzt brach die allgemeine Wut los. Die Atmosphäre war geladen. Kerky fühlte es.

 

Er nahm das Mittagessen auf seinem Zimmer ein und schickte eine Nachricht zu seinem geheimen Flugplatz. Dann ging er nach unten, um mit dem Geschäftsführer zu sprechen. »Am nächsten Mittwoch gebe ich ein Diner. Fünfzig Gedecke. Stellen Sie das beste Menü zusammen! Es soll ein fürstliches Mahl werden.«

 

Der Geschäftsführer war hochzufrieden.

 

Kerky fuhr ganz offen in die Bond Street und kaufte ein. Die Detektive, die ihn beobachteten, berichteten Captain Allerman darüber.

 

»Großartig!« sagte der Amerikaner und gab einen Befehl.

 

Als Kerky ins Hotel zurückkam, fand er Cora nicht und klingelte. »Wo ist Mrs. Smith?« erkundigte er sich, als der Flurkellner erschien.

 

»Sie ist nicht mehr da. Zwei Herren kamen und nahmen sie mit … Ich glaube, sie waren von der Polizei. Captain Allerman war der eine.«

 

Der beste und tüchtigste Rechtsanwalt Londons rief in Scotland Yard an und bat um Aufklärung; sie wurde ihm jedoch höflich verweigert. Kerky ließ durch seine Vertrauten alle Polizeistationen absuchen, aber nirgends fand sich Cora; nirgends auch Jack.

 

Am Nachmittag wurde in der Downing Street ein rotgedruckter Brief abgegeben. Es wurde jedoch kein Geld verlangt, sondern nur Straflosigkeit für alle, die an den letzten Unruhen teilgenommen hatten. Man sollte ihnen die Abreise gestatten und eine Frist von sieben Tagen gewähren, um England zu verlassen.

 

»Kerky wird der Boden zu heiß – er will sich aus dem Staub machen«, meinte Jiggs, als Terry ihn den Brief hätte lesen lassen. »Was macht übrigens zur Zeit der Ministerpräsident? Hat er öffentliche Verpflichtungen?«

 

»Er eröffnet eine neue Schule am Themseufer.«

 

»Innerhalb der City?«

 

»Ja.«

 

»Aha – nun durchschaue ich die Sache!«

 

»Wembury meint, der Ministerpräsident solle die Feierlichkeit absagen.«

 

»Nichts wird abgesagt!« erklärte Jiggs. »Er soll die Feier ruhig abhalten. Es wird ihm nichts passieren. Glauben Sie mit!«

 

Terry lächelte wehmütig. »Ich wünschte nur, wir könnten unsrer Sache tatsächlich so sicher sein!« –

 

Ganz London wußte von dem Drohbrief, den der Ministerpräsident erhalten hatte. Und ganz London strömte an dem betreffenden Tag am Themseufer zusammen.

 

Alle Polizeibeamten, die irgendwie abkömmlich waren, wurden hingeschickt, nicht nur, um die Menschenmenge zu kontrollieren, sondern vor allem, um die Person des Ministerpräsidenten zu schützen. Downing Street und ein Teil von Whitehall wurden abgeriegelt.

 

Jiggs sah sich vom Präsidium aus den Menschenauflauf an. Die Westminsterbrücke war schwarz von Leuten. Um zehn Uhr mußte der Verkehr über eine andere Brücke gesperrt werden, ebenso die Zugänge zum Trafalgar Square. Leslie Ranger brauchte anderthalb Stunden, um zum Büro zu kommen. Als sie es schließlich erreichte, fand sie den alten Prokuristen verzweifelt und sehr erregt.

 

»Alle neuen Konten sind wieder geschlossen worden – alle zweiunddreißig! Und alle ziehen ihr Geld aus der Firma zurück – in Dollars!«

 

Sie starrte ihn ungläubig an. »Was hat denn das zu bedeuten?«

 

Mr. Morris, der gewandte Kassierer, schien durchaus nicht beunruhigt. »Das ist doch nichts Außergewöhnliches!« meinte er. »Diese Konten wurden von einer Anzahl von Leuten angelegt, die zusammen ein Syndikat bilden. Sie haben einen Beschluß gefaßt, das ganze Kapital in die Gesellschaft zu stecken – das heißt: auf eine Stelle zu konzentrieren. Sie haben uns nur gebeten, ihre Depotbilanz auszuzahlen. Das kommt doch auch sonst vor!« Er lächelte. »Wenn wir das Geld nicht hätten, Miss Ranger, wäre es eine böse Sache. Aber wir sind doch gedeckt! Ich werde zur Bank gehen und die nötigen Anordnungen treffen.«

 

Kurz vorm Mittagessen brachte er ihr das Geld in einer großen Ledertasche. Sie schloß sie in dem Safe ein, der in ihrem Büro stand. »Heißt das nun, daß die Firma Dorries wieder insolvent geworden ist?« fragte sie traurig.

 

»Nein – die Firma ist solvent! Auf der Bank sind noch fünfzigtausend Pfund. Wir haben nur ein paar Kunden verloren – in Wirklichkeit nur einen Kunden. Es sind auch gewisse Aufträge von außerhalb zu annullieren; aber Sie brauchen sich deshalb keine Sorge zu machen!« Er sah ihr offen in die Augen. »Um genau zu sein: Wir haben neunundvierzigtausend Pfund auf der Bank. Die Miete für das Büro ist im voraus auf lange Zeit bezahlt, und es ist auch noch genügend Geld vorhanden, um die Gehälter auf ein Jahr zu decken. – Wollen Sie sich übrigens nicht auch das große Schauspiel ansehen, wenn der Ministerpräsident die neue Schule eröffnet?«

 

Sie schüttelte den Kopf. Fünf Minuten vor zwei saß sie in ihrem Büro und schrieb einen Brief. Das Büro des Kassierers lag neben dem ihren, Und die beiden Räume waren durch eine Tür verbunden. Als sie eine Pause machte, hörte sie plötzlich ein scharfes Krachen nebenan. Sie öffnete die Tür. »Ist etwas passiert?« fragte sie und blieb dann, starr vor Schrecken, stehen.

