Kapitel 7

 

7

 

Erst als sich die Geschwindigkeit des Autos mehr und mehr steigerte und einer ihrer beiden Begleiter die Jalousien an den Fenstern herabließ, erkannte Leslie Ranger, daß ihr Gefahr drohte.

 

»Tun Sie das nicht!« sagte sie scharf.

 

»Bleiben Sie ruhig sitzen und reden Sie nicht! Wenn Sie meiner Aufforderung folgen, passiert Ihnen nichts. Verstanden?«

 

Sie fiel beinahe in Ohnmacht, als sie merkte, daß sie das Opfer eines Betrugs geworden war. »Wohin fahren wir?« fragte sie, erhielt aber keine Antwort.

 

Sie mochten ungefähr eine Stunde unterwegs gewesen sein, als der Wagen plötzlich um eine Ecke bog. Kurze Zeit ging es auf einer unebenen Straße weiter, dann wandten sie noch einmal nach links und hielten an. Einer der Begleiter zog ein Tuch aus der Tasche und verband Leslie die Augen, was sie sich ruhig gefallen ließ. Man half ihr aus dem Wagen und führte sie über einen mit Steinplatten belegten Weg zu einem Haus. Schließlich hatte sie den Eindruck, in einem Zimmer zu stehen, in dem sich noch mehrere Leute befanden. Scharfer Zigarrenrauch schlug ihr entgegen.

 

»Sagen Sie ihr, daß sie sich setzen soll!« bemerkte jemand. Als sie der Aufforderung nachkam, sprach er sofort weiter: »Also, nun erzählen Sie mal! Ich fordere Sie auf, die Wahrheit zu sagen und alle Fragen zu beantworten. Wenn Sie das tun, geschieht Ihnen nichts.« Der Mann sprach mit einer hohen, rauhen – offenbar verstellten – Stimme.

 

Sie war von panischem Schrecken ergriffen, aber sie fühlte, daß es keinen Zweck hätte, hier Widerstand zu leisten oder etwas zu verheimlichen. Deshalb erzählte sie der Wahrheit entsprechend, was geschehen war, und beantwortete alle Fragen ohne Zögern.

 

Die Leute schienen sich besonders für Eddie Tanner zu interessieren, denn ihre Erkundigungen richteten sich hauptsächlich auf ihn. Sie wollten wissen, wo er war, als sich die Geschichte abspielte, und ob man seine Fingerabdrücke gefunden hätte. Als sie den Revolver erwähnte, lachte einer der Anwesenden; doch der Mann, der Leslie ausfragte, wies ihn ärgerlich zurecht.

 

Später herrschte Ruhe. Das Verhör hatte zwei Stunden gedauert. Dann brachte man ihr heißen Kaffee, wofür sie dankbar war.

 

»Es ist alles in Ordnung, mein Kind«, sagte der Mann schließlich. »Sie können der Polizei über Ihr Erlebnis berichten! Aber erzählen Sie den Beamten nur die absolute Wahrheit!«

 

Leslie wurde wieder zum Auto geführt. Dann erinnerte sie sich noch dunkel daran, daß ein anderer Wagen dauernd dem ihren folgte. Sie fiel in Schlaf und erwachte erst, als die beiden Polizisten der Motorradstreife sie weckten …

 

Kapitel 8

 

8

 

Inzwischen war man dem Vorleben des Landstreichers nachgegangen. Er hatte in einem billigen Quartier gewohnt, war aber in den beiden letzten Nächten vor dem Mord nicht in seinem Zimmer gewesen. Er wurde als zurückhaltender, stiller Mann bezeichnet, der nie mit anderen über seine Verhältnisse gesprochen hatte.

 

Während der Nacht hatte der Polizeipräsident nach Chikago telegrafiert und erreicht, daß Jiggs Allerman zeitweise dem Beamtenstab von Scotland Yard zugeteilt wurde. Jiggs hatte dann den nächsten Vormittag in Decadons Haus mit Untersuchungen zugebracht. Als er nach Scotland Yard zurückkehrte, fand er Terry bei der Lektüre einer Zeitung.

 

»Nun, haben Sie etwas entdeckt?«

 

Jiggs nickte. »Der Alte hatte eine kleine Küche für Tanner einrichten lassen, und dort fand ich einen Gasofen …« Er zog einen Briefumschlag aus der Tasche, öffnete ihn behutsam und nahm einen dünnen Draht von ungefähr fünfzehn Zentimeter Länge heraus. »Der war um einen der Brenner gewickelt. Und draußen, auf dem Podest der Feuertreppe, ist erst vor kurzem ein Haken in die Wand geschlagen worden.«

 

»Was schließen Sie daraus?«

 

Jiggs rieb sich nachdenklich das Kinn. »Eine ganze Menge. Welche Windrichtung hatten wir gestern nacht?«

 

Terry nahm die Zeitung auf und suchte nach dem Wetterbericht. »Mäßigen Nordwestwind.«

 

»Großartig! Am meisten war ich nämlich über das Verschwinden der Pistole erstaunt, mit der der Tramp erschossen wurde …« Der Amerikaner lehnte sich über den Tisch und sprach nachdrücklich weiter: »Es gab nur einen Weg, die Pistole wegzubringen. Ich ahnte sofort, wie es die Leute angestellt hatten, als ich von einem Dienstmädchen des Nachbarhauses erfuhr, daß jemand ihr Fenster eingestoßen habe, und zwar ein paar Minuten nachdem der Mord passiert war. Ich meine: die Erschießung des Landstreichers.« Er nahm einen Bleistift aus der Tasche und zeichnete einen rohen Plan. »Also: Hier ist der Hof! An einer Seite grenzt er an das nächste Grundstück. Das betreffende Dienstmädchen schläft im vierten Stock. Sie war früh zu Bett gegangen, weil sie am Morgen zeitig hatte aufstehen müssen. Als sie gerade im Begriff war einzuschlafen, wurde ihr Fenster von draußen eingeschlagen. Das ist natürlich nur ihre Auffassung. Ich bin der Ansicht, daß es von einem Gegenstand getroffen wurde. Das vierte Geschoß des Nachbargebäudes liegt etwa ein Stockwerk höher als das Dach von Decadons Haus. Als ich von diesem Vorfall hörte und als ich den Draht um den Gashahn und den Haken in der Mauer fand, ließ ich in allen Geschäften in London nachfragen, die Gasballone führen. Ich wollte herausfinden, wer in der letzten Zeit einen ziemlich großen Spielballon verkauft hatte, der in gefülltem Zustand ein paar Pfund tragen konnte.«

 

Terry starrte ihn verwundert an. »Ich hab‘ allerdings gehört, daß so etwas früher schon einmal gemacht wurde …«

 

»Nun hören Sie’s zum zweitenmal! Der Ballon wurde in der kleinen Küche gefüllt; das Ende wurde um den Gasbrenner gebunden – der Gasdruck ist in jener Gegend ziemlich stark. Kurz vor dem Mord wurde der Ballon abgebunden und mit einer Schlinge an dem neu eingeschlagenen Haken befestigt. Nachdem Board hinterrücks erschossen worden war, band der Täter die Pistole an den Ballon und ließ ihn steigen. Der Wind muß ziemlich stark gewesen sein. Als der Ballon in die Höhe stieg, wurde er schnell abgetrieben, und die Pistole schlug gegen die Fensterscheibe der Mädchenkammer. Also – nun hab‘ ich Ihnen etwas von meinen Methoden gezeigt!« schloß Jiggs ironisch.

 

Terry dachte ein paar Minuten nach. »Aber wenn Ihre Theorie stimmt, muß der Mörder die Feuerleiter in die Höhe gestiegen sein, nachdem er Board niedergeschossen hatte.«

 

Jiggs nickte bedächtig. »Da haben Sie recht, mein Junge!«

 

»Glauben Sie immer noch, daß Tanner der Mörder ist?«

 

Jiggs lächelte. »Es handelt sich hier nicht mehr um glauben. Ich weiß bestimmt, daß er der Täter ist.«

 

»Sie nehmen wirklich an, daß er Spuren hinterließ, die ihn verdächtigen?«

 

»Nun, Sie sehen doch: Er ist auf freiem Fuß! Man hat keinerlei Beweise gegen ihn, auf Grund deren man ihm den Prozeß machen könnte. Die Gummistempel mit seinen Fingerabdrücken sprechen sogar zu seinen Gunsten. Ich glaube nicht, daß es möglich wäre, eine Verurteilung Tanners zu erreichen. Ich habe schon früher gesagt, daß er ein ausgezeichneter Psychologe ist. Nehmen wir mal an, man hätte keine Fingerabdrücke und keine Schußwaffe gefunden. Auf wen wäre der Verdacht gefallen? Doch nur auf Ed! Decadons Testament ist verschwunden, und er darf als einziger Erbe gelten. Er hat sehr schlau gehandelt, indem er den Verdacht auf sich lenkte, da er ihn ja gleich wieder zerstören konnte … Wie weit sind wir hier vom Meer entfernt?«

 

»Ungefähr achtzig Kilometer.«

 

Jiggs nickte. »Er macht niemals einen Fehler! Der Gasballon, den er benutzt hat, konnte sich mindestens einige Stunden in der Luft halten. Die Pistole werden wir also nicht zu sehen bekommen. Die ist irgendwo ins Meer gestürzt.«

 

»Wir hatten übrigens keine weiteren Klagen von Leuten, die man erpressen wollte«, bemerkte Terry.

 

»Die kommen schon noch! Die Bande läßt nur eine gewisse Zeit verstreichen – aus taktischen Gründen.« Der Amerikaner sah nach der Uhr. »Ich gehe jetzt zur Cecilia-Bar. Ich hab‘ so ’ne Ahnung, als ob man dort interessante Dinge erfahren könnte.«

 

Die Cecilia-Bar galt als Treffpunkt für Amerikaner, die sich in London aufhielten. Der große, moderne Raum war ziemlich besucht, als Jiggs dort eintraf. Er ließ sich an einem kleinen Tisch nieder und wartete.

 

Es war beinahe zwölf, als Kerky Smith gemächlich in die Bar schlenderte; er hatte das knochige Kinn vorgereckt und trug das übliche freundliche Lächeln zur Schau. Gelangweilt schaute er sich um, übersah Jiggs allem Anschein nach und ging wieder zur Tür. Jiggs trank seinen Cocktail aus, winkte dem Kellner und steckte die Hand in die Tasche. Er hatte nicht die Absicht zu gehen; er wollte nur den ›Großen‹ herbeilocken.

 

»Aber Jiggs, warum brechen Sie schon auf?« Kerky Smith kam liebenswürdig auf den Detektiv zu, streckte die mit Brillantringen geschmückte Hand aus und drückte herzlich die Rechte des Beamten. »Sie gehen doch hoffentlich noch nicht? Ich möchte ein wenig mit Ihnen plaudern.« Er setzte sich. »Es ist doch wirklich schlimm, daß der Alte so sterben mußte. Ich wette mit Ihnen, daß Ed die Sache ziemlich an die Nieren gegangen ist. Ich glaube, er trauert um seinen Onkel.«

 

»Sie reden ja wie ein Buch. Wo haben Sie denn all die Ausdrücke her?«

 

»Ach, das hab‘ ich so irgendwo gelesen«, erwiderte Kerky unverschämt. »Hat der Alte ihm nicht sein Vermögen hinterlassen? Nun, er braucht das Geld ja auch dringend. Es fehlte ihm gerade noch eine Million.«

 

»Es wird Monate dauern, bevor er einen Cent von der Erbschaft anrühren kann.«

 

»Ach?« Kerky Smith runzelte die Stirn. »Daraufhin kann man sich aber doch Geld borgen? Soviel ich weiß, war Ed heute morgen schon bei verschiedenen Finanzleuten …«

 

Jiggs zeigte höfliches Interesse. »Sagen Sie mal: Was für ein Geschäft betrieb er eigentlich, als er noch in Chikago war?«

 

Kerky schüttelte mißbilligend den Kopf. »Ich kenne den Mann kaum, und ich weiß nicht, warum Sie immer von ›Geschäften‹ reden.« Er sprach vollkommen ruhig und blickte den Detektiv offen an. »Es sieht so aus, als ob einige Gangster hier Fuß fassen wollen«, fuhr er fort, »Hat schon jemand Ed aufgefordert, eine Summe zu zahlen? Er ist ja jetzt ein schwerreicher Junge geworden.«

 

»Sagen Sie mir lieber, was er in Chikago getrieben hat!« wiederholte Jiggs. Er hoffte allerdings nicht auf eine befriedigende Antwort, denn ein Gangster, spricht nicht einmal über die Geschäfte seiner schlimmsten Feinde.

 

»Er verkehrte in Spielerkreisen. Meiner Meinung nach hat er da sein Geld gemacht.«

 

Jiggs lehnte sich über den Tisch und sprach leise: »Kerky, Sie erinnern sich doch noch daran, daß Sam Polini erschossen wurde? Man lauerte ihm auf, als er eines Morgens aus der Messe kam. Der war doch ein Freund von Ihnen?«

 

Ein harter Ausdruck zeigte sich in Kerkys Blick, aber das Lächeln verschwand nicht aus seinem Gesicht. »Ich kannte den Mann …«

 

»Er gehörte zu Ihren Leuten. Wer hat ihn denn niedergeknallt?«

 

»Wenn ich das wüßte, hätt‘ ich’s doch der Polizei gemeldet. Polini war ein feiner Kerl. Schade, daß der dran glauben mußte!«

 

»Hatte Ed etwas mit der Sache zu tun?«

 

Kerky schüttelte gelangweilt den Kopf. »Ach, welchen Zweck hat es denn, so alberne Fragen zu stellen, Jiggs? Ich hab‘ Ihnen bereits erklärt, daß ich nichts über ihn weiß. Er scheint ein ganz netter Kerl zu sein, und ich möchte kein Wort gegen ihn sagen – besonders jetzt nicht, da er in Trauer ist.«

 

Jiggs bemerkte den schnellen Seitenblick, mit dem ihn der andere betrachtete, und deutete ihn auf seine Weise.

 

»An einem der nächsten Tage fahr‘ ich nach Paris«, fuhr Kerky fort. »Wenn man amerikanische Gangstermethoden in London einführt, möcht‘ ich lieber nicht hier sein. London ist ja wohl auch der letzte Ort, an dem man so blöde Schießereien erwarten sollte. Stimmt es übrigens, daß Sie jetzt bei Scotland Yard angestellt sind?«

 

»Wer hat Ihnen denn das erzählt?«

 

»Ach, man spricht darüber, daß Sie für einige Zeit ausgeliehen worden seien.« Kerky legte eine Hand auf die Schulter des Detektivs. »Ich mag Sie im Grund sehr gern. Sie sind ein tüchtiger Mann, und an Ihrer Stelle würde ich mich nicht hier herumtreiben. Wissen Sie: Sie könnten tatsächlich Besseres anfangen und ordentlich Geld verdienen! Einer meiner Freunde hat dringend einen Detektiv nötig und zahlt hunderttausend Dollar, wenn ich ihm einen brauchbaren nachweise. Zu tun hätte der nicht weiter viel: braucht nur ruhig dazusitzen und nichts zu merken, wenn was passiert … Wahrscheinlich könnten Sie meinem Freund sehr viel nützen.«

 

»Will sich Ihr Freund scheiden lassen? Oder will er sich nur vorm Galgen retten?« fragte Jiggs geradezu. »Sagen Sie bitte Ihren Bekannten, mit mir wäre in dieser Hinsicht nichts anzufangen! Teilen Sie ihnen aber auch mit, daß ich mit zwei Pistolen schießen kann, falls sie versuchen sollten, mich auf andere Weise taub und stumm zu machen. Sie müssen verdammt schnell sein, wenn sie mir zuvorkommen wollen!«

 

Kerky seufzte. »Sie reden wie ein Filmstar aus Hollywood.« Er winkte dem Kellner, zahlte, nickte Jiggs freundlich zu und schlenderte dann zur Bar.

