16

 

Als Super sich verabschiedete, erzählte er Elfa, daß er zu seinem Revier zurückginge, Er erlaubte sich dabei eine Unwahrheit, die in seinen Augen gerechtfertigt war. Er verbrachte eine unangenehme Zeit im Polizeipräsidium, wo ihn seine Chefs interviewten. Aber das Mißvergnügen war hauptsächlich auf ihrer Seite. Im Verlauf von zwei Stunden zerstörte er im allgemeinen und im besonderen mindestens zweiundzwanzig Theorien und Nebentheorien und tat das mit solchem Wohlgefallen an boshaften Bemerkungen und Illustrationen, daß selbst der Polizeipräsident froh war, als sich die Tür wieder hinter Super schloß.

 

Er verließ Scotland Yard und ging in ein schönes Kino, nicht weil ihn das Programm anzog, sondern weil ihn an diesem Zufluchtsort kein Licht ins Gesicht schien, denn er schlief am besten in der Dunkelheit. Zwei Stunden lang saß er zusammengekrümmt in einem Stuhl, sein Kopf ruhte auf der Brust, seine Arme waren verschränkt. Die halsbrecherischen Kunststücke beliebter und hochbezahlter Artisten zogen an seinem dämmernden Bewußtsein vorüber. Männer vollbrachten waghalsige Taten, kriegerische Helden übersprangen gähnende Abgründe, schöne Mädchen wurden aus schrecklichen Gefahren befreit; aber Super schlief, bis ein Platzanweiser seine Schulter berührte und ihn fragte, ob er gütigst aufstehen wolle, um eine starke Dame vorbei zu lassen. Erfrischt ging er in das Theaterrestaurant, trank schnell hintereinander drei Tassen Kaffee, aß ein Paket Keks und ging wie neugeboren von dannen.

 

Sein Ziel war Fregetti. In bezug auf Exklusivität hatte dieses Lokal nichts vom Ritz-Carlton oder anderen noch so prachtvollen Restaurants zu befürchten. Fregetti liegt in einem unansehnlichen Viertel, an dem unteren Ende der Portland Street, aber unter Feinschmeckern gilt es allgemein als das beste Lokal Londons.

 

Super nahm an einem Tisch Platz und wartete. Wagen auf Wagen hielt vor dem Glasdach, und elegant gekleidete Damen und Herren stiegen aus. Es war schon Viertel nach neun, als ein Auto vorfuhr, das die beiden Männer brachte, auf die Super wartete. Der erste war Elson. Er war im Gesellschaftsanzug und trug auf dem Hinterkopf einen glänzenden Zylinder, der ihm irgendwie nicht zu passen schien. Ein eleganter Herr folgte ihm. Er wartete, bis Elson den Chauffeur bezahlt hatte, und verschwand dann hinter den Glastüren des Restaurants. Super sah befriedigt aus.

 

»Ich hoffe, Sie freuen sich auf das Essen, Lattimer«, sagte er vor sich hin. »Sie sehen sehr rüstig aus für einen müden Mann!«

 

Lattimer schlenderte durch den Palmengarten in das Halbdunkel des Restaurants. Außer der gedämpften Beleuchtung in den Wandleisten erhellten nur Tischlampen den Raum und gaben ihm eine seltsame Traulichkeit.

 

Elson war dieses Dämmerlicht willkommen. Er haßte helles Licht beinahe ebenso wie Gesellschaft, und er ging schnell, wenn auch unsicher, auf den Tisch in der Ecke zu, den er telefonisch bestellt hatte.

 

»Wo haben Sie diesen alten Narren gelassen?« grollte er, als er sich setzte und nach dem Cocktail langte, der auf ihn wartete.

 

»Super? Oh, der ist irgendwo in London«, sagte Lattimer, nahm eine Zigarette aus der goldenen Dose und entzündete sie. »Sie brauchen sich keine Sorgen um ihn zu machen.«

 

»Wenn Sie glauben, daß ich um ihn besorgt, bin, sind Sie schwer im Irrtum«, keuchte Elson. »Nein, mein Herr, ich habe keinen Respekt vor der englischen Polizei.«

 

»Danke«, sagte Lattimer.

 

»Sie glauben wohl, ich spreche von Ihnen?« fragte Elson wild. »Wo bleibt denn bloß der Kellner?«

 

Der Kellner kam schließlich, und nachdem er sie bedient hatte, verschwand er wieder.