 

Der Kassierer war über den Schreibtisch gesunken. Neben ihm stand Kerky Smith. Die weiße Schreibunterlage hatte sich rot gefärbt … Noch ein andrer Mann war im Zimmer.

 

»Schreien Sie nicht, Miss Ranger«, flüsterte Kerky und gab dem andern ein Zeichen, hinauszugehen. Geräuschlos zog sich der Mann zurück. Leslie ging rückwärts in ihr Büro. Er folgte ihr und schloß die Tür. »Sie haben eine Ledertasche in Ihrem Safe … Wollen Sie mir die aushändigen? Machen Sie keine Schwierigkeiten! Eddie hat sein ganzes Geld bei Ihnen deponiert. Er hat es auf diese Weise recht schlau versteckt.«

 

»Mr. Tanner hat nichts mit der Firma Dorries zu tun«, brachte sie ängstlich hervor. Kerky grinste.

 

»Tanner selbst ist doch Dorries! Aber nun öffnen Sie gefälligst den Safe – oder geben Sie mir den Schlüssel. Wenn Sie Lärm schlagen, schieße ich Sie nieder! Eddie wird sein Geld nicht mitnehmen können …«

 

Die Tür zum äußeren Büro wurde plötzlich geöffnet und wieder geschlossen. Eddie Tanner stand im Eingang. In seiner Hand blitzte ein Revolver.

 

Blitzschnell sprang Kerky hinter Leslie Ranger und hielt sie fest. Im gleichen Augenblick feuerte er zweimal. Eddie Tanner sank in die Knie; die Waffe fiel aus seiner Hand … Kerky schleuderte Leslie von sich und zog die Schublade auf. Ein paar Sekunden später hatte er den Safe geöffnet und hielt die Ledertasche in der Hand. Da knallten kurz hintereinander drei Schüsse.

 

»Ich verhafte Sie, Kerky!« Jiggs stand in der andern Tür.

 

Die Revolver der beiden krachten zu gleicher Zeit. Aus dem Büro des Kassierers eilten drei Männer herein. Leslie kauerte in einer Ecke und beobachtete mit weit aufgerissenen Augen den Kampf. Jiggs feuerte mit beiden Händen, und zwei der Angreifer wälzten sich auf dem Boden. Kerky stand noch. Sein Revolver hatte Ladehemmung; gedankenschnell zog er einen anderen. Im nächsten Moment schoß er, aber gleichzeitig hatte auch Jiggs abgedrückt. Kerky Smith taumelte und sank langsam auf die Knie …

 

Drei Ärzte waren bis spät in die Nacht damit beschäftigt, Captain Allerman zu verbinden. Er war schwer verwundet, aber am dritten Tag saß er wieder aufrecht und vergnügt im Bett.

 

»Ich sterbe so bald nicht – glauben Sie mir das nur! Kerky Smith kann einen Polizeibeamten aus Chikago nicht um die Ecke bringen! Ich wußte, daß die Firma Dorries hur eine Fassade war. Eddie kaufte sie, weil er eine Bank für sein Geld brauchte, und übertrug Leslie Ranger die Leitung, weil er ihr vertraute. Der Kassierer war sein Buchhalter für das Erpressergeschäft, außerdem ein glänzender Pistolenschütze. Ich habe die Firma beobachtet, seit Miss Ranger dort war. Und ich ahnte, daß Kerky eines Tages hinter dem Geld her sein würde. Der Brief an den Ministerpräsidenten war allerdings eine geniale Idee; Kerky konzentrierte dadurch alle Polizeibeamten auf eine ganz andere Stelle und konnte frei schalten und Walten. Sicher wäre er auch unbehelligt entkommen, wenn nicht Tanner auf der Bildfläche erschienen wäre. Der arme Eddie – der hat nun auch sein Teil! Haben Sie sein Testament gesehen, Terry? Ich glaube, es wird Sie interessieren, wem er sein Vermögen vermacht hat …« Er begegnete Leslies Blick und zwinkerte mit den Augen. »Wirklich – alles in allem ein feiner Kerl! Er hat sich an dieser Sache nicht deshalb beteiligt, weil er Geld machen wollte, sondern weil er ein geborener Feind von Gesetz, Ordnung und ruhigem Leben war. Ob er seinen Onkel erschossen hat? Aber natürlich!«

 

»Warum wollte er denn plötzlich nichts mehr mit der Geschichte zu tun haben?« fragte Terry. »Hat er sich gefürchtet?«

 

Jiggs schüttelte den Kopf. »Nein – Eddie konnte man keine Angst einjagen!« Diesmal vermied er Leslies Blick. »Ich glaube, er hatte sich verliebt … Das kann auch andern Leuten passieren …«

 

Eine ängstliche Krankenschwester neigte sich über ihn. »Sie dürfen nicht so viel sprechen, Captain!«

 

Er sah sie ärgerlich an. »Was – ich soll nicht sprechen?« brummte er. »Warum denn nicht? Glauben Sie vielleicht, ich wäre tot?«

 

 

Ende