 

Jiggs machte sich auf den Weg zu seinem Hotel, paßte aber unterwegs genau auf. Nichts entging seiner Aufmerksamkeit. Er wußte, daß es noch vor Ende der Woche allerhand Aufregung in London geben würde …

 

Im Speisesaal seines Hotels traf er mehrere Bekannte, die über Decadons Ermordung sprachen. Keiner schien jedoch die Tragweite der Ereignisse zu begreifen. Keiner erkannte, wie sehr sie in ihrer eigenen Sicherheit bedroht waren.

 

Während des Essens wurde Jiggs ans Telefon gerufen.

 

Terry meldete sich. »Ich komme zu Ihnen ins Hotel! Die Dinge entwickeln sich … Können wir in Ihrem Zimmer miteinander sprechen?«

 

»Gewiß!«

 

Jiggs erwartete den Chefinspektor in der Halle und fuhr dann im Lift mit ihm nach oben.

 

»Hier haben wir einen weiteren Brief!« Terry nahm ein zusammengefaltetes Blatt aus der Brieftasche. Es hatte genau dieselbe Größe wie das an Decadon gerichtete Schreiben, war aber in grüner Farbe gedruckt und hatte einen anderen Wortlaut:

 

Sehr verehrter Freund! Es ist unser Bestreben, Ihnen Sicherheit und Wohlergehen zu garantieren. Wir sind eine Vereinigung entschlossener Männer, die Sie gegen Ihre Feinde und selbst gegen Ihre Freunde schützen will. Sie brauchen sich nicht mehr um Diebe oder andere Verbrecher zu kümmern, wenn Sie uns Ihr Vertrauen schenken. Sind Sie gewillt, unsere Hilfe in Anspruch zu nehmen, so stellen Sie heute abend zwischen acht und halb neun eine Kerze in. das Fenster Ihres Speisezimmers! Wir bieten Ihnen unsere Hilfe für tausend Pfund an, die Sie innerhalb der nächsten drei Tage zu zahlen haben. Falls Sie unsere Dienste ablehnen, so laufen Sie Gefahr für Leib und Leben. Sollten Sie diese Mitteilung der Polizei übergeben, so sind Sie ein Mann des Todes. Stecken Sie tausend Pfund in einen Briefumschlag! Wenn Sie uns durch die Kerze Ihr Einverständnis mitgeteilt haben, erhalten Sie sofort telefonisch Anweisung, wie Sie uns die Zahlung zukommen lassen sollen.

 

 

Das Schreiben war unterzeichnet: »Gesellschaft für Schutz und Sicherheit.«

 

»Die drucken ihre Zirkulare also mit grüner Farbe«, meinte Jiggs. »Die beiden Banden sind nun an der Arbeit: die Grünen wie die Blauen. Wer hat diese Nachricht bekommen?«

 

»Mr. Salaman, ein sehr reicher junger Mann. Er wohnt in der Brook Street und erhielt den Brief heute mit der ersten Post. Wir haben nicht erfahren, ob noch anderen derartige Aufforderungen zugeschickt wurden. Salaman jedenfalls hat uns das Schreiben sofort übersandt, und wir haben daraufhin sein Haus unter Bewachung gestellt.«

 

»Ist er persönlich nach Scotland Yard gekommen?«

 

»Nein, das haben wir vermieden. Er setzte sich telefonisch mit uns in Verbindung und schickte den Brief dann durch einen Boten.«

 

Jiggs lächelte ironisch. »Die werden trotzdem schon alles wissen … Welchen Rat haben Sie ihm gegeben?«

 

»Ein Licht ins Fenster zu stellen. Wir werden heute abend einen Beamten in seine Wohnung schicken, der die Telefonnachricht entgegennehmen soll.«

 

Das machte wenig Eindruck auf Jiggs. »Ich sage Ihnen: Die Bande weiß längst, daß sich Salaman mit der Polizei in Verbindung gesetzt hat! Was für ein Bursche ist er denn?«

 

Terry verzog das Gesicht. »Hat Geld wie Heu und einen etwas merkwürdigen Geschmack. Er ist Junggeselle … Ich glaube, er führt ein ziemlich ausschweifendes Leben.«

 

Jiggs nickte. »Er wird von Glück sagen können, wenn er nicht in Bälde eine blaue Bohne zwischen die Rippen bekommt.«

 

Kapitel 9

 

9

 

Leslie ging am nächsten Morgen ziemlich früh ins Büro. Sie war sehr niedergeschlagen und fühlte sich einsam und verlassen, denn sie hatte ihre Stellung verloren oder würde sie doch am Ende der Woche verlieren.

 

Die Polizei hielt das Haus noch besetzt. Man hatte die Bibliothek methodisch durchsucht; der Inhalt des Schreibtisches und der Schränke war von zwei in solchen Dingen erfahrenen Beamten überprüft worden.

 

Es gab daher für Leslie viel zu tun: Sie mußte Ordnung schaffen, die Briefschaften sortieren und Listen aufstellen. Zwei Stunden lang blieb sie bei dem Polizeisergeanten, der die Hauptarbeiten in der Bibliothek beaufsichtigte, und erklärte die Bedeutung der einzelnen Dokumente, die man im Schreibtisch gefunden hatte.

 

Später brachte Danes ihr Tee. Auch er hatte einen aufregenden Morgen hinter sich. »Ich wollte noch wegen des Testamentes mit Ihnen sprechen«, sagte er. »Wir haben es doch unterzeichnet. Die Polizei hat mich gefragt, was drin stand.«

 

»Das wußten Sie doch nicht?« entgegnete sie lächelnd. »Also konnten Sie es den Beamten auch nicht erzählen!«

 

Er schien nicht ganz damit einverstanden. »Es ist merkwürdig, daß Mr. Decadon die Schublade abschloß, als er das Testament weglegte. Erinnern Sie sich noch? Er ließ uns noch einmal kommen, weil er Ihnen Geld vermacht hatte; das wäre aber durch Ihre Unterschrift hinfällig geworden. Ich habe deshalb die Köchin rufen müssen, und die hat an Ihrer Stelle unterzeichnet. Er selber hat dabei nicht mehr aufs neue unterschrieben. Er sagte, die Sache wäre auch so rechtmäßig. Und nachher hat er die Schublade abgeschlossen und den Schlüssel eingesteckt. Als später die Polizeibeamten die Bibliothek durchsuchten, war die Schublade unverschlossen. Das ist mir eigentlich unverständlich.«

 

»Nun, das ist doch kein großes Wunder, Danes«, erwiderte sie gutmütig. »Mr. Decadon kann das Testament wieder herausgenommen und anderswo verwahrt haben.«

 

»Das habe ich Mr. Tanner auch gesagt. Er hat mich nach vielen Dingen gefragt … Eben vorhin hat er heruntertelefoniert, ob Sie im Büro wären, und –«

 

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und Eddie Tanner trat ein. Er grüßte Leslie mit seinem ruhigen, freundlichen Lächeln und wartete, bis der Diener das Zimmer verlassen hatte. »Sie haben gestern abend noch ein recht aufregendes Erlebnis gehabt. Es tut mir leid … Würden Sie so liebenswürdig sein und mir noch einmal berichten, wie alles vor sich ging?«

 

Sie erzählte ihr seltsames Abenteuer.

 

»Nun – es ist Ihnen weiter nichts geschehen … Das ist tröstlich! – Ich möchte Sie gern noch etwas fragen wegen des Testaments, das Sie unterzeichnet haben. Sie haben nicht gesehen, was in dem Schriftstück stand? Ich meine: wer als Erbe eingesetzt war?«

 

Sie schüttelte den Kopf. »Es ist doch sehr wahrscheinlich, daß Sie der Erbe sind?«

 

»Das halte ich eigentlich für ziemlich ausgeschlossen. Mein Onkel hat mich nie leiden mögen, und auch ich hab‘ ihn nicht besonders gern gehabt. Kennen Sie Captain Allerman?«

 

Der Name kam ihr bekannt vor, aber sie konnte sich nicht entsinnen, den Mann schon gesehen zu haben.

 

»Ein amerikanischer Detektiv, aus Chikago. Tüchtiger, intelligenter Mensch – aber manchmal hat er merkwürdige Ideen. Er glaubt zum Beispiel, ich hätte meinen Onkel erschossen …« Tanner öffnete die Tür zur Bibliothek, sah, daß die Beamten an der Arbeit waren, und schloß sie sofort wieder. »Die sind ja heftig tätig! Bin nur gespannt, ob sie das Testament finden … Ich nehme wenigstens an, daß das Schriftstück, das Sie unterzeichnen mußten, ein Testament war. Es besteht allerdings auch die Möglichkeit, daß es sich um ein Dokument andrer Art handelte …« Er lehnte den Kopf gegen die Tür. »Übrigens wär‘ mir’s lieb, wenn Sie hierblieben und die Papiere und Bücher meines Onkels ordneten. Am besten wohl stellen Sie zunächst mal einen Katalog von der Bibliothek her? Es dürfte ziemlich lange dauern, bis Sie damit fertig sind. Ich schätze: sechs Monate. Dann will ich sehn, daß ich Ihnen eine andere Stellung verschaffe.«

 

Er sah sie lange an, ohne zu sprechen. »Falls Sie das vermißte Testament finden sollten«, sagte er dann, »so wäre ich Ihnen zu Dank verbunden, wenn sie es sofort mir übergäben – nicht der Polizei. Ich verspreche Ihnen fünfzigtausend Pfund, wenn Sie das tun.« Er lächelte. »Das ist ein ansehnlicher Betrag – nicht wahr? Und Sie würden ihn auf ehrliche Weise verdienen …«

 

Sie atmete schwer. »Aber, Mr. Tanner …!« stammelte sie.

 

»Ich meine das vollkommen ernst; nur möchte ich Sie bitten, Mr. Weston nichts davon zu erzählen. Sie stehen jetzt in meinen Diensten – hoffentlich sind Sie mir nicht böse, weil ich diese Tatsache kurz erwähne –, und ich bin sicher, daß ich mich auf Sie verlassen kann.« Er ging hinaus und schloß geräuschlos die Tür.

 

Lange Zeit saß sie und starrte geistesabwesend vor sich hin. Fünfzigtausend Pfund … Plötzlich erinnerte sie sich an etwas. Merkwürdig, daß sie nicht schon vorher daran gedacht hatte! Sie läutete nach dem Diener.

 

»Wann haben Sie gestern abend den Postkasten geleert?« fragte sie ihn.

 

Danes überlegte einen Augenblick. »Gegen halb acht.« Es stand ein großer Mahagonikasten in der Bibliothek, und alle Briefe mußten dort hineingeworfen werden, mit Ausnahme der Post Eddie Tanners. »Mr. Decadon klingelte mir gestern abend, und ich nahm die Briefe heraus.«

 

»Wissen Sie zufällig, wie viele es waren?«

 

Danes war seiner Sache nicht ganz sicher. Er glaubte, es seien sechs gewesen.

 

»Es war ein langes Kuvert darunter; die anderen hatten gewöhnliches Format.«

 

»Ein langes Kuvert?« wiederholte sie schnell. »War die Adresse mit der Hand oder mit Maschine geschrieben?«

 

»Mit der Hand. Ich habe Mr. Decadons Schriftzüge erkannt. Die Tinte war nämlich noch nicht ganz trocken, und die Schrift verwischte, als ich den Brief anfaßte.«

 

»Wissen Sie, an wen er adressiert war?«

 

Danes legte die Hand an die Stirn und dachte eifrig nach. »Oben stand: ›Mr. Jerrington persönlich zu übergeben. Privat und vertraulich!‹ Auf die Adresse kann ich mich leider nicht besinnen.«

 

Leslie wußte nun, welche Bewandtnis es mit dem Kuvert hatte. Das Geheimnis war gelöst …

 

»Gehen Sie bitte zu Mr. Tanner und ersuchen Sie ihn, zu mir zu kommen, falls er im Haus ist!«

 

Wenige Minuten später erschien Eddie in ihrem Büro. »Nun, was gibt’s? Haben Sie etwas über das Testament erfahren?« Zum erstenmal, seitdem sie ihn kannte, zeigte er sich etwas nervös und aufgeregt.

 

»Ja, ich glaube, ich weiß, was damit passiert ist: Mr. Decadon muß es mit der Post fortgeschickt haben …«

 

»Mit der Post?«

 

»Ja. Unser Briefkasten in der Bibliothek wurde um halb acht geleert, und Danes hat mir eben erzählt, es habe sich ein langes Kuvert unter den Briefen befunden, das Mr. Decadon selbst adressiert hatte, und zwar an seine Rechtsanwälte Jerrington, Sanders und Graves.«

 

»Ich verstehe …« Tanner schaute nachdenklich zu Boden. »Mr. Jerrington kenne ich natürlich. Ich danke Ihnen für die Mitteilung, Miss Ranger!«

 

Später überlegte sie sich, ob es nicht besser gewesen wäre, trotz Tanners Warnung die Polizei von ihrer Entdeckung zu verständigen. Sie läutete Scotland Yard an, aber Terry Weston war nicht anwesend.

 

Kapitel 30

 

30

 

Die Firma Dorries machte glänzende Geschäfte. Zweiunddreißig neue Konten waren eröffnet worden, und es handelte sich nicht um kleine Summen, sondern um namhafte Depots. Das war das Ergebnis der ersten vierzehn Tage.

 

Leslie konnte sich indes in den verschiedenen Abteilungen der Firma nicht immer zurechtfinden. Jedesmal war es dann der sonst so schweigsame Kassierer, der ihr Aufschluß gab. Von Dorries und seinem Partner sah und hörte sie nichts.