 

»Nun, was wünschen Sie also?« fragte Elson, legte seine Gabel hin und lehnte sich zurück.

 

»Ich brauche noch einmal fünfhundert«, erwiderte Lattimer kühl.

 

»Das ist in Dollars nicht viel«, murrte der andere, »aber in Pfunden ist es eine Menge! Ich gab Ihnen doch gestern nacht hundert – was haben Sie denn damit angefangen?«

 

»Sie liehen mir hundert«, verbesserte Lattimer sorgsam, »und ich gab Ihnen einen Wechsel. Was ich mit dem Geld angefangen habe, tut nichts zur Sache. Ich brauche jetzt fünfhundert.«

 

Elsons Gesicht wurde dunkel vor Ärger.

 

»Wie lange glauben Sie mich noch aussaugen zu können?« fragte er. »Wenn ich zu diesem alten Esel gehe und ihm erzähle …«

 

»Aber das werden Sie nicht tun«, sagte Lattimer sanft. »Ich weiß wirklich nicht, warum Sie sich so darüber aufregen. Es ist doch wertvoll für Sie, sich mit mir gut zu stellen. Ich habe Sie vor einer Menge Unannehmlichkeiten bewahrt und bin bereit, Ihnen noch weiter zu helfen. Ich kann Ihnen aus allem heraushelfen, wenn Sie nicht einen Mord begangen haben.«

 

Elson schrak zusammen.

 

»Was wollen Sie denn mit Mord?« fragte er laut.

 

Vom Nachbartisch drehte sich jemand nach ihnen um, und Elson fuhr leiser fort: »Ich hoffe, daß Sie mir in diesen Tagen nützlich sind, und wenn Sie es nicht sind – Ihr Chef wird eine Freude haben, wenn er Ihre Wechsel in meinen Händen sieht. Ich werde Ihnen die fünfhundert geben, nicht weil Sie sie von mir zu bekommen haben, sondern weil ich sie Ihnen geben will. Ich habe nichts von der Polizei zu befürchten, noch habe ich etwas …«

 

»Ausgenommen St. Paul«, unterbrach ihn Lattimer mit gespitzten Lippen. »Die Polizei von St. Paul sucht Sie wegen eines Raubes mit tätlichem Angriff. Sie sind zweimal im Zuchthaus gewesen wegen Raubes und anderer Dinge, und wenn das Auslieferungsgesetz angewandt wird, ist es nicht schwer, Sie wieder dorthin zu bringen. Aber«, sagte er lächelnd, »ich habe nichts gegen Sie.«

 

»Sie sind ein Erpresser«, stieß Elson zwischen den Zähnen hervor.

 

»Und Sie ein Narr«, erwiderte Lattimer in ausgezeichneter Stimmung. »Sehen Sie, Elson oder Alstein oder wie immer Ihr Name ist, ich kann Ihnen sehr nützlich sein. Denken Sie daran, daß es nicht zählt, was ich darüber denke – was Super denkt, das ist wichtig.«

 

»Weiß er von dieser St.-Paul-Geschichte?«

 

»Es macht nichts, ob er es weiß«, war die kühle Antwort. »Es war nichts, weswegen das Auslieferungsgesetz in Betracht käme …«

 

»Wie meinen Sie das?« fragte der erstaunte Millionär. »Sie erzählten mir doch …«

 

»Ich habe Ihnen viel gesagt, was ich vor Gericht nicht aufrechterhalten könnte. Aber jetzt sage ich Ihnen die Wahrheit. Solange Sie in England bleiben, können Sie nicht bedrängt werden, und Sie brauchen nicht böse dreinzuschauen, weil ich bis heute nichts darüber wußte.« Er lehnte sich über den Tisch und dämpfte seine Stimme. »Elson, es wird große Unannehmlichkeiten wegen Hanna Shaw geben. Super sandte mich nach Cambridge, um Nachforschungen über Ihre Geschichte anzustellen; aber sie hielt der Prüfung nicht stand. Ich kam mit der Nachricht zurück, daß ich die Garage gefunden hätte, wo Sie Ihr Auto für die Nacht einstellten. Aber ich habe niemals eine solche Garage gefunden. Sie waren nicht dort!«

 

»Wie soll ich wissen, wo ich war? Sagte ich Ihnen nicht, daß ich betrunken war? Ich erinnere mich nur, daß ich irgendwo in der Nähe einer Schule war. Das ist alles.«

 

Sergeant Lattimer musterte das Gesicht des unruhigen Mannes.