 

Eines Tage speiste sie mit einer Dame zu Mittag, die eine wichtige Stellung in einem Bankhaus einnahm. Als sie ins Büro zurückkehrte, ließ sie den Kassierer rufen. »Stimmt es, Mr. Morris, daß einen Monat vor meinem Eintritt die Firma insolvent war und beinahe ihre Zahlungen eingestellt hätte?«

 

Er nickte. »Ja, die Firma wurde dann saniert. Unser Mr. Dorries nahm einen neuen Partner auf – man kann ja wohl besser sagen: Er verkaufte das Geschäft. Er selber behielt nur noch einen kleinen Anteil.«

 

Sie schüttelte ratlos den Kopf. »Ich verstehe dann aber nicht, wieso die Firma plötzlich wieder so gut geht. Warum vertrauen uns die Leute plötzlich? Warum werden uns große Frachtaufträge nach Übersee gegeben? Heute morgen sah ich doch ein solches Schriftstück, als ich die Schiffspapiere kontrollierte. Für viertausend Pfund Geschirr! Verkaufen wir denn derartige Waren?«

 

Er lächelte. »Nein, Miss Ranger! Wir handeln in solchen Fällen nur als Agenten. Sie werden eine Menge von Geschäftsaufträgen finden, die Sie zunächst nicht verstehen. Aber mit der Zeit arbeiten Sie sich schon ein!« –

 

 

Am Nachmittag vor Tetleys Tod hatte die Regierung den Entschluß gefaßt, Kerky Smith zu verhaften und aus London auszuweisen.

 

Nur Jiggs Allermans Einspruch war es zu danken, daß diese Maßnahme unterblieb. »Tun Sie das nicht!« riet er. »Behalten Sie ihn hier! Sie müssen seine Zuversicht und sein Selbstvertrauen erschüttern – dann erschüttern Sie seine Organisation.«

 

Und es zeigte sich auch, daß seine Auffassung die richtige war. –

 

Kerky Smith las die Morgenzeitung in seinem Hotelzimmer. Der Kellner hatte eben das Frühstück abgeräumt, und Kerky fühlte sich in Frieden mit der ganzen Welt. Nur Eddie Tanner verursachte ihm Mißbehagen: Der hatte kalte Füße bekommen und ging aus dem Geschäft, als gerade das Korn reifte …

 

Der Diener kam aus dem Schlafzimmer.

 

»Kerky«, sagte er leise. »Die Polizei hat heute morgen eine Razzia bei dem Friseur abgehalten, alle Telefone besetzt und Dinky verhaftet! Man hatte die ganzen Leitungen seit einer Woche überwacht …«

 

Kerky machte ein sonderbares Gesicht, als ob er pfeifen wollte. »Ich dachte, sie wüßten nichts von dem Platz?«

 

»Die Polizei kann nicht immer taub und blind bleiben. Den Safe haben sie auch gefunden …«

 

»Es war nichts drin!« entgegnete Kerky schnell.

 

Der Diener schüttelte den Kopf. »Nein – er wurde gestern ausgeräumt. Aber sie wußten, daß etwas drin gewesen war; und sie haben Dinky verhört, wie viele Briefe er in letzter Zeit nach Amerika geschickt hätte.«

 

»Wer hat ihn denn ausgefragt?«

 

»Jiggs! Und den kennst du doch?«

 

»Ja, den kenne ich!« knurrte Kerky grimmig. »Aber ich kenne auch Dinky – der verrät nichts!«

 

»Das wäre ja möglich.« Geräuschlos ging der Mann wieder ins Schlafzimmer zurück.

 

Verteufelte Situation! dachte Kerky. Dinky war einer der drei Kassierer der Bande, Zahlmeister und hervorragender Buchhalter. Das kleine Wettbüro im ersten Stock hatte sehr glückliche Kunden: Dinky schickte mit jeder Post Pakete von französischen und amerikanischen Banknoten nach den Vereinigten Staaten. Leute, die hereinkamen, um sich rasieren oder das Haar schneiden zu lassen, gingen reicher hinaus, als sie gekommen waren …

 

»Die verdammte Schießerei ist dran schuld«, brummte Kerky erbost.

 

Kurze Zeit nachher kam unerwartet Cora zurück, die man wegen eines Formfehlers in ihrem Paß nicht hatte abfahren lassen.

 

Wenn sie nicht mal Cora aus dem Land ließen, welche Möglichkeit hatte er dann, auf normale und gesetzmäßige Weise fortzukommen? Aber sie konnten ihn nicht zurückhalten, wenn er reisen wollte. In zwei Stunden war er notfalls mit dem Flugzeug in Paris, und das Flugzeug wartete Tag und Nacht. Immerhin war die Lage äußerst bedrohlich. Hinter allem steckte natürlich Jiggs. Mit diesem Kerl mußte endlich Schluß gemacht werden! –

 

Aber am nächsten Morgen wurde während Kerkys Abwesenheit sein Kammerdiener Jack verhaftet, und er erkannte, daß seine Lage allmählich verzweifelt wurde. Die beiden besten Führer seiner Organisation waren ihm genommen, und in einer halben Stunde mußten die Posten neu besetzt sein … Noch andere Dinge hätten sich geändert: Über London lag ein lähmender Bann, als die Gangsterschießereien begannen, aber jetzt brach die allgemeine Wut los. Die Atmosphäre war geladen. Kerky fühlte es.

 

Er nahm das Mittagessen auf seinem Zimmer ein und schickte eine Nachricht zu seinem geheimen Flugplatz. Dann ging er nach unten, um mit dem Geschäftsführer zu sprechen. »Am nächsten Mittwoch gebe ich ein Diner. Fünfzig Gedecke. Stellen Sie das beste Menü zusammen! Es soll ein fürstliches Mahl werden.«

 

Der Geschäftsführer war hochzufrieden.

 

Kerky fuhr ganz offen in die Bond Street und kaufte ein. Die Detektive, die ihn beobachteten, berichteten Captain Allerman darüber.

 

»Großartig!« sagte der Amerikaner und gab einen Befehl.

 

Als Kerky ins Hotel zurückkam, fand er Cora nicht und klingelte. »Wo ist Mrs. Smith?« erkundigte er sich, als der Flurkellner erschien.

 

»Sie ist nicht mehr da. Zwei Herren kamen und nahmen sie mit … Ich glaube, sie waren von der Polizei. Captain Allerman war der eine.«

 

Der beste und tüchtigste Rechtsanwalt Londons rief in Scotland Yard an und bat um Aufklärung; sie wurde ihm jedoch höflich verweigert. Kerky ließ durch seine Vertrauten alle Polizeistationen absuchen, aber nirgends fand sich Cora; nirgends auch Jack.

 

Am Nachmittag wurde in der Downing Street ein rotgedruckter Brief abgegeben. Es wurde jedoch kein Geld verlangt, sondern nur Straflosigkeit für alle, die an den letzten Unruhen teilgenommen hatten. Man sollte ihnen die Abreise gestatten und eine Frist von sieben Tagen gewähren, um England zu verlassen.

 

»Kerky wird der Boden zu heiß – er will sich aus dem Staub machen«, meinte Jiggs, als Terry ihn den Brief hätte lesen lassen. »Was macht übrigens zur Zeit der Ministerpräsident? Hat er öffentliche Verpflichtungen?«

 

»Er eröffnet eine neue Schule am Themseufer.«

 

»Innerhalb der City?«

 

»Ja.«

 

»Aha – nun durchschaue ich die Sache!«

 

»Wembury meint, der Ministerpräsident solle die Feierlichkeit absagen.«

 

»Nichts wird abgesagt!« erklärte Jiggs. »Er soll die Feier ruhig abhalten. Es wird ihm nichts passieren. Glauben Sie mit!«

 

Terry lächelte wehmütig. »Ich wünschte nur, wir könnten unsrer Sache tatsächlich so sicher sein!« –

 

Ganz London wußte von dem Drohbrief, den der Ministerpräsident erhalten hatte. Und ganz London strömte an dem betreffenden Tag am Themseufer zusammen.

 

Alle Polizeibeamten, die irgendwie abkömmlich waren, wurden hingeschickt, nicht nur, um die Menschenmenge zu kontrollieren, sondern vor allem, um die Person des Ministerpräsidenten zu schützen. Downing Street und ein Teil von Whitehall wurden abgeriegelt.

 

Jiggs sah sich vom Präsidium aus den Menschenauflauf an. Die Westminsterbrücke war schwarz von Leuten. Um zehn Uhr mußte der Verkehr über eine andere Brücke gesperrt werden, ebenso die Zugänge zum Trafalgar Square. Leslie Ranger brauchte anderthalb Stunden, um zum Büro zu kommen. Als sie es schließlich erreichte, fand sie den alten Prokuristen verzweifelt und sehr erregt.

 

»Alle neuen Konten sind wieder geschlossen worden – alle zweiunddreißig! Und alle ziehen ihr Geld aus der Firma zurück – in Dollars!«

 

Sie starrte ihn ungläubig an. »Was hat denn das zu bedeuten?«

 

Mr. Morris, der gewandte Kassierer, schien durchaus nicht beunruhigt. »Das ist doch nichts Außergewöhnliches!« meinte er. »Diese Konten wurden von einer Anzahl von Leuten angelegt, die zusammen ein Syndikat bilden. Sie haben einen Beschluß gefaßt, das ganze Kapital in die Gesellschaft zu stecken – das heißt: auf eine Stelle zu konzentrieren. Sie haben uns nur gebeten, ihre Depotbilanz auszuzahlen. Das kommt doch auch sonst vor!« Er lächelte. »Wenn wir das Geld nicht hätten, Miss Ranger, wäre es eine böse Sache. Aber wir sind doch gedeckt! Ich werde zur Bank gehen und die nötigen Anordnungen treffen.«

 

Kurz vorm Mittagessen brachte er ihr das Geld in einer großen Ledertasche. Sie schloß sie in dem Safe ein, der in ihrem Büro stand. »Heißt das nun, daß die Firma Dorries wieder insolvent geworden ist?« fragte sie traurig.

 

»Nein – die Firma ist solvent! Auf der Bank sind noch fünfzigtausend Pfund. Wir haben nur ein paar Kunden verloren – in Wirklichkeit nur einen Kunden. Es sind auch gewisse Aufträge von außerhalb zu annullieren; aber Sie brauchen sich deshalb keine Sorge zu machen!« Er sah ihr offen in die Augen. »Um genau zu sein: Wir haben neunundvierzigtausend Pfund auf der Bank. Die Miete für das Büro ist im voraus auf lange Zeit bezahlt, und es ist auch noch genügend Geld vorhanden, um die Gehälter auf ein Jahr zu decken. – Wollen Sie sich übrigens nicht auch das große Schauspiel ansehen, wenn der Ministerpräsident die neue Schule eröffnet?«

 

Sie schüttelte den Kopf. Fünf Minuten vor zwei saß sie in ihrem Büro und schrieb einen Brief. Das Büro des Kassierers lag neben dem ihren, Und die beiden Räume waren durch eine Tür verbunden. Als sie eine Pause machte, hörte sie plötzlich ein scharfes Krachen nebenan. Sie öffnete die Tür. »Ist etwas passiert?« fragte sie und blieb dann, starr vor Schrecken, stehen.

 

Der Kassierer war über den Schreibtisch gesunken. Neben ihm stand Kerky Smith. Die weiße Schreibunterlage hatte sich rot gefärbt … Noch ein andrer Mann war im Zimmer.

 

»Schreien Sie nicht, Miss Ranger«, flüsterte Kerky und gab dem andern ein Zeichen, hinauszugehen. Geräuschlos zog sich der Mann zurück. Leslie ging rückwärts in ihr Büro. Er folgte ihr und schloß die Tür. »Sie haben eine Ledertasche in Ihrem Safe … Wollen Sie mir die aushändigen? Machen Sie keine Schwierigkeiten! Eddie hat sein ganzes Geld bei Ihnen deponiert. Er hat es auf diese Weise recht schlau versteckt.«

 

»Mr. Tanner hat nichts mit der Firma Dorries zu tun«, brachte sie ängstlich hervor. Kerky grinste.

 

»Tanner selbst ist doch Dorries! Aber nun öffnen Sie gefälligst den Safe – oder geben Sie mir den Schlüssel. Wenn Sie Lärm schlagen, schieße ich Sie nieder! Eddie wird sein Geld nicht mitnehmen können …«

 

Die Tür zum äußeren Büro wurde plötzlich geöffnet und wieder geschlossen. Eddie Tanner stand im Eingang. In seiner Hand blitzte ein Revolver.

 

Blitzschnell sprang Kerky hinter Leslie Ranger und hielt sie fest. Im gleichen Augenblick feuerte er zweimal. Eddie Tanner sank in die Knie; die Waffe fiel aus seiner Hand … Kerky schleuderte Leslie von sich und zog die Schublade auf. Ein paar Sekunden später hatte er den Safe geöffnet und hielt die Ledertasche in der Hand. Da knallten kurz hintereinander drei Schüsse.

 

»Ich verhafte Sie, Kerky!« Jiggs stand in der andern Tür.

 

Die Revolver der beiden krachten zu gleicher Zeit. Aus dem Büro des Kassierers eilten drei Männer herein. Leslie kauerte in einer Ecke und beobachtete mit weit aufgerissenen Augen den Kampf. Jiggs feuerte mit beiden Händen, und zwei der Angreifer wälzten sich auf dem Boden. Kerky stand noch. Sein Revolver hatte Ladehemmung; gedankenschnell zog er einen anderen. Im nächsten Moment schoß er, aber gleichzeitig hatte auch Jiggs abgedrückt. Kerky Smith taumelte und sank langsam auf die Knie …

 

Drei Ärzte waren bis spät in die Nacht damit beschäftigt, Captain Allerman zu verbinden. Er war schwer verwundet, aber am dritten Tag saß er wieder aufrecht und vergnügt im Bett.

 

»Ich sterbe so bald nicht – glauben Sie mir das nur! Kerky Smith kann einen Polizeibeamten aus Chikago nicht um die Ecke bringen! Ich wußte, daß die Firma Dorries hur eine Fassade war. Eddie kaufte sie, weil er eine Bank für sein Geld brauchte, und übertrug Leslie Ranger die Leitung, weil er ihr vertraute. Der Kassierer war sein Buchhalter für das Erpressergeschäft, außerdem ein glänzender Pistolenschütze. Ich habe die Firma beobachtet, seit Miss Ranger dort war. Und ich ahnte, daß Kerky eines Tages hinter dem Geld her sein würde. Der Brief an den Ministerpräsidenten war allerdings eine geniale Idee; Kerky konzentrierte dadurch alle Polizeibeamten auf eine ganz andere Stelle und konnte frei schalten und Walten. Sicher wäre er auch unbehelligt entkommen, wenn nicht Tanner auf der Bildfläche erschienen wäre. Der arme Eddie – der hat nun auch sein Teil! Haben Sie sein Testament gesehen, Terry? Ich glaube, es wird Sie interessieren, wem er sein Vermögen vermacht hat …« Er begegnete Leslies Blick und zwinkerte mit den Augen. »Wirklich – alles in allem ein feiner Kerl! Er hat sich an dieser Sache nicht deshalb beteiligt, weil er Geld machen wollte, sondern weil er ein geborener Feind von Gesetz, Ordnung und ruhigem Leben war. Ob er seinen Onkel erschossen hat? Aber natürlich!«

 

»Warum wollte er denn plötzlich nichts mehr mit der Geschichte zu tun haben?« fragte Terry. »Hat er sich gefürchtet?«

 

Jiggs schüttelte den Kopf. »Nein – Eddie konnte man keine Angst einjagen!« Diesmal vermied er Leslies Blick. »Ich glaube, er hatte sich verliebt … Das kann auch andern Leuten passieren …«

 

Eine ängstliche Krankenschwester neigte sich über ihn. »Sie dürfen nicht so viel sprechen, Captain!«

 

Er sah sie ärgerlich an. »Was – ich soll nicht sprechen?« brummte er. »Warum denn nicht? Glauben Sie vielleicht, ich wäre tot?«

 

 

Ende

 

Kapitel 4

 

4

 

Gewöhnlich verließ Leslie Ranger das Büro um fünf Uhr nachmittags. Decadon war aber den ganzen Tag sehr nervös und deprimiert gewesen, und als er sie bat, noch zu bleiben, kam sie seinem Wunsch aus Mitleid nach. Außerdem gab es auch noch allerhand für sie zu tun.

 

Ed Tanner begegnete ihr, als sie vom Tee zurückkam, und war überrascht, daß sie noch nicht nach Hause gegangen war. »Warum bleiben Sie denn heute so lange, Miss Ranger? Hat der alte Herr so viel zu tun?«

 

Sie gab eine Erklärung, die aber sehr unwahrscheinlich klang. Der alte Decadon hatte ihr streng untersagt, seinem Neffen etwas mitzuteilen, und sie richtete sich selbstverständlich danach.

 

Ungefähr um sieben Uhr abends hörte sie Tanners Stimme in der Bibliothek. Ob sein Onkel ihm jetzt von dem Brief erzählte? Die Unterredung zwischen den beiden dauerte ziemlich lange. Später hörte Leslie das Geräusch des Lifts, der zu Tanners Wohnung hinauffuhr. Kurz darauf klingelte es, und sie ging in die Bibliothek.

 

Der alte Herr schrieb eifrig. Er benutzte stets große Bögen, und seine Handschrift war trotz seines Alters sehr sauber und gut leserlich. Sie sah bei ihrem Eintritt, daß er den Bogen halb vollgeschrieben hatte. »Holen Sie Danes!« sagte er, ohne aufzusehen. »Klingeln Sie doch!« rief er dann ungeduldig, als sie zur Tür gehen wollte.

 

Sie drückte auf den Knopf, und gleich darauf erschien der Diener Danes im Zimmer.

 

»Schreiben Sie Ihren Namen, Ihren Stand und Ihre Adresse hierher!« Decadon zeigte auf eine Stelle am unteren Rand des Aktenbogens, und Danes nahm den Federhalter, um zu unterzeichnen.

 

»Sie wissen doch, was das bedeutet, wenn Sie hier unterschreiben, dummer Kerl? Sie sollen meine Unterschrift bestätigen, und die steht doch noch gar nicht da!« brauste der alte Herr nervös auf. »Sehen Sie auch her, Miss Ranger!«

 

Er unterschrieb; dann unterzeichnete der Diener.

 

»So – das genügt, Danes!«

 

Der Mann wollte das Zimmer wieder verlassen.

 

»Wenn dies ein Testament ist«, meinte Leslie ruhig, »so müssen die Unterschriften beider Zeugen zu gleicher Zeit geleistet werden, damit sie sich gegenseitig bestätigen.«

 

Der alte Herr starrte sie an. »Woher wissen Sie, daß das ein Testament ist?« Er hatte die Schrift dauernd mit der einen Hand verdeckt.

 

»Das vermute ich nur«, entgegnete sie lächelnd. »Ich kann mir nicht vorstellen, welches andere Dokument durch zwei Zeugenunterschriften bestätigt werden müßte.«

 

»Schon gut!« brummte Decadon. »Setzen Sie Ihren Namen hierher!« Er beobachtete sie genau, während sie schrieb. »Ich danke Ihnen.« Er löschte die noch feuchte Schrift ab, entließ den Diener durch eine Handbewegung und schob das Dokument in eine Schublade seines Schreibtisches. Dann sah er Leslie nachdenklich an. »Ich habe Ihnen tausend Pfund vermacht«, sagte er ernst. »Zum Teufel! Warum lachen Sie denn?«

 

»Ach, ich lache nur, weil ich diese tausend Pfund doch niemals bekomme. Meine Unterschrift als Zeugin annulliert das Legat.«

 

Er sah sie unsicher von der Seite an »Ich mag Leute nicht leiden, die so viel von Gesetz und Recht verstehen.«

 

Als er Leslie wieder in ihr Büro geschickt hatte, klingelte er und ließ Danes und die Köchin kommen. Leslie erfuhr davon nichts. Um halb neun war sie damit beschäftigt, ihren Schreibtisch aufzuräumen. Plötzlich hörte sie ein schwaches Knacken und schaute auf. Es kam ihr fast vor, als ob das Geräusch in ihrem Zimmer gewesen wäre. Sie hatte gerade den Hut aufgesetzt, als es sich wiederholte. Gleichzeitig hörte sie Decadons ärgerliche Stimme. Er stritt sich mit jemand; sie konnte aber nicht hören, wer der andere war. Dann vernahm sie einen gellenden Angstschrei, und gleich darauf wurden kurz hintereinander zwei Schüsse abgefeuert.

 

Einen Augenblick stand sie gelähmt vor Entsetzen; dann eilte sie zu der Tür, die in die Bibliothek führte, fand sie aber verschlossen. Sie wollte nun vom Gang aus hineingehen, aber auch ihre Bürotür zum Korridor war verschlossen. Sie klingelte heftig und hörte Schritte.

 

Danes hämmerte mit beiden Fäusten gegen die Tür.

 

»Was ist los?« fragte er.

 

»Die Tür ist verschlossen!« rief sie zurück. »Der Schlüssel steckt außen!«

 

Im nächsten Augenblick drehte sich der Schlüssel.

 

»Gehn Sie in die Bibliothek und schauen Sie nach, was geschehen ist!«

 

Danes und der zweite Diener eilten fort, kamen aber gleich wieder und berichteten, daß auch die andere Bibliothekstür verschlossen war. Der Schlüssel fehlte. Decadon hatte die merkwürdige Angewohnheit, die Schlüssel an den Türen stets auf der Außenseite steckenzulassen. Mit zitternden Händen nahm sie den Schlüssel von ihrer Tür und steckte ihn in das Schloß der Bibliothekstür. Glücklicherweise paßte er, und sie öffnete.

 

Aufgeregt trat sie in den Raum, ging drei Schritte vorwärts und blieb dann entsetzt stehen. Decadon lag in einer Blutlache über seinem Schreibtisch, und schon bevor sie ihn berührte, wußte sie, daß er tot war.

 

Kapitel 5

 

5

 

Terry hatte Jiggs zum Besuch einer Operette eingeladen und wollte gerade seine Wohnung verlassen, als das Telefon klingelte. Glücklicherweise fuhr Jiggs im selben Augenblick vor, und die beiden rasten in seinem Taxi mit größter Geschwindigkeit zum Berkeley Square.

 

Vor dem Haus Nummer 147 hatte sich schon eine Menschenmenge angesammelt; irgendwie mußte sich die Nachricht von dem Verbrechen verbreitet haben. Terry bahnte sich einen Weg durch die Gasse und wurde von dem Polizisten, der an der Tür Wache hielt, sofort eingelassen.

 

Die beiden Beamten in Zivil, die die Vorderseite des Gebäudes tagsüber bewacht hatten, warteten innen und erstatteten kurz Bericht. Niemand war während der letzten halben Stunde vor dem Mord ins Haus gekommen oder hatte es verlassen. Terry ging in die Bibliothek und betrachtete den Toten. Der alte Mann war aus nächster Nähe mit einem schweren Revolver erschossen worden. Die Waffe lag etwa einen Meter vom Schreibtisch entfernt auf dem Boden. Der Detektiv ließ sich eine Zange bringen, und nachdem er die Lage des Revolvers mit Kreide genau bezeichnet hatte, hob er die Waffe auf, legte sie auf einen kleinen Tisch und untersuchte sie beim Schein einer hellen Leselampe. Es war ein verhältnismäßig altmodischer Colt-Revolver, der noch vier Patronen enthielt.

 

Wichtiger war die Entdeckung, daß sich auf den Stahlteilen zwischen dem Griff und der Trommel deutlich ein Fingerabdruck zeigte. Auf dem Schreibtisch entdeckte Terry einen Bogen Papier, auf dem ebenfalls ein ganzer Satz von Fingerabdrücken klar zu erkennen war. Eine dritte Reihe von Fingerabdrucken fand sich auf dem Rand des blankpolierten Mahagonischreibtisches. Es sah so aus, als ob jemand seine Hand dort hingelegt hätte.

 

Terry ging dann in Leslies Büro und unterhielt sich mit ihr. Sie war bleich, erzählte ihm aber gefaßt, was sie von der Sache wußte.

 

»Ist Tanner benachrichtigt worden?«

 

Sie nickte.

 

»Er kam sofort herunter und sah den armen Mr. Decadon. Dann ging er wieder in seine Wohnung hinauf. Er sagte, daß nichts angerührt werden dürfe. Aber die Polizei war schon im Haus und hatte alle Anordnungen getroffen. Mr. Tanner wußte natürlich nichts davon, daß die Beamten den ganzen Tag Wache gehalten hatten.«

 

Terry ließ Tanner durch Danes rufen, und Ed kam mit ernstem Gesicht herunter. Ohne zu zögern, ging er in die Bibliothek. »Es ist furchtbar – einfach entsetzlich!« erklärte er. »Ich kann es kaum glauben …«

 

»Haben Sie den Revolver vorher schon gesehen?«

 

Terry zeigte auf die Schußwaffe, die auf dem Tisch lag.

 

Zu seinem Erstaunen nickte Tanner. »Ja, das ist mein Revolver! Ich bin meiner Sache ganz sicher: Ich habe ihn nicht angefaßt, als ich vorher hereinkam, aber ich kann einen Eid leisten, daß die Waffe mir gehört. Vor einem Monat wurde mir ein Koffer auf dem Bahnhof gestohlen, in dem auch dieser Revolver lag. Ich habe der Polizei damals die Sache angezeigt und sogar die Nummer der Waffe angegeben.«

 

Terry erinnerte sich genau an den Vorfall, denn Diebstahl von Feuerwaffen gehörte zu seiner Abteilung. »Und seit der Zeit sahen Sie den Revolver nicht wieder?«

 

»Nein.«

 

»Mr. Tanner: Auf der Waffe und auf dem Schreibtisch hier haben wir Fingerabdrücke gefunden. In kurzer Zeit werden die Beamten des Erkennungsdienstes mit ihren Apparaten hier sein. Sind Sie bereit, ihnen Ihre eigenen Fingerabdrucke zu geben, damit man sie mit den anderen vergleichen kann?«

 

»Gewiß! Ich habe nicht das geringste dagegen!«

 

Gleich darauf erschienen die Beamten. Terry nahm den Sergeanten einen Augenblick beiseite und erklärte ihm, was zu tun sei. Ein paar Minuten darauf hatten sie klare und gute Abdrücke von Tanners Fingern.

 

Der Sergeant machte sich nun daran, die übrigen Abdrücke aufzunehmen. Als er sie auf dem Bogen Papier mit Puder eingestäubt hatte, traten sie klar hervor. Er untersuchte sie, und Terry sah das Erstaunen in seinen Zügen. »Es sind die gleichen Abdrücke wie die von Mr. Tanner!«

 

»Was?« rief Terry verblüfft. Er nahm den Revolver auf und bestäubte selber den Abdruck mit Puder. »Hier ist es ebenso …« Terry sah zu Tanner hinüber, der vollkommen ruhig geblieben war und nur leicht lächelte.

 

»Um sieben Uhr heute abend war ich in der Bibliothek, Chefinspektor, aber ich habe weder den Briefbogen noch sonst etwas im Zimmer angefaßt. Die Tatsache, daß ich vorher hier im Zimmer war, würde eine sehr einfache Erklärung für meine Fingerabdrücke auf dem Schreibtisch geben. Damit wären aber nicht die auf dem Revolver erklärt. Doch auch die hätte ich unmöglich hinterlassen können, denn ich war im Begriff auszugehen und trug Handschuhe. Erst nachdem ich meinen Onkel gesprochen hatte, änderte ich meine Absicht und ging wieder in meine Wohnung.«

 

»Worüber haben Sie sich denn unterhalten?«

 

Eine kleine Pause trat ein. »Wir sprachen über sein Testament. Er hatte mich heruntergerufen, um mir mitzuteilen, daß er zum erstenmal in seinem Leben ein Testament machen wollte …«

 

»Hat er Ihnen gesagt, wie er über sein Vermögen verfügte?«

 

»Nein.«

 

Terry ging wieder in Leslies Büro und hörte zu seinem Erstaunen, daß Decadon vor seinem Tod tatsächlich ein Testament aufgesetzt hatte, das von Leslie persönlich als Zeugin unterzeichnet worden war.

 

Über den Inhalt konnte sie allerdings nichts sagen. Sie wußte nur, daß der alte Herr ihr ein Legat von tausend Pfund vermacht hatte. »Ich machte ihn noch ausdrücklich darauf aufmerksam, daß es ungültig sei, wenn ich als Zeugin seine Unterschrift bestätige.«

 

»Haben Sie eine Ahnung, wo er das Testament verwahrt hat?«

 

»Er hat es in die linke obere Schreibtischschublade gelegt.«

 

Terry ging wieder in die Bibliothek zurück. Inzwischen war der Arzt erschienen und untersuchte den Toten.

 

»Können Sie mir wirklich nicht sagen, wie Ihr Onkel in dem Testament über sein Vermögen verfügt hat?«

 

»Nein – das weiß ich nicht«, erklärte Tanner zum zweitenmal. »Er hat mir nichts darüber gesagt.«

 

Terry trat an den Schreibtisch und zog die ihm von Leslie bezeichnete Schublade auf. Sie war leer …

 

»Es ist Ihnen doch klar, wie ernst diese Situation für Sie ist, Mr. Tanner? Wenn Ihre Angabe stimmt, daß Ihr Onkel nie ein Testament gemacht hat, sind Sie, als sein einziger Verwandter, sein Universalerbe. Er hat nun aber, nach Feststellung mehrerer Zeugen, tatsächlich ein Testament hinterlassen, und es wäre möglich, daß er Sie darin enterbt hätte. Die Vernichtung des Testaments und die Ermordung Ihres Onkels sind Umstände, die deutlich auf ein wichtiges Motiv hinweisen …«

 

Tanner nickte. »Wollen Sie damit sagen …?«

 

»Nein! Im Augenblick will ich noch nichts sagen! Ich möchte Sie nur bitten, die Beamten nach Scotland Yard zu begleiten und mich in meinem Büro zu erwarten. Das bedeutet noch nicht, daß Sie verhaftet sind.«

 

Tanner dachte einen Augenblick nach. »Kann ich mich mit meinem Rechtsanwalt in Verbindung setzen?«

 

Terry schüttelte den Kopf. »Das ist hier bei uns nicht üblich. Wenn eine bestimmte Anklage gegen Sie erhoben wird, können Sie selbstverständlich Ihren Rechtsanwalt sprechen. Aber es steht noch nicht fest, ob eine Anklage erhoben wird. Die Umstände sind sehr verdächtig. Sie selbst geben zu, daß die Mordwaffe Ihnen gehört; der Sergeant hat festgestellt, daß die Fingerabdrücke den Ihren gleichen. Wir müssen die Sache genauer untersuchen, und es bleibt mir nichts anderes übrig, als in der angegebenen Weise zu handeln.«

 

»Ich verstehe vollkommen!« entgegnete Tanner und machte sich auf den Weg zum Polizeipräsidium. Jiggs Allerman war schweigender Zeuge all dieser Vorgänge gewesen. Terry hatte die Anwesenheit des Amerikaners vollständig vergessen. Erst jetzt bemerkte er ihn wieder und trat zu ihm.

 

Jiggs beobachtete gerade die Beamten des Erkennungsdienstes, die den Toten fotografierten. »Ist dies nun schon ein Bandenmord? Oder liegt ein anderes Motiv zugrunde? Ich wage das im Augenblick nicht zu entscheiden.« Er schüttelte den Kopf. »Was ich nicht recht verstehen kann, sind die Fingerabdrücke auf dem Aktenbogen. Haben Sie sich die schon genau angesehen? Sie sind ungewöhnlich grob.«

 

Der Sergeant sah sich um. »Das ist mir auch aufgefallen. Die Linien sehen so merkwürdig verschwommen aus. Man sollte fast glauben, die Abdrücke seien absichtlich gemacht …«

 

»Zu der Schlußfolgerung bin ich ebenfalls gekommen«, bestätigte Jiggs. »Dann der Revolver auf dem Fußboden! Haben Sie jemals gehört, daß ein Gangster sein Schießeisen zurückläßt? Er hätte ja ebensogut seine Visitenkarte neben sein Opfer legen können!«

 

Terrys Assistent kam an, und der Chefinspektor gab ihm den Auftrag, eine genaue Durchsuchung des Hauses vorzunehmen. »Besonders eingehend nehmen Sie sich Tanners Wohnung vor! Sehen Sie sich genau nach Patronen, und sonstigen Beweisstücken um, die ihn mit dem Verbrechen in Verbindung bringen könnten! Vor allem suche ich nach einem Testament, das Mr. Decadon heute abend geschrieben hat und das verschwunden ist. Schauen Sie sich in allen Kaminen und an anderen Plätzen um, wo Asche liegen könnte! Es. besteht der Verdacht, daß Tanner das Testament verbrannt hat.«

 

Nachdem der Tote fortgeschafft und die Spuren des Verbrechens beseitigt waren, rief er Leslie herein. Ihr Gesicht war blaß, und ihre Lippen zitterten; die Reaktion machte sich jetzt bei ihr geltend.

 

»Gehen Sie jetzt bitte nach Hause, Miss Ranger! Ich gebe Ihnen einen meiner Beamten zur Begleitung mit. Der Himmel weiß, wie ich den Mann darum beneide … Kommen Sie aber morgen um die gewöhnliche Zeit wieder hierher! Ich habe noch einige Fragen an Sie zu stellen; das kann ich Ihnen leider nicht ersparen.«

 

»Der arme Mr. Decadon …!« sagte sie leise.

 

»Ich weiß! Ich weiß!« Er wagte es, behutsam den Arm um ihre Schultern zu legen. »Sie müssen jetzt alles zu vergessen suchen, was Sie heute erlebte haben! Morgen ist ein neuer Tag – da sieht die Sache ganz anders aus. Eines nur möchte ich wissen: Haben Sie gehört, daß Tanner mit dem alten Herrn in der Bibliothek sprach? Und wann war das?«

 

Sie konnte genaue Angaben darüber machen, die mit Tanners Aussagen durchaus übereinstimmten.

 

»Und kurz bevor die Schüsse fielen, haben Sie Stimmen gehört?«

 

»Ja. Aber ich erkannte nur Decadons Stimme, die andere nicht.«

 

»Sie hörten doch auch die Geräusche, als die Schlüssel in der Bibliothekstür und in der Bürotür umgedreht wurden? Wir können also annehmen, daß jemand den Gang entlangging, Ihre Tür zum Korridor abschloß, in die Bibliothek eindrang und dann, ohne Rücksicht auf Decadons Anwesenheit, die Verbindungstür zwischen Ihrem Büro und der Bibliothek absperrte.«

 

»Ja, so muß es wohl gewesen sein«, entgegnete sie müde. Er nahm sie am Arm. »Genug für heute abend! Jetzt gehen Sie heim, legen sich hin und träumen – wenn möglich: von mir!«

 

Sie versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nicht ganz.

 

»«Was halten Sie von der Sache, Jiggs?« fragte Terry, als Leslie gegangen war.

 

»Ich stimme mit Ihrer Ansicht überein: Der Mörder kam von der Rückseite des Hauses.«

 

»Es kann sehr wohl Tanner gewesen sein …«

 

»Gewiß! Aber ebensogut mag einer der Dienstboten die Tat begangen haben. Wir wollen uns einmal auf dem Grundstück umsehen.«

 

Sie gingen den Gang bis zu Ende. Zur Linken sahen sie den Lift; rechts führte eine Treppe zur Küche hinunter. Unter den Stufen befand sich ein großer Schrank, in dem Mäntel, Schirme und Gummiüberschuhe aufbewahrt wurden. Jiggs öffnete die Tür zum Fahrstuhl und drehte das Licht an. Dann traten die beiden ein. Der Aufzug brachte sie direkt zum obersten Geschoß; man konnte ihn zwischendurch nicht anhalten.

 

Auf einem schmalen Treppenabsatz stiegen sie aus. Links sahen sie eine Glastür, auf der mit roten Buchstaben ›Notausgang‹ stand. Terry versuchte den Handgriff, der sofort nachgab. Soviel er sehen konnte, führte eine schmale Eisentreppe im Zickzack auf den kleinen Hof hinunter.

 

Terry trat wieder zurück, schloß die Tür und ging in Tanners Wohnung, die von zwei Beamten durchsucht wurde.

 

»Ich habe bisher nichts finden können«, berichtete der eine. »Nur dies hier. Ich weiß nicht, was das bedeuten soll.« Er zeigte auf einen Stuhl, auf dem ein Paar schmutziger und zerrissener Stiefel stand. »Ich fand sie unter dem Stuhl«

 

Sie befanden sich in Tanners Schlafzimmer, und der Sergeant machte darauf aufmerksam, daß ein kleiner Sekretär offenstand und eine Anzahl von Papieren auf dem Fußboden lag. Verschiedene Schubfächer mußten eilig ausgekramt worden sein. »Es sieht so aus, als ob schon vor uns jemand diesen Raum durchstöbert hätte. Vielleicht hat aber Tanner hastig etwas gesucht?«

 

Terry sah wieder auf die Schuhe und schüttelte den Kopf. »Haben Sie keine Papierasche im Kamin gefunden?«

 

»Nein. Es riecht auch nirgends nach verbranntem Papier.«

 

»Hören Sie mal, Terry!« mischte Jiggs sich ein. »Sie ließen doch das Haus bewachen? Seit wann standen die Leute auf Posten?«

 

»Seit etwa halb elf heute vormittag.«

 

»Haben Sie auch auf der Rückseite jemand aufgestellt?«

 

»Ja, einen Mann.«

 

»Es ist leichter, an einem Posten vorbeizuschlüpfen, als der Aufmerksamkeit zweier Beamter zu entgehen. Wir wollen mal die Feuerleiter hinunterklettern und sehen, ob jemand auf diesem Weg hereinkommen konnte. Sie haben doch schon bemerkt, daß alle Fenster im Zimmer offenstehn? Es ist auch ein bißchen kühl.«

 

Terry war diese Tatsache nicht entgangen. »Ich glaube, die Idee mit der Feuerleiter hat etwas für sich«, meinte er.

 

Sie wandten sich wieder dem Notausgang zu. Terry ließ seinen Begleiter vor dem Fahrstuhl zurück, während er nach unten ging, um sich von einem Polizisten eine Taschenlampe zu leihen. Als er wiederkam, stand der Notausgang offen, und Jiggs war verschwunden. Terry leuchtete nach unten und entdeckte den Amerikaner auf dem zweiten Treppenabsatz.

 

»Das ist besser als Streichhölzer!« rief Jiggs. »Sehn Sie mal hierher, Terry!«

 

Der Chefinspektor eilte die eisernen Stufen hinunter und bemerkt, daß Jiggs einen Gummischuh in der Hand hielt. Beim Licht der Taschenlampe untersuchte er ihn schnell. Der Schuh war alt und abgetragen; später stellte es sich heraus, daß er Tanner gehörte.

 

»Wie mag das Ding nur hierhergekommen sein?« fragte Jiggs.

 

Sie stiegen die Feuertreppe weiter hinab, konnten aber nichts mehr finden. Die Treppe mündete unmittelbar auf den Hof. Jiggs ging voraus; Terry folgte ihm und leuchtete mit der Taschenlampe.

 

»Dort drüben ist eine Tür in der Mauer!« stellte Jiggs fest. »Wohin mag die führen? Etwa auf die hintere Straße? Das wäre …« Plötzlich blieb er stehen. »Um Himmels willen!« sagte er leise. »Sehn Sie mal her!«

 

Dicht vor ihren Füßen lag eine zusammengekrümmte Gestalt: ein Mann in zerlumpten Kleidern. An dem einen Fuß trug er einen Gummischuh, am andern einen Lederpantoffel; sein Hut lag in einiger Entfernung auf dem Boden.

 

»Hier hätten wir schon den zweiten Toten!« murmelte Terry düster. »Wer aber mag es sein?«

 

Jiggs stieg über den Leichnam weg, lieh sich von Terry die Lampe und stellte eine genaue Untersuchung an. »Er sieht wie ein Strolch aus. Man hat ihn aus nächster Nähe durch den Kopf geschossen, mit einer kleinkalibrigen Waffe. Er ist schon eine halbe Stunde tot. Können Sie sich das erklären?«

 

Terry ging zum Haus zurück und fand eine Tür, die in die Küche führte. Er schickte einen der erschrockenen Dienstboten zum Polizeiarzt, der oben in Leslies Büro seinen Bericht schrieb. Während er auf ihn wartete, untersuchte er die Füße des Toten. Der Mann trug weiche Lederpantoffeln, die etwas zu klein für ihn waren, und darüber hatte er offenbar die Gummischuhe gezogen.

 

In diesem Augenblick kam einer der Polizisten in den Hof, und Terry sandte ihn zurück, damit er den Sergeanten vom Erkennungsdienst hole. Dann begann er, die Kleider des Toten sorgfältig zu durchsuchen. In der linken Tasche des schäbigen Rockes fand er einen kleinen Blechkasten, der einer Kindersparbüchse glich, schwarz lackiert war und ein kleines Patentschloß hatte. Terry versuchte vergeblich, ihn zu öffnen. »An dem Blech werden wir wohl seine Fingerabdrücke finden. Er hat das Ding in der Tasche getragen. Haben Sie sonst noch was entdeckt, Jiggs?«

 

Allerman hatte inzwischen Terrys Arbeit fortgesetzt, und der Chefinspektor hörte das Klingen von Münzen, als Jiggs ihm den Fund zeigte. »Das ist außergewöhnlich!«

 

Terry staunte, als er zehn englische Pfundstücke sah.

 

»Die fand ich in seiner Westentasche, in ein Stück Papier eingewickelt. Um so sonderbarer, da der Mann doch offenbar arm war. Wie kam er zu den Goldmünzen?«

 

Sie überließen dem Arzt die genaue Untersuchung des Toten und fuhren in einem Dienstauto zum Präsidium zurück.

 

Dort wartete Tanner in Terrys Büro. Er rauchte eine Zigarette und las eine Zeitung, als die beiden eintraten. »Haben Sie das Testament gefunden?« fragte er.

 

»Nein. Aber wir haben verschiedene andere Dinge entdeckt. Wann waren Sie zuletzt in Ihrem Schlafzimmer?«

 

Tanner runzelte die Stirn. »Sie meinen in Berkeley Square? Seit heute morgen bin ich nicht mehr dortgewesen.«

 

Terry sah ihn scharf an. »Sind Sie Ihrer Sache ganz sicher?«

 

Tanner nickte.

 

»Haben Sie in Ihrem Schreibtisch etwas gesucht?«

 

»Schreibtisch …?. Ach, Sie meinen den kleinen Sekretär? Nein!«

 

»Lag etwas Wertvolles darin?«

 

Ed Tanner überlegte. »Ja – ich hatte etwa ein Dutzend englische Goldstücke darin aufbewahrt. Es machte mir Spaß, sie zu sammeln. Übrigens fällt mir eben ein, daß ich heute nachmittag noch einmal in mein Schlafzimmer wollte. Die Tür war aber verschlossen. Ich dachte, die Haushälterin hätte das getan. Ab und zu macht sie das nämlich. Später hab‘ ich nicht mehr daran gedacht … Ist das Geld verschwunden?«

 

»Ich habe es hier in meiner Tasche«, erwiderte Terry grimmig, »aber ich kann es Ihnen nicht geben!« Unterdessen hatte, er den kleinen Blechkasten aus der Tasche gezogen und ging damit zu seinem Schreibtisch. Aus der Schublade nahm er einen Bund mit Nachschlüsseln und versuchte das Schloß zu öffnen. Es dauerte auch nicht lange, bis er Erfolg hatte. Der Deckel sprang auf, und Terry sah ein Farbkissen. »Das ist ja ein Stempelkasten!« rief er überrascht.

 

Jiggs nahm die drei Gummistempel heraus und betrachtete sie verblüfft. »Da hört doch alles auf!« Es waren Gummistempel von Fingerabdrücken, deren Oberflächen noch Spuren von Feuchtigkeit zeigten.

 

»So erklären sich also die Fingerabdrücke!« sagte Terry langsam. »Decadons Mörder wollte die Schuld auf einen anderen abwälzen.« Er blickte zu Ed Tanner. »Sie müssen allerdings sehr mächtige Feinde haben …«

 

»Ja –; ich habe einen Feind, dem viele Freunde und Helfer zur Verfügung stehen.« Als Tanner aufsah, begegnete er dem fragenden Blick Allermans und lächelte.

 

Kapitel 6

 

6

 

Um drei Uhr morgens hielten die höheren Beamten von Scotland Yard eine Konferenz ab. Es war ein Zeichen für die Hochachtung, die man Allerman entgegenbrachte, daß man ihn dazu einlud.

 

Der Leiter des Erkennungsdienstes konnte einige interessante Tatsachen melden. »Der Vagabund ist identifiziert worden. Es handelt sich um einen gewissen William Board alias William Crane alias Walter Cork. Er war siebenmal wegen Landstreicherei und kleiner Diebstähle vorbestraft.«

 

Jiggs schüttelte nachdenklich den Kopf. »Der Mann hat keinen Mord begangen. Ich habe noch niemals einen Tramp getroffen, der sich ein solches Verbrechen hätte zuschulden kommen lassen. Möglich ist allerdings, daß er die Fingerabdrucke mit den Stempeln gemacht hat. Wie mag er in den Hof gelangt sein?«

 

»Meiner Meinung nach hat Decadons Mörder auch diesen Board erschossen«, meinte einer der Inspektoren. »Ich erkläre mir die Sache so, daß der arme Kerl als Werkzeug diente und daß man ihn nachher aus dem Weg räumte, um einen lästigen Zeugen los zu sein. Der Arzt schreibt ja in seinem Bericht, daß der Mann mit einer Kleinkaliber-Pistole aus kürzester Entfernung erledigt worden wäre … Haben Sie übrigens Tanner aus der Haft entlassen?«

 

Terry nickte. »Ja. Nach Auffindung der Gummistempel konnten wir ihn nicht gut in Gewahrsam behalten. Die einzig haltbare Erklärung ist, daß Board schon früher am Tag in das Haus einbrach, und zwar, bevor die Polizei auf der Bildfläche erschien. Er muß sich in Tanners Schlafzimmer versteckt haben. Er trug übrigens Tanners Hausschuhe und Überschuhe. Wir haben auch festgestellt, daß seine Stiefel im Schlafzimmer standen. Ich kann nur nicht verstehen, warum er eine derartig gewagte Sache übernahm. Tanner ist doch den ganzen Tag in der Wohnung aus und ein gegangen.«

 

»Wäre es nicht möglich, daß Tanner ihn absichtlich in seine Wohnung kommen ließ?« warf Jiggs ein.

 

Alle Anwesenden sahen den Amerikaner erstaunt an.

 

»Warum sollte er das getan haben?« fragte Terry. »Um Verdachtsmomente gegen sich selbst zu häufen?«

 

»Es klingt zunächst unlogisch«, entgegnete Jiggs liebenswürdig. »Vielleicht bin ich auch um diese späte Nachtzeit schon ein bißchen müde und abgespannt. Eines aber ist sicher: Der erste Schuß in diesem Kampf ist gefallen. Und morgen früh werden die Zeitungen die Geschichte von dem Drohbrief und von der Forderung der fünfzigtausend Pfund bekanntmachen. Durch Decadons tragischen Tod will man die Leute in Schrecken und Angst versetzen … Fragt sich, ob auch der andere Plan zur Ausführung gelangt. Ich glaube schon.«

 

Terry Weston lachte. »Sie sprechen in Rätseln, Jiggs!«

 

»Leicht möglich.« –

 

Terry ging in sein Büro zurück und setzte sich an seinen Schreibtisch. In der Stille der Nacht versuchte er all die verschiedenen Tatsachen in einen faßbaren Zusammenhang zu bringen, was ihm aber einstweilen nicht gelang. Er hielt den Kopf in die Hände gestützt und war nahe am Einschlafen, als plötzlich das Telefon läutete.

 

Der Beamte in der Zentrale meldete: »Eine Dame möchte Sie sprechen. Meiner Meinung nach kommt der Anruf von einer Fernsprechzelle.«

 

Gleich darauf hörte der Chefinspektor eine ängstliche, ziemlich gewöhnliche Stimme: »Sind Sie Mr. Terry, der Detektiv von Scotland Yard?«

 

»Jawohl, hier Terry Weston!«

 

»Entschuldigen Sie bitte die Störung! Ich möchte nur fragen, ob Miss Ranger bald nach Hause kommt. Ich ängstige mich ein bißchen um sie …«

 

»Miss Ranger?« Terry richtete sich erstaunt auf. »Die ist doch schon längst in ihre Wohnung zurückgekehrt!«

 

»Ja, ja – das stimmt! Aber nachher ist sie durch einen Beamten von Scotland Yard wieder abgeholt worden. Es muß ein Amerikaner gewesen sein. Man hat ihr gesagt, daß sie zu Ihnen kommen soll.«

 

»Wann war das?« fragte Terry rasch.

 

Die Frau meinte, es könne um zehn gewesen sein; genau wußte sie das nicht mehr.

 

»Wo wohnen Sie denn?«

 

Sie nannte eine kleine Straße in Bloomsbury und die Nummer.

 

»In fünf Minuten bin ich bei Ihnen! Warten Sie an der Haustür auf mich!«

 

Er raste die Treppe hinunter. Etwa zehn Minuten später stand er schon im Wohnzimmer der Wirtin.

 

Aber sie konnte kaum mehr erzählen, als sie schon telefonisch berichtet hatte. Als jemand an der Haustür klopfte, hatte sie geöffnet und einen Mann vor sich gesehen. Auf der Straße wartete, ein Wagen mit Chauffeur. Der Mann erklärte, daß er von Scotland Yard geschickt wäre: Chefinspektor Weston ließe Miss Ranger bitten, sofort ins Präsidium zu kommen.

 

»Würden Sie den Mann wiedererkennen?« fragte Terry mutlos.

 

Die Frau hielt das kaum für möglich. Es war eine sehr dunkle Nacht, und sie hatte nicht besonders auf ihn geachtet. Leslie war eingestiegen, und das Auto hatte sich in Richtung Bloomsbury Square entfernt. Zufällig hatte sich die Frau die Nummer gemerkt: YXD 7000.

 

Terry eilte zur nächsten Fernsprechzelle, setzte sich mit Scotland Yard in Verbindung und nannte die Nummer. »Finden Sie heraus, wer der Eigentümer des Autos ist! Das Überfallkommando soll mir einen Wagen mit Mannschaft zur Verfügung stellen!«

 

Als er in das Präsidium zurückkam, war sein Auftrag ausgeführt. Das Auto gehörte einem Verleihgeschäft in Bloomsbury; wer den Wagen gemietet hatte, konnte nicht gleich festgestellt werden. Aber nach einiger Zeit wurde gemeldet, daß es ein Arzt war. Während er einen Besuch machte, war ihm das Auto gestohlen worden.

 

»Soweit wäre die Sache also aufgeklärt«, stöhnte Terry. »Schicken Sie Nachricht an alle Polizeistationen, daß sie sich nach dem betreffenden Wagen umsehen und seine Insassen festnehmen sollen!«

 

Fieberhafte Tätigkeit setzte ein. Eine Abteilung des Überfallkommandos nach der anderen wurde abgesandt. Sie fuhren nach allen Himmelsrichtungen: nach Osten, Westen, Norden und Süden. Und als der Tag graute, entdeckte eine Motorradpatrouille auf einem Feld in der Nähe von Colnbrook einen verlassenen Wagen, der die gesuchte Nummer trug. Die Jalousien an den Fenstern waren heruntergezogen. Die Beamten rissen die Tür auf und sahen eine junge Dame in der Ecke des Wagens. Es war die fest schlafende Leslie Ranger …

 

Kapitel 25

 

25

 

Nachdem einige Tage friedlich verlaufen und keine neuen Ausschreitungen und Verbrechen vorgekommen waren, hörte man in Scotland Yard von den rotgedruckten Drohbriefen. Ein reicher Brauereibesitzer, Mitglied des Parlaments, hatte ein solches Schreiben erhalten, und die Erpresser hatten sogar die Frechheit besessen, es ins Parlament zu schicken. Das war allerdings eine Herausforderung, die nicht übersehen werden durfte. Der Mann hätte natürlich zu anderen Mitgliedern gesprochen, und auch Scotland Yard hatte davon erfahren.

 

Jiggs Allerman hielt das Schreiben in der Hand und las es aufmerksam Wort für Wort. »Sie sind zu einer Verständigung gekommen. Das habe ich erwartet. Der Wortlaut ist ungefähr derselbe wie in dem grünen Schreiben; nur haben sie aus dem blauen die Telefonidee herübergenommen und dafür das brennende Licht im Fenster ausgemerzt. Ist dieser Senator, oder was er sonst ist, ein reicher Mann?«

 

»Millionär!« sagte Terry. »Er hat eine Wohnung in der Parklane.«

 

Jiggs nickte bedächtig. »Wo ist er denn jetzt? Im Parlamentsgebäude? Ich gebe Ihnen den guten Rat, ihn in einem Panzerwagen abzuholen und in den Tower zu bringen. Das jedenfalls wäre die einzige Möglichkeit, ihn zu retten. Die Kerle wissen, daß der Brief zur Polizei geschickt wurde, und haben den Mann natürlich zum Tode verurteilt. Das wird wieder eine üble Geschichte werden, Terry!«

 

»Ich setze mich sofort mit dem Ausschuß in Verbindung.«

 

Eine Stunde lang blieb Terry fort, und als er wiederkam, konnte Jiggs schon an seinem Gesicht ablesen, daß er keinen Erfolg gehabt hatte.

 

»Die Herren sagen, wir würden durch diese Maßnahme unsre eigne Unfähigkeit eingestehen, den Mann zu beschützen. Sie haben schließlich eingewilligt, daß wir ihn jedesmal unter Schutzgeleit zum Parlament bringen und von dort wieder abholen. Außerdem soll seine Wohnung von einem Polizeiaufgebot bewacht werden.«

 

Jiggs schüttelte den Kopf. »Das ist unvorsichtig. Die Gangster können ihn doch auf dem Weg zum Parlament leicht schnappen, selbst wenn die Polizei mit Pauken und Trompeten vorwegmarschiert. Aber ich habe das Gefühl, daß sie das Ding anders drehen werden.«

 

»Der Innenminister meint, die Sache wäre nicht aussichtslos, da sie den Colonel Drood auch nicht geschnappt hätten.«

 

»Albernes Gewäsch!« rief Jiggs wütend. »Sie haben Drood in Ruhe gelassen, weil gerade an dem Abend Krieg zwischen den beiden Banden ausbrach, und nicht, weil sie ihm nichts hätten anhaben können. Die Burschen werden diesen Mr. Durcott fassen, so wahr ich hier sitze! Vielleicht nicht heute, aber sicher in den nächsten drei Tagen. Und ich gehe jede Wette mit Ihnen ein, daß sie keine weiteren Briefe ausschicken, ehe diese Sache erledigt ist. Das ist nämlich das Probestück für die erfolgreiche Zusammenarbeit der beiden Banden.«

 

Am Abend wurde Durcott unter starker Bewachung aus dem Parlament abgeholt. Motorradfahrer der Polizei begleiteten sein Auto auf beiden Seiten, und als er nach Hause kam, waren so viele Beamte in seiner Wohnung, daß er kaum zu seinem Schlafzimmer gelangen konnte. Wenigstens erzählte Jiggs das so.

 

Am nächsten Nachmittag begab sich der Abgeordnete wieder zu einer Sitzung ins Parlament. Eine große Menschenmenge jubelte ihm begeistert zu, als er vorüberkam, und Durcott sonnte sich in seiner neuen Berühmtheit.

 

»Können Sie mir eigentlich erklären«, fragte Jiggs, »warum ausgerechnet Inspektor Tetley die Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz Durcotts leitet?«

 

Terry zögerte. »Wembury ist etwas dickköpfig, und Sie scheinen ihn irgendwie verletzt zu haben.«

 

Jiggs grinste. »Natürliche Abneigung des Vorgesetzten gegen einen befähigteren Untergebenen!« erwiderte er großspurig. »Es tut mir leid«, fuhr er dann in verändertem Ton fort. »Ich habe Wembury gern – er ist wirklich ein famoser Kerl. Und wenn ich Polizeichef in Chikago wäre, und es käme eines guten Tages ein Engländer und wollte große Töne reden, würde ich es wahrscheinlich auch nicht anders machen. Trotzdem, Terry: Sie müssen Wembury davon überzeugen, daß dieser Tetley ein gemeingefährlicher Halunke ist! Ich habe auf eigne Faust ein bißchen Detektiv gespielt und herausgebracht, daß der saubere Kollege mit Kerky unter einer Decke steckt, und zwar seitdem die Tätigkeit der organisierten Banden in London begann. Könnten Sie Wembury das nicht beibringen?«

 

»Im Augenblick nicht. Er ist ganz aus dem Häuschen, und das läßt sich schließlich begreifen. Tetley versteht es außerdem, die Leute zu beschwatzen. Er hat sich aus einfachsten Verhältnissen emporgearbeitet – das wird ihm hier immer hoch angerechnet. Andererseits stand er vor fünf Jahren schon einmal unter Verdacht. Es handelte sich damals um eine anrüchige Spielhölle. Ein großer Skandal – doch wir konnten ihm nichts beweisen. Aber daß er sich jetzt mit Mördern verbündet, kann ich nicht recht glauben.«

 

»Das hat er, seiner Meinung nach, auch nicht getan. Er glaubt natürlich, daß er das Geld erhält, weiter gewisse Dinge nicht zur Anzeige bringt, auf die es nicht ankomme. Leute wie Tetley verstehen es immer ausgezeichnet, sich vor sich selbst zu rechtfertigen. Und glauben Sie ja nicht, daß er sich nicht fürchtet! Allmählich wird ihm klar, was er gemacht hat; aber nun hat er sich einmal auf die Sache eingelassen und kann nicht aus der Schlinge heraus. Er ist um so schlimmer dran, weil er nach und nach sieht, wie tief er in die Geschichte verstrickt ist. An einem der nächsten Tage wird sich sein Gewissen melden, und dann wird er die Gangster verraten. Aber wenn es soweit kommt, wäre es besser für ihn, den Schnabel zu halten.« –

 

Auch am zweiten Abend ereignete sich nichts. Am dritten lag Nebel über London, und als sich der Dunst in den Straßen immer mehr verdichtete, wußte Jiggs, daß jetzt die Entscheidung kommen würde.

 

Mr. Quigley, ein alter, weißhaariger Parlamentarier, der etwas gebeugt ging, war in der letzten Zeit häufig krank gewesen und deshalb nur selten zu den Sitzungen erschienen. Aber an diesem Abend ging er durch die Vorhalle in das Innere des großen Gebäudes. Der Polizist, der am Eingang Wache hielt, grüßte ihn und öffnete die Tür.

 

Einen Augenblick blieb Quigley stehen und putzte seine Brille. Als er in den Sitzungssaal trat, fand er das Haus nur mäßig besetzt. Mehrere Mitglieder debattierten eifrig über eine neue Gesetzesvorlage. Er ließ sich auf einer der fast leeren Regierungsbänke nieder.

 

Verschiedene der Anwesenden lächelten. »Quigley ist zur Regierung übergegangen!« tuschelten sie.

 

Er gehörte nämlich zur Opposition. Die für Regierungsmitglieder reservierte erste Sitzreihe im Parlament war fast vollkommen frei. Nur ein Unterstaatssekretär, der die Debatte führte, war zugegen.

 

Unerwartet erhob sich Mr. Quigley, ging mit unsicheren Schritten auf das Rednerpult zu und hatte schon den Gang erreicht, der zur Tür führte, als er eine Pistole zog und sich plötzlich umdrehte. In kurzer Aufeinanderfolge feuerte er dreimal, sprang über die vorgestreckten Beine des Unterstaatssekretärs, lief am Rednerpult vorbei und verschwand durch die hintere Tür. In wenigen Sekunden war alles vorüber – Mr. Durcott, der auf einer der vorderen Bänke gesessen hatte, brach zusammen.

 

Ein Polizist sah den alten Mann, der hinauslief, und versuchte ihn anzuhalten. Aber dazu kam er nicht; er stürzte mit einem Schuß in der Schulter zu Boden. Offenbar kannte der Mörder die Lage der einzelnen Räume im Parlament sehr genau. Er bog in einen Gang ab und eilte dann auf die Terrasse des Hauses. Rasch zählte er die Laternen von der Brücke aus und sprang bei der vierten in den Fluß.

 

Niemand sah es. Als Politiker, Beamte und Polizisten auf der Terrasse erschienen, war er verschwunden.

 

Ein Polizist schaute über das Geländer und entdeckte ein Motorboot, das auf die Mitte des Stromes hinausfuhr. Er rief es an, und als keine Antwort kam, zog er seinen Revolver und gab zwei Schüsse ab. Unmittelbar darauf blitzte das Mündungsfeuer eines Maschinengewehrs auf; unheimlich hallten die Schüsse über das Wasser. Ein Kugelregen prasselte gegen die Brüstungsmauer, ein paar Fenster im Parlamentsgebäude zerklirrten, aber weiterer Schaden wurde nicht angerichtet.

 

Jetzt war das Boot mitten auf dem Fluß. Kurz darauf sahen die Zuschauer auf der Terrasse wieder das Mündungsfeuer des Maschinengewehres und hörten das unheimliche. Rattern. Die Gangster waren auf ein Polizeiboot gestoßen, aber der Kampf blieb einseitig. Als Verstärkungen herbeikamen, war von dem Polizeiboot nichts mehr zu sehen: Es war in den Fluten verschwunden.

 

Wembury trat bleich in Westons Büro.

 

»Ist er tot?« fragte Terry.

 

Der Vorgesetzte nickte. »Er ist vollkommen erledigt. Und Scotland Yard auch. Wo steckt denn unser amerikanischer Freund?«

 

»Er ging vorhin fort, als der Bericht vom Parlamentsgebäude durchkam.«

 

»Er hatte doch nicht so ganz unrecht mit dem Panzerwagen und dem Tower«, meinte Wembury bitter, sank in einen Stuhl und verbarg das Gesicht in den Händen. »Mein Gott, für diese Aufgabe bin ich nicht geschaffen! Wenn ich daran denke, wie wir lachten, als wir die Nachrichten erhielten, daß die Chikagoer Polizei mit den Alkoholschmugglern nicht fertig werden konnte! Jetzt wissen wir, warum es ihnen nicht gelingt. Wir kämpfen mit Flederwischen gegen Revolver.« Er lehnte sich seufzend in seinem Stuhl zurück. »Das Motorboot, in dem der Kerl entkommen ist, muß die ganze Zeit im tiefen Schatten an der Ufermauer entlanggefahren sein, so daß es von der Themsepolizei nicht bemerkt wurde. Der Sergeant, der das Patrouillenboot steuerte, ist schwer verletzt und liegt in hoffnungslosem Zustand im Hospital; sie haben ihn noch lebend aus dem Wasser gefischt. Jiggs hatte uns den Rat gegeben, alle Polizeiboote auf der Themse mit Maschinengewehren zu bewaffnen, und ich habe nicht auf ihn gehört!«

 

Captain Allerman kam zur Tür herein. »Hallo, Chef! Tut mir leid, daß es so kommen müßte …«

 

Wembury nickte. »Irren ist nun mal menschlich. Sie können sich freuen, daß alles so eintraf, wie Sie sagten.«

 

Jiggs sah ihn düster an. »Ich freue mich nicht! Aber ich werde Ihnen sagen, was Sie tun müssen: Lassen Sie Eddie Tanner und Kerky Smith verhaften und zum Scotland Yard bringen!«

 

»Und was dann?« fragte Wembury nach einer kleinen Pause.

 

»Dann können Sie sie niederschießen, wenn sie entfliehen wollen.«

 

Wembury starrte ihn an. »Was? Wir sollen sie unterwegs erledigen?«

 

»Ja – wenn sie zu fliehen versuchen.«

 

»Aber wenn sie das nicht tun?«

 

»Falls Sie mir die Sache überlassen, sorge ich schon dafür, daß sie einen Fluchtversuch machen!«

 

Wembury schüttelte den Kopf. »Das wäre doch glatter Mord!«

 

»Was ist denn heute abend und während der ganzen Woche passiert? War das vielleicht ein Pfänderspiel? Sie haben es hier mit organisierten Verbrecherbanden zu tun, die Mord für eine ganz normale Sache halten. Meiner Schätzung nach gibt es zur Zeit ungefähr zweihundert solcher bezahlter Pistolenschützen in London, und sie alle sind geübte Spezialisten. Schon seit Monaten hat man ihre Wohnungen und Verstecke vorbereitet. Alles ist sorgfältig geplant. Über zwei Millionen Dollar sind in das Geschäft bereits hineingesteckt worden, aber es macht sich mehr als bezahlt. Heute abend wird das Geld in vollen Strömen hereinkommen!« –

 

Scotland Yard erließ eine Verordnung, wonach alle uniformierten Polizisten auf den Straßen bewaffnet wurden. Ferner wurde eine Anregung Allermans angenommen: Man richtete Luftpatrouillen ein, die Tag und Nacht über London Dienst taten. Die Beobachter im Flugzeug blieben stets in Verbindung mit gewissen Erdstationen. Bei Tag konnten sie jedes Auto verfolgen, so schnell es auch fuhr, und genau angeben, welches Ziel es hatte.

 

Endlich beauftragte Polizeidirektor Wembury auch seinen Chefinspektor Terry Weston, dem verdächtigen Tetley ernstlich auf den Zahn zu fühlen. »Ich habe ihm befohlen«, meinte Wembury, »sich in meinem Büro zu melden; aber ich werde ihn zu Ihnen schicken. Ich gebe Ihnen dem Mann gegenüber freie Hand. Bis morgen früh will ich wissen, welche Vorsichtsmaßregeln er getroffen hatte und wie es möglich war, daß der Verbrecher über die Terrasse des Parlamentsgebäudes fliehen konnte, ohne gefaßt zu werden. Captain Allerman soll Ihrer Unterredung beiwohnen.«

 

Kurze Zeit später kam Tetley zu den beiden in Terrys Büro. Er sah alt und verfallen aus; der sonst aufgezwirbelte Schnurrbart hing nach unten. Der Mann schien von Angst und Schrecken gepackt und dem Zusammenbruch nahe zu sein.

 

Tetley sah auf Allerman, dann auf Weston. »Ich möchte lieber mit Ihnen allein sprechen, Chefinspektor! Ich glaube, nicht, daß Fremde –«

 

»Wir haben jetzt keine Zeit, auf Ihre Gefühle Rücksicht zu nehmen, Tetley! Sie wissen außerdem sehr wohl, daß Captain Allerman unserm Präsidium als Beamter zugeteilt ist. Erklären Sie mir jetzt, wie dieses Unglück heute abend überhaupt geschehen konnte! Warum waren die Ausgänge nicht genügend besetzt? Wie war es möglich, daß der Verbrecher entkam?«

 

»Ich tat mein Bestes!« beteuerte Tetley weinerlich. »Ich hatte auf allen Korridoren Beamte aufgestellt, und ich kann nicht verstehen, daß ausgerechnet der Posten auf der Terrasse –«

 

»Wenn Sie es nicht verstehen können, dann will ich es Ihnen begreiflich machen!« erwiderte Terry streng. »Er war nicht auf seinem Platz, weil man ihn nicht richtig instruiert hatte!«

 

Tetley widersprach nicht. »Wir machen alle unsere Fehler«, entschuldigte er sich. »Ich habe eine sehr schwere Zeit hinter mir, und heute abend hatte ich so entsetzliche Kopfschmerzen, daß ich kaum noch wußte, was ich tat …«

 

»Sie melden sich morgen um zwölf wieder hier in meinem Büro!« erwiderte Terry scharf. »Bringen Sie Ihr Bankbuch mit – ebenso die Bankbücher Ihrer Frau! Sie hat zwei; eins davon unter ihrem Mädchennamen … Außerdem schaffen Sie mir den ganzen Inhalt Ihres Depotfachs 8497 von der Bank her! Es wartet bereits ein Beamter auf Sie, der Ihnen behilflich sein wird.«

 

Tetley verließ das Zimmer als gebrochener Mann.

 

»Das Merkwürdigste an der Sache war«, bemerkte Jiggs, »daß ich kein Wort zu sprechen brauchte …«

 

Kapitel 26

 

26

 

Mr. Kerky Smith hatte mit seiner Frau einen der eleganten Nachtklubs besucht und war erst spät nach Hause gekommen.

 

Der Kammerdiener weckte ihn. Er war nicht besonders höflich, wenn er mit seinem Herrn allein war. »Kerky, der Polyp ist am Telefon!«

 

Smith erhob sich und sah den Mann unsicher an, der ihn in seinen Träumen gestört hatte. »Was für ein Polizist?« fragte er ärgerlich. »Doch nicht Tetley?«

 

»Er nennt sich ›Colonel Brunton‹ … Das ist doch Tetley, nicht wahr?«

 

Kerky ging ins Wohnzimmer und, nahm den Hörer ab.

 

»Ich muß Sie dringend sprechen, Mr. Smith! Kann ich in Ihr Hotel kommen?«

 

»Nein, das können Sie nicht! Das hab‘ ich Ihnen doch schon oft genug gesagt. Ich werde jemand schicken, der Sie mit dem Wagen abholt.«

 

»Ich werde scharf beobachtet!« erwiderte Tetley aufgeregt. »Ich hab‘ es erst erfahren, als der Chefinspektor –«

 

»Meinen Sie, ich werde nicht Tag und Nacht beobachtet?« zischte Smith böse. »Ich werde mit Ihnen sprechen, nachdem ich rasiert bin – in einer halben Stunde!«

 

Er ging zu seinem Friseur in Soho und ließ sich einseifen. Dann brachte der Friseur den Telefonapparat herein, ging wieder hinaus und schloß die Tür fest hinter sich.

 

Inspektor Tetley war nicht weit von Kerky entfernt. Er befand sich im ersten Geschoß, und zwar in einer schalldichten Telefonzelle. Kerky hörte, was am vergangenen Abend vorgefallen war.

 

»Ich muß meinen Abschied einreichen«, klagte Tetley. »Ich werde ins Ausland gehen. Ich bin erledigt. Wenn dieser verdammte Amerikaner mich nach Strich und Faden verhört, kann er alles aus mir herausholen. Gestern hat er kein Wort gesagt. Kerky, ich hab‘ noch ein paar tausend Pfund zu bekommen … Entschuldigen Sie, daß ich Sie beim Vornamen nenne!«

 

»Das paßt mir ganz und gar nicht!« fuhr Smith ihn an. »Aber es wird schon alles in Ordnung kommen«, fügte er freundlicher hinzu. »Warten Sie heute abend an der bekannten Stelle gegenüber dem Zoo! Ich schicke einen Mann, der Ihnen das Geld bringt. Aber achten Sie darauf, daß Sie von niemand gesehen werden, wenn Sie hingehen!« Er drückte auf eine Klingel, und als der Barbier wiederkam, reichte er ihm den Apparat. »Machen Sie jetzt schnell!« sagte er ärgerlich. »Die Seife trocknet schon ein.«

 

Kapitel 27

 

27

 

Coras Lebensphilosophie war sehr einfach: Als Frau mußte sie sich schön erhalten für den Mann, der ihre Rechnungen bezahlte, und ihm treu bleiben, solange er sie nicht betrog. Ihre früheren Ehemänner hatten sich nicht so stark für sie interessiert wie Kerky Smith, aber ihr war das gleichgültig. Wenn sie Kerky durch eine Kugel verlieren sollte, dann war dieses Kapitel eben abgeschlossen, und sie machte sich schön für den nächsten …

 

Aber jetzt sah sie sich einer anderen Gefahr gegenüber: Leslie Ranger! Mit dieser Nebenbuhlerin mußte man abrechnen! Sie begann Pläne zu schmieden, verwarf sie wieder, überlegte aufs neue und faßte endlich einen Entschluß.

 

»Warum gehst du eigentlich nicht mal aufs Land?« erkundigte sich Kerky eines Tages. »Wozu kaufe ich dir denn ein schönes Landhaus, wenn du nicht dort ausruhst?«

 

Sie lächelte ihn freundlich an, schüttelte aber den Kopf. Das kleine Haus, das Kerky ihr im vergangenen Sommer geschenkt hatte, lag am Flußufer zwischen Maidenhead und Cookham. Es war neu hergerichtet und gut ausgestattet. Bei ihrem ersten Besuch hatte Cora es entzückend gefunden, aber schon das zweitemal hatte es ihr nicht mehr gefallen.

 

»Ich habe heute über Lu Stein gelesen«, sagte sie jetzt. »Die Frau konnte hassen! Sie ließ das Mädchen erschießen.«

 

Kerky sah sie mißbilligend an. »Cora, merk dir eins: Von unserm Geschäft sollten sich die Frauen fernhalten! Du willst doch nicht etwa selbst eine solche Sache inszenieren?«

 

»Aber rede doch nicht so verrückt!« Wäre er gleichgültig geblieben, so hätte sie vielleicht ihren Plan aufgegeben; aber sein starkes Interesse bestätigte ihren Verdacht. –

 

Leslie pflegte stets auswärts zu Mittag zu essen. Sie kehrte gerade zum Büro zurück und bog nach Austin Friars ein, als sie plötzlich ihren Namen hörte. Ein kleines Auto hielt mit einem Ruck am Gehsteig an, und eine Dame stieg aus, Mrs. Smith war eine so glänzende Erscheinung in dieser verhältnismäßig düsteren Umgebung, daß alle Passanten sie staunend begafften. Leslie gefiel sie nicht, weil sie zu sehr einer Modepuppe glich.

 

»Das ist ja entzückend, daß ich Sie treffe!« rief Cora etwas zu freundlich. »Wollen Sie nicht mit mir speisen? Ich habe solche Langeweile! Kerky reist in geschäftlichen Angelegenheiten nach Paris, und ich dachte schon immer, daß es sehr nett wäre, wenn wir beide etwas vertrauter miteinander werden könnten. Wo liegt denn Ihr Geschäft? Und wann sind Sie mit Ihrer Arbeit fertig?«

 

»Um fünf.«

 

»Würden Sie dann eine Spazierfahrt mit mir machen? Ich fühle mich so allein und sehne mich nach Gesellschaft …«

 

Leslie hatte Mitleid. Man konnte der Frau ja schließlich den Gefallen tun. »Wenn Sie mich hier abholen, begleite ich Sie ganz gern.«

 

Mrs. Smith strahlte. –

 

Es stimmte allerdings, daß Kerky nach Paris reisen wollte, aber er änderte seine Absicht. »Du fährst noch aus?« fragte er, mit einem Blick auf die Uhr. »Es ist halb fünf, Kind. Es wäre besser, wenn du jemand zur Begleitung mitnähmst. Wohin willst du denn?«

 

»Ich hole das Mädel ab, diese Leslie …«

 

»Leslie Ranger?« Er runzelte die Stirn. »Was hast du mit der vor?«

 

»Ach, ich möchte sie ein bißchen kennenlernen …«

 

»Das wäre gar nicht so übel. Eine ganz gute Idee sogar Ruf mich um sechs an! Vielleicht erzählt sie dir etwas von diesem Beamten aus Scotland Yard? Aber verplappre dich nur nicht!«

 

Es war ein schöner Nachmittag, und Leslie freute sich, daß sie aus London herauskam. Cora hatte vorgeschlagen, eine kleine Spazierfahrt zu ihrem Landhaus zu machen.

 

Es war bereits dunkel, als sie in eine lange Landstraße einbog. Cora sagte ihrer Begleiterin, daß sie jetzt bald an Ort und Stelle wären. Nachdem sie mehrere Nebenwege passiert hatten, hielt der Wagen auch kurz darauf, vor einem hübschen, kleinen Gebäude, das von einem Garten eingefaßt war. Leslie stieg aus und öffnete das Tor. Das Auto fuhr weiter und hielt direkt vor dem Eingang.

 

»Lange kann ich leider nicht bleiben«, sagte Leslie.

 

»Aber Sie werden doch wenigstens einen Blick hineinwerfen?« bat Cora.

 

Sie öffnete die Küchentür. Dumpfe Luft schlug ihnen entgegen. Als sie ins Wohnzimmer kamen, bemerkte Leslie einen Käfig und auf dem Boden einen gelben Kanarienvogel.

 

»Ach, sehn Sie doch – ich habe ganz vergessen, ihm Futter und Wasser zu geben!« sagte Cora ohne das mindeste Mitleid. »Ich mag eigentlich solche Singvögel nicht leiden, aber Kerky glaubte, er würde mir eine Freude damit machen. Fünfundzwanzig Dollar hat er dafür gezahlt.«

 

Leslie sagte nichts.

 

»Gehen Sie nach oben!« befahl Cora plötzlich scharf. Sie stand hoch aufgerichtet und hatte die Augen weit aufgerissen. In ihrer Hand blitzte ein Browning. »Haben Sie nicht gehört? Sie sollen nach oben gehen!«

 

Leslie überlief ein Schauder, und ihre Knie zitterten. »Machen Sie doch keine Geschichten! Es ist höchste Zeit, daß wir wieder nach Hause fahren.«

 

»Wollen Sie wohl nach oben gehen, wenn ich es ihnen sage?« schrie Cora leidenschaftlich.

 

Leslie ging hinaus und stieg die Treppe hinauf.

 

»In das Zimmer links!«

 

Der Raum lag im Dunkeln, und Cora drehte das elektrische Licht an. Allem Anschein nach war dies ein Dienstbotenzimmer. Ein einfaches eisernes Bett, ein Tisch und ein Stuhl standen darin. Von einer offenen Tür aus konnte man in einen Baderaum sehen.

 

»So! Und jetzt werde ich Ihnen mal was sagen: Ich wäre Ihretwegen beinahe umgebracht worden … Wußten Sie das? Ihr Kerl da, der Eddie Tanner – wissen Sie, was der zu Kerky gesagt hat? Er würde mir den Kopf abschneiden und ihn Kerky in einem Obstkorb zum Frühstück schicken! Das hätte der Lump auch getan! Ich kenne Eddie genau – ich war früher mal mit ihm verheiratet … Und das hat er nur Ihretwegen gesagt!«

 

»Meinetwegen?« fragte Leslie. »Lächerlich!

 

»Das finden Sie auch noch lächerlich? Sie haben doch einen Brief bekommen, daß Sie fünfhundert Pfund zahlen sollen? Den haben Sie zur Polizei gebracht, und daraufhin sollten Sie niedergeknallt werden … Aber da hat Eddie eingegriffen, mich in der Stadt angehalten und einsperren lassen. Und hätten die Kerle Sie gefaßt, so hätte er mir die Gurgel durchgeschnitten …«

 

So unglaublich diese Geschichte auch klang – Leslie fühlte, daß sie auf Wahrheit beruhen mußte.

 

»Diese Rechnung haben wir also miteinander zu begleichen! Aber nun kommt noch was viel Schlimmeres: Was fällt Ihnen ein, Kerky den Kopf zu verdrehn? Sie brauchen mir nicht zu erzählen, daß Sie das nicht getan hätten! Ich weiß, genau, wie die Weiber sind …« Cora machte aus ihrem Herzen keine Mördergrube: Sie wählte die Worte nicht, und Leslie bekam die gemeinsten Ausdrücke zu hören. »Ich schließe Sie jetzt hier für ein Weilchen ein – genauso, wie ich selbst eingesperrt war. Wenn ich morgen wieder in besserer Stimmung bin, komme ich vielleicht zurück und lasse Sie heraus. Aber wenn mein Ärger noch nicht verflogen ist …« Ihr Gesicht sah plötzlich alt und verfallen aus, und sie atmete schwer. »Nun – ich werde wahrscheinlich zurückkommen …«

 

Sie öffnete ihre Handtasche und nahm zwei amerikanische Handschellen heraus, die sie vor einigen Tagen in einem Laden in der Oxford Street gekauft hatte. Die Pistole hielt sie immer noch in der einen Hand, mit der anderen legte sie Leslie die Fesseln an. Die beiden Handschellen waren an einer Kette befestigt, die sie hinter einer eisernen Röhre im Badezimmer entlangführte, bevor sie das Eisen schloß. »So, nun sind Sie gefangen! Ohne Schlüssel können Sie die Dinger nicht öffnen … Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen! Jetzt können Sie mal erfahren, wie mir zumute war, mein Kind!«

 

Cora fuhr zur Stadt zurück. Aber je mehr sie sich London näherte, desto unruhiger wurde sie. An ein solches Ende ihres Abenteuers hatte sie nicht gedacht; sie hatte sich so sehr auf den ersten Teil ihres Plans konzentriert, daß sie sich nur unklare Gedanken über den Abschluß gemacht hatte. Was würde Kerky sagen … Sie hielt an und war in größter Versuchung, umzukehren und Leslie zu befreien. Wenn das Mädel erst am nächsten Morgen herausgelassen wurde, schlug sie sicher Lärm. Und wenn Eddie davon hörte, würde er Kerky die Hölle heiß machen, und am Ende brach dann das ganze Geschäft zusammen …

 

Cora erschrak. Mit unsicheren Schritten ging sie zur nächsten Fernsprechzelle und rief ihren Mann an, der schon sehr besorgt um sie war. Er fragte, wo sie wäre und was sie gemacht hätte.

 

Ihre Nerven versagten. »Kerky, ich glaube, es wäre das beste, wenn ich – wenn ich wieder zum Landhaus zurückführe …«

 

»Du kommst sofort heim! Wo bist du? Ich werde einen Wagen schicken, dich abzuholen, du …!«

 

Er schimpfte, aber das machte ihr nichts aus. Im Gegenteil, sie fühlte sich erleichtert. »Ja, Kerky!« sagte sie zahm. »Ich komme zu dir!« Damit war das Los ihrer Gefangenen entschieden …

 

Als sie im Hotel ins Wohnzimmer trat, machte Kerky ein düsteres Gesicht. Er war ärgerlich. »Wo bist du gewesen?« fragte er und maß sie von Kopf bis Fuß. »Wo ist deine Handtasche geblieben?«Sie atmete schwer und taumelte einen Schritt zurück. Sie hatte die Tasche im Landhaus liegenlassen! Und es befand sich etwas darin, das niemand sehen durfte …

 

»Ach, Kerky, warum brüllst du mich denn so an? Ich hab‘ sie nicht mitgenommen; sie liegt in meiner Schublade … Brauchst du sie?«

 

Wenn er weniger erregt gewesen wäre, hätte er erkannt, daß sie ihn anlog. »Nein, ich brauche sie nicht … Setz dich hierher! Das Zimmer ist durchsucht worden, während ich fort war. Besinnst du dich auf das Buch, das ich dir neulich gab? Du solltest es auf die Bank bringen und dort einschließen …

 

Sie nickte verstört.

 

»Hast du das getan?«

 

Sie nickte wieder; sprechen konnte sie nicht.

 

»Dann ist alles in Ordnung, Cora! Es war eine Dummheit von mir, daß ich es dir gab. Ich weiß doch, was für ein Dummkopf du bist!« Er stand auf und schritt im Zimmer auf und ab. Die Spannung in seinen Zügen ließ allmählich nach, und schließlich lächelte er sogar. »Wie wär’s, wenn wir ins Theater gingen? Oder in ein Varieté?«

 

»Großartig, Kerky!« entgegnete sie erleichtert. Aber ihre Gedanken arbeiteten fieberhaft: Was würde nun geschehen, wenn sie Kerky erzählte, daß sie vergessen hatte, das Buch auf die Bank zu bringen? Daß es sich in der Handtasche befand und daß die Handtasche im gleichen Haus lag, in dem sie Leslie Ranger eingesperrt hatte? –

 

Leslie hatte die Handtasche wohl bemerkt, sich aber bemüht, nicht hinzusehen, um nicht Coras Aufmerksamkeit darauf zu lenken. Die Tasche lag auf einem Stuhl im Mädchenzimmer, ungefähr eineinhalb Meter von ihr entfernt.

 

Leslie hörte, wie die Haustür zugeschlagen wurde und wie der Wagen davonfuhr. Die Schlüssel mußten sich in der Tasche befinden: sie waren mit einer kleinen roten Schnur an den Handschellen befestigt gewesen; Cora hatte sie abgerissen und in die Handtasche gelegt.

 

Der Stuhl war zu weit entfernt, als daß Leslie ihn ohne weiteres hätte erreichen können. Sie ließ die Kette so weit als möglich an der eisernen Röhre herabgleiten, legte sich dann auf den Boden und streckte sich aus, bis sie mit den Fußspitzen ein Stuhlbein berühren konnte. Noch einen Zentimeter – aber es reichte nicht.

 

In einer Ecke des kleinen Badezimmers stand ein Besen, den sie mit der Hand fassen konnte. Langsam schob sie ihn auf dem Boden entlang, hakte ein und zog den Stuhl näher. Zu ihrem größten Schreck stieß der Stuhl aber auf ein Hindernis im Boden und kippte um. Die Tasche lag nun ziemlich weit weg. – Leslie machte einen anderen Versuch: Sie legte sich der Länge nach auf den Boden und faßte den Besenstiel mit beiden Füßen. Sic konnte ihn nur ungeschickt bewegen, aber schließlich gelang es ihr doch, auf diese Weise die Tasche langsam näherzuziehen. Endlich hielt sie das brillantenbesetzte kleine Ding in ihren zitternden Händen … Sie öffnete es, fand die Schlüssel und war einige Sekunden später frei.

 

Dauernd lauschte sie angestrengt, weil sie fürchtete, das Auto könne zurückkehren; aber es regte sich nichts.

 

Sie leerte nun den Inhalt der Tasche auf den Tisch. Die kleine Browningpistole legte sie beiseite.

 

Sie fand ein rotledernes Buch. Merkwürdigerweise war es mit zwei dünnen Ketten befestigt, die kreuzweise darumgeschlungen und auf der Rückseite durch ein kleines Vorhängeschloß gesichert waren. Außerdem entdeckte sie fünfzig Pfund in Banknoten und all die kleinen Gegenstände, die eine Dame in ihrer Handtasche trägt: Lippenstift, Puder, einen goldenen Bleistift, ein paar Silbermünzen. Dann packte sie alles wieder ein. Es würde ihr besondere Genugtuung bereiten, am nächsten Morgen ins Hotel zu gehen und Cora ihr Eigentum zurückzugeben …

 

Der Schreck, der Leslie zuerst gepackt hatte, wich später der Empörung über die Gemeinheit, die ihr zugefügt worden war. Es dauerte einige Zeit, bis sie aus dem Haus herauskam. Schließlich kletterte sie durch ein Fenster ins Freie und machte sich zu Fuß auf den Rückweg. Sie traf niemand, und es war auch wenig wahrscheinlich, daß ihr ein Mensch begegnen würde, bevor sie die Hauptstraße erreichte.

 

Als sie zur Bath Road kam, hatte sie ihre Fassung fast wiedererlangt. In der Nähe befand sich eine Garage, und Leslie ging dorthin, um ein Auto zu mieten. Sie hatte ja die fünfzig Pfund von Cora, und sie konnte von dieser niederträchtigen Person zum wenigsten verlangen, daß sie ihr die baren Auslagen ersetzte.

 

Der Garagenbesitzer schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Einen Wagen kann ich Ihnen geben, aber ich habe keinen Chauffeur. Wenn Sie selbst fahren wollen …?«

 

Leslie nahm den Vorschlag mit Freuden an …Sie wollte lieber allein sein – die Fahrt nach London würde sie beruhigen. Sie hinterlegte eine größere Summe als Pfand, nebst ihrer Visitenkarte.

 

Der Mann deutete auf die Uhr am Armaturenbrett. »Zehn … Ich hab‘ noch nie eine Wagenuhr gesehen, die in Ordnung war!« meinte er lachend. »Aber es ist wirklich zehn – also muß diese richtig gehen!«

 

Jetzt erst kam Leslie zum Bewußtsein, daß sie fast drei Stunden in dem schrecklichen Haus zugebracht hatte. Der Mann war sehr liebenswürdig und versorgte sie mit allem. Nur hatte er vergessen, den Tank nachzufüllen …

 

Aber das. merkte sie erst, als sie in der Nähe von Colnbrook war: Der Wagen blieb stehen … Gewöhnlich herrschte hier starker Verkehr, aber an diesem Abend kamen in fünf Minuten nur zwei Wagen durch, und beide beachteten ihr Signal nicht.

 

In der Nähe lag ein Torweg. Sie löste die Bremse und ließ den Wagen die Böschung hinunterrollen, bis er auf dem Feld stand. Sie fürchtete, die Batterie würde auch ausbrennen, weil die Scheinwerfer schon flackerten, und drehte das Licht völlig aus. Dann wartete sie auf ein langsam fahrendes Auto, das sie anhalten konnte.

 

Plötzlich bemerkte sie einen Wagen, der über den Hügel kam. Merkwürdigerweise hielt er ein paar Schritt von der Stelle entfernt, an der sie im Dunkeln stand. Sie entdeckte, daß es ein leichtes Lastauto war, und wollte gerade vortreten und um Hilfe bitten, als sie eine Stimme vernahm.

 

»Sie werden doch das nicht tun – um Himmels willen!« flehte jemand.

 

Leslie schauderte und duckte sich verstört. Wo hatte sie nur diese Stimme schon gehört? In ihrer Erinnerung tauchte jäh eine Szene auf: Verkehrsstockung – rechts und links viele Wagen – ein Herr, der sie unerwartet ansprach … Es war Inspektor Tetley, der Mann mit dem aufgezwirbelten Schnurrbart! Gleich darauf hörte sie, wie er in Todesangst aufschrie …