 

»Kommen Sie, Elson«, sagte er sanft. »Sie haben mir etwas mitzuteilen. Erzählen Sie, alter Junge!«

 

Der andere schüttelte den Kopf.

 

»Ich habe nichts zu erzählen«, sagte er scharf. »Was ist mit Ihnen los? Sie wissen alles – warum fragen Sie mich?«

 

»Wer tötete Hanna Shaw?«

 

Elsons Augenlider fielen herunter.

 

»Vielleicht wissen Sie nichts darüber«, grinste er höhnisch. »Vielleicht wissen Sie nicht, wo sie an dem Nachmittag war.«

 

»Warum sollte ich auch?« fragte Lattimer gleichgültig.

 

»Sie haben wohl Hanna Shaw niemals am Ende der Straße nach Einbruch der Dunkelheit getroffen? Und wenn sie in ihrem Wagen ausfuhr, begegneten Sie ihr da nicht und machten lange Fahrten mit ihr?« fragte Elson, während er Lattimers Gesicht aufmerksam beobachtete. »Ich glaube, Super weiß das nicht!«

 

»Er weiß nicht alles«, war die kühle Antwort.

 

»Ich möchte wetten, er weiß nichts! Hanna Shaw und Sie waren gute Bekannte. Sie kannten sie zu gut, als daß Sie jetzt zu mir kommen und mich ausfragen wollen. Sie hat mir ein oder zwei Dinge von Ihnen erzählt, die vor Gericht nicht gut klingen würden. Sie haben monatelang mit Hanna gespielt. Super weiß es nicht, und Cardew weiß es nicht. Ich habe heute morgen die Zeitungen gelesen – und anscheinend wurde kein Geld gefunden, als man Hannas Zimmer durchsuchte. Ich weiß« – er sprach langsam – »daß Hanna Shaw vierhunderttausend Dollar besaß, als sie verschwand. Ich weiß nicht, woher sie es hatte, aber ich weiß, daß sie es hatte. Wo ist dieses Geld geblieben?«

 

Lattimer gab keine Antwort.

 

»Es gibt nichts, was Sie nicht für Geld tun würden, Lattimer. Sie haben ihr noch vor einer Woche erzählt, daß Sie alles tun würden, wenn Sie zehntausend Dollar bekämen.«

 

»Bestellen Sie noch eine Flasche Wein«, sagte Lattimer, »und lassen Sie uns von etwas anderem sprechen!«

 

Mitternacht war vorbei, als Elsons Wagen vorsichtig die Straße entlangfuhr und vor seinem Haus hielt. Der Amerikaner stieg aus und schwankte zur Tür. Nach verschiedenen vergeblichen Versuchen gelang es ihm endlich, sie zu öffnen. Er erreichte die Halle, stützte sich an der Wand und stieß die Tür auf. Als er die Treppe hinaufging, klammerte er sich krampfhaft an das Geländer. Schließlich kam er zu einer Couch, setzte sich und fiel sofort in Schlaf. Die scharfe Ecke seines Kragens hielt ihn aber bei halbem Bewußtsein. Er erwachte mit schmerzendem Kopf, und seine Beine waren so schwach, daß sie kaum das Gewicht seines Körpers tragen konnten, als, er endlich auf den Füßen stand. Schläfrig zerrte er an dem Kragen, und nach vielen Versuchen riß er ihn ab. Alle Lichter brannten, und dunkel erinnerte er sich, daß er besser schlafen würde, wenn er sie auslöschte. Während er das Zimmer mit unsicheren Schritten durchquerte, zog er seinen Rock und das Oberhemd aus, und bevor er den Schalter umdrehte, lehnte er sich an die Wand und zog die Schuhe aus. Die geisterhafte Dämmerung ernüchterte ihn halb. Er ging zur Couch zurück, schenkte sich einen Whisky-Soda ein, goß ihn mit einem Zug hinunter und fühlte sich sofort wieder wach.

 

Der Morgen war warm. Er ging zum Fenster, zog den Vorhang zurück, beugte sich hinaus und atmete in tiefen Zügen die kühle Morgenluft ein. Dann wurde ihm bewußt, daß sich beinahe unter ihm eine Gestalt an der Ecke des Blumenbeetes bewegte, die hier und da anhielt, um eine Blume zu pflücken. Ihre linke Hand hielt schon einen großen Strauß.

 

Eine Sekunde lang dachte Elson, daß seine Augen ihm einen Streich spielten, denn der Garten lag noch im Dunkel der Nacht. Dann hörte er den Mann summen.

 

»Hallo!« rief er. »Was machen Sie hier?«

 

Der Mann blickte auf. Es war zu dunkel, um sein Gesicht zu erkennen.

 

»Was machen Sie hier?« brüllte Elson zornig, als keine Antwort kam.

 

Während Elson sprach, lief der Eindringling quer über die Beete schnell auf die Fahrstraße zu.

 

»Ich werde dich schon kriegen!« schrie Elson in unsinniger Wut.

 

Dann kam aus dem Dunkel der Bäume der Gesang:

 

Eine Weile stand Elson still und klammerte sich an das Fenster. Sein Gesicht war grau, und seine Augen starrten unbeweglich geradeaus.

 

»Ay de mi, Alhama!« Der Refrain erstarb in der Ferne. Aber Elson hörte es nicht. Er lag zitternd auf dem Boden, er stieß demütige Bitten und wilde Verwünschungen aus – er schrie vor Entsetzen, denn er hatte eine Stimme aus dem Grabe gehört.

 

Aber im Schatten des Hauses war jemand, der von diesem Gesang zum Leben erweckt wurde. Super hörte das Lied und sah einen Augenblick lang den Sänger, als er wie ein Schatten über die Straße lief. Im nächsten Augenblick explodierte sein fürchterliches Motorrad gleich einem Maschinengewehr, und er fuhr die Straße entlang, um den nächtlichen Wanderer abzufangen. Der Strolch sah ihn, lief über ein Feld und tauchte in einer Wildnis von Gebüsch und Gehölz unter, das die Ecke eines angrenzenden Besitztums bildete. Supers geräuschvolle Maschine drehte, flog die Hauptstraße hinab und um die Ecke einer alten Mauer herum, als der Landstreicher Deckung suchte.

 

Der Mann lief wie der Wind. Er hielt die Blumen, die er gepflückt hatte, noch in der Hand. Als Super Seite an Seite mit ihm kam, wandte er sich im rechten Winkel, sprang über einen Graben und eilte quer über eine Wiese. Super überlegte schnell, raste mit größter Eile die Straße entlang, verlangsamte das Tempo, als er um die Ecke fuhr, und bog dann in einen Feldweg ein. Er wußte, daß dieser parallel zu der Wiese lief, über die er den Mann hatte laufen sehen. Sein Manöver hatte Erfolg. Als der Mann auf die Straße kam, sprang Super von seinem Rad.

 

»Halt, mein Freund!« sagte er.

 

Der bärtige Mann blickte ihn mit einem sonderbaren Lächeln an.

 

»Es tut mir leid, daß ich Ihnen so viel Mühe gemacht habe«, sagte er schwach.

 

Er hatte die Stimme eines kultivierten Amerikaners, aber Super war darauf vorbereitet.

 

»Gar keine Mühe«, erwiderte er freundlich. »Können Sie stehen?«

 

Der Mann erhob sich unsicher.

 

»Ich glaube, es ist besser, wenn Sie mit mir auf die Wache gehen und etwas essen«, sagte Super, und der andere folgte ihm ohne Widerstand.

 

Als sie langsam der Stadt zuwanderten, drückte Super seine innere Befriedigung durch große Geschwätzigkeit aus.

 

»Vor einer Woche hätte ich Sie rauher behandelt, muß ich gestehen. Ich glaubte, Sie seien ein sehr schlechter Mensch.«

 

»Ich bin kein schlechter Mensch«, sagte der andere einfach.

 

»Ich bin überzeugt, daß Sie es nicht sind«, stimmte Super bei. »Nein, mein Herr, ich habe viele Theorien über Sie ausgedacht, und ich vermute, daß ich recht habe. Ich weiß Ihren Namen.«

 

Der Mann lächelte.

 

»Ich habe so viele Namen. Ich wünschte nur, ich wüßte den richtigen.«

 

»Ich werde Ihnen den richtigen sagen«, erwiderte Super. »Durch Logik und Deduktion und Theorie habe ich Ihren Namen festgestellt. Sie sind John Kenneth Leigh vom Schatzamt der Vereinigten Staaten